Das Beste aus beiden Welten - Gordon Smith - E-Book

Das Beste aus beiden Welten E-Book

Gordon Smith

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Beschreibung

Bewegende Autobiografie eines Mediums Der bekannteste spirituelle Hellseher Großbritanniens gibt erstmals Einblicke in seine einzigartige Biografie und seine Entwicklung zum Medium. Gordon Smith hat bisher nie erzählt, unter welch außergewöhnlichen Umständen er seine spirituellen Kräfte entdeckte. Er glaubte, seine Mutter schämte sich für die ärmlichen Verhältnisse, aus denen die Familie stammte, und für die Brutalität, die der Sohn erleiden musste. Erst nach ihrem Tod im Jahre 2013 entschied er sich dafür, seine unglaubliche Geschichte von Anfang an zu erzählen: von der harten Kindheit in Glasgows Armutsvierteln bis zur Gegenwart, in der er ein international angesehenes und gefeiertes Medium ist.

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Das Buch

Bewegend. Faszinierend. Spannend.

Gordon Smith hat bisher nie erzählt, unter welch außergewöhnlichen Umständen er seine spirituellen Kräfte entdeckte. Er glaubte, seine Mutter schäme sich für die ärmlichen Verhält-nisse, aus denen die Familie stammte, und für die Brutalität, die der Sohn erleiden musste. Erst nach ihrem Tod entschloss er sich, seine unglaubliche Geschichte von Anfang an zu erzählen: von der harten Kindheit in Glasgows Armutsvierteln bis zur Gegenwart, in der er ein international angesehenes und gefeiertes Medium ist.

Dieses Buch bietet beeindruckende und überraschende Einblicke in das Leben von Gordon Smith und seine Entwicklung zum Medium. Es rührt zu Tränen und bringt einen gleichzeitig zum Lachen.

Der Autor

Gordon Smith stammt aus Schottland, wo er als siebter Sohn eines siebten Sohnes geboren wurde und schon als Kind seine übersinnliche Begabung entdeckte. Mit seiner besonderen Fähigkeit ist er zum bekanntesten Medium Großbritanniens geworden und hat Tausenden von Menschen geholfen, mit verstorbenen Angehörigen zu kommunizieren. Die BBC widmete ihm eine eigene TV-Dokumentation, und seine Bücher wurden zu internationalen Bestsellern. Gordon Smith nimmt für seine medialen Sitzungen kein Geld und geht zwischen seinen Vorträgen und Seminaren in Glasgow seinem erlernten Beruf als Friseur nach.

www.gordonsmithmedium.com

Von Gordon Smith sind in unserem Hause erschienen:

Wie man ein Medium wird

Mein Blick ins Jenseits

Medium

Spirit Messenger

Gordon

SMITH

Das Beste aus beiden Welten

Meine Lebensgeschichte als spirituelles Medium

Aus dem Englischen übersetzt von Gabriel Stein

Ullstein

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Titel der Originalausgabe: THE BEST OF BOTH WORLDS

Erschienen 2014 im Verlag Coronet, London, UK

Ullstein Taschenbuch ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage April 2015

© der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

© der Originalausgabe 2014 by Gordon Smith

Übersetzung: Gabriel Stein

Lektorat: Marita Böhm

Umschlaggestaltung: FranklDesign, München

Coverabbildungen: Paul Gill (Porträt Gordon Smith), John Cleare/fotolibra (Abbildung unten)

ISBN 978-3-8437-1089-3

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Für meine Eltern »Lizzy« und »Sammy«: Glasgower Dickschädel, die aufgrund dieses Buches niemals wirklich sterben werden.

Mit Liebe und Dank von der ganzen Familie.

