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Wales im 12. Jahrhundert: Während in England ein Bürgerkrieg tobt, rebellieren die Waliser unermüdlich gegen die neuen Machthaber. Um die Position der Normannen zu stärken, soll die junge Isabel, Tochter des mächtigen Geraldine-Geschlechts, den grausamen Sheriff von Pembroke heiraten. Doch am Vorabend der Hochzeit greifen die Rebellen an. Isabel kann fliehen und wird bald selbst zur Freiheitskämpferin. Der Sheriff hat seine Braut allerdings nicht vergessen und beauftragt den walisischen Prinzen Ralph le Walleys, sie zurückzuholen. Als die beiden sich ineinander verlieben, stehen sie plötzlich im Zentrum eines Krieges, in dem sie sich für eine Seite entscheiden müssen.
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Seitenzahl: 1062
Buch
Wales im 12. Jahrhundert: Während in England ein Bürgerkrieg tobt, nutzen die Waliser die Unruhen und rebellieren unermüdlich gegen die neuen Machthaber. Um die Position der Normannen zu stärken, soll die junge Isabel, Tochter des mächtigen Geraldine-Geschlechts, das sowohl von edelstem walisischem als auch normannischem Geblüt ist, den grausamen Sheriff von Pembroke heiraten. Doch am Vorabend der Hochzeit greifen die Fürstenbrüder von Südwales die Burg an. Kurzerhand entführen sie Isabel, um die Stellung des Sheriffs zu schwächen. Schon bald findet Isabel unter den Rebellenführern eine neue Familie und fühlt sich zum ersten Mal in ihrem Leben zugehörig. Fortan riskiert sie ihr Leben für den walisischen Freiheitskampf und lernt die Schrecken des Krieges kennen. Doch der Sheriff hat seine Braut nicht vergessen, und so wird der walisische Prinz Ralph le Walleys, ein Freund aus Isabels Kindheit, entsandt, um sie zurückzuholen. Als die beiden sich ineinander verlieben, stehen sie plötzlich im Zentrum eines Krieges, in dem sie sich für eine Seite entscheiden müssen.
Weitere Informationen zu Sabrina Qunaj
sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin
finden Sie am Ende des Buches.
Sabrina Qunaj
Das Blut
der Rebellin
Historischer Roman
1. Auflage
Originalausgabe April 2015
Copyright © 2015 by Sabrina Qunaj
Copyright © dieser Ausgabe 2015 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung
der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: FinePic®, München
MR · Herstellung: Str.
Satz: omnisatz GmbH, Berlin
Kartografie: Peter Palm, Berlin
ISBN: 978-3-641-14477-7
www.goldmann-verlag.de
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Für Lydia, die mit mir über Klippen kletterte
Dramatis Personae
Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet
Die Geraldines
Die Nachfahren der walisischen Fürstentochter Nesta ferch Rhys und ihrem normannischen Gemahl Gerald de Windsor nannten sich »Geraldines« – meist werden aber auch Nestas Söhne von anderen Männern in diese Bezeichnung mit eingeschlossen.
Isabel FitzWilliam de Carew*, die Enkeltochter der berühmt-berüchtigten Nesta, die sich den Walisern zugehörig fühlt
William FitzGerald*, ihr Vater und ein einflussreicher Lord in Pembrokeshire
Maurice FitzGerald*, Isabels Lieblingsonkel
David FitzGerald*, ein bedeutender Kirchenmann in Wales
Henry FitzRoy*, genannt »Harri«, Nestas Sohn von König Henry I.
Robert FitzStephen*, Nestas jüngster Sohn von ihrem zweiten Ehemann
Die Normannen und Flamen in Wales
Maria de Montgomery*, Isabels Mutter, die Enkeltochter des irischen Hochkönigs und Tochter von Arnulf de Montgomery, auch »Teufels Sohn« genannt
Alice de Montgomery*, ihre Schwester und Maurice FitzGeralds Gemahlin
William Hayt*, der Sheriff von Pembroke
Lady Hayt, seine Mutter
Roger de Brabant, ein landloser flämischer Ritter im Dienst des Sheriffs
William de Brabant*, sein verstorbener Vater, der sein Land an die Waliser verlor
Sir Hamon, ein Ritter im Dienst des Sheriffs
Odo, der flämische Kommandant in Llanrhidian
Roger de Clare*, der Earl of Hertford (jedoch meist als Earl of Clare angesprochen), der um sein Erbe Ceredigion kämpft
Walter Clifford*, ein Marcher Lord
Die Waliser
Um Ihnen das Lesen der walisischen Namen etwas zu erleichtern, finden Sie die Aussprache phonetisch geschrieben in Klammern. Dabei ist zu beachten, dass es im deutschen Alphabet oftmalig keinen Buchstaben gibt, um einen Laut des Walisischen korrekt auszudrücken. So soll dies nur eine Annäherung sein. Auch gibt es deutliche sprachliche Unterschiede zwischen Nord und Süd. Wissenswert ist noch, dass das »W« ähnlich wie im Englischen bei »with« ausgesprochen und das »R« stark gerollt wird.
Deheubarth, Südwales (De-hay-barth)
Cadell ap Gruffydd* (Ka-dell ap Gri-ffith), der Fürst von Südwales, der um sein Land kämpft
Anarawd ap Gruffydd* (An-ah-raud), sein verstorbener älterer Bruder, der durch Verräter aus Nordwales getötet wurde
Einion ap Anarawd* (Ay-ni-on), sein Sohn, der Kommandant von Rhys’ Kriegstruppe
Maredudd ap Gruffydd* (Ma-reh-dith), Cadells und Anarawds jüngerer Halbbruder, ein Sohn der berühmten Kriegerprinzessin Gwenllian
Eira (Ay-ra), seine Geliebte und Unterstützerin im Freiheitskampf
Cadwgan ap Maredudd* (Ca-duh-gan), Maredudds Sohn
Anwen ferch Maredudd, Maredudds und Eiras Tochter
Rhys ap Gruffydd* (Rh-ies), Maredudds jüngerer Bruder, der normannische Strategien annimmt
Gwenllian ferch Madog* (Gwen-chli-an), die Tochter des Fürsten von Powys und Rhys’ Gemahlin
Niall (Ni-all), Cadells irischer Vetter und Hofbarde
Einion, ein Krieger in Cadells Dienst
Nona, seine Frau
Nain (Na-in), eine alte Frau in Dinefwr (Din-ev-ur)
Crystin, die Gemahlin des Hofkaplans unter Maredudd
Gwyn (Gwin), ein Krieger in Maredudds Dienst
Iestyn (Jes-tin), der Kommandant über Maredudds Kriegsbande
Bryn (Brin), ein Bogenschütze unter Maredudd
Goronwy (Go-ron-wi), ein Krieger in Rhys’ Kriegsbande
Trystan (Tris-tan), der Bogenbauer in Tenby und ein Unterstützer der Rebellen
Madog, ein Schäfer in der Nähe von Tenby und Unterstützer der Rebellen
Gwladys (Gla-dies), seine Frau
Mari, ihre Tochter
Heledd (He-leth), eine Magd in Tenby
Rhian (Rhi-an), eine junge Frau in Llanrhidian (Chlan-rhi-di-an), die dort als Geisel gehalten wird
Gwynedd, Nordwales (Gwin-ef)
Owain Gwynedd* (O-wein), der Fürst von Nordwales
Cristin ferch Gronwy*, (Gron-wi) seine Frau
Hywel ap Owain* (Hau-wel), der Erbe Gwynedds, auch genannt »Poetenfürst«
Cadwaladr ap Gruffudd* (Cad-wa-la-der), ein Kriegsherr, der Anarawd aus Südwales ermorden ließ und dadurch mit seinem fürstlichen Bruder Owain brach
Ralph le Walleys*, sein Sohn, der unter den Normannen zum Ritter ausgebildet werden soll
Cunedda ap Cadwallon* (Ki-ne-tha ap Kad-wa-chlon), wird von seinem Onkel Owain Gwynedd geblendet und kastriert
Arthur*, der Bischof von Bangor, der von den Normannen nicht anerkannt und daher in Irland geweiht wurde
Cadwallon, ein Hirte in Aelwyd
Powys (Pau-is)
Madog ap Maredudd*, der Fürst von Powys
Iorwerth Goch* (Jor-werth), sein Halbbruder
Owain Cyfeiliog* (Ki-vay-li-jog), sein Neffe
Weitere Waliser
Cadwallon ap Madog*, der Fürst von Maelienydd (May-lih-en-ith)
Einion Clud*, der Fürst von Elfael
Blodeuedd (Blo-day-eth), »das Blumengesicht« aus der vierten Geschichte der Mabinogi
Gronwy, ein Jäger, der sich in Blodeuedd verliebt, aus der vierten Geschichte der Mabinogi
Lleu (Chl-ay), Blodeuedds Gemahl aus der vierten Geschichte der Mabinogi
England
Kaiserin Matilda*, die Tochter des verstorbenen Königs Henry I., die um ihre Krone kämpft
Stephen de Blois*, ihr Vetter, der sich selbst zum König krönte und gegen Matilda kämpft
Henry Plantagenet*, Matildas Sohn, später König Henry II.
