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Wales 12. Jahrhundert: Basilia, uneheliche Tochter einer Magd und des mächtigen Richard de Clares, wird mit fünfzehn nach Irland gebracht, wo sich ihr Vater ein bedeutendes Reich geschaffen hat. An der Seite ihrer Stiefmutter, der schillernden irischen Prinzessin Aoife, beginnt für Basilia ein neues Leben. Sie lernt das fremde, raue Land lieben, in dem die Clans sich erbittert gegen die Herrschaft de Clares‘ wehren. Als dieser seine Tochter mit einem seiner grausamen Gefolgsmänner vermählt statt mit ihrer heimlichen Liebe, dem Ritter Raymond FitzGerald, stürzt das nicht nur Basilia ins Unglück. Denn die Fehde zwischen Raymond und ihrem Vater löst blutige Unruhen im ganzen Land aus ...
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Seitenzahl: 902
Buch
Wales im 12. Jahrhundert: Lia kennt als Tochter einer walisischen Magd und des normannischen Lords Richard de Clare nichts als Missgunst. Doch als ihr Vater sie mit fünfzehn nach Irland bringt, wo er sich zum Missfallen des englischen Königs ein mächtiges Reich aufgebaut hat, und sie in die Obhut seiner Ehefrau Aoife gibt, beginnt für sie ein neues Leben. Die fremde Prinzessin bringt Lia das faszinierende, wilde Land näher, in dem die Clans sich allerdings erbittert gegen die Herrschaft de Clares wehren. Und als dieser seine Tochter mit einem seiner Gefolgsmänner vermählt statt mit ihrer heimlichen Liebe, dem Ritter Raymond FitzGerald, stürzt das nicht nur Lia ins Unglück. Denn die gefährliche Fehde zwischen ihrem Vater und Raymond löst Unruhen unter den Besatzern aus, auf die die Iren nur gewartet haben …
Weitere Informationen zu Sabrina Qunaj
sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin
finden Sie am Ende des Buches.
SABRINA QUNAJ
Die fremde
Prinzessin
Historischer Roman
Für alle Leserinnen und Leser, die mich auf der Reise
durch die Zeit mit den Geraldines
begleitet haben
Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet
In Striguil
Basilia de Clare*, illegitime Tochter des Earl of Striguil und einer walisischen Magd
Alina de Clare*, ihre Zwillingsschwester
Richard de Clare* , ihr Bruder
Strongbow – Richard FitzGilbert de Clare*, ihr Vater und mächtiger Baron Englands
Isabel de Beaumont*, Strongbows Mutter
Hervey de Montmorency*, Strongbows Onkel väterlicherseits und Ehemann Isabels
Robert de Quincy*, ein Ritter in Strongbows Haushalt
Elen ferch Davydd, Basilias Mutter, Magd auf der Burg Striguil
Marared ferch Davydd, Basilias Tante, arbeitet in der Taverne von Striguil
Siwan, Marareds Tochter
Davydd, Basilias Großvater, der Pfeilmacher
Colwyn, Sohn eines Fischers im Dorf
Merfyn, Händler, der sich in Striguil ein gutes Geschäft verspricht
Rhian, seine Frau
Nerys, ihre Tochter
Gareth, ein Händler
Gildas ap Rhydderch, ein Schäfer aus Elfael und Freund von Davydd
Die Geraldines:
Die Nachfahren der walisischen Fürstentochter Nesta ferch Rhys und ihres normannischen Gemahls Gerald de Windsor nannten sich »Geraldines« – meist werden aber auch Nestas Söhne von anderen Männern in diese Bezeichnung miteingeschlossen. Das »Fitz« bedeutet »Sohn von«. Viele spätere Generationen nannten sich aber FitzGerald, obwohl sich der Name auf den Großvater oder Urgroßvater bezog, da sie damit ihre Zugehörigkeit zum Clan der Geraldines verdeutlichten. So wird Raymond le Gros auch meist FitzGerald genannt, obwohl sein Vater William hieß.
