Die gleiche Farbe Blut - Udo Franzmann - E-Book

Die gleiche Farbe Blut E-Book

Udo Franzmann

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Beschreibung

Der Roman erzählt die Geschichte einer farbigen Familie der Südstaaten in Amerika der vierziger und fünfziger Jahre. Einer Zeit, die von Rassismus, Diskriminierung und Hass geprägt war. Eine junge, farbige Familie gerät in die Mühlensteine dieser Epoche. Der Vater wird wegen eines Kriegsverbrechens hingerichtet. Die alleinerziehende Mutter versucht der Enge der Südstaaten zu entkommen und zieht in die Großstadt. Dort entwickelt sich ihr Leben zunächst positiv, bis sie ihren Sohn in den Ferien zu seiner Verwandtschaft nach Mississippi schickt, wo ein Tyrann sein Unwesen treibt. Eine fatale Entscheidung! Was dann geschieht, lässt das Unvorstellbare Wirklichkeit werden. Ein Buch über die Abgründe der Gesellschaft, der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit generell, der Wahrnehmung von Recht und Unrecht, der Gleichheit und Andersartigkeit. Ein Thema, dass zum Nachdenken und zur kritischen Reflexion einlädt und deshalb Hoffnung macht. (Arnd Brinkmann)

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* Inspiriert von den Erlebnissen der Familie Till (Emmett, Mamie & Louis) sowie Ken McElroy aus Missouri.

Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen, die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen.

- Albert Einstein -

Inhaltsverzeichnis

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

VII. Kapitel

VIII. Kapitel

IX. Kapitel

I.

New Madrid, Missouri

Als am Morgen die Sonne im Osten den Horizont langsam überschritt und sich ein neuer Tag in dem kleinen Provinznest ankündigte, nahm alles seinen gewohnten, wiederkehrenden Gang.

Die Spatzen begrüßten den Tag mit einem lauten, rhythmischen Zwitschern, orchestriert von dem sanften Rascheln tausender Blätter alter Magnolienbäume.

Das Signalhorn des Arbeitgebers forderte lautstark Verlässlichkeit und Pflichtbewusstsein ein. Gefügige Arbeiter strömten in die Fabrik oder auf die umliegenden, weitläufigen Baumwollfelder. Getrieben von der Tretmühle längst vergangener Zeiten. Ohne lange darüber nachzudenken und in der gleichen Art und Weise, wie es schon ihre Eltern und Großeltern machten.

Als sei es die normalste Sache der Welt!

Ein kühler Westwind fegte durch die Straßen der Ortschaft am Mississippi River, mit seinem wohlklingenden Namen: New Madrid! Oder wie die Ansiedlung bis zum Jahr 1803, unter der Kolonialzeit Frankreichs hieß: Nouvelle Madrid.

Das klang nicht nur fortschrittlich, sondern trug schon fast kultivierte und aristokratische Züge in sich.

Wer sich davon täuschen ließ, wurde schnell eines Besseren belehrt, wenn er durch die menschenleeren Straßen ging.

Die Fassaden der Holzhäuser waren alt und verwittert. So, als würden sie schon jahrzehntelang hier stehen und die besten Zeiten lange hinter sich gelassen haben. Nur die Main Street mit einem Barbier und einem Lebensmittelgeschäft, einer Taverne und dem Diner Madrid, einem drittklassigen Speiselokal für die Einheimischen, ließen erahnen, dass es hier so etwas ähnliches wie Leben geben könnte.

Das alles überragende, weiß getünchte County Courthouse, am Ufer des „Big Muddy“, suggerierte dem Betrachter ein hohes Maß an Reinheit, Unparteilichkeit und Objektivität – kurzum: Gerechtigkeit!

In Sichtweite davon war das im Kolonialstil gebaute, herrschaftliche Hunter House, mit seinen dorischen Säulenreihen, dem grünen Mansarddach und einer gepflegten, ansehnlichen Veranda, auf der sich der Sassafrasbaum und die knollige Seidenpflanze ein erbittertes Kopf-an-Kopf- Rennen darum lieferten, wer prächtiger blühte.

Die Bewohner dieses Palazzos war die Familie Argo. Eine im 18. Jahrhundert aus Irland eingewanderte Dynastie reicher Fabrikanten, deren geschäftliche Erfolge in ganz Amerika zu bestaunen waren.

John S. Argo, das Familienoberhaupt, war der Besitzer der Corn Company, dem mit über siebzig Beschäftigten größtem Arbeitgeber im Umkreis.

Wer der Main Street weiter Richtung Norden folgte, stand plötzlich vor dem „Dixi-Theater“, einem alten, baufälligen Kino, in dem zweimal in der Woche Filme vorgeführt wurden. Jeden ersten Mittwoch im Monat ausschließlich für den schwarzen Anteil der Einwohner.

Am Ortseingang wurden Besucher durch ein großes, blau-weißes Holzschild begrüßt: Welcome to Historic NEW MADRID. Founded 1783.

Das Jahr, in dem der blutige Unabhängigkeitskrieg zwischen Amerika und England durch den „Frieden von Paris“ beendet wurde und der Bundesstaat New Hampshire in seiner Verfassung festschrieb, dass alle Menschen frei und gleich geboren seien.

In diese friedliche und versöhnliche Idylle hinein, wurde Louis Atkins am Dienstag, den 7. Februar 1922 geboren.

Einem nasskalten, verregneten Tag mit Gewitter und Sturm. Dr. Miller, der einzige schwarze Arzt im gesamten County, war mit seiner Pferdekutsche so schnell wie möglich aus Hovardville herbeigeeilt, um dem kleinen Louis auf die Welt zu helfen. Er wäre fast zu spät gekommen, denn die Wehen der Mutter hatten schon Stunden vorher eingesetzt und die Fruchtblase war bereits geplatzt.