Reginald de Dunstanville*, sein Onkel, ein illegitimer Sohn Henrys I., der Earl of Cornwall
Prolog
Geschichten sind die Nahrung für unseren Geist, so wie das Brot für unseren Körper. Wir brauchen Geschichten, um die langen Abende des Winters zu überbrücken und der Eintönigkeit unseres Lebens zu entfliehen. Wer möchte denn nur ein Leben führen, wenn er das von vielen besuchen kann? Geschichten geben dem Einfachen Glanz und lassen sich biegen und drehen, um die Ereignisse anzupassen. Egal, wie schrecklich das Erlebte, wie blutig unsere Kriege, in Geschichten lässt sich die Wahrheit verändern.
Geschichten verschaffen uns ewiges Leben, denn in ihnen atmen wir weiter. Wir werden zu Sagengestalten, und jede unserer Taten bekommt eine besondere Bedeutung zugemessen.
Wie angenehm, dass mein Name nichts ist als ein Name. In der walisischen Geschichte bin ich kaum mehr als eine Randbemerkung, die im Schatten einer berüchtigten Großmutter und anderer heldenhafter Familienmitglieder steht. Meine Geschichte mag im Vergleich simpel erscheinen, doch es sind die einfachen Dinge, jene ohne Glanz, die bedeutsamer sind als jede Heldentat.
Mein Name ist Isabel FitzWilliam de Carew. Ich bin die Enkeltochter einer walisischen Prinzessin und ihres normannischen Gemahls. So war ich stets auf der Suche nach meinem Platz in einer Welt des Umbruchs. In einem Krieg zwischen Walisern und Normannen, in dem Vettern gegen Vettern kämpften, wurde ich Zeugin der wahren Heldengeschichten …
Llansteffan Castle, Südwales, Sommer 1146
Wie ging die Geschichte weiter, Großmutter Nesta? Bekam er den Schatz?«
»Aber natürlich.« Nesta legte ihr die Hand auf die Schulter und führte sie vom Wasser weg, das in sanften Wellen an den Strand gespült wurde. »Henry bekam stets, was er wollte. Er zog sein Schwert, trat William de Breteuil entgegen und sagte: ›Eure Treue meinem Bruder gegenüber ehrt Euch, Mylord, doch der König ist tot, und Ihr tätet gut daran, Eurem neuen Souverän zu gehorchen.‹«
Isabel sprang begeistert in die Luft und hopste neben ihrer Großmutter her. »Und was geschah dann?«
»De Breteuil sah ein, dass er nichts unternehmen konnte, denn viele einflussreiche Barone standen auf Henrys Seite. Er gab den königlichen Schatz frei, und Henry zog zu seiner Krönung.«
Isabel entfuhr ein verträumtes Seufzen. »Ach, wie gerne wäre ich damals dabei gewesen.«
»Hinterher klingt alles sehr viel eindrucksvoller, als es tatsächlich war. Du hast ja keine Vorstellung, wie erschöpft und schmutzig wir nach diesem überstürzten Ritt nach Winchester waren. Oder wie groß die Angst und Verwirrung nach dem plötzlichen Tod des Königs.« Großmutter Nesta legte einen Arm um ihre Schultern und wies hoch zur Burg, die auf einem grasbewachsenen Hügel über dem Fluss thronte. Dichtes Buschwerk beugte sich über das himmelblaue Wasser, als sehnten sich die Pflanzen danach, in die Fluten einzutauchen. Ein paar Fischer saßen draußen in ihren Booten, um Lachse und Forellen zu fangen, und manch einer winkte ihnen zu. »Das hier ist die Wirklichkeit, Kind. Deine Familie, dein Zuhause. Du magst in die Ferne blicken und von längst vergangenen Heldensagen träumen, doch verliere dabei niemals aus den Augen, was direkt vor dir liegt.«
»Schlamm?« Isabel hob kichernd einen nackten Fuß aus dem Sand und wackelte mit den Zehen. Sie hatte den Saum ihres Kleides hochgebunden, aber trotzdem war sie bereits klitschnass.
Mit einem verstohlenen Blick zu ihrer Großmutter, die gedankenverloren in die Ferne sah, suchte Isabel den Boden am Ufer ab und hob schließlich einen größeren, abgerundeten Stein auf. Damit bewaffnet bewegte sie sich vorsichtig durch die Pfützen des Watts und beobachtete den im seichten Wasser stehenden Brachvogel mit seinem lustig aussehenden Schnabel, der sonderbar lang und nach unten gebogen war. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, knüpfte Isabel ihr ledernes Haarband im Nacken auf, legte den Stein in den breiteren Teil in der Mitte, holte aus und machte eine schnelle Bewegung in Richtung Vogel. Der Stein flog mit einem bedrohlichen Sausen von der Schleuder und platschte mehrere Fuß von seinem Ziel entfernt ins Wasser. Frustriert stieß Isabel den angehaltenen Atem aus und sah sich nach einem neuen Stein um, als ein Schatten auf sie fiel.
»Isabel FitzWilliam, was glaubst du eigentlich, was du da machst?«
Isabel zuckte zusammen, bemühte sich aber schnell um einen unschuldigen Ausdruck, als sie in das sturmumwölkte Antlitz ihrer Großmutter hochsah. »Mein Haarband ist plötzlich runtergefallen«, sagte sie und hob den Riemen aus Rindsleder, der aus zwei schmalen Bändern mit einem verbreiterten Mittelteil bestand.
»Nicht nur Geschichten hören willst du, du erfindest auch noch welche! Wo hast du die denn her?« Ihre Großmutter deutete auf die Schleuder, doch Isabel zuckte mit den Schultern.
»Das ist nur ein Haarband …« Sie wollte sich die Schleuder wieder umbinden, doch ihre Großmutter hob warnend die Augenbrauen, und so reichte Isabel sie ihr murrend.
»Ein hässlicheres Haarband hat es nie gegeben, Isabel. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass Steinschleudern nichts für junge Damen sind?«
»Aber …«
Ihre Großmutter ging vor ihr in die Hocke und sah ihr eindringlich in die Augen. »Du bist ein Mädchen, Isabel, und willst du ernst genommen werden, musst du mit anderen Waffen kämpfen. Mit der hier …«, sie hob die Schleuder und knüllte sie in ihren Händen zusammen, »… wirst du nur belächelt. Wissen ist die Waffe von Frauen, mein Kind, und die Gabe, dieses richtig einzusetzen. Frauen waren seit jeher in der Lage, Männer in den Krieg zu schicken oder sie im Frieden zu vereinen. Aber nicht indem sie waffenschwingend in den Kampf zogen. Wir Frauen führen unsere eigenen Schlachten, das wirst du allzu früh selbst lernen. Und jetzt komm, mein Kind, ich bin müde.« Sie strich ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht, die ihr der Wind immer wieder nach vorne blies, und lächelte, was den Tadel etwas entschärfte.
Trotzdem war Isabel bedrückt, als sie den Arm ihrer Großmutter ergriff, um sie beim steilen Weg den Hang hinauf zu stützen. Sie dachte über die Worte nach und befand, dass sie zwar gerne Geschichten hörte und immer mehr wissen wollte, aber gleichzeitig machte es ihr auch Spaß, mit der Schleuder umzugehen. Eine Waffe benutzen zu können gab ihr ein sicheres Gefühl, so wie die Burg auf dem Hügel, von der aus Wachen immer ein Auge auf sie hatten. Da das Gelände unterhalb der Burg von Bäumen befreit worden war, um Feinden keine Möglichkeit zur Deckung zu geben, überblickten die Männer ihres Onkels das ganze Flusstal. So konnte ihnen hier nichts geschehen, auch wenn alle immer nur von Krieg sprachen.