Raymond FitzWilliam de Carew (le Gros)*, ein berühmt-berüchtigter Ritter in Strongbows Haushalt
William FitzGerald*, sein Vater, Lord von Carew und Emlyn, Constable von Pembroke
Maria de Montgomery*, seine Mutter
Griffin FitzWilliam*, Raymonds grausamer Bruder
Isabel FitzWilliam*, Raymonds abenteuerliche Schwester
David le Walleys*, Isabels Sohn von einem walisischen Prinzen
Maurice FitzGerald*, Raymonds Onkel, der sein Land in Wales verlor und sein Glück in Irland sucht
Nesta FitzMaurice*, Raymonds Cousine, Maurice FitzGeralds Tochter
William FitzMaurice*, Nestas Bruder, der von Pockennarben gezeichnet ist
Meilyr FitzHenry*, Raymonds Vetter und enger Freund von Maurice de Prendergast
Robert FitzStephen*, Raymonds Onkel, der in Wales und in Irland in Gefangenschaft gerät
Milo de Cogan*, Raymonds Vetter, Knappe in Strongbows Dienst
Milo FitzBishop*, Raymonds Vetter, illegitimer Sohn des Bischofs von St. David
Weitere Eroberer:
Henry Plantagenet, Henry II.*, König von England
Maurice de Prendergast*, ein flämischer Lord, Strongbows bester Freund
Walter Bloet*, ein Ritter in Strongbows Dienst
Ralph Bloet*, sein Bruder
Geoffrey FitzRobert*, ein wissbegieriger Knappe in Strongbows Dienst
John de Hereford*, ein Ritter in Strongbows Dienst
Richard de Hereford*, ein Ritter in Strongbows Dienst
Adam de Hereford*, ein Ritter in Strongbows Dienst
John de Clahull*, der Marshal Strongbows
Robert de Birmingham*, ein Ritter in Strongbows Dienst
William FitzAudelin*, der Dapifer des Königs
Humphrey de Bohun*, der Lord High Constable des Königs
Hugh de Lacy*, ein Nobler im Gefolge des Königs, der sein Vertrauen genießt
Waliser
Rhys ap Gruffydd*, der rechtmäßige Erbe von Südwales, der große Erfolge gegen die Normannen erzielt
Gwilym, ein Bogenschütze in Strongbows Gefolge
Niah, die mysteriöse Geliebte von Maurice de Prendergast
Iren
Um Ihnen das Lesen zu erleichtern, habe ich mich in diesem Buch anstatt der gälischen für die englische Schreibweise der irischen Namen entschieden, obwohl diese erst nach der Eroberung Irlands entstanden ist.
Dermot McMurrough*, verbannter Fürst von Leinster, der in England Hilfe sucht
Aoife McMurrough*, seine Tochter
Donnell Kavanagh*, Dermots ältester und illegitimer Sohn
Murtough Mac Murrough*, Aoifes und Donnells Vetter
Morice Regan*, Dermots Sekretär
Cailech, Donnell Kavanaghs Champion und enger Freund
Donnell Mac Gillapatrick*, Fürst von Ossory, Freund von Maurice de Prendergast
Rory O’Connor*, Fürst von Connaught, Hochkönig Irlands
Tiernan O’Rourke*, der »Einäugige«, Fürst von Breifne, dem seine Frau von Dermot McMurrough aus Leinster gestohlen wurde, was den Krieg zwischen den irischen Fürsten und somit auch die Eroberung durch die Normannen auslöste
Donnell O’Brian*, Fürst von Thomond, Dermot McMurroughs Schwiegersohn
Dermot Mac Carthy*, Fürst von Desmond
Faelán Mac Faeláin *, widerspenstiger Clanführer von Offelan
Dermot O’Dempsy*, gegnerischer Clanführer von Offaly
O’Foirtchern*, gegnerische Clanführer
O’Nolan*, gegnerische Clanführer
Ostmänner (Dänen undNorweger inIrland, einstigeWikinger)
Fretellus*, Stadtführer Waterfords
Sitric Weitblick, Stadtführer Wexfords
Weitere Charaktere:
Eugène Perrè, ein Händler aus Antwerpen
Hildraed, eine sächsische Magd in Ferns
Ethil, eine sächsische Magd in Ferns
Was macht uns zu etwas Besonderem, worin liegt unser Wert? Seit ich zurückdenken kann, hat man mir erklärt, ein Nichts zu sein. Ich bin keine Waliserin, nur weil meine Mutter eine ist. Ich bin keine Normannin, auch wenn mein Vater zu den Mächtigsten dieses Volkes gehört. Beide Seiten sehen mich als Kind des Feindes, als Bastard, befleckt, und noch nicht einmal in meine Familie aus Sündern passe ich hinein.
Aber ist es tatsächlich unsere Geburt und Abstammung, die uns ausmacht? Oder sind es unsere Taten, die unseren Wert bemessen und das Besondere in uns zum Strahlen bringen?
In meinem Leben bin ich vielen erstaunlichen Menschen begegnet. Königen und Bauern, Fürsten und Hirten, Prinzen und Bastarden. Ich habe Schönheit gefunden, strahlend wie alles Gold eines Königreichs, und Hässliches, das einen Einblick in den Abgrund der Hölle gibt. Und zumeist steckte beides in nur einem Menschen. Selbst in mir.