Aber es ging noch einmal alles gut und um 20:34 Uhr erblickte der dunkelhäutige Louis Atkins, in einem durch Rassentrennung geprägten US-Südstaat, das Licht der Welt.

Seine Eltern, Tini und Larry Atkins, schufteten als Tagelöhner auf einer Baumwollplantage, wenige Kilometer vor der Stadt. Aber das Geld reichte trotzdem vorne und hinten nicht.

Als Louis drei Jahre alt war, starb seine Mutter an einer Blutvergiftung. Tagelang hatte sie sich während der Erntezeit mit Fieber, Schmerzen und hechelnder Atmung auf den Feldern gequält, bis sie einfach umfiel und tot war.

Sein Vater war mit der Situation überfordert. Kümmerte sich nicht um seinen Sohn. Begann zu trinken, verlor seine Arbeit und erhängte sich kurze Zeit später auf dem Dachstuhl einer Kirche.

Beide fanden ihre letzte Ruhestätte auf dem Negro Burying Place vor den Toren der Stadt.

Louis wurde von seiner Tante Emily aufgenommen und großgezogen. Ein nicht immer leichtes Unterfangen, stellte sich doch während der Pubertät heraus, dass seine Interessen mehr dem Sport und den Mädchen galten als den Zahlen und Buchstaben.

Im Alter von 14 Jahren verließ er die Schule und fand eine Arbeit als Aushilfe in der Produktion bei der Argo Corn Company, wo bis auf die Vorarbeiter nur Afroamerikaner beschäftigt waren.

Er akzeptierte die Aufgabenverteilung, denn er kannte es nicht anders und hatte schon früh gelernt, jedem Ärger aus dem Weg zu gehen. Zu bescheiden waren die Perspektiven eines Farbigen in New Madrid und Umgebung, überhaupt einen Job zu finden und zu groß war seine Angst, wie seine Eltern, als Tagelöhner auf den Baumwollfeldern eines Großgrundbesitzers zu enden.

Er war pünktlich, zuverlässig und fleißig. Machte Überstunden, wann immer es gefordert wurde und konnte sich schließlich ein kleines, marodes Zimmer über dem Diner Madrid leisten.

Er fühlte sich erwachsen und frei. Sein Ehrgeiz war geweckt. Er wollte mehr erreichen. Einfach die Farbe wechseln. Wie ein Hermelin oder Polarfuchs im Winter.

Vom Blue-Collar zum White-Collar Worker – vom Blaumann zum weißen Kragen.

Er fragte Fred Brons, seinen Vorarbeiter, ob er eine Ausbildung im Büro machen könne. Zum Buchhalter oder Arbeitsvorbereiter.

Der starrte Louis erst völlig verwundert an, begann dann laut zu lachen und klopfte ihm so ausgelassen auf die Schulter, wie man es nur als Zuspruch für einem gelungenen Witz machte.

„Louis, alter Neger! Wir sind nicht in New York oder Boston. Wir leben hier in Missouri! Da kannst du nicht einfach mit weißen Frauen zusammen in einem Büro sitzen. Die würden laut schreien und aus Angst vor dir, alle schnell weglaufen.“ Er winkte ab und wurde ernsthaft.

„Sei froh, dass dir Mr. Argo überhaupt Arbeit gibt. Und jetzt verschwinde und höre auf mit den Spinnereien!“

Louis Atkins war enttäuscht. Seine Zeit schien noch nicht gekommen zu sein. Aber früher oder später würde er seine Chance bekommen. Da war er sich sicher.

Er arbeitete weiter wie ein Berserker. Jede Woche. Von Montag bis Samstag. Zwölf Stunden oder länger, wenn gerade Erntezeit war.

Den freien Sonntag fuhr er mit dem Bus ins benachbarte Marston zum Boxtraining. Immer von 10 Uhr bis 12 Uhr. Das war das Zeitfenster, dass man den Afroamerikanern seit kurzem zugestanden hatte. Es war sogar in den Zeitungen zu lesen.

John S. Argo persönlich, hatte sich dafür stark gemacht, auch den farbigen Minderheiten diese Gelegenheit der körperlichen Ertüchtigung zu ermöglichen. Und was der wichtigste Unternehmer des County vorschlug, brauchte keine demokratische Abstimmung, sondern war Gesetz. Auch wenn es die schweigende Mehrheit der Weißen anders sah.

Als Louis an einem Sonntag nach dem Training an der Haltestelle in Marston auf den Bus wartete, fiel ihm ein junges, schwarzes Mädchen in seinem Alter auf, wie sie mit langem Hals nach dem Bus in Richtung New Madrid Ausschau hielt und ihn verlegen anlächelte, als sich ihre Blicke für einen kurzen Moment begegneten.

Sie war die Erste, die den Fahrpreis beim Busfahrer bezahlte und Louis schelmisch angrinste, als sie wieder ausstieg, um in dem für Schwarze separierten, hinteren Teil des Busses erneut einzusteigen und einen Sitzplatz zu suchen.

Louis Herz pochte bis zum Hals. Er sah sie in der letzten Reihe, aufrecht und stolz sitzend. Geradezu majestätisch thronend, die Holy Bible auf dem Schoß, fest umschlossen von ihren grazilen Händen. Sie würdigte ihn keines Blickes, was ihn erst recht neugierig machte. Neben ihr ein freier Sitzplatz! Sollte er es wagen und sich einfach neben sie setzen? Keine Frage!