Konzentriert kletterte sie über ein paar Felsen, schob sich durch stacheliges Gestrüpp und half ihrer Großmutter über die rutschige Abkürzung. Wasser umspülte das Gestein unter ihnen und schlug rauschend dagegen, doch Isabel fürchtete sich nicht. Sie war hier schon oft entlanggegangen, und ihre Großmutter war trotz ihres hohen Alters von einundsechzig Jahren immer noch flink und voller Abenteuergeist. Sie hatte bereits so viel erlebt, und Isabel tat nichts lieber, als mit ihr über den Strand zu spazieren, die Flussluft auf ihrem Gesicht zu spüren und Geschichten zu lauschen.
»Großmutter?«
»Ja, mein Kind?«
Sie folgten dem Trampelpfad, der in einem Bogen zur Burg hinaufführte und neben dem Rinder weideten. »Glaubst du, wir werden jemals wieder einen König haben? Einen König wie Henry?« Sie sah hoch zu der Dame, auf deren Kopf ein weißer Schleier stufenförmig gleich einer Krone angeordnet war, und versuchte, in den grünen Augen zu lesen.
Ein Lächeln vertiefte die Falten um den Mund. »Einen König wie Henry wird es nicht mehr geben, Kind«, sagte sie schließlich und sah auf sie hinab. »Doch wir werden bestimmt wieder einen gerechten König bekommen … oder vielleicht sogar eine Königin.«
Isabel nickte zufrieden und stellte sich vor, wie es wäre, selbst Königin zu sein. In England herrschte Krieg, denn der große König Henry hatte nur eine Tochter als Erbin hinterlassen, und ein Gutteil der Barone hatte sich trotz Treueschwur von Matilda abgewandt. Sie wollten keine Frau auf dem Thron, und ihren Ehemann wollten sie noch weniger, wie ihr Vater stets sagte. Also hatte sich der Neffe des verstorbenen Königs selbst zum Nachfolger ernannt, und nun kämpften die Anhänger Matildas gegen die Anhänger Stephens um die englische Krone.
Isabel war eine gute Zuhörerin, und dass die Erwachsenen sie mit ihren acht Jahren nur für ein einfältiges Kind hielten, half ihr, immer neue Geschichten zu erfahren. Es gab nichts, was sie nicht wissen wollte, und nichts, was sie nicht zu verstehen versuchte – und ihre Großmutter ermutigte sie dabei.
»Großmutter Nesta, stimmt es, dass in jenem Moment, da König Henry seinen letzten Atemzug tat, zwei Seen in Elfael über die Ufer traten? Die Leute sagen, einer von ihnen überschwemmte ein ganzes Dorf und all die Menschen mussten mit ihrem Vieh in höhere Gefilde flüchten.«
»Das mag wohl so stimmen.« Ihre Großmutter beugte sich zu ihr hinab und senkte die Stimme, als verriete sie ihr ein Geheimnis. »Die Überschwemmungen lagen aber wohl eher daran, dass es damals wochenlang ohne Unterlass regnete, weniger an Henrys Tod.«
Lächelnd stemmte Isabel eine Hand in die Seite. »Ich glaube trotzdem, es war ein Zeichen …«
Ein lautstarker Fluch ließ sie hochblicken. Es war Bran, der Rinderhirte, der einem wild den Hügel hochlaufenden Kalb nacheilte. Kühe stoben auseinander, und ein ohrenbetäubendes Muhen drang zu ihnen herüber. Bran pfiff durch die Zähne, und sein zottiger Rüde setzte dem Kalb nach, und erst da bemerkte Isabel den anderen Hund, der zwischen den Rindern umherlief und wie toll nach ihnen schnappte. Im nächsten Moment zischte etwas Dunkles durch die Luft, und der wilde Hund brach lautlos zu Boden, als hätte die Hand Gottes ihn niedergestreckt.
Beeindruckt sah Isabel zu Bran, der gerade wieder seine Schleuder um seinen Kopf band, und als er Isabel und ihre Großmutter bemerkte, verneigte er sich. Isabel winkte ihm und wünschte, sie könnte ebenfalls derart präzise mit einer Schleuder umgehen. Wie hatte der alte Bran es nur vollbracht, den tollen Hund am Kopf zu erwischen?
»Er war es, nicht wahr?!« Ihre Großmutter deutete zu Bran hinüber, der seinem zurückgekehrten Hund das Fell kraulte. »Der Rinderhirte – er hat dir die Schleuder gegeben.«
Hitze stieg in ihren Wangen auf, sie fühlte sich ertappt, aber sie schüttelte entschieden den Kopf. Sie würde Bran nicht verraten. Er war ihr Freund, und er hatte ihr nicht nur eine Schleuder geschenkt, sondern ihr auch gezeigt, wie man damit umging. Sooft sie konnte, lief sie zu ihm auf die Weiden und übte, aber das sollte ihre Großmutter unter keinen Umständen erfahren, denn so gutmütig sie in Isabels Gegenwart war, so angsteinflößend konnte sie anderen gegenüber sein. Manche sagten hinter vorgehaltener Hand, sie wäre eine walisische Zauberin, und niemand zog gerne ihren Missmut auf sich.
Sanft nahm Isabel den Arm ihrer Großmutter, die Bran immer noch stirnrunzelnd musterte, und führte sie weiter den Hügel hinauf. »Wirst du mir noch eine Geschichte erzählen, wenn wir im Warmen sind?«, bat sie, hauptsächlich um die Aufmerksamkeit von Bran und seiner Schleuder zu lenken, andererseits aber auch, da sie Nestas Geschichten über alles liebte und unbedingt noch eine hören wollte. »Eine über Waliser, nicht über den König.«
»Die Geschichten dieser Gegend sind blutrünstig, Kind.«
Isabel zuckte mit den Schultern und blickte hoch zu den Wasservögeln, die kreischend über dem Fluss kreisten. Einzelne Sonnenstrahlen leuchteten aus den Wolken, der Regen hatte schon am Vormittag aufgehört. »Die sind besonders aufregend«, sagte sie und sah wieder zu ihrer Großmutter. »Aber du kennst bestimmt auch schöne Geschichten.«
»Nicht viele.« Plötzlich klang sie sehr müde, und als sie stehen blieb und die Augen schloss, strich Isabel ihr besorgt über den Arm.
Sie versuchte, den Blick der Dame einzufangen, und trat vor sie hin. »Geht es dir nicht gut?« Sofort bereute sie ihre Lüge und ihr ungehobeltes Verhalten mit der Schleuder, aber ihre Großmutter schüttelte den Kopf.
»Es ist alles in Ordnung.« Mit einem Mal lächelte sie wieder und setzte sich in Bewegung. »Ich kann dir die Geschichte von meinem Bruder Gruffydd erzählen und wie er sich in die Königstochter von Nordwales verliebte. Die beiden liefen zusammen fort, musst du wissen. Und Gwenllian war wohl auch eine Heldin ganz nach deinem Geschmack. Zwar schwang sie keine Schleuder, aber ein Schwert.«
»Das klingt aufregend!« Isabel blieb stehen. »Haben die beiden geheiratet? Geht die Geschichte gut aus?«
Ihre Großmutter sah an ihr vorbei zum Fluss hinaus und seufzte schwer. »Nein. Blutrünstig.«
Das Klackern beschlagener Hufe auf hartem Untergrund erklang, und Isabel drehte sich um. Sie spähte den Hang hinab und entdeckte zwei Reiter, die den festgetretenen Pfad zur Burg hinaufpreschten. Ohne einen Gruß stoben sie an ihr und ihrer Großmutter vorbei, ehe sie mit wehenden Umhängen in höher gelegenem Gelände verschwanden.
»Männer des Sheriffs«, erkannte ihre Großmutter sofort, und auch Isabel war das Wappen bekannt vorgekommen. Sie versuchte, sich solche Dinge stets zu merken, und kannte sich dank ihrer Großmutter auch schon ziemlich gut unter den Noblen dieses Landes aus.