Mein Name ist Basilia de Clare. Ich war eine Feder im Sturm, wurde von einer Seite zur anderen gezerrt, aber sind wir das nicht alle, bis wir die Wahrheit tief in unserem Inneren entdecken?
Lia duckte sich unter einer Handvoll Pferdedung hinweg. »Meine Großmutter zielt besser, Colwyn! Und die ist eine Lady – die kann überhaupt nicht werfen!«
»Ach ja?« Colwyn wischte sich die Hände im taunassen Gras ab und ballte sie zu Fäusten. »Komm her, wenn du dich traust, und sag das noch einmal!«
Lia wandte sich demonstrativ ab, sie sollte lieber nicht darauf eingehen.
»Also doch ein Feigling!« Colwyn stampfte auf den Boden, kam aber nicht näher. Das tat er selten, meist gab er sich damit zufrieden, sie aus der Ferne zu beleidigen. Er war neun Jahre alt, nur wenig älter als sie, aber er sah sehr viel stärker aus. Sein Vater war einer der Fischer aus dem Dorf, hier im Schatten der Burg von Striguil. Er versorgte die Garnison mit allem, was der Fluss so hergab, während Colwyn lieber herumstreifte und Ärger machte.
»Komm, Alina.« Lia nahm ihre Zwillingsschwester bei der Hand und hob mit der anderen den Weidenkorb mit dem Leinen auf. »Wir müssen uns beeilen. Wenn Mam heute Abend von der Arbeit auf der Burg zurückkommt und keine saubere Wäsche findet, gerbt sie uns das Fell.«
Alina warf ihr einen ihrer typisch tadelnden Blicke zu. »Deine Sprache lässt zu wünschen übrig – wie immer. Und wärest du nicht stehen geblieben, um mit Colwyn zu streiten, müssten wir uns nicht so beeilen … wie immer.«
»Dann ziehe ich dich das nächste Mal eben nicht mehr aus dem Weg, wenn er Mist nach uns wirft.«
»Du weißt, was Mam sagt, Basilia: Gall pechod mawr ddyfod trwy ddrws bychan – eine große Sünde kann durch eine kleine Tür eintreten.«
Lia verengte die Augen, sie hasste es, wenn ihre Schwester sich so altklug benahm und sie mit ihrem vollen Namen ansprach. Es war ein Name, der nicht zu ihr passte. Er gehörte zu strengen, normannischen Ladys, zu Frauen, die auf steinernen Burgen lebten und nicht mit Dreck oder Schlimmerem beworfen wurden. Lia war weder eine Normannin noch eine Lady und fand ihren Namen daher eher verhöhnend. Sie wandte sich Alina zu, bemüht, einen halbwegs freundlichen Ton anzuschlagen. »Eine große Sünde? Was willst du damit sagen?«
»Dass du stets anzunehmen scheinst, deine Streitereien wären bedeutungslos. Als wären es nur ein paar harmlose Worte, während du in Wahrheit mit deinem Verhalten Schande über uns alle bringst. Du vergisst, dass der Herrgott es so vorgesehen hat, dass Mitglieder des schwachen Geschlechts sich nicht mit denen des starken messen.«
Kopfschüttelnd trat Lia nach einem Kieselstein. »Ich bin ganz bestimmt nicht schwächer als Colwyn.«
Alina schnappte empört nach Luft und bekreuzigte sich. »Nâd i’th dafod dorri dy wddf – lass deine Zunge dir nicht das Genick brechen.«
»Himmel, Alina, pass bloß auf, sonst unterstellt man dir noch, für ein Mädchen unschicklich klug zu sein.«
Alina funkelte sie an. »Ich kenne noch ein paar weise Worte: Y mae dafad ddu ym mhob praidd.«
Lia senkte den Blick, sie wollte es nicht zeigen, aber diese Worte trafen sie. Da ist ein schwarzes Schaf in jeder Herde. Wie oft hatte sie sich schon so gefühlt?