Er wollte gerade zu ihr gehen, als eine alte Frau neben ihr Platz nahm und sich angeregt mit ihr unterhielt.

Er fand keine andere Sitzgelegenheit. Der Bus war bis auf den letzten Platz besetzt.

Kaum hatte sich das schwerfällige Fahrzeug in Bewegung gesetzt, drängelte sich aus dem vorderen Bereich ein weißer Jugendlicher, mit Baseball Cap und Sporttasche, an den Fahrgästen vorbei nach hinten. Als er sich an Louis vorbeizwängte, erschrak der. Der Halbwüchsige starrte ihn flüchtig mit seinen stahlblauen, kalten Augen an. Das Gesicht von einer Hasenscharte gezeichnet, die sich vom Nasenrücken bis hinunter zur Oberlippe zog und ihn auf brutale Weise verunstaltete. Das Monster ging weiter, blieb vor dem Mädchen stehen und forderte sie auf, ihren Sitzplatz für ihn zu räumen.

Aber sie ignorierte ihn. Tat so, als würde sie ihn nicht hören und schaute gleichgültig aus dem Fenster.

Der Kopf des Jungen lief rot an. Er wurde lauter, brüllte und bestand auf sein Recht, dass sie als Schwarze für ihn als Weißen aufstehen müsse, wenn es keinen anderen freien Platz gäbe.

Aber nichts passierte.

Plötzlich packte er die Rebellin an der Schulter und schüttelte sie wie einen Cocktail-Shaker hin und her. Immer heftiger. Pausenlos.

Ohne zu überlegen, kämpfte sich Louis zu dem Übeltäter vor und tippte ihm von hinten auf die Schulter.

Als der sich überrascht umdrehte, brüllte Louis wutschäumend: „Ich komme gerade vom Boxtraining und wenn ich deine komische Visage sehe, hätte ich Lust einfach weiter zu trainieren. Und dann wirst du sehen: Wir bluten alle die gleiche Farbe!“

Der Jugendliche erstarrte zur Salzsäure. Sagte keinen Ton. Traute seinen Augen nicht. Stand erschrocken mit offenem Mund da, zögerte eine Weile und zwängte sich dann fluchend an Louis vorbei, zurück in den vorderen Bereich des Busses.

„Danke! Das war mutig von dir“, sagte das Mädchen erleichtert und lächelte seinen Beschützer verlegen an.

„Nein, es war mutig von dir, einfach sitzen zu bleiben und das Weißbrot zu ignorieren.“

Als sie aus dem Bus stiegen, liefen sie gemeinsam die Main Street entlang. Sie wohnte nicht weit entfernt vom Diner Madrid. Einer der unvermeidlichen, in der Natur der Sache liegenden Vorteile der kleinen Provinzstadt.

Ihr Name war Avery Wayne. Sie war siebzehn Jahre alt und fuhr jeden Sonntag in den Gottesdienst der freien Baptistengemeinde nach Marston.

Ihre Eltern hatten sich vor einigen Jahren scheiden lassen und seitdem betete sie jeden Sonntag dafür, dass ihr Vater aus Chicago wieder zu ihnen ziehen würde, damit sie eine normale Familie sein könnten. Sie lebte mit ihrer Mutter zusammen in einer kleinen Wohnung über dem Lebensmittelgeschäft, besuchte als einzige Farbige die Community High School und wollte später einmal Tierärztin werden.

Obwohl Louis ganz in ihrer Nähe lebte, war sie ihm bis dahin noch nicht aufgefallen. Kein Wunder, denn sie lernte viel und war nur selten an der frischen Luft.

Aber das änderte sich in den nächsten Monaten.

Sie traf sich mit Louis jeden Abend im Park am See. Bestaunte seine lässige, charismatische Art. Sogar seine Protzerei, wenn er selbstredend von seiner wichtigen Arbeit bei der Corn Company erzählte und dabei immer wieder vermeintlich vorhandene Haare von seiner Stirn wischte, nur damit ihr sein goldener Ring am Finger auffiel. Und sie mochte seinen Pragmatismus, Dinge einfach anzugehen, verbunden mit seinem schier grenzenlosen Optimismus für eine glückliche Zukunft.

Sie blickte zu ihm auf, wenn er cool an seiner Zigarette zog, sie dann lässig wegschnippte, um Avery im nächsten Augenblick leidenschaftlich in den Arm zu nehmen und so heftig zu küssen, dass ihr die Luft wegblieb.

Sie schloss die Augen und genoss den Moment, als sie seine Hände auf ihrem Gesicht spürte, wie sie dann zärtlich über den Hals auf ihre Brüste rutschten und sie vorsichtig streichelten. Ein fremdes, fantastisches Gefühl, dass sie spüren und erahnen ließ, dass es noch ein Leben neben der High School geben könnte.

Ihre Mutter stand dem amourösen Abenteuer ihrer Tochter mit Louis kritisch gegenüber. Drängte sie dazu, das Techtelmechtel mit dem Hilfsarbeiter zu beenden, um nicht in schlechte Gesellschaft zu geraten und ihre Ziele aus den Augen zu verlieren.

Als sich Avery beharrlich weigerte, verbot sie ihr schließlich den Umgang mit ihm.

„Was willst du mit einem ungelernten Arbeiter von der Corn Company? Der kann später noch nicht einmal eine Familie ernähren und ist in der ganzen Stadt als Gigolo verrufen. Da haben sich dein Vater und ich etwas anderes für dich vorgestellt. Beende die High School und studiere dann.“ Sie schaute mit verklärtem Blick aus dem Fenster. Träumte von einer glänzenden Zukunft für ihre Tochter.