Als sie die Palisade erreichten und durch das Torhaus gingen, spürte Isabel sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte kaum einen Fuß auf den vom Morgenregen durchweichten Boden gesetzt, als sie der ungewohnten Hektik im Hof gewahr wurde. Pagen, die nicht viel älter waren als sie, und Knappen liefen aufgeregt umher. Manche verschwanden im Stall, aus dem bereits gesattelte Pferde geführt wurden, andere trugen Waffen und Ringpanzer aus dem Palisadenturm. Ein Gutteil der Garnisonsbesatzung war im Hof versammelt, und dann erkannte Isabel ihren Onkel Maurice, der die Treppe des Erdhügels herablief. Er kam vom Wohnturm, und auch er trug sein Kettenhemd, den Helm unter den Arm geklemmt und sein Schwert gegürtet. Der Wind ließ sein halblanges braunes Haar um sein Gesicht wehen, und Isabel sah voller Bewunderung zu ihm auf. Ihr Onkel mochte von eher niederem Wuchs sein, wenn man so manchen Hünen der Garnison betrachtete, aber Isabel fand, dass seine dunklen Augen voller Heldenmut funkelten.
Pferde drängten sich bald im Hof, und Bogenschützen nahmen eilig die von den Knappen gebrachten Pfeile entgegen, um sie in ihre Beutel an den Hüften zu stecken. Bewaffnete Männer waren für Isabel nichts Neues, sie war unter ihnen aufgewachsen, aber dieses Durcheinander, die Anspannung und die Bedrohung hatte sie bisher noch nie so deutlich gespürt.
Dankbar lehnte sie ihren Kopf gegen die Brust ihrer Großmutter, als diese beschützend den Arm um sie legte. Sie führte Isabel ein wenig an den Rand unter den Wehrgang, um nicht im Weg zu stehen, aber Isabel hörte trotzdem, was ihr Onkel zu seinen Männern sagte: »Carmarthen wurde eingenommen. Jetzt marschieren sie entlang des Towy gen Süden.«
Der Griff ihrer Großmutter verstärkte sich, aber Isabel wagte nicht nachzufragen, was all das zu bedeuten hatte. Stattdessen versuchte sie selbst, die Worte zu verstehen. Der Towy war der Fluss, der direkt hier, an der Burg ihres Onkels, vorbeiführte und sich ein Stück weiter südlich mit anderen zusammenschloss und ins Meer mündete. Carmarthen lag ein paar Meilen flussaufwärts und war erst letztes Jahr wiederhergestellt worden. Isabel wusste das, weil der Earl of Pembroke damals hier vorbeigekommen war. Er hatte von Carmarthen gesprochen und davon, die rebellierenden Waliser in die Schranken zu weisen. Solch eine Begegnung vergaß sie nicht, schließlich war der Earl of Pembroke in dieser Gegend fast schon so etwas wie ein König. Zumeist hielt er sich in England auf, und es oblag ihrem Vater und den anderen Lords dieser Gegend, seine Grafschaft zu verteidigen, doch letztes Jahr war er hierhergekommen und hatte die Waliser angegriffen. Und jetzt schlugen sie zurück.
»Sie kommen direkt auf uns zu«, flüsterte sie, als sie begriff, was die Worte ihres Onkels bedeuteten. Carmarthen war von den Rebellen eingenommen worden, und wenn sie jetzt tatsächlich weiter in den Süden marschierten … »Die Waliser … sie kommen, um uns zu töten.«
»Aber nein.« Ihre Großmutter beugte sich zu ihr hinab und hob ihr Kinn an, sodass sie gezwungen war, sie anzusehen. »Dein Vater und dein Onkel werden sie aufhalten. Hast du die beiden Reiter nicht gesehen? Auch der Sheriff unterstützt sie. Niemandem wird etwas geschehen.« Die grünen, von Faltenkränzchen umrahmten Augen sahen sie eindringlich an. »Wir sind hier in Sicherheit, Isabel.«
»Aber …« Ein Zittern überkam sie. »Carmarthen … das liegt doch nur zwei oder drei Stunden entfernt! Sie werden gleich hier sein!«
»Ach, Isabel.« Neben unverkennbarer Sorge stand nun auch Belustigung in den weisen Augen, und im nächsten Moment fand Isabel sich in einer starken Umarmung wieder. »Für jemanden, der so gerne blutrünstige Geschichten hört, verlierst du aber schnell den Mut.«
»Mutter.«
Der Griff löste sich, und als Isabel hochblickte, erkannte sie ihren Onkel, der vor ihnen stand. Seine Miene war ungewöhnlich düster, sein wettergegerbtes Gesicht wirkte bleich. Die dunklen Haarsträhnen, die ihm der Wind ins Gesicht wehte, verstärkten diesen Eindruck noch. Er wandte sich an Nesta. »Bitte geht mit den anderen Frauen zum Wohnturm hoch. Alice ist bereits dort und trifft Vorkehrungen. Niemand geht mehr hinaus, bis ich wieder zurückkehre. Ich lasse eine Besatzung zurück, um die Palisaden zu verteidigen, aber falls …«, er atmete tief ein, »… falls wir geschlagen werden …«
»Nein.« Nesta legte ihre knochige Hand auf Maurices Wange. »Du wirst nicht geschlagen, mein Sohn. Du kommst zu uns zurück.« Es lag solch eine Entschlossenheit in der Stimme der Dame, dass Isabel sich sofort etwas zuversichtlicher fühlte. Auch auf Onkel Maurice schien die Bestimmtheit seiner Mutter zu wirken. Er legte seine Hand auf die von Nesta und verzog die Lippen zu einem gezwungenen Lächeln. »Ich komme zurück«, sagte er sanft. »Wir alle kommen zurück.« Er beugte sich vor und hauchte seiner Mutter einen Kuss auf die Stirn, dann ging er vor Isabel auf ein Knie nieder. »Ich möchte, dass du gut auf deine Großmutter achtgibst, Isabel.« Seine gütigen Augen sahen sie mit einer Zuneigung an, die ihr nur bei wenigen Menschen begegnete. »Pass auf, dass sie keine Dummheiten begeht, versprichst du mir das?«
»Ich verspreche es.« Isabel schloss ihre Hand um den Umhang ihrer Großmutter.
Onkel Maurice lächelte und zwinkerte ihr zu, ehe er sich erhob. »Mutter, ich bitte dich«, wandte er sich wieder an Nesta, »hab ein Auge auf Alice. Sie sagt es nicht, aber sie hat große Angst. Ich will nicht, dass sie sich aufregt.«
Ihre Großmutter lachte leise auf. »Ich werde mich schon um deine Gemahlin kümmern, mein Sohn«, sagte sie spöttisch und tätschelte Maurice die Schulter. Der schüttelte den Kopf und wandte sich ab, als ein weiterer Reiter durchs Torhaus hereinpreschte.
»Wie sollte es auch anders sein!«, erklang dessen donnernde Stimme, die Isabel zusammenzucken ließ. Sie erkannte sie sofort. »Der Earl of Pembroke legt einen Brand, und wir dürfen ihn löschen, jetzt, da er wieder in England weilt!«
»William!« Onkel Maurice ging auf den hünenhaften Reiter zu, der sich gerade aus dem Sattel schwang und den Helm abnahm. Goldenes Haar kam darunter zum Vorschein, es war dicht und leicht gelockt, genau so wie Isabels. Ihr Vater war gekommen.
»Wo hast du deine Männer gelassen?«, wollte Onkel Maurice von seinem Bruder wissen. »Du wirst doch wohl nicht allein in den Kampf ziehen?« Humor klang aus seiner Stimme, aber wie immer regte sich nichts im Gesicht des älteren.