»Colwyn zu ignorieren ist das beste Heilmittel, wann lernst du das endlich, Basilia?«
Lia deutete mit dem Daumen hinter sich, Colwyns schlurfende Schritte waren deutlich im nassen Gras zu hören. »Wie du wünschst, Alina.«
Sie hatte kaum ausgesprochen, da kam der Fischerjunge auch schon an ihre Seite entlang des Ufers, seine unnatürlich langen Arme schwangen mit jedem Schritt vor und zurück. »Haltet ihr euch immer noch für was Besseres, Bastarde? Denkt ihr, ihr müsst euch nicht mit mir abgeben, nur weil eure Großmutter eine Lady ist?«
Er gab Lia einen Stoß in den Rücken, und sie biss die Zähne zusammen. Sie verbot sich, auf irgendeine Weise zu reagieren, ließ aber Alinas Hand los und legte ihr den Arm um die Schultern, um sie besser schützen zu können. Sie mochten nur selten einer Meinung sein, trotzdem fühlte Lia sich für ihre jüngere Schwester verantwortlich. Zwar war Alina nur kurz nach ihr geboren, aber sie war ein gutes Stück kleiner als sie und wäre nie in der Lage, sich gegen einen Grobian wie Colwyn zu wehren. Diese Aufgabe war seit jeher Lia zugefallen. Egal, ob sie das zu einem schwarzen Schaf machte oder nicht. »Verschwinde, bevor du es bereust.«
»Was willst du denn machen, he? Zu Väterchen laufen?« Noch ein Stoß. »Der ist nicht hier, und ansonsten schert sich niemand auch nur einen Dreck um euch.«
»Sag nichts«, zischte Alina und zwickte sie in die Seite. Doch der hochmütige, tadelnde Blick von gerade eben war verschwunden, stattdessen las Lia Furcht in ihren Augen.
Sie schluckte die Widerworte hinunter und konzentrierte sich auf ihr Ziel. Unbeirrt hielt sie auf die Stelle des Flusses zu, wo das Ufer flach hinabfiel und die Strömung friedlicher war. Ihre Mutter hatte ihnen immer wieder eingeschärft, nirgends anders zu nahe ans Wasser zu gehen, denn so knapp an der Mündung zum Severn türmten sich die Wellen mit den Gezeiten oft mehrere Fuß hoch, um sich dann weiß schäumend niederzuwerfen. Es wäre leicht, vom Gewässer mitgerissen zu werden und hinter der scharfen Biegung des Flusses für immer zu verschwinden. Einen Moment lang überlegte sie, Colwyn einen Schubs zu geben, erschrak aber sogleich selbst über diesen Gedanken. Der Priester hatte ihr oft bei der Beichte erklärt, dass ihre Fantasien frevelhaft und unchristlich waren, dass ihre Seele durch den Makel ihrer illegtitimen Geburt beschmutzt war und sie nur durch ständiges Beten auf Gottes Pfad überdauern konnte – so wie ihre tugendhafte Schwester.
»Alina, nimm die Hemden, ich fange mit den Überkleidern an.« Sie kniete sich ins nasskalte Gras und beugte sich über das Wasser. Vielleicht verschwand Colwyn wirklich, wenn sie ihm lange genug ihre Aufmerksamkeit verwehrten.
Sie konnten ihre Arbeit nur bei Flut erledigen, setzte die Ebbe ein, blieb kaum mehr als ein schlammiges Bett übrig, das Unwissende in seinem Treibsand verschluckte. Noch ein unchristlicher Gedanke streifte sie, während sie Colwyn hinter sich auf und ab gehen hörte. Was war nur los mit ihr? Sie sollte einfach ignorieren, dass er hier war. Es war ein taufrischer Frühlingsmorgen, an dem die Bäume am Ufer mit ihren rissigen Rinden silbern glänzten. Die Blätter strahlten in saftigem Grün und verhießen freundlichere, wärmere Zeiten. Darauf sollte sie sich konzentrieren, auf das Schöne, anstatt auf die auf- und abgehenden Schritte hinter sich.
Sie wollte gerade die ersten Kleidungsstücke ins eisige Nass tauchen, als ihr ein schmerzhafter Schlag in den Nacken die Luft entweichen ließ.
»Ich rede mit dir, Bastard! Plötzlich nicht mehr auf deinem hohen Ross, was? Glaubst du, ich verschwinde einfach? So wie der Anteil unserer Getreideration im Winter, die dein Vater einfach gestrichen hat?« Noch ein Schlag.
Alina wimmerte neben ihr und schrubbte mit der Aschelauge so energisch die Hemden, als könnte sie dadurch alles andere ausblenden. Dabei murmelte sie immer wieder leise: »Nicht, nicht, nicht.« Wie eine Beschwörung, aber Lia konnte nicht schweigen.
Sie warf Colwyn einen Blick über die Schulter zu. »Nimm dich in Acht, wenn du über meinen Vater sprichst. Er kommt zu Pfingsten zurück, vermutlich ist er längst auf dem Weg. Und wenn er hört …«
Colwyn lachte boshaft auf. »Der Earl ist weit weg im Frankenreich! Vielleicht ersäuft er auf der Heimreise im Meer, vielleicht fällt er in einer von König Henrys Schlachten auf dem Festland. Und was dann, Bastard? Was passiert dann mit deiner Hurenmutter und euch Halbblutbälgern? Wer wird euch beschützen?«
Lia stopfte die Kleider zurück in den Korb und rappelte sich auf, Alinas zischendes »Nein« ignorierend. Sie baute sich vor Colwyn auf, der ob ihres Vormarsches einen Moment lang erschrocken die Augen aufriss.