„Du würdest die Erste in der Familie sein, die so einen Abschluss schafft. Das hat sich dein Vater immer gewünscht. Es würde ihn so stolz machen!“

Das hatte gesessen! So machte es ihre Mutter immer, wenn sie bei ihrer Tochter etwas erreichen wollte. Eine hinterlistige, aber erfolgreiche Methode. Sie argumentierte einfach mit dem mutmaßlichen Willen ihres Ex-Manns. Ein moralisches Totschlagargument, denn Avery vermisste ihren Vater schmerzlich. Jeden Tag und jede Stunde. Wollte sein kleiner Engel bleiben. So hatte er seine Tochter immer genannt, wenn er sie liebevoll in den Arm nahm und ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn gab. Das hatte sie nicht vergessen. Dieses Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit, in dass sie sich immer fallen lassen konnte und dass sie so vermisste.

Sie wollte ihn auf keinen Fall enttäuschen. Machte sich Sorgen, seine Zuneigung zu verlieren und beendete die Liaison mit dem Hilfsarbeiter. Konzentrierte sich wieder auf die Schule. Lernte jeden Tag bis in den Abend hinein, schaffte es als erste afroamerikanische Schülerin auf die „A-Honour Liste“ der besten Schülerinnen im County und träumte von einer Zukunft als erfolgreiche Tierärztin.

Aber sie wünschte sich auch eine Perspektive mit eigener Familie. Dem wohligen Gefühl von Nestwärme und Behütetsein, wie sie es von früher kannte und dass ihr die Mutter alleine nicht geben konnte.

Sie verspürte diesen Zwiespalt. Kam immer mehr ins Grübeln. Lag nachts stundenlang in ihrem Bett wach. Drehte sich rastlos von einer Seite auf die andere und hörte ihren rhythmischen Herzschlag in den Ohren. Sie starrte an die Decke, die sich langsam zu senken schien und sich wie ein schweres Gewicht auf ihrer Brust anfühlte und sie irgendwann erdrücken könnte.

Sie ahnte, dass die Stunde der Wahrheit gekommen war und die kuscheligen Zeiten ein für allemal vorbei waren. Sie die Augen nicht länger vor der Wirklichkeit verschließen konnte. Ihr Vater war nicht mehr für sie da. Lebte in der Großstadt. Womöglich schon mit einer anderen Frau zusammen und würde auch nicht mehr wiederkommen, um sie zu unterstützen. Stattdessen begnügte er sich mit gutgemeinten Ratschlägen am Telefon, sich wieder auf die Schule zu konzentrieren und sich nicht von so einem Hallodri von ihren Zielen abbringen zu lassen.

Aber was wusste ihr Vater schon von ihrem Freund? Keinen Deut! Er war ihm nie begegnet. Und was wusste er über ihre Ziele und Wünsche? Nichts! Er glänzte seit Jahren durch Abwesenheit. Hatte eines Tages einfach seine Sachen gepackt und den nächsten Zug in die Großstadt genommen. Mit wütender Entschlossenheit. Ohne Rücksicht auf Verluste – ohne Rücksicht auf die Familie und ohne jedes Verständnis oder Mitgefühl für sie!

Sie begegnete Louis jeden Sonntag an der Bushaltestelle. Meistens umgarnt von einer Horde kichernder Mädchen, die nichts unversucht ließen, seine Aufmerksamkeit auf sie zu lenken.

Aber Louis hatte nur Augen für Avery. Starrte sie unentwegt an. Seine Augen waren wie Magneten, die sich nicht von ihr lösen konnten. Die ihn, ohne dass er sich dagegen wehren konnte, wie von Geisterhand einfach zu ihr hinzogen.

Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden und ihr Herz schneller schlug. So, als könne er sie mit seiner bloßen Anwesenheit verführen und dazu bringen, alles über sich preiszugeben.

Es kam, wie es kommen musste. Ihre Blicke begegneten sich, blieben aneinanderkleben. Louis lächelte sie verliebt an, zwinkerte ihr zu und winkte zaghaft. Sie schaute verschämt weg, fühlte sich geschmeichelt. Jemand interessierte sich ernsthaft für sie, ließ nicht locker! Ihr wurde plötzlich warm.

Sie gingen gemeinsam die Main Street nach Hause. Sprachen über belanglose Sachen. Das schlechte Wetter, die hohen Kinopreise und die miserablen Busverbindungen. Lachten miteinander und verabredeten sich für den nächsten Abend in seiner Wohnung.

Avery war aufgewühlt, als sie vor ihm stand. Fühlte sich ihm hilflos ausgeliefert, aber vertraute ihm. Ein schönes Gefühl. Das Gefühl des Fallenlassens in der Gewissheit, von jemandem aufgefangen zu werden.

Er nahm sie zärtlich in den Arm. Sie küssten sich leidenschaftlich, schliefen miteinander und beschlossen an diesem Tag, nie wieder auseinander zu gehen und zu heiraten.

Ihre Mutter fiel aus allen Wolken, als sie von dem Vorhaben hörte. Stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Kreischte wie von Sinnen und heulte wie ein Schlosshund. Setzte alles in Bewegung, um es ihr auszureden. Erinnerte ihre Tochter daran, dass sie und ihr Freund mit ihren gerade einmal 18 Jahren, noch viel zu jung seien, eine so weitreichende Entscheidung zu treffen und dass sich Avery damit um eine hoffnungsvolle Zukunft bringen würde.

Aber alle Ratschläge blieben wirkungslos! Avery war unsterblich verliebt und hörte nicht auf ihre Eltern. Wollte nicht so enden wie ihre Mutter. Ohne Mann und ohne Perspektive auf ein zufriedenes Leben. Nur beseelt von der Hoffnung einer glänzenden Zukunft ihres Kindes, so wie sie es sich vorstellte, aber selber nie erreicht hatte.