»Meine Männer warten außerhalb des Dorfes und sind bereit zum Marsch. Ich habe von Anfang an gesagt, dass es eine Dummheit war, die Waliser derart zu reizen. Aber der Earl musste ja aus lauter Langeweile eine Kriegspause in England einlegen und hier Unfrieden stiften. Wir hatten die Waliser unter Kontrolle! Aber er greift sie im ganzen Land an, und um den Vergeltungsschlag dürfen wir uns jetzt kümmern!«
»Unter Kontrolle ist gut gesagt«, warf einer der Männer des Sheriffs ein. »Seit in England Krieg herrscht, werden die Waliser immer frecher. Und nur weil Ihr und Eure Brüder mit den Walisern verwandt seid, Mylord de Carew, und sie deshalb einen Bogen um Euch machen, heißt das nicht, dass wir anderen nicht unter ihnen zu leiden haben. Es wurde Zeit, dass sich ihnen jemand entgegenstellt, und der Earl hat es getan. Seine Dienste werden nun wieder in England und diesem elenden Krieg gefordert, aber ich nehme wohl an, dass wir stark genug sind, die paar Rebellen auszumerzen.«
»Die paar Rebellen haben gerade Carmarthen Castle eingenommen und die gesamte Garnison abgeschlachtet«, ließ sich Onkel Maurice vernehmen. Seine Männer nickten und gaben zustimmende Laute von sich. »Auch heißt es, sie hätten Unterstützung aus Nordwales bei sich. Wie sonst hätte es ihnen gelingen sollen, in Carmarthen so schnell einen Erfolg zu erzielen? Wir sollten die Macht nicht unterschätzen, der wir entgegenziehen.« Onkel Maurice sah seinen Männern noch einmal in die Augen, dann hob er die Hand zum Aufbruch. Er war zwar ein jüngerer Sohn Großmutter Nestas, aber Llansteffan war seine Burg, und hier hatte er das Sagen.
Sofort kam wieder Bewegung unter all die Menschen – Klirren, Klappern, Wiehern, Bellen und Stampfen erfüllten den Hof, und schließlich preschten die Reiter in einem Regen aus fliegenden Erdklumpen aus dem Torhaus. Onkel Maurice nickte Isabel und ihrer Großmutter noch einmal zu, während sein älterer Bruder mit einem einfachen »Madame« an ihnen vorbeiritt. Keine Worte des Abschieds, kein Gruß, kein Lächeln.
Isabel fragte sich, ob ihr Vater sie überhaupt bemerkt hatte. Vielleicht hatte er aber auch schon ganz vergessen, dass sie existierte und dass er sie voriges Jahr zu ihrem Onkel geschickt hatte, wo es sicherer sein sollte. Ihre Mutter hielt sich zurzeit auf dem Familiengut in England auf, da sie Wales nur schwer ertragen konnte, während Isabels Brüder zum Ritter ausgebildet wurden. Ihre einzige Schwester war letztes Jahr verheiratet worden, und so war Isabel übrig geblieben. Ihre Mutter hatte sie nicht nach England mitnehmen wollen, und Isabel musste sich eingestehen, dass sie froh darüber war. Sie wollte nicht fort von Wales, egal wie gefährlich es hier auch sein mochte. In England war es doch auch nicht besser, nach allem, was sie von diesem schrecklichen Bürgerkrieg gehört hatte. Aber ihr Vater konnte sich nicht um sie kümmern. Er war der Kastellan von Pembroke Castle und somit für die Grafschaft des Earl of Pembroke verantwortlich. Solange der Earl sich in England aufhielt, oblag ihrem Vater die Verwaltung des Landes. Und in Carew, wo Isabel aufgewachsen war, hätte sie ohne weibliche Führung und ohne Familie auskommen müssen. Also hatte er sie zu seinem Bruder Maurice ins nahe Llansteffan geschickt, und Isabel war nie glücklicher gewesen.
»Komm, Isabel.« Ihre Großmutter ergriff ihre Hand und führte sie hastig entlang der Palisade zurück zum Tor. Dort gingen sie die Holztreppe zum Verteidigungsring hoch, von wo aus man die nördliche Seite des Landes überblicken konnte. Ein paar Männer der verbliebenen Garnison gesellten sich zu ihnen, und so sahen sie vom Wehrgang aus schweigend über die saftig grünen Hügel, die sich wie Maulwurfhaufen aus der Erde hoben. Unweit der strohgedeckten Hütten, die sich um eine kleine Holzkirche versammelten, erkannte Isabel die Reiter. Sie waren winzig und kaum mehr als eine dunkle Wolke, die sich fortbewegte. Aber Isabel wusste, sie zogen in eine gefährliche Schlacht, und viele würden vielleicht nicht zurückkommen.
Von der steil abfallenden Küste ins sandige Ästuar folgte sie mit ihrem Blick dem blauen Band des Towy. Sonnenstrahlen glitzerten auf der Oberfläche und brachten den fast weißen Strand zum Leuchten. Irgendwo dort in der Ferne warteten die Waliser, um Isabels Heim zu zerstören – jene Männer, die Gegenstand so vieler Geschichten und Sagen waren. Sie waren die Helden in den Erzählungen ihrer Großmutter, und sie wurden verflucht in den Gesprächen der Männer in den Hallen. Sie warteten darauf, sich zurückzunehmen, was Isabels Vorfahren ihnen gestohlen hatten. Isabel gehörte nicht hierher, es war nicht ihr Land, sondern das der Rebellen. Um das zu wissen, musste sie nicht erwachsen sein. Denn auch in ihr floss ein Tropfen Waliserblut – Rebellenblut. Sie war nicht nur Normannin. Zwar war sie unter dem Volk der Eroberer aufgewachsen und normannisch erzogen worden, aber das Blut ihrer Großmutter war stark in ihr – denn Nesta war eine walisische Prinzessin gewesen. Sie hatte die walisische Lebensweise gekannt, war eine Keltin von nobelstem und ältestem Blute. Ihr Zuhause waren die Hallen des Königs von Südwales gewesen; vor ihrem Vater hatten die mächtigsten Männer das Knie gebeugt, ehe die Normannen gekommen waren, um alles zu zerstören und sie als Gefangene mitzunehmen. Nesta war in eine Ehe mit einem Normannen gezwungen worden und hatte damit eine normannische Linie gegründet, aber Isabel fühlte sich nicht nur normannisch. Sie spürte eine Verbindung zu diesem weiten Land, das sich vor ihr erstreckte, und zu seinem Volk. Sie fürchtete sich vor den walisischen Kriegern, die ihrem Onkel und ihrem Vater entgegenzogen, vor allem, da die Rebellen sie bisher immer in Frieden gelassen hatten und diese Bedrohung neu für sie war. Gleichzeitig aber hatte sie schon zu viele Geschichten ihrer Großmutter gehört, um nicht Mitgefühl mit ihnen zu empfinden. Manchmal des Nachts lag sie wach auf ihrem Lager und sah all die Heldensagen bildhaft vor sich: die Wikinger aus Irland, die in die Halle ihres walisischen Urgroßvaters schritten, um ihn im Kampf zu unterstützen. Die spektakuläre Flucht des verstorbenen Fürsten von Gwynedd aus normannischer Gefangenschaft. Die berüchtigte Entführung ihrer Großmutter, von der sie nie sprach und von der Isabel nur aus anderen Mündern gehört hatte. Egal in welcher Geschichte, Isabels Herz schlug stets mit den Walisern, auch wenn diese gerade im Begriff waren, ihre Familie anzugreifen. Ihr wäre es lieber, die Kunde von Krieg wäre tatsächlich nichts als eine Geschichte und sie eine Prinzessin in der Sicherheit ihres Turms – eine walisische Prinzessin, so wie ihre Großmutter es einst gewesen war. Denn nun, da tatsächlich bewaffnete Männer auf ihr Heim zumarschierten, erschien ihr die Vorstellung von Kampf und Krieg weit weniger romantisch und abenteuerlich.