Sie war fast so groß wie er, dennoch bot er einen furchterregenden Anblick. Die schwarzen strähnigen Haare betonten seine blasse Haut, die riesige Nase und buschigen Augenbrauen wirkten riesig in seinem schmalen Gesicht. »Du sprichst von Dingen, die nicht geschehen sind und so Gott will, auch nicht wahr werden. Noch ist mein Vater einer der mächtigsten Männer in ganz Wales, England und der Normandie, und du tätest gut daran, dich zu erinnern, wie man seine Töchter behandelt.«
»Seine Bastarde!« Er gab ihr einen weiteren kleinen Schubs, nur um sie zu provozieren, nicht mehr, um sie zu verletzen. Vielleicht zeigten ihre Worte doch Wirkung. Der Schatten der Burg, das Wissen, wer ihr Vater war, hatten sie schon oft vor ernsthaftem Schaden bewahrt.
»Die Bastarde des Feindes!«
Lia atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Sie sollte seine Schikanen gewohnt sein, die anderen Kinder im Dorf behandelten sie selten anders. »Es ist schon erstaunlich, wie gerne du Bastard sagst, obwohl es doch ein Wort des Feindes ist.« Sie stemmte die Hände in die Seiten. »Mir scheint, du bist kein so reiner, stolzer Waliser, wie du vorgibst.« So wie das halbe Dorf, fügte sie in Gedanken hinzu. Denn die Waliser kannten Bastarde nicht. Für sie spielte es keine Rolle, ob ein Kind ehelich oder unehelich geboren war, solange der Vater es anerkannte. Aber das schien wohl nicht für Kinder eines normannischen Vaters zu gelten.
»Ich bin auch kein Waliser«, spuckte Colwyn ihr entgegen. »Nenn mich nicht beim Namen, den der Feind uns gegeben hat. Ich bin ein Brite, aber was verstehst du schon davon, Bastard, Halbblut, Tochter einer Hure, die sich zum Feind ins Bett legt und …«
Lia hörte nicht länger hin und kniete sich wieder an Alinas Seite, die sich vor- und zurückwiegte und summte. Sie musste ihre Arbeit erledigen, durfte Colwyns Worte nicht an sich heranlassen. Obwohl er mit einem recht hatte: Sie verstand das alles nicht.
Ihr Großvater hatte ihr einmal von einer Zeit erzählt, in der es noch keine Burgen, Ritter, Lords und Earls und schwere, alles niedertrampelnde Schlachtrösser in diesem Land gegeben hatte. Es hatte keine Normannen gegeben. Es war das Land der Briten gewesen, die von den Engländern »Waliser« – Fremde – genannt wurden. Ein Land der stolzen Fürsten und tapferen Krieger. Aber dann waren die Normannen aus dem fernen Frankenreich über das Meer gekommen und in England eingefallen. Sie hatten das angelsächsische Volk erobert und waren anschließend in ihre Heimat, nach Wales, gekommen, um auch die Briten zu bezwingen. Sie hatten Burgen wie die erbaut, auf die Lia jetzt blickte. Ein Zeichen der Macht, sagte ihr Großvater, der Unterdrückung. Im Westen und Norden von Wales hielten die britischen Fürsten immer noch fest an ihrem Kampf, an ihrer Rebellion für die Freiheit. Und sie waren stark. Sie waren nicht so leicht zu besiegen wie die Sachsen, die Engländer, die nun schon fast hundert Jahre unter normannischer Vorherrschaft standen.
Für Lia bedeutete all das nichts. Britischer Stolz, Freiheitskampf, Rebellion … Sie war hier unter diesem Bollwerk der Einschüchterung geboren, als Tochter eines normannischen Earls und einer walisischen Magd. Sie kannte nichts anderes als ein Leben unter den Normannen, deren Sprache kaum jemand hier verstand. Auch Colwyn kannte kein Normannisch, bis auf das Wort Bastard natürlich. Das hatte er aufgeschnappt, und es schien sein Lieblingswort geworden zu sein.
»Ich wette, ihr hattet genügend Getreide im Winter, nicht wahr? Ihr habt nicht zugesehen, wie eure Mutter sich zu Tode hungert, damit alle anderen essen können. Ihr habt kein Grab schaufeln müssen!« Colwyn kniete sich zwischen sie und Alina und sah zwischen ihnen hin und her. »Habt euch den Bauch vollgeschlagen.«
Lia sah Colwyn entsetzt an. Sie hatte vom Tod seiner Mutter gehört, war aber genauso wie alle anderen der Ansicht gewesen, sie wäre einem Fieber erlegen. »Colwyn, ich wusste nicht …«
»Ihr seid genauso wie die auf der Burg, schaut auf uns herab, lebt im Überfluss …«
»Das ist nicht wahr!« Lia streckte die Hand nach ihm aus, aber er schlug sie weg.