Einleitung

Nichts zieht unsere Gedanken tiefer in die Vergangenheit als ein Todesfall in der Familie. Er gehört zu jenen Ereignissen, durch die wir ein besseres Verständnis darüber gewinnen möchten, wer wir sind und wohin wir im eigenen Leben gehen. Ja, gewiss veranlasst uns der Tod, nach Antworten auf solche Fragen zu suchen. Genau das tat ich, als ich in der Kabine direkt über meinem Kopf die Ansage hörte, deren durchdringende Lautstärke mich in meinem Sitz förmlich nach vorn katapultierte: Crew fertig machen zum Abflug.

Das Begräbnis meiner Mutter sollte am nächsten Tag stattfinden. Als sie starb, arbeitete ich gerade auf einer spirituellen Tagung in der Schweiz. Die Nachricht ihres Todes hatte mich zurückgelassen mit dem schrecklichen Gefühl der Hilflosigkeit und Trennung von dem Menschen, der in meinem Leben immer völlig präsent gewesen war.

Während der vergangenen vier Tage seit der telefonischen Mitteilung meiner Schwester Joan, dass Mutter von uns gegangen war, hatte ich etliche Geschichten mit dieser sehr besonderen und doch äußerst schwierigen Frau noch einmal vor dem inneren Auge Revue passieren lassen. Sie übte nicht nur auf mich, sondern auf alle ihre Kinder einen großen Einfluss aus.

Auf jener Tagung war die Rede gewesen vom Leben nach dem Tod und dem Überleben des menschlichen Geistes; ich sollte den zahlreichen Teilnehmern die nötigen Antworten geben, worum ich mich nach besten Kräften auch bemühte, jetzt jedoch wollte ich einfach ganz in Ruhe über meine Mutter nachdenken.

Die Drinks waren soeben serviert worden, und der Fremde neben mir unternahm keinen Versuch, ein Gespräch zu beginnen, starrte nur gebannt auf seinen Gin Tonic – als läse er in einer Kristallkugel, dachte ich, ehe ich mich wieder meinen Erinnerungen hingab. Meine Mutter hatte eine derart starke Persönlichkeit, dass offenbar jeder, der ihr begegnete, den Drang verspürte, sie nachzuahmen. Sie war stets voller Elan, der ansteckend wirkte. Lizzy (unter diesem Namen kannte sie jeder in der Familie) war immer größer als das Leben ­– leicht zum Lachen zu bringen und ebenso leicht in Wut zu versetzen. Sicherlich würden alle Familienmitglieder zustimmen, dass unsere Mutter nie als gewöhnlich, unentschieden oder ausgeglichen zu bezeichnen gewesen wäre; sie war entweder begeistert oder niedergeschlagen, schwarz oder weiß. Bei Lizzy gab es kaum etwas, das zwischen den Extremen lag.

Auf diesem kurzen Flug von Zürich nach London muss ich die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühle durchlebt haben. Ich lachte laut auf bei der Erinnerung daran, wie meine Mutter jenen Friseursalon in Glasgow betrat, in dem ich damals vor etwa zwanzig Jahren gearbeitet hatte. Ihr Gesicht bebte vor Zorn, als sie das Kopftuch herunterriss und eine wuschelige Masse hellgrünen Haars enthüllte. Die Farbe kontrastierte mit dem hochroten wutentbrannten Ton auf ihren Wangen und dem Weiß des Tuches, das auf ihre Schultern gefallen war. In diesem Moment ähnelte sie einer zerzausten Version der italienischen Flagge.

Meine Mutter spielte oft mit Haarfärbemitteln herum, und so war es nicht das erste Mal, dass ich mit einer derartigen Situation fertigwerden musste. In Armut aufgewachsen, hielt sie immer wieder Ausschau nach einem Schnäppchen und durchstöberte in Geschäften leidenschaftlich gern die Wühltische mit Sonderangeboten. Aber in diesem Fall hatte sie wohl ein Tönungsmittel gekauft, dessen Haltbarkeitsdatum längst abgelaufen war. So bizarr diese Szene schien, wagte ich es doch nicht, meiner Mutter ins Gesicht zu lachen. Nein, Lizzy war aufbrausend und jähzornig, weshalb all meine Familienmitglieder und Freunde darauf achteten, diese ungestüme Seite in ihr nicht wachzurufen.