Doch Avery wollte ihren eigenen Weg gehen. Fühlte sich lebendig und unbekümmert wie nie zuvor. War glücklich bei dem Gedanken, dass Louis alles für sie tun würde, ohne auch nur einen Augenblick des Zögerns. Er hatte es bereits bewiesen. Er würde sie beschützen und ihre Träume wahr werden lassen. Für sie bis ans Ende der Welt gehen, um sie glücklich zu machen und ihr jeden Wunsch von den Lippen abzulesen.

Daran hatte sie keinen Zweifel.

Am Montag, den 14. Oktober 1940 gaben sich Avery Wayne und Louis Atkins in der kleinen Holzkirche von Howardville das Jawort.

Es waren nur wenige Gäste anwesend. Averys Vater ließ sich entschuldigen. Zu kostspielig und zeitraubend war die Zugfahrt von Chicago nach New Madrid.

Das frisch vermählte Paar zog in eine kleine Zweizimmerwohnung in der Powell Ave, mit Ausblick auf den Mississippi River.

An manchen Tagen konnten sie die imposanten Raddampfer beobachten, wie sie sich mit Getöse den Big Muddy hochkämpften und dabei ihr gellendes Signalhorn nach uneingeschränkter Aufmerksamkeit und Vorfahrt lechzte. Oder, wie sich jeden Dienstag Nachmittag, eine Gruppe von Wasserskiläufern am Ufer versammelte und deren aufgeregtes Stimmengewirr bis zu ihrer Wohnung hochtönte, ehe es von den Beschleunigungsgeräuschen des Motorboots mundtot gemacht wurde.

Ab und zu saßen sie Arm in Arm verliebt am Ufer, tranken einen Eistee und bewunderten das grandiose Gewässer, bei dessen Anblick sie sich klein und demütig fühlten.

Louis hatte seiner Frau einmal von der Geschichte des Flusses erzählt, der als bedeutsamer Handelsweg für Siedler, einen wichtigen Beitrag zum Aufbau des Landes geleistet hatte und dessen zahlreiche, prosperierende Städte entlang seines Ufers, noch gegenwärtig die Geschichte vergangener Zeiten in sich trugen.

Es waren unbeschwerte, schöne Tage. Viele Momente des Glücks, in denen Sorgen in den Hintergrund traten und durch den siebten Himmel ersetzt wurden.

In dieser Zeit erfuhr Avery, dass sie schwanger war. Sie freute sich auf das Kind. Darauf, endlich Teil einer Familie zu werden, die ihren Wünschen entsprach und die sie selbst die letzten Jahre so vermisst hatte: Vater, Mutter und Kind.

Sie lernte Tag und Nacht, jede freie Minute. Machte ihren High School-Abschluss mit Auszeichnung und wurde von den Anwesenden bei der Abschlussfeier in der Aula mit erstaunten Augen angestarrt, als sie als erste Farbige der Schule, das Zeugnis vom Direktor entgegennahm und es stolz in die Luft hielt.

Sie sah ihre Mutter in der letzten Reihe. Tränen in den Augen und ein Taschentuch in der Hand. Neben ihr Louis, der als Einziger Beifall klatschte, ihr zuwinkte und den Daumen euphorisch hob.

In diesem Augenblick war sie stolz auf sich und alles, was sie bisher geschafft hatte und blickte voller Erwartungen in die Zukunft.

Am 25. Juli 1941, kam ihr gemeinsamer Sohn Noah gesund auf die Welt und forderte von Beginn an die ganze Aufmerksamkeit seiner Mutter.

Von da an war sie rund um die Uhr damit beschäftigt, ihr Baby zu stillen, Windeln zu wechseln, Wäsche zu waschen, aufzuräumen und zu kochen. Ihn herumzutragen, im Kinderwagen spazieren zu fahren und ihn zu trösten, wenn er pausenlos herumschrie, ohne dass sie ihn beruhigen konnte.

Sie war auf sich allein gestellt. Eine neue Situation, mit der sie schnell überfordert war.

Ihr Mann hielt es nicht für notwendig, sie zu unterstützen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Erwartete von ihr, dass er sich an den gedeckten Tisch setzen kann und sie ihn von vorn bis hinten bedient. Führte sich wie ein Pascha auf, der sich für diese Art von Frondiensten zu schade war und verwies darauf, dass er als Familienoberhaupt schließlich das Geld verdiene.

Aber der kärgliche Lohn eines Hilfsarbeiters reichte gerade einmal für die Miete und das Notwendigste. Ab und zu schickte ihnen Averys Vater einen Scheck aus dem fernen Chicago…nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein und egoistische Beruhigungsmaßnahme für das schlechte Gewissen eines abwesenden Vaters.

Ihre Mutter besuchte sie jeden Sonntag, um auf ihren Enkel aufzupassen, wenn Avery in die Kirche und Louis zum Boxtraining nach Marston fuhren. Die einzige Abwechslung im grauen Alltag des jungen Paares.

Denn wenn Louis aus der Fabrik kam, legte er sich nach dem Essen erschöpft auf die Couch, machte ein Nickerchen oder trank ein Bier nach dem anderen. Tag für Tag. Woche für Woche. Monat für Monat.