»Hör auf. Lass ihn.« Alina sah sie mit Unglauben über ihre Unbelehrbarkeit an, und Lia fand es in diesem Moment noch befremdlicher, ihr Spiegelbild vor sich zu sehen, zu wissen, dass andere sie nur durch ihren Größenunterschied auseinanderhalten konnten. Sie hatten dieselben grauen Augen, dasselbe rotgoldene Haar – Erbe ihres normannischen Vaters. Doch sie glichen sich nur äußerlich.
»Ach, der andere Bastard kann auch reden.« Colwyn wandte sich Alina zu, die sofort zurückwich.
Lia holte tief Atem. »Colwyn, dein Verlust tut mir leid, ganz ehrlich, aber wir hatten alle wenig. Mam nimmt keine Almosen«, sagte sie schnell, um die Aufmerksamkeit von ihrer Schwester zu lenken. »Sie schuftet jeden Tag oben in der Burg, bis ihr die Hände bluten. Sie würde nie zulassen, bevorzugt behandelt zu werden, sie ist eine stolze Britin! Wir mussten auch oft hungrig ins Bett, aber wir geben nicht anderen die Schuld!«
»Ach ja?« Colwyn wandte sich wieder ihr zu, und solche Mordlust funkelte in seinen Augen, dass Lias Herz einen Satz machte. »Dann schauen wir mal, wie stolz sie ist, wenn ihr Gör im Wye ersäuft.«
Lia fuhr zurück, erwartete bereits Colwyns kräftige Hände um ihren Hals zu spüren, doch er drehte sich unvermittelt um, packte Alina im Nacken und drückte sie nieder. »Luft anhalten, Bastard.« Alina schrie auf, und Lia konnte nicht mehr klar denken. Alles verschwamm vor ihren Augen, ihr wurde schrecklich heiß, und ihr Körper handelte ganz von selbst. Sie hörte sich ebenfalls schreien, sah ihre Fäuste auf Colwyn einschlagen, ihre Finger krallten sich in sein schlichtes naturbelassenes Hemd und zerfetzten es im Versuch, ihn wegzuzerren. Nichts half, er ließ nicht los, er drückte Alina ins Wasser, sie schlug um sich, strampelte, und Lia sprang auf, trat auf ihn ein, dann fiel ihr Blick plötzlich auf einen angeschwemmten Ast.
Mit wild hämmerndem Herzen rannte sie darauf zu, hob ihn mit all ihrer Kraft auf, obwohl er fast so lang war wie sie und taumelte zurück zu Colwyn. Nässe floss über ihr Gesicht, vielleicht waren es Tränen, sie hörte sich immer noch schreien, als sie ausholte und das schwere Holz auf Colwyns Rücken niedersausen ließ. Sofort klappte er zusammen, ließ Alina los, die sich hustend und röchelnd zur Seite drehte, aber Lia war noch nicht fertig. »Komm uns …«, sie schlug ihm auf die Schulter, sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, »… nie wieder zu nahe.« Sie holte erneut aus. Mit Schwung sauste der Ast nach vorne und traf ihn am Kopf.
»Basilia!« Alina streckte die Hand nach ihr aus, als könnte sie sie aufhalten, aber es war zu spät. Colwyn lag da, regungslos, Blut strömte aus einem Schnitt, wo früher mal seine Augenbraue gewesen war, quer über sein Gesicht.
»Oh, lieber Gott, Basilia, was hast du getan?« Alina sah sie aus schreckgeweiteten Augen an wie eine Fremde, und ihr fiel der Ast aus den Händen. Übelkeit kam in ihr hoch, ihr Magen hob sich, und ehe sie sich’s versah, würgte sie den Haferbrei vom Morgen ins Gras.
Alina sprang auf, eilte zu ihr, fasste sie aber nicht an. »Wieso Basilia? Wieso musst du immer so schrecklich sein? Wann denkst du endlich einmal nach, bevor du handelst? Was sollen wir denn jetzt machen? Ist er etwa tot?«
»Er hätte dich umgebracht, Alina«, erwiderte Lia matt, konnte den Blick aber nicht von Colwyn abwenden. Sie starrte auf seine Brust, suchte nach einem Anzeichen, dass er atmete.