»Du bist zu jung, um dir über Politik den Kopf zu zerbrechen, Kind.«
Überrascht blickte Isabel hoch ins Antlitz ihrer Großmutter. Manchmal überkam sie der Verdacht, die alte Dame könne Gedanken lesen. Vielleicht waren ihr ihre Grübeleien aber auch allzu deutlich im Gesicht abzulesen. Es fiel ihr schwer zu begreifen, dass die Rebellen so plötzlich zu einer unmittelbaren Gefahr geworden waren. Natürlich hatte sie immer mit dem Wissen gelebt, dass dort draußen gekämpft wurde und die Waliser ihr Land zurückzuerobern versuchten, aber in all der Zeit waren sie nie so nahe gekommen. Denn der Gefolgsmann des Sheriffs hatte recht: Ihre Familie war durch ihre Großmutter mit den walisischen Rebellen verwandt, sie alle hatten das Blut des Fürsten von Südwales in sich, und die Waliser hatten dies respektiert. Ihre Großmutter hatte immer betont, dass die Rebellenführer das Recht ihrer Familie, über diese Landstriche zu herrschen, anerkannten. Und was vielleicht noch wichtiger war: Ihre Familie hielt zusammen. Ihr Vater und drei ihrer Onkel waren mächtige Lords in dieser Gegend, genauso der Ehemann ihrer Tante, und einer ihrer Onkel war ein hoher Kirchenmann. Wenn einer angegriffen wurde, eilten die anderen zu Hilfe, und man stellte sich nicht leichtfertig gegen diese Macht. Was hatte sich also verändert? War es wirklich die Schuld des Earl of Pembroke, der verlorenes Land zurückzugewinnen versucht und die Waliser an die Grenzen ihrer Geduld getrieben hatte? War der Zorn der Waliser bereits so groß? Oder war es die Unterstützung aus dem Norden, von der ihr Onkel gesprochen hatte? Waren die ständig verfeindeten Stämme und Fürstentümer zu einer Einigung gekommen, um die normannischen Eroberer endgültig aus ihrem Land zu jagen?
Sie wollte ihre Großmutter nach den Antworten fragen, ihr versichern, dass sie alt genug war, aber ehe sie etwas sagen konnte, fuhr die Dame schon fort: »Es ist dir deutlich anzusehen, wie angestrengt du nachdenkst, Isabel. Du kriegst ja schon Falten auf der Stirn, und du kaust dir gleich deine Lippe wund.« Sie strich ihr übers Haar und wies zu der Linie, wo die grünen Hügel mit dem bewölkten Himmel verschmolzen. Dahinter waren die Reiter von Llansteffan verschwunden. »Wäre es nur Angst, die ich in deinen Augen lesen könnte, wäre ich weniger besorgt, doch es sind auch Neugierde und Zweifel – ich kenne diese Gefühle nur allzu gut. Mein ganzes Leben fragte ich mich, auf welche Seite ich gehöre, aber lass dir gesagt sein, Kind: Die Welt ist nicht immer schwarz und weiß. Es gibt auf der einen wie auf der anderen Seite gute und schlechte Menschen. Versuche, nicht immer nur in die Ferne zu blicken, sondern nimm auch wahr, was sich direkt vor dir befindet.«
Isabel verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber du bist auf der Seite der Waliser geboren und hast dich dann für die Normannen entschieden.«
Ihre Großmutter öffnete den Mund zu einer Erwiderung, sah sie dann aber nur mit gerunzelter Stirn an. Schließlich wandte sie sich seufzend ab und ging die Treppe zurück in den Hof hinunter. Isabel folgte ihr, denn sie hatte ihrem Onkel versprochen, auf ihre Großmutter aufzupassen. Und sie gedachte nicht, dieses Versprechen zu brechen.
Die Stimme ihrer Großmutter drang in ihre Träume, und als Isabel die Augen öffnete, begriff sie, dass sie während der Erzählungen eingeschlafen war. Sie lag im Bett ihrer Großmutter, denn sie hatte sich geweigert, zu den anderen Frauen zu gehen. Onkel Maurices Gemahlin Alice und die übrigen Damen von Llansteffan kauerten alle zusammen mit ihren Kindern in einem Gemach über der Halle und warteten auf die Rückkehr des Burgherrn, doch ihre Großmutter hatte darüber nur den Kopf geschüttelt. Es hatte keinen Sinn, sich über ungelegte Eier Sorgen zu machen, und so bevorzugte sie die Ruhe, die ihrem Alter zustand. Und Isabel war lieber in Gegenwart der unerschütterlichen Dame als unter all den wimmernden und verängstigten Frauen.
Jetzt aber drangen sonderbare Geräusche an ihre Ohren. Rufe, sich ständig wiederholendes Klirren und dumpfer Donner. Waren die Männer zurück?
»Isabel!« Ihre Großmutter legte beide Hände auf Isabels Wangen und fing ihren unsteten Blick ein. »Wach auf, Isabel. Sieh mich an. Du musst mir jetzt ganz genau zuhören und ruhig bleiben! So wie Gwenllian, von der ich dir vorhin erzählt habe. Tapfer und ruhig.«
Angst schnürte Isabels Kehle zu. Gwenllian aus der Geschichte war ihrem Feind auf dem Schlachtfeld gegenübergetreten und dann hingerichtet worden. Mussten sie etwa alle sterben?
Plötzlich hörte sie Stimmen aus der benachbarten Kammer. Die Burg erwachte, und Lady Alice sagte irgendetwas in drängendem Tonfall im Gang draußen.
»Du bist ein gutes Kind«, sagte ihre Großmutter und sah ihr liebevoll in die Augen. »Hör jetzt aufmerksam zu: Die Burg wird angegriffen, und jeden Moment werden fremde Männer hier hochkommen.«
Ein Zittern überlief ihren Körper, und sie konnte ihre Großmutter nur aus großen Augen anstarren, die drängend fortfuhr: »Niemand wird dir etwas antun. Dafür werde ich sorgen. Du bleibst einfach still und versuchst, nicht die Aufmerksamkeit der Männer zu erregen, verstehst du mich? Du bleibst ein Schatten, Kind.«
Isabel brachte nur ein schwaches Nicken zustande. Die Rebellen waren hier! Sie waren wirklich hier, und bestimmt war ihnen ganz egal, dass Isabel sie nicht als Feinde betrachtete.
Plötzlich schwang die Tür auf, und Isabel schrie auf. Gemeinsam mit ihrer Großmutter fuhr sie herum, doch es war nur Lady Alice, die hereineilte. Mit einem Umhang über dem Nachthemd und der Schlafhaube auf dem Kopf sah sie aus wie ein Geist. Ihr schwarzes Haar hatte sich zum Teil aus dem Zopf gelöst und fiel ihr über die Brust zum Bauch hinab. Lampenschein ergoss sich ins Gemach.
»Nesta«, sagte die Burgherrin zu ihrer Schwiegermutter, und purer Schrecken stand in ihren Augen. »Maurice, er …«
Nesta erhob sich aus dem Bett und schritt auf Lady Alice zu. »Es ist nicht gesagt, dass ihm etwas geschehen ist.« Sie legte ihre Hände auf die Schultern der kleingewachsenen Frau. »Noch ist es zu früh zum Trauern. Jetzt ist die Zeit, um ans eigene Überleben zu denken, hast du mich verstanden, Alice? Ich möchte, dass du zu den anderen Frauen und den Kindern in die Kammer gehst. Verriegle sie nicht und …«
»Nicht verriegeln?« Lady Alice zitterte am ganzen Leib, das konnte Isabel deutlich erkennen, als sie näher an die beiden herantrat. »Aber wir können doch nicht …«
»Sie kommen so oder so hinein, Alice. Es ist besser, wir geben den Männern nichts, was sie unnötig provoziert. Jetzt geh in die Kammer, sag den anderen, dass sie ruhig bleiben sollen. Wer auch immer da draußen ist – ich werde mit ihnen reden.«
»Reden? Aber Nesta, das sind Barbaren …« Lady Alices Kopf fuhr herum. Stimmen erklangen in der Halle unter ihnen, schnelle Schritte bewegten sich zur Treppe.
»Geh jetzt.« Nesta schob ihre Schwiegertochter von sich und in den Flur hinaus. »Geh zu den anderen, und um der Liebe Gottes willen, reg dich in deinem Zustand nicht auf. Maurice erwartet, zu einer gesunden Frau und seinem ungeborenen Kind zurückzukehren. Bring mich nicht in Schwierigkeiten.«
Lady Alice starrte ihre Schwiegermutter an, doch sie schien am entschlossenen Ausdruck der alten Dame zu erkennen, dass Widerworte vergebens waren. Schließlich war Nesta nicht für ihre Nachgiebigkeit bekannt. Auch hatte sie schon mehrere solche Überfälle überlebt und wusste bestimmt, was zu tun war.
Ein Schrei, so qualvoll, wie ihn Isabel noch nie zuvor gehört hatte, zerriss die Stille, und sie zuckte zusammen. Erst dachte sie, es wäre ein Tier gewesen, aber als ein weiterer folgte und das Klirren von Waffen immer näher kam, wusste sie, es waren Menschen, die starben. Das Poltern im Treppenhaus klang, als wären die Kämpfe nur noch wenige Schritte entfernt, und Isabel konnte vor Angst kaum noch atmen.