Avery wurde wütend. Schimpfte ihn aus und machte ihm Vorwürfe. Er reagierte verständnislos, genervt und beleidigt. Hatte keine Lust auf eine Konfrontation mit der Wahrheit und verschwand immer öfter in John´s Tavern, der einzigen Kneipe in New Madrid. Dort setzte er sich in den für Schwarze separierten Raum, schmiss einen Quarter in die Jukebox, trank reichlich Alkohol und wurde von Mary, der jungen, attraktiven, schwarzen Kellnerin bedient, die nichts unversucht ließ, ihm zu gefallen.

Sie kamen ins Gespräch. Er schüttete ihr sein Herz aus und sie zeigte großes Verständnis für seine missliche Situation.

Irgendwann war alles gesagt und sie verschwanden wortlos auf der Männertoilette, wo er ihr zeigte, wozu ein testosterongetriebener Mann alles imstande ist.

Beide waren auf den Geschmack gekommen. Konnten das nächste Date kaum abwarten. Ließen keine Gelegenheit des lustvollen, erotischen Vergnügens aus, bis ein Arbeitskollege von Louis, sie bei ihrem Amüsement erwischte und das triebhafte Verhalten dem Besitzer meldete. Der schnappte sich die schöne Mary und zog sie publikumswirksam an den Haaren durch die gesamte Taverne, um sie mit einem Tritt in den Hintern, unter dem tosenden Gejohle der weißen Besucher, auf die Straße zu befördern.

„Schwarze Schlampe!“, rief er ihr hinterher. „Wir sind doch kein Bordell! Sieh zu, dass du die Stadt so schnell wie möglich verlässt und lass dich hier nie wieder blicken! So was Verkommenes wie dich, können wir hier nicht dulden. Hier leben anständige, zivilisierte Menschen und keine rammelnden Karnickel!“

Der Zwischenfall hatte sich in Windeseile in der kleinen Provinzstadt herumgesprochen.

Louis verlor seinen Job bei der Corn Company, denn auch der liberale, fleißige Kirchgänger John S. Argo, konnte eine solche Verrohung der Sitten nicht billigen. Zu groß wäre sonst sein Gesichtsverlust gewesen und hätte womöglich einen fatalen Einfluss auf seine Geschäfte und Reputation nehmen können.

Als Avery von dem Seitensprung erfuhr, brach für sie eine Welt zusammen. Alles das, was sie sich sehnlichst für die Zukunft gewünscht hatte, war von einer Sekunde zur anderen, wie weggeblasen.

Sie ekelte sich bei dem Gedanken, wie Louis es mit der 16-jährigen, dickbusigen Mary auf dem Männerklo trieb. Einem Ort der Notdurft!

Sie stellte ihn zur Rede, als er wieder einmal betrunken auf der Couch lag und die Decke anstarrte. So, als sei er mit seinen Gedanken woanders. An einem unbekannten Ort, jenseits aller Erdenschwere.

Sie schrie, machte ihm Vorwürfe, nicht mehr für seine kleine Familie sorgen zu können. Sie mit einem billigen Flittchen betrogen zu haben und damit alles, was sie sich für die Zukunft vorgenommen hatten, leichtfertig verspielt zu haben.

Aber er starrte nur apathisch an die Decke. Blieb stumm und beachtete sie nicht.

Sie weinte, war verzweifelt und wütend. Wusste weder ein noch aus.

„Meine Eltern haben mich vor dir gewarnt! Was willst du bloß mit so einem Aushilfsarbeiter? Einem Casanova! Du hast was besseres verdient!“, schluchzte sie und starrte ihm wütend in die Augen.

„Hätte ich nur auf sie gehört!“, brüllte sie aus voller Kehle.

Plötzlich bewegten sich seine Lippen. Er schaute sie mit trüben Augen an. Stand langsam auf, taumelte, stützte sich an der Rückenlehne der Couch ab. Stellte sich direkt vor seine Frau und schlug wie aus dem Nichts zu. Ein rechter Hacken traf sie auf die Wange. So schnell und routiniert, wie er es jeden Sonntag im Boxclub übte.

Avery fiel zu Boden. Hatte nicht die geringste Ahnung davon, was gerade passiert war. Ihr war schwindelig. Sie hatte einen Brummschädel. Blut tropfte auf ihr Kleid und den Teppich. Sie hob ängstlich den Blick.

Er stand breitbeinig über ihr, mit ausdruckslosen Gesichtszügen. Maskenhaft. Nichts deutete auf eine Gefühlsregung hin, als er sich seelenruhig zu ihr herunterbückte, seine Hand mit finsterer Entschlossenheit an ihren Hals legte und sie langsam nach oben zog.

Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Spürte seinen Atem - den Geruch nach billigem Whisky, Bier und Zigaretten, als er immer fester zudrückte.

Plötzlich laute Geräusche aus dem Kinderzimmer. Noah schrie! So laut und panisch, wie er es noch nie zuvor getan hatte. So, als wolle er seiner Mutter in ihrer Not zur Hilfe kommen wollen.

Louis schaute irritiert in Richtung Kinderzimmer! Avery spürte, wie seine Hand an ihrem Hals zu zittern begann, als er immer fester zudrückte. So gleichmäßig wie eine hydraulische Pressmaschine.

Er würde sie umbringen, während ihr gemeinsamer Sohn nur ein paar Meter weiter im Bett lag und nach seiner Mutter schrie. Daran hatte sie keinen Zweifel mehr. Er war eine Bestie! Ein Wolf im Schafspelz!

Sie entdeckte zufällig die Schneiderschere neben sich auf der Anrichte, bekam sie zu fassen und stach zu. Einmal und noch einmal. In seinen Oberarm. Ein kurzer Aufschrei. Ein schmerzverzerrtes Gesicht. Er ließ von ihr ab, hielt sich die Hand auf den blutenden Arm und ging langsam auf die Knie.