»Schau dir mal meine verdammt’n Haare an. Was meinst’n, was da passiert ist?«, fragte sie. Ihre hellgrünen Augen schienen stärker hervorzutreten denn je. (Habe ich bereits erwähnt, dass Lizzy häufig fluchte?)

Das iss bloß ’n Kamm, Mutter, kein Zauberstab!, wollte ich erwidern, meinen Kamm vor ihr schwenkend. Doch das natürliche Taktgefühl des Friseurs gewann die Oberhand, und so setzte ich dessen schockierte Miene auf, sagte zu ihr, welches Pech sie hatte mit diesem schlechten Tönungsmittel, aber wie einfach es sei, das Problem zu beheben.

Ich frage mich, was sie gedacht hätte, wäre ihr bewusst gewesen, was mir – und sicherlich auch meinen Kollegen – dabei durch den Kopf ging: all die witzigen Dinge, die im selben Moment hätten ausgesprochen werden können, etwa Hinweise auf Rasenmäher oder Heckenscheren oder auf Krusty, den Clown aus den Simpsons. Ich stellte mir sogar eine Ziege vor, die hinter ihr stand und von dem blattartigen Haar fraß. Mein Körper war so gepeinigt von unterdrücktem Lachen, dass ich nur mit größter Mühe meine Selbstbeherrschung wahren konnte.

Ich spürte, dass der Mann neben mir in meine Richtung schaute. Wahrscheinlich fragte er sich, was diesen verrückten Typ an seiner Seite derart belustigte. Anstatt einen Erklärungsversuch zu unternehmen, vollführte ich eine jener Gesten von Leuten, die an einem öffentlichen Ort dabei erwischt werden, wie sie in sich hineinlachen. Ich hüstelte, rieb mir die Nase und schniefte heftig, als hätte ich Heuschnupfen. Wahrscheinlich wedelte ich mehrmals mit der Hand vor meinem Gesicht und warf dem Mann einen mitleiderregenden Blick zu, ehe ich zurücksank in die Erinnerungen an meine grünhaarige Mutter.

Als würde ich die Schublade einer alten vertrauten Kommode öffnen und nach etwas suchen, das sich darin befinden musste, wollte ich in Gedanken einen sanfteren Charakterzug meiner Mutter zutage fördern. Ich konnte keinen erkennen, entsann mich jedoch, welche Traurigkeit ich für sie empfand, wenn sie uns Geschichten über ihre Erziehung in den Gorbals erzählte, jenem Glasgower Bezirk südlich des Flusses Clyde, wo man zwischen den 1920er- und 1940er-Jahren in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs. Viele solcher Geschichten bekamen meine Brüder und ich im frühen Kindesalter zu hören – etwa wie sie zusammen mit ihren jüngeren Geschwistern wartete, dass ihre Mutter am Weihnachtsabend vom Flohmarkt zurückkehrte, auf dem sie gebrauchte Kleidung verkaufte, und sehen wollte, ob ihr und den anderen Geschenke mitgebracht worden waren. Im glücklichen Fall entdeckten sie in einer mit Asche gefüllten Socke eine Orange oder eine Banane. Nie werde ich vergessen, wie mir dabei vor Mitleid schwer wurde ums Herz, wie ich die Tränen unterdrückte. Sammy und John, meine älteren Brüder, fingen an zu lachen und sie zu necken, worauf Lizzy mit ihnen lachte und hinzufügte, dergleichen sei für Leute ihrer Zeit und aus dieser armseligen Gegend ganz normal gewesen; aber ich hatte immer das Gefühl, dass während des Erzählens ein tiefer Kummer von ihr Besitz ergriff, wohl gerade wegen der Asche. Diese erschien mir gleichsam als Metapher für vergebliche Wünsche.