»Komm, mein Kind, schnell.« Lady Alice streckte ihre Hand nach Isabel aus, um sie mit in die Kammer zu nehmen, doch Isabel ergriff Nestas Arm und beschied bestimmt: »Ich bleibe bei Großmutter.«
Lady Alice schüttelte den Kopf und trat zurück in den Raum, doch Nesta hielt sie auf. »Geh zu den anderen«, sagte sie sanft. »Isabel wird nichts geschehen. Sie ist bei mir sicher.«
Den Blick, den Lady Alice und ihre Großmutter tauschten, wusste Isabel nicht zu deuten, doch er war beunruhigend. Nicht so sehr jedoch wie die plötzliche Stille im Treppenhaus, die nur durch die Stimmen in der Halle unter ihnen an Vollkommenheit verlor. Im nächsten Moment erklang ein Rumpeln und Poltern, als fiele etwas Schweres die Stufen hinunter, und dann kamen die kräftigen Schritte zurück, nahmen die letzten Biegungen der Wendeltreppe. Lady Alice lief aus der Kammer und schloss die Tür des Frauengemachs hinter sich, woraufhin Nesta in den Gang hinaustrat. Sie drückte Isabels Hand und atmete tief durch.
»Keine Angst, Isabel. Schon morgen wird dieser Augenblick Geschichte sein. Du wirst mit einem Becher Ziegenmilch am Feuer sitzen und deinem Vater von deiner Tapferkeit erzählen.«
Fackelschein fiel in den finsteren Gang, breitete sich darin aus und griff nach ihnen. Isabel kniff ein wenig die Augen zusammen, da sie geblendet wurde, doch sie erkannte die Silhouetten bewaffneter Männer, die sich mit wachsamen Schritten auf sie zubewegten. Unbewusst hob sie ihre Hand, um die Schleuder aus ihrem Haar zu nehmen, doch ihre Großmutter hatte sie ihr ja weggenommen. Sie wäre ohnehin nutzlos gewesen, da sie keine Steine hatte, aber trotzdem hätte sie sich mit der Waffe in der Hand etwas sicherer gefühlt.
»Da ist jemand«, hörte sie einen von ihnen in der walisischen Sprache sagen, und als sie näher kamen, bemerkte Isabel, dass es gut eine Handvoll war, die sich in den engen Raum vor dem Treppenhaus drängte. Vom Hof und der Halle her vernahm sie aber viele mehr.
Ihre Großmutter seufzte erleichtert neben ihr auf und schien einen Moment lang zu wanken. »Cadell«, stieß sie aus und bekreuzigte sich.
Verwirrt sah Isabel zu ihrer Großmutter hoch, Erleichterung war das Letzte, was sie jetzt empfand, aber da löste sich einer der Männer aus der Gruppe, ließ sein Schwert sinken und übergab die Fackel nach hinten. Seine mächtige Gestalt schien die gesamte Breite des Raums einzunehmen, ehe er vor ihnen stehen blieb und auf sie hinabsah. Ein prachtvoller, pelzgefütterter Umhang zierte seine Schultern.
»Tante.« Seine Stimme klang kühl, aber Isabel meinte, einen Hauch von einem Lächeln unter dem dunklen Bart zucken zu sehen, der vom Fackelschein rötlich beleuchtet wurde. »Ich hätte nicht erwartet, dich hier zu sehen. Die Umstände dieses Treffens bedaure ich.«
»Meine Söhne?«
»Sind am Leben.«
Ihre Großmutter verstärkte den Griff um Isabels Hand und schloss einen Moment lang die Augen.
»Sind noch Männer hier oben?«, fragte Cadell, doch ihre Großmutter schüttelte den Kopf. »Frauen und Kinder«, antwortete sie, woraufhin Cadell nickte.
Isabel sah mit angehaltenem Atem zwischen den beiden hin und her. Sie verstand die walisische Sprache gut, denn ihre Großmutter hatte sie ihr beigebracht. Auch gab es ein paar walisische Kinder im Dorf, mit denen sie gespielt hatte. Dieser Mann hatte ihre Großmutter als Tante angesprochen, und somit konnte es sich bei ihm nur um den Fürsten von Südwales handeln. Er war der Anführer der Rebellen, jener Mann, dessen Name stets mit einem Fluch oder mit deutlicher Besorgnis ausgesprochen wurde. Seine Überfälle und immer erfolgreicheren Angriffe auf normannische Burgen machten ihn zum größten Feind in Südwales. Sein Ziel war es, das Fürstentum seiner Vorväter zurückzuerobern – ein Land, über das Nestas Vater einst geherrscht hatte und für das ihr Bruder im Kampf gestorben war. Denn während ihre Großmutter nach dem Tod ihres Vaters durch eine Ehe auf normannische Seite gezwungen worden war, hatte ihr Bruder sein Erbe angetreten und stets für die walisische Seite gekämpft. Jetzt war er tot, doch seine Söhne waren walisische Streiter geblieben. Isabel wurde klar, dass sie einem von ihnen gegenüberstand. Cadell war ihr Feind, doch er war vom selben Blut. Isabel wusste nicht, was sie denken sollte. Über die Rebellen zu sprechen und von ihnen zu hören war etwas anderes, als ihnen gegenüberzustehen.
»Wo sind meine Söhne?«, wollte ihre Großmutter wissen, ihre Stimme zitterte, was für Isabel ungewohnt zu hören war.
Cadell zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, auf dem Weg nach Pembroke, um Verstärkung zu holen. Ich habe ihre Armee geschlagen, sie haben nichts mehr, was sie mir entgegensetzen könnten.«
»Wenn du das nur sagst, um mich zu beruhigen, ich schwöre, dann …«
Cadell sah Nesta einen Moment lang stumm an, sein Gesicht lag im Schatten, aber Isabel sah das Funkeln seiner Augen. »Du hast mein Wort, ich ließ sie gehen.«
Ein schweres Seufzen entrang sich ihrer Großmutter, dann bekreuzigte sie sich erneut. »Dem Herrn sei gedankt.«
»Du solltest weniger dem Herrn als mir dafür danken, Tante.« Cadell verschränkte die Arme vor der Brust. »Nicht jeder meiner Männer hätte sie verschont, und Familienbande erreichen Grenzen, wenn mein Land brennt.«
»Ich bin dir von Herzen dankbar, Cadell. In diesem Krieg geraten Ehre und Gnade beinahe schon in Vergessenheit.«
»Mit Ehre und Gnade werden auch keine Kriege gewonnen«, erklang plötzlich eine noch sehr jung klingende Stimme von den wartenden Männern. Cadell atmete hörbar aus. »Tante, du erinnerst dich an meine Brüder?« Er wies nach hinten zu den Männern, von denen sich zwei Gestalten lösten. Das Fackellicht kam näher, und nun bemerkte Isabel zum ersten Mal das Blut, das wie Sommersprossen die Gesichter der Fremden bedeckte. Eine brennende Übelkeit stieg in ihr hoch. Ihre Vorstellungsgabe war schon immer Fluch und Segen zugleich gewesen. Fast schon meinte sie, die Menschen vor sich zu sehen, denen dieses Blut einst Leben geschenkt hatte. Sie waren Teil der Garnison gewesen, Isabel hatte sie gekannt.
»Maredudd und Rhys.« Der zärtliche Ton ihrer Großmutter riss sie aus ihren Gedanken. Nesta ging auf die beiden jungen Männer zu, und da Isabel ihre Hand nicht losließ, musste sie mitgehen. Aus der Nähe erkannte sie, dass die beiden Hinzugekommenen erstaunlich jung waren. Der eine hatte einen dunklen Flaum über der Oberlippe, seine Gesichtszüge aber waren weich und jungenhaft. Isabel schätzte ihn auf fünfzehn oder sechzehn Jahre. Der andere war sogar noch jünger. Trotzdem waren auch ihre Gesichter von Blutspritzern übersät.
»Tante.« Die beiden klangen sehr viel abweisender als Cadell vorhin. Die Augen dieser Jungen und auch die der anderen Männer wirkten feindselig.