Mit schwachen Knien ging sie näher heran, beugte sich hinunter und berührte ihn. Da war etwas. Sie blinzelte. Jetzt sah sie es an seinen Lippen, sie bewegten sich ganz leicht, wenn die Luft hindurchströmte. Er lebte noch!
»Oh Gott, ich danke dir.« Sie bekreuzigte sich und blickte gen Himmel. Ihre Erleichterung hielt aber nicht lange an, als ihr bewusst wurde, dass sie das nicht retten würde. Wenn Colwyn ernsthaft verletzt war oder sich erholte und anderen erzählte, was sie getan hatte, steckte sie in Schwierigkeiten. Welche Strafe erwartete sie? Erst vor Ostern hatte es einen Streit zwischen zwei Fischern gegeben, der so ausgeartet war, dass sich die beiden nicht nur selbst verletzt, sondern auch noch eine Fuhre der letzten Winteräpfel ruiniert hatten. Die Wachen aus der Burg waren dazwischengegangen und hatten beiden als Strafe ein Fingerglied abgeschnitten.
Lia sah auf ihre Hände hinab und schluckte. Sie wusste auch von einem Mann, der im Winter einen Rehbock geschossen hatte. Er war geblendet worden, obwohl er nur seine hungernde Familie hatte ernähren wollen. Der Constable der Burg, der hier das Sagen hatte, wenn ihr Vater fort war, kannte keine Gnade. Und er hasste die Bastarde seines Herrn. Was blühte ihr für die vermutlich folgenschwere Verletzung eines Jungen, der zu einem kräftigen Arbeiter herangewachsen wäre?
»Alina …« Ihre Stimme hörte sich sonderbar an, so heiser und schwach, sie erkannte sich gar nicht wieder. »Lauf nach Hause. Hol Hilfe. Großvater, Tante Marared … irgendjemanden. Colwyns Vater vielleicht auch.« Sie spürte Alinas Blick, die Fragen, den Vorwurf, aber zum Glück sagte sie nichts und gehorchte. Vermutlich war sie froh, vom schrecklichen Anblick des blutenden Jungen fortzukommen. Auch Lia hatte nichts anderes mehr im Sinn, als wegzulaufen.
Sie wartete, bis Alina im blühenden Apfelhain auf dem Weg zur Siedlung verschwunden war, dann überprüfte sie ein letztes Mal Colwyns Atmung und rannte los, das Flussufer entlang. Sie wusste nicht, wohin sie sollte, ihre Beine trugen sie wie von selbst. Sie überquerte die Ebene zwischen Burghügel und Wald, preschte durch Pfützen im kniehohen Gras und blickte zur fernen Erhöhung zu ihrer Linken, auf der die gelbliche Priorei-Kirche lag. Das Gotteshaus schaute auf sie hinunter, als wüsste es genau, was sie getan hatte, vorwurfsvoll, strafend, so wie der Priester bei ihren häufigen Beichten, zu denen ihre Mutter sie zwang. Der gewaltige Schatten der Burg in ihrem Rücken trieb sie weiter, während auf der anderen Seite des Hains ihr Zuhause lag – eine Holzhütte am Waldrand, fast schon verschluckt von der sich einen Weg bahnenden Natur. Dort lebte sie mit ihrem Großvater, dem Pfeilmacher, ihrer Mutter und ihrer Tante, die meist in der Taverne ihr Geld verdiente. Vermutlich war jetzt eher passend: Dort hatte sie gelebt, denn zurück konnte sie nicht mehr.
Nicht auszudenken, wie ihre Familie reagierte – sowohl ihre walisische, bei der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, als auch die normannische Seite, die meist nur ein ferner, unerreichbarer Schemen war, genauso wie die Burg. Aber wo sollte sie hin? Ihre Cousine Siwan, die Tochter Tante Marareds, hatte vor ein paar Jahren ins benachbarte Dorf eingeheiratet. Dort wäre sie vielleicht eine Weile sicher. Aber vermutlich suchte man bei Siwan als Erstes nach ihr. Dann gab es noch ihren großen Bruder Richard. Er war zwei Jahre älter als sie und lebte im Westen von Wales. Dort diente er einem Freund ihres Vaters als Knappe, dem flämischen Lord Maurice de Prendergast. Aus ihm würde mal ein Ritter werden. Meist vermisste sie ihn kaum, sie war noch so klein gewesen, als er gegangen war, aber heute könnte sie einen Bruder gut gebrauchen. Wie lange es wohl dauerte, um nach Prendergast zu kommen? Tage? Wochen? Wo war Westen?
Bestimmt hatte Alina ihren Großvater schon erreicht und lief mit ihm zusammen zurück zum Fluss. Fragten sie sich bereits, wo Lia war? Tränen verschleierten ihre Sicht, sie hatte ihr Zuhause längst hinter sich gelassen, vor ihr lag die Straße, die in den Wald hineinführte, zu fremden Orten, von denen sie nur in Geschichten gehört hatte.