Ihre Zähigkeit angesichts der Dinge, mit denen sie zu kämpfen hatte, erweckte in mir das Bedürfnis, um sie zu weinen, vielleicht weil sie nie imstande war, um sich selbst zu weinen. Traurigkeit war in Lizzys Augen ein Ausdruck von Schwäche. Sie hatte gelernt, über ihre Entbehrungen zu lachen und auf Anhieb witzige Bemerkungen zu machen, die ihr eine gewisse Kontrolle über die eigene Vergangenheit verliehen. Tatsächlich hatten meine Brüder, Schwestern und ich dank ihrer Fürsorglichkeit ein sehr privilegiertes Leben, und möglicherweise wollte sie uns genau diese Einsicht vermitteln, wenn sie uns ihre Geschichten erzählte.

Der Mann neben mir starrte mich erneut an, aber das war mir jetzt, da ich Tränen von meinem Gesicht wischte, ziemlich egal. Ich überlegte, was Lizzy dazu sagen würde. Wahrscheinlich hätte ihr Ausruf gelautet: »Wo schau’n Sie denn verdammt nochmal hin?« Kurz darauf suchte ich Zerstreuung im Bordmagazin. Wie sich herausstellte, war es eher eine Art Bildschirm als Quelle für Lesestoff.

Das Signal zum Anschnallen leuchtete über unseren Köpfen auf, während die Maschine den Anflug auf London begann. Erleichtert spürte ich, dass meine Heimat näher rückte, während das Brummen und Pfeifen der großen Motoren uns sanft auf die Erde zurückbrachte. Ich musste noch den Anschlussflug nach Glasgow erreichen, um mich dem Geist meiner Mutter wirklich verbunden zu fühlen. Keine Ahnung, warum diese Empfindung auftauchte, aber sie war da. Zwar hatte ich den größten Teil meines Erwachsenenlebens damit verbracht, den Menschen mitzuteilen, dass der Geist derer, die wir lieben, uns nah ist und begleitet, wohin wir auch gehen. Obwohl ich davon nach wie vor fest überzeugt bin, hatte ich doch den Geist meiner Mutter seit ihrem Tod nicht mehr nah bei mir gefühlt.

Der Anschlussflug war auf die Minute pünktlich. Das hätte Lizzy gefallen. Im Handumdrehen saß ich wieder angeschnallt auf meinem Platz mit gesenkter Armlehne und aufrechter Rückenlehne, um mich auf den nächsten Start vorzubereiten.

Mir fiel auf, dass es draußen zu dunkeln begann, als wir in den dunstig grauen Himmel über London emporschnellten. In dem Maße, wie das Flugzeug sich vorwärts bewegte, liefen meine Erinnerungen rückwärts, und ich wusste auch, warum. Ich wollte mein Gedächtnis nach jeder wertvollen Reminiszenz an das Leben meiner Mutter durchsuchen, die lustigen ebenso aufspüren wie die traurigen – und vor allem jene, die Lizzy genau erfassten und zu der Frau machten, wie jeder sie kannte.

Ich war gebeten worden, beim Trauergottesdienst über sie zu sprechen, und wünschte mir eine besondere Rede, denn trotz ihrer Fehler bedeutete sie uns wirklich alles. Einige Ereignisse aus ihrem Leben sollten in so authentischer Weise wiedergegeben werden, dass sie für einen weiteren Moment fühlbar bei uns war. Schließlich wollte ich ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen und jeden an die wesentlichen Qualitäten und Stärken erinnern, die sie im Laufe ihrer sechsundachtzig Jahre auf dieser Welt gezeigt und hoffentlich an uns weitergegeben hatte.

Als ich mich langsam an die neue Umgebung gewöhnte, kam mir der Gedanke, wie stark Lizzy sowohl physisch als auch mental in ihrem ganzen Leben gewesen war. Auf diesen Aspekt würde ich mich in meiner Rede gewiss konzentrieren. Wie sanfte Wellen zogen Erinnerungen durch meinen Kopf und gaben mir zu verstehen, dass eine wichtige Botschaft an die Oberfläche kommen wollte.