»Ich bedaure, euch hier im Kampf zu sehen.« Großmutter Nesta sah die beiden Jungen mit einem leisen Kopfschütteln an. »Einst hielt ich euch genauso wie eure Brüder im Arm und sang euch Lieder vor. Dieser Krieg fordert zu viel.«
»Unsere Brüder, ja?« Das Schnauben desselben Jungen, der vorhin gesprochen hatte, schlug ihnen entgegen. »Wir waren sechs Brüder«, sprach er weiter, und Isabel erkannte ihn als den jüngsten von ihnen. Ein Bursche, der kaum älter als dreizehn sein konnte. »Jetzt sind nur noch wir drei übrig. Zuerst habt ihr unsere Mutter und zwei unserer Brüder getötet, dann unseren Vater und dann noch einen weiteren Bruder. Du solltest an der britischen Sprache ersticken, da du sie in den Mund zu nehmen wagst, du freincische Hure!«
»Rhys!« Cadell fuhr zu seinem jüngsten Bruder herum, der beim Ansturm dieser massigen Gestalt im Fellumhang noch nicht einmal zuckte. »Wage es ja nie wieder, derart mit einer Tochter Deheubarths zu sprechen, hast du mich verstanden? Tante Nesta mag unter den Freinc leben, doch war ihr Vater Rhys ap Tewdwr, genauso wie der unseres Vaters. Sie stammt von nobelstem britischem Blute ab, also hüte deine Zunge, wenn du noch nicht einmal weißt, wovon du sprichst! Ich muss dich wohl nicht daran erinnern, dass unser Bruder Anarawd nicht durch die Hand der Freinc fiel, sondern durch den Verräter aus Nordwales!«
»Der von den Freinc beauftragt war«, erwiderte der Junge voller Verachtung. »Sie alle hier sind Freinc, unsere Tante ist längst eine Freinc. Ich kann nicht verstehen, dass du ihre Söhne am Leben gelassen hast. Ich sage, wir töten sie alle!«
Cadells Halsmuskeln spannten sich deutlich an, und Isabel starrte aus großen Augen zu ihm hoch. Er wirkte bedrohlich, und doch hätte sie sich am liebsten unter seinem Umhang versteckt, nur damit er sie vor seinen rachsüchtigen Brüdern beschützte. »Maredudd«, wandte er sich an den Jungen mit dem Flaum, seine Stimme kaum mehr als ein Knurren. »Du und Rhys, geht nach unten, und sorgt dafür, dass die Rabauken aus Nordwales nichts Unüberlegtes tun. Jetzt.«
»So wirst du unser Land niemals zurückgewinnen!«, rief Rhys, während sein Bruder ihn durch den Gang davonzerrte. »Deheubarth ist verloren, wenn du keine Stärke zeigst! Das Blut unserer Familie wurde umsonst vergossen!« Seine Stimme verhallte im Treppenhaus, und Isabel wagte erst jetzt, wieder richtig zu atmen.
»Sie sind zu jung für diesen Kampf«, sagte ihre Großmutter, die immer noch dahin blickte, wo die beiden Jungen verschwunden waren. Schließlich wandte sie sich an Cadell. »Was hast du nun mit uns vor?«
Cadell wies zur Treppe, wo noch zwei seiner Männer bereitstanden. »Wir geleiten euch sicher bis vor die Tore. Euch soll kein Leid geschehen, du hast mein Wort, Tante.« Er verneigte sich knapp, und mit dieser Geste fiel sein Blick zum ersten Mal auf Isabel. Sie erstarrte vor Schreck. Nicht, weil sie sich vor ihm fürchtete – nicht sehr zumindest. Doch der gerade Blick dieses Rebellenführers war einschüchternd. Jetzt war es zu spät, sich noch im Gemach der Frauen zu verstecken, und so sah sie so ungerührt wie möglich zu ihm auf.
Grüne Augen, ähnlich denen ihrer Großmutter, schimmerten in dem wettergegerbten Gesicht, das von einer etwas schiefen Nase, Narben an der Wange und schmalen Lippen bestimmt wurde. Schwarzes Haar fiel ihm in den Nacken. Es wirkte verfilzt, und einzelne Strähnen klebten von Schweiß und Blut zusammen, doch noch war kein Grau darin zu erkennen. Ein kurzgehaltener Bart zierte das Kinn und verlief deutlich üppiger auch über die Oberlippe.
»Maurices Tochter?«, wollte er wissen, ohne den Blick von ihr zu nehmen.
Nesta trat einen Schritt vor und verstellte Isabel die Sicht. »Williams«, erwiderte sie und sah ihrem Neffen ins Gesicht, der immer noch auf Isabel hinabblickte. Isabel spähte an ihrer Großmutter vorbei und erwiderte den Blick aus den grünen Augen.
»Du hast ihr deine Schönheit vermacht«, meinte er abwesend an Nesta gerichtet, die als schönste Frau von Wales und England gegolten hatte. Eine Schönheit, die ihr nur Probleme beschert hatte, wie sie stets betonte.
»Denk nicht einmal daran, Cadell«, sagte ihre Großmutter ruhig, aber doch eindringlich, wobei Isabel nicht verstand, was sie meinte.
Cadell hob nun zum ersten Mal den Blick und sah seiner Tante in die Augen. »Sie ist die Tochter deines Erstgeborenen. Sie wäre etwas für Rhys.«
Ein Schauer überzog ihre Haut. Allein die Erwähnung dieses hasserfüllten Jungen ließ sie frösteln.
Ihre Großmutter trat dicht vor den Fürsten hin und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. »Du wirst mich töten müssen, ehe ich zulasse, dass du sie mitnimmst. Lass sie hier, ich bitte dich, Cadell. Wenn die Zeit reif ist, wird mein Sohn mit dir über eine Verbindung sprechen. Du brauchst keine Geisel.«
»Bis die Zeit reif ist, ist sie eine Freinc geworden. Bei uns kann sie eine Britin sein. Sie garantiert uns, dass mein Vetter die Füße stillhält.« Er ging vor ihr in die Hocke, und Isabel sah ihn trotzig an.
»Sprichst du meine Sprache?«, fragte er sanft, ohne sich um die Anspannung ihrer Großmutter zu kümmern.
Isabel nickte entschlossen, woraufhin sich Cadells Lippen zu einem Lächeln verzogen.
»Das ist gut. Mein Name ist Cadell ap Gruffydd. Ich bin der Vetter deines Vaters. Du siehst: Wir sind Familie. Du musst dich nicht fürchten.«
»Ich habe keine Angst«, sagte sie, woraufhin der Fürst die Augenbrauen hochzog. Er schien belustigt. »Ach nein?«
»Nein«, erwiderte Isabel knapp und versuchte, möglichst viel Überzeugung in das eine Wort zu legen. Dann fügte sie hinzu: »Gwenllian hatte auch keine Angst im Angesicht ihres Feindes.«
Cadell nahm einen ernsten Ausdruck an, aber Isabel bemerkte, dass der nur gespielt war, denn seine Augen funkelten immer noch freundlich. »Tatsächlich? Aber ich bin nicht dein Feind.«
Isabel sah an ihm vorbei, wo vorhin noch seine jungen Brüder gestanden hatten, und als Cadell über die Schulter zurückblickte, seufzte er. »Du musst wissen«, sagte er und atmete hörbar ein, »dieser vorlaute Junge und der andere kleine Hitzkopf, das sind meine Brüder. Gwenllian, von der dir bestimmt deine Großmutter erzählt hat, war ihre Mutter. Deshalb sind die beiden so zornig. Gwenllian war meine Stiefmutter, und es freut mich, dass du dir ein Beispiel an ihr nehmen willst. Leider verloren wir sie unter wenig erfreulichen Umständen.«
Isabel hielt den Atem an. Erst jetzt kam ihr der Vergleich mit Gwenllian ungeheuerlich und beleidigend vor, schließlich war Gwenllian im Kampf gegen die Normannen gestorben – im Kampf gegen ihr Volk. Cadell musste sie für gedankenlos halten, da sie sich mit einer Heldin der Waliser verglich, doch er schien gar nicht böse.
»Verrätst du mir deinen Namen?«
Seine Freundlichkeit verwirrte sie, und so brachte sie diesmal nur ein Flüstern hervor: »Isabel.«
ENDE DER LESEPROBE