Avery ließ die Tatwaffe auf den Boden fallen. War für einen kurzen Augenblick wie erstarrt, bis sie ihren schreienden Sohn aus dem Bett im Kinderzimmer holte und so schnell wie möglich auf die Straße rannte, um sich selber und Noah in Sicherheit zu bringen und Hilfe zu holen.

Sheriff John Bloomfield ging mit gezücktem Revolver vorsichtig durch die offenstehende Tür in die Wohnung. Louis Atkins saß auf dem Boden, mitten in einer Blutlache und hob nur mühsam den Kopf. Er wirkte erschöpft und abgestumpft, als ihm der Sheriff Handschellen anlegte und zum Wagen brachte.

Vor dem Haus hatten sich Menschen zusammengerottet, die wild gestikulierten und rumjohlten, als sie den Übeltäter zu Gesicht bekamen. Louis schaute in die hasserfüllten, feindseligen Fratzen der vielen, weißen Schaulustigen, die ihn anspuckten und Parolen riefen, als er an ihnen vorbeigeführt wurde.

„Du Verbrecher! Hoffentlich wirst du gehängt!“

„Animalische, schwarze Sau! Lass dich hier nie wieder blicken!“

„Bimbo! Unsere Stunde wird schlagen und wir werden dich bei lebendigem Leib verbrennen!“

Der Sheriff hatte große Mühe, sich den Weg durch den Mob zu bahnen und seinen Gefangenen, ohne weitere Belessuren in den Wagen zu verfrachten, um ihn ins Gefängnis nach Portageville zu überstellen.

Dort wurde Louis bis zu seinem Prozess in eine Einzelzelle gesperrt. Niemand besuchte ihn. Nur kurz nach seiner Einlieferung war ein Arzt gekommen, hatte sich die Wunden am Arm flüchtig angesehen, sie desinfiziert und ohne Betäubung genäht. Dabei hatte er kein Wort mit Louis gesprochen. Erst zum Schluss, als er seine Utensilien wieder in den Arztkoffer packte, gestand er: „Ich musste ihnen helfen, weil ich dazu verpflichtet bin. Sonst hätte ich es nicht gemacht.“

Ansonsten hatte Louis nur Kontakt zu seinem Wärter, der ihm dreimal täglich etwas zu essen und trinken brachte und sich gelegentlich mit ihm über Belangloses unterhielt.

Sein Name war Don McDonald. Ein junger, gutaussehender Kerl, von vielleicht zwanzig Jahren. Groß, blond, Bürstenhaarschnitt, die Schuhe blitzeblank geputzt. Meistens freundlich und immer gut gelaunt.

Louis hatte ihn schon ein paar mal in John´s Taverne beobachtet, wie er mit jungen, schönen Teenagerinnen lässig an der Theke stand, Cocktails trank und sich amüsierte.

McDonald hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, Louis einfach „Mr. Black“ zu nennen. Er meinte es weder rassistisch noch beleidigend, es ersparte ihm aber die Mühe, sich die vielen Namen der ständig wechselnden, schwarzen Insassen zu merken und es war sichergestellt, dass er alle Inhaftierten gleichbehandelte.

„Mr. Black! Aufstehen! Es ist 6 Uhr morgens. Ihre Wunde sieht aber nicht gut aus. Halten sie durch! Übermorgen ist ihre Verhandlung bei Richter Williams.“

Louis öffnete gemächlich die Augen. Er hatte wieder einmal schlecht geschlafen. Ihm schmerzte der Rücken von der alten, durchgelegenen Pritsche. Seine Stichwunden brannten wie Feuer.

„Williams?“

„Ja, Williams! Der Strafrichter des County.“

„Was ist das für ein Mensch?“

McDonald zuckte kurz die Schultern. Sah dem Gefangenen verständnisvoll in die Augen.

„Wie eben so ein alter, weißer Richter ist. Hart aber gerecht! Er kann es nicht leiden, wenn man auf unschuldig plädiert, obwohl die Fakten etwas anderes sagen und er mag es schon gar nicht, wenn man ihm widerspricht. Also, Mr. Black! Beherzigen sie meinen Ratschlag und schmieren dem alten Advokaten Honig ums Maul, bis er daran erstickt. Je mehr, umso besser! Dann kommen sie vielleicht mit ein paar Jahren Zuchthaus oder Arbeitslager davon.“

„Arbeitslager?“

„Ja! Arbeitslager, Mr. Black! Vielleicht auf einer Baumwollplantage, einem Maisfeld oder einer Munitionsfabrik. Wir befinden uns nämlich im Krieg. Weltkrieg! Da brauchen unsere Soldaten eine Menge Uniformen, Essen und Munition, um die Faschisten in Europa zu besiegen.“

Louis schaute verwirrt. „Faschisten? Was um Himmels Willen sind Faschisten?“

McDonald schüttelte befremdet den Kopf, holte sich einen Hocker und setzte sich zu Louis vor die Zellentür.

„Ihr Schwarzen lebt alle in einer Traumwelt und lasst die anderen für euch die Kastanien aus dem Feuer holen. Wie jetzt im Krieg in Europa, wo die Weißen auch für eure Freiheit und eure Werte kämpfen und sterben.“

Er trank einen Schluck Kaffee, zündete sich eine Chesterfield an und atmete tief durch.

Gespannte Stille.