Plötzlich sah ich mich als kleinen Jungen. Ich war ungefähr drei Jahre alt und hielt die Hand meiner Mutter, die neben mir ging. Ich erinnerte mich, dass ich zu ihr aufschaute und redete – ja, zweifellos redete ich, denn meine Mutter hatte stets betont, dass ich vom ersten Augenblick an, da ich sprechen lernte, nie mehr den Mund hielt. Danke, Lizzy.

Wir beide setzten den Weg fort, bis ein vertrautes Gebäude in unseren Blick geriet – das Haus, in dem wir damals und die meiste Zeit meiner Kindheit wohnten: 97 Mansel Street im Stadtteil Balornock, ein großer schwarzer Kasten mit vier Apartments auf der nördlichen Seite von Glasgow. Dorthin waren wir umgezogen, als ich zwei war, weil Papa unbedingt einen Garten wollte. Seltsam, wie lang der Zugang zur Haustür in meiner Erinnerung schien, obwohl er in Wirklichkeit nur etwa fünf Meter maß.

Dann tauchte aus dem Nirgendwo ein schreckliches Ereignis auf, das ich ganz gewiss erlebt hatte, das aber aus irgendeinem mir unerfindlichen Grund in den fernen Tiefen meines Innern verborgen geblieben war. Ich stand auf jenem schwarz geteerten Gartenpfad, als eine heftige Regung mich überkam. Heute ist mir bewusst, dass ich dieses Gefühl zum ersten Mal empfand: Angst. Und mir dämmerte, warum ich mich so sehr fürchtete: Meine Mutter hatte unversehens meine Hand losgelassen. Im Rückblick erkannte ich, dass jenes Kind, das ich beobachtete, die Angst seiner Mutter gespürt haben musste, wohl infolge der abrupten Art, wie sie sich von ihm freimachte. Ich war erfüllt von der Angst des Kindes.

Lizzy ging nun langsam in unser leeres Haus und rief laut: »Wer iss da? Ich weiß, dass jemand hier drin iss.« Als ich mir die Szene vergegenwärtigte, war es, als spürte ich das Adrenalin durch den Körper meiner Mutter schießen. Vorsichtig bewegte sie sich weiter durch den schmalen Flur. Ein Kraftfeld nervöser Stärke, das zu pulsieren schien, hatte sich rings um sie gebildet, und als kleiner Junge fühlte ich mich mit dem Rhythmus dieses Pulsschlags verbunden. Dann verschwand Lizzy in einem der drei Schlafzimmer, das an den Flur grenzte. In diesem Moment vergrößerte sich noch die Angst des Kindes, weil es die Mutter aus den Augen verlor. Merkwürdig war, dass ich seine Angst von jener der Mutter unterscheiden und wahrnehmen konnte, in welcher Weise sie voneinander abwichen. Beide Ängste waren verknüpft und zugleich getrennt. Vor dem inneren Auge sah ich eine Löwin, die die drohende Gefahr wittert und sich anschickt, ihr Junges zu verteidigen, was immer auch geschehen mochte.

Meine Mutter wusste, dass an jenem Tag ein Fremder in unserer Wohnung war, weil sie bei unserer Rückkehr vom morgendlichen Einkauf bemerkt hatte, dass die Eingangstür einen Spaltbreit offen stand. Was ging ihr durch den Kopf, als sie sich in diese unbekannte und potenziell äußerst gefährliche Situ­ation begab? Viele Leute hätten die Flucht ergriffen oder um Hilfe gerufen, aber meine Mutter war nicht wie andere, zumal wenn ihr Heim oder ihre Kinder betroffen waren.

Die völlige Stille, die inzwischen eingetreten war, wurde jäh durchbrochen von einem ohrenbetäubenden Brüllen, wie ich es später noch häufig hören sollte: »Ahhrrrrrrrrrr!« Die Jagd war vorbei, und der laute Schrei war der meiner Mutter. Sie hatte einen jungen Mann ertappt, der sich unter einem der Betten versteckte. Hinterher erfuhr ich, dass er in unsere Wohnung eingedrungen war, um aus der Garderobe meines ältesten Bruders Tommy Kleidungsstücke zu stehlen, wobei wir ihn durch unsere Ankunft gestört hatten. Ihm blieb keine Zeit mehr, um einen klaren Gedanken zu fassen. Er wollte gerade durch die Eingangstür Reißaus nehmen, als er mein Geplapper hörte und hastig unters nächste Bett kroch – wahrscheinlich in der Hoffnung, zu entkommen, sobald wir uns im Wohnzimmer aufhielten.

Aus der Sicht des Kindes konnte ich jetzt nur einen Körper erkennen, der sich über einen anderen beugte, und dieser kroch und krabbelte über den Boden unseres Flurs, wurde geschlagen und getreten wie ein alter Hund.

»Du Dreckskerl, ich bring dich um, du verfluchter kleiner Tagedieb!«

»Bitte, Mrs Smith, bitte lass’n Sie mich lauf’n, tut mir leid.«

Der junge Mann rollte durch die Eingangstür, krümmte sich und rappelte sich auf, hielt sich den Magen mit der einen Hand, wollte mit der andern noch immer sein Gesicht schützen, während er an mir vorbeizueilen versuchte.

»Leid tut’s dir? Dir wird’s noch mehr leidtun, wenn unser Tommy nach Haus kommt, du verdammter feiger Gauner!«

Es handelte sich um einen unserer Nachbarn, der wusste, dass die Prügel meiner Mutter nichts waren im Vergleich zu dem, was mein Bruder ihm später antun würde.

Es war eine andere Zeit und eine andere Generation, die mit den Dingen des Lebens auf andere Weise verfuhr.

»Stärke und Mut«, flüsterte ich vor mich hin, als mir wieder einfiel, wie schnell Lizzy die Einkaufstüte vom Gartenpfad holte, nachdem der Einbrecher davongeschlichen war. Zuvor hatte sie die Tüte neben mir stehen lassen, um ihn zu ergreifen. Dann sah sie zu mir herab, als wäre ich eine weitere Einkaufstüte, die sie abgesetzt hatte, und sagte: »Los, mach schon, komm rein, ich kann nicht den ganzen verdammten Tag hier rumsteh’n.« Sowohl in der Gegenwart wie auch als Kind in der Erinnerung fühlte ich mich voller Energie; ein überschwängliches Gefühl in den Eingeweiden, gepaart mit der Gewissheit, dass man von dieser starken Person wirklich beschützt wurde. Mit drei Jahren weiß ein Mensch nicht, was richtig und was falsch ist, wohl aber, ob er beschützt wird. Das war die Art, wie meine Mutter ihre Liebe zeigte.

Die Maschine setzte nun zum Sinkflug an, und es erleichterte mich, ein Thema zu haben, auf das ich meine Rede aufbauen konnte. Unter mir tauchten die Lichter von Glasgow auf, ein weithin sichtbares orangefarbenes Meer. Als wir in die ersten Turbulenzen gerieten, wusste ich, dass ich meiner Heimatstadt nah war. Sicherlich ist im Himmel über Glasgow ein Loch, denn selbst bei klarer Nacht wird das Flugzeug auf dem Weg zur Landebahn immer über den Campsie Hills hin und her geworfen. Der Stoß rüttelte mein Denken wach, und mir wurde bewusst, dass ich zum ersten Mal ohne Lizzys physische Gegenwart in Glasgow sein würde. Ein weiterer Schlag, ein Scheppern, ein Ruck. Die Stöße fühlten sich an wie die Klapse oder Ohrfeigen meiner Mutter, die mir damit zu verstehen gab, dass ich nicht so denken oder handeln sollte. Manchmal konnte sie äußerst streng sein, dann wieder beruhigend wirken, wenn man es brauchte.