„Der Faschismus ist eine politische Bewegung, die es seit den 1930er Jahren in Europa gibt und die sich ausbreitet wie die Pest. Die Faschisten glauben an die Überlegenheit ihrer eigenen Nation und Rasse und streben nach einem zentralisierten Staat, der von einem Führer geleitet wird. So eine Art Diktator auf Lebenszeit wie früher Julius Cäsar in Rom. Nur, dass die heutigen Protagonisten Adolf Hitler oder Benito Mussolini heißen. Schon mal die Namen gehört, Mr. Black?“

Louis schüttelte den Kopf. „Hitler? Mussolini? In Europa?“

„Natürlich in Europa!“, antwortete McDonald genervt. „Wo denn sonst?“

„Und deshalb kämpfen wir gegen diese Faschisten? In Europa?“

„Natürlich! Das ist auch in deinem Sinn. Oder willst du etwa, dass sich dieses Gedankengut auch noch bei uns ausbreitet wie eine ansteckende Influenza?“

„In drei Teufels Namen! Was ist eine Influenza?“

McDonald stand auf, schmiss den Hocker verärgert in die Ecke, schnippte die Zigarette genervt weg und schüttelte fassungslos den Kopf.

„Manchmal glaube ich, dass meine Cousine Dorin Recht hat mit der Behauptung, ihr Schwarzen taugt nur zum Baumwollpflücker, Hilfsarbeiter in der Fabrik oder als Dienstmädchen. Du bist das beste Beispiel dafür!“

II.

New Madrid, County Courthouse. August 1943

Der Gerichtsdiener schlug mit dem Hammer beherzt auf den Tisch.

„Erheben sie sich bitte! Den Vorsitz bei der heutigen Verhandlung hat der ehrenwerte Richter Williams. Höret! Höret! Höret! Alle Personen, deren Sachen hier verhandelt werden, sind aufgefordert, ihre ganze Aufmerksamkeit dem Gericht zuzuwenden, denn die Sitzung ist nun eröffnet. Gott schütze die Vereinigten Staaten von Amerika, das New Madrid County und das ehrenwerte Gericht!“

Clark Williams, ein großer, graumelierter Mann mit Schnurrbart und Nickelbrille, deutete den Anwesenden an, sich wieder zu setzen.

Louis schaute sich um. Der Sitzungssaal war bis auf den letzten Platz besetzt. Er suchte nach Avery, aber sie war nicht da. Sie wäre ihm als Schwarze mitten unter den Weißen sofort aufgefallen.

Er wischte sich Schweißperlen von der Stirn. Die schwüle, dampfige Luft machte ihm zu schaffen. Ließ ihn schwer atmen und ständig hüsteln. Vielleicht war es auch die Aufregung.

Der Richter gab den festgestellten Sachverhalt wieder. Erklärte Louis, dass er wegen versuchter Tötung von Avery Wayne vor Gericht steht und fragte ihn, ob er sich dessen schuldig bekennt.

Louis stutzte kurz. „Avery Wayne?“

„Ja! Sie hat sich vor kurzem von ihnen scheiden lassen und wieder ihren Mädchennamen angenommen“, erklärte ihm der Richter und hob ungeduldig die Arme.

„Was ist nun? Schuldig oder nicht schuldig?“

Louis erinnerte sich an den Ratschlag von McDonald und nickte.

„Sie müssen schon etwas sagen!“, ermahnte ihn der Richter angespannt.

„Schuldig im Sinne der Anklage.“

„Das habe ich mir gleich gedacht“, merkte der Richter süffisant an und nickte zufrieden.

„Angeklagter, erheben sie sich und kommen sie an den Richtertisch.“

Louis stand direkt vor dem Richter, als der ihm ein generöses Angebot machte.

„Schwere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen, bieten aber auch einzigartige Chancen! Sie haben Glück, Angeklagter! Durch den Krieg in Europa biete ich ihnen die einmalige Gelegenheit, ihre Schuld dadurch abzugelten, dass sie sich zum Dienst an der Waffe bei der United States Army melden und in Italien für unsere Freiheit kämpfen.“ Seine Gesichtszüge verfinsterten sich. Er rückte mit dem Kopf näher an Louis und flüsterte: „Sollten sie dem nicht zustimmen, werde ich sie zu fünf Jahren Zuchthaus mit verschärften Bedingungen verurteilen. Angeklagter, Atkins! Wie entscheiden sie sich?“

Williams tippte ungeduldig mit dem Bleistift auf den Richtertisch und tat so, als würde er schon eine Ewigkeit auf die Entscheidung von Louis warten.

„Gegen die Faschisten kämpfen?“, vergewisserte sich der Angeklagte noch einmal verunsichert.

„So ist es!“, bestätigte ihm Williams gelangweilt. „Tun sie etwas für ihr Vaterland, so wie ihr Vaterland immer etwas für sie getan hat!“

Louis überlegte, was der hochbetagte Richter damit meinte.

Was hatten die Vereinigten Staaten bisher für ihn getan? Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und Freiheiten. Ihm fiel nichts ein. Für ihn schien dieses Credo nicht zu gelten, weil er das Pech hatte, als Schwarzer auf die Welt gekommen zu sein. Damit waren seine Möglichkeiten von Beginn an begrenzt. Er dachte angestrengt nach. Falsch! Sie waren nicht begrenzt. Es gab sie gar nicht!

„Was ist jetzt?“, schnauzte ihn Williams gereizt an. „Wollen sie lieber ins Zuchthaus?“

Das ist die Wahl zwischen Pest und Cholera, besann sich Louis, verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und nahm Haltung an.

„Ehrenwerter Richter! Ich habe mich dazu entschlossen, meinem Land zu dienen, dessen Werte zu verteidigen und gegen die Faschisten in den Krieg zu ziehen.“

Schon am nächsten Tag meldete sich Louis für den Einsatz bei der US-Armee, wurde gründlich untersucht und für tauglich befunden.