Während der Landung stiegen vielerlei Gedanken, Erinnerungen und Überlegungen in mir hoch. Mit vier Jahren befand ich mich an einem geschäftigen Samstagnachmittag mit Lizzy im Zentrum von Glasgow. Es war eine meiner frühesten und emotional am stärksten aufgeladenen Erinnerungen. Wie üblich hielt ich ihre Hand fest, das hatte sie mir immer wieder beigebracht. Ich sah mich um, musterte all die Leute in der belebten Straße. Dieser Anblick erfüllte mich mit Aufregung und Staunen. Plötzlich ließ ich aus irgendeinem Grund die Hand los. Ein oder zwei Sekunden lang war mir, als käme in der Straße voller Menschen, die in mehreren Richtungen an mir vorbeieilten, die Welt zum Stillstand: Das hektische Treiben ringsum war zu viel für einen Vierjährigen. Dann erst wurde mir klar, dass ich Lizzys Hand losgelassen hatte und ganz auf mich allein gestellt war. Die gleiche Angst ergriff mich jetzt bei dem Gedanken, meine Mutter zu verlieren, und zum zweiten Mal in den vier Tagen, seit ich die Nachricht von ihrem Tod erhalten hatte, kam ich mir so hilflos vor wie jener kleine Junge in meiner Erinnerung.

Ich entsann mich, wie ich aus purem Entsetzen »Mami, Mami, Mami, Mami, Mami!« schrie, und empfand diesen schrecklichen Moment so, als wäre er gestern gewesen. Mitten auf der überfüllten Argyll Street hielten Passanten inne und reagierten. »Hat wer ’n kleinen Jungen verlor’n?«, rief jemand über die Köpfe der Menge hinweg, und sofort war Lizzy zur Stelle, brüllte und fluchte. Sie kauerte sich vor mich, hielt mich an beiden Armen, wahrscheinlich genauso erleichtert wie ich, und sagte: »Alles okay, ich hab dich jetzt, Sohn.« Ich war in Sicherheit. Wie merkwürdig, dass mich gerade in dem Augenblick, als das Flugzeug in Glasgow landete, das gleiche Gefühl von Erleichterung überkam, wieder bei meiner Mutter zu sein. Es spielte keine Rolle, dass ich nun fünfzig Jahre alt war oder dass ich etwas wusste vom Leben nach dem Tod. Während ich die Stimme des Chef­stewards sagen hörte: »Meine Damen und Herren, willkommen in Glasgow!«, fühlte ich mich wirklich wie jener kleine Junge, der von seiner Mutter wohlbehalten in Empfang genommen worden war.

* * *

Mutter, Musik und Chaos

Es war der Sommer 1966, und ich war vier Jahre alt. Ein sehr heißer Tag, alle Fenster im Haus geöffnet und die Straße erfüllt von Geräuschen spielender Kinder. Einige Jungen kickten einen aufgeplatzten Lederfußball von einem Bürgersteig zum andern, während ein Hund dem alten, luftleeren Objekt hinterherjagte und in tiefer Frustration dauernd bellte.

Weiter unten auf dem Bürgersteig spielten Mädchen mit Hüpfseilen und sangen beim Springen kleine Lieder wie dieses:»On the mountain stands a castle and the owner Frankenstein with his daughter Pansy Potter she my only valentine.« (Auf dem Berg, da steht ein Schloss und der Schlossherr Frankenstein mit der Tochter Pansy Potter, mein geliebter Sonnenschein.) Von meinem Aussichtspunkt in unserem Wohnzimmer konnte ich vieles überblicken, was in der Straße vorging, und der Lärm, der aus verschiedenen Richtungen kam, schien voller Lebenskraft und Freude. Alles Geschehen schien das auszudrücken, was für mich nichts anderes bedeutete als .

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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