Ein fernes Geräusch, das sich wie menschliche Stimmen anhörte, ließ sie innehalten. Sie lauschte, versuchte über ihren schnellen Atem und die lachenden Laute eines über ihr auf einem Ast sitzenden Grünspechts Genaueres zu verstehen. Die Geräusche kamen von hinter der Straßenbiegung. Lia hörte mehrere Stimmen, vermischt mit Klimpern und Scharren.
»Die Händler.« Ihr kam nur ein Flüstern über die Lippen, sie hatte ganz vergessen, dass zu Pfingsten fahrende Händler in Striguil vorbeizogen. Sie wussten, dass der Earl die Burg zu dieser Zeit besuchte, und erhofften sich von ihm und seinen Rittern ein gutes Geschäft.
Angespannt setzte sie sich wieder in Bewegung, wich von der Straße ins Dickicht und hockte sich ins Gestrüpp, hoffend, dass die Händler an ihr vorbeizogen, ohne sie zu entdecken. Mit angehaltenem Atem schob sie ein paar taunasse Blätter zur Seite und sah tatsächlich einen Karren, vor den zwei kaum vorwärtskommende Maultiere gespannt waren. Ein halbes Dutzend bunt gekleidete Männer und Frauen begleiteten den Zug, sie unterhielten sich fröhlich und ließen zwischendurch immer wieder die Peitsche knallen. Lia entdeckte Stoffe unter den Abdeckplanen, Kochgeschirr klimperte, und bestimmt gab es, versteckt in irgendwelchen Truhen, auch Kostbarkeiten wie Geschmeide, exotische Früchte und womöglich sogar Waffen.
»Die Garnison wird nach dem langen Winter kräftig zugreifen, und wenn der Earl eintrifft, werden wir reich.« Ein kräftiger Mann mit ergrautem, schütterem Haar und ausladendem Bauch knallte erneut die Peitsche. Er sprach walisisch, die Sprache des einfachen Volkes dieses Landes, seinen Bart hatte er wie die meisten Waliser komplett abgeschabt und nur über der Oberlippe stehen gelassen. Die Frau mit den schwarzen Locken an seiner Seite wies nach vorne. »Sollen wir zuvor in der Siedlung halten?«
»Auf dem Rückweg, wenn uns die Ritter noch etwas zu verkaufen lassen. Jetzt ist keine Zeit, du hast sie ja gesehen. Sie waren schon in Tintern Abbey, der Earl wird jeden Moment eintreffen.«
Lia hielt den Atem an. War ihr Vater wirklich so nahe? In Tintern Abbey lag die letzte Ruhestätte ihres Großvaters, sie befand sich kaum eine Stunde flussaufwärts von hier. Ihr Vater war zurück, er hatte die Kämpfe für König Henry im Frankenreich unbeschadet überstanden, er kam tatsächlich nach Hause!
»Und ich sage immer noch, dass wir uns vom Earl kein gutes Geschäft erhoffen können. Der hat doch mehr Schulden als das ganze Land zusammen. Er ist nichts mehr als ein feiner Name, seit der König ihm Pembroke weggenommen hat.« Ein kleiner dünner Mann drängte sich zwischen die beiden anderen, dessen Stimme jedoch so tief und tragend war, dass Lia sich nicht gewundert hätte, wäre sie auch noch für alle auf der Burg zu vernehmen. »Strongbow! Dass ich nicht lache! Sein Vater, ja, der war noch Strongbow, der war noch ein Earl, hat Länder ohne Ende gehalten, vor dem musste man sich fürchten, aber dieser jetzt? Der König verabscheut ihn, und der werte Earl rennt ihm dafür hinterher wie ein junger Welpe, um mal einen Knochen abzubekommen.«
»Das ist nicht wahr!«
Alle fuhren zu ihr herum, sogar die Maultiere zuckten unter ihrem Ruf zusammen und scheuten zur Seite.
Lia presste sich die Hand gegen den Mund, aber es war zu spät. Der kleine Dünne kam mit zwei schnellen Schritten auf sie zu. Sie versuchte noch zurückzurutschen, aber da hatte er sie schon am Arm gepackt und unsanft aus ihrem Versteck gezerrt.
»Na, wen haben wir denn da?«
»Lasst mich los!« Sie versuchte sich zu befreien, aber dafür, dass er so ausgehungert aussah, hatte der Waliser unglaubliche Kraft.
»Lass sie, Gareth, nur ein neugieriges Dorfkind.« Die schwarzhaarige Frau, die ungefähr im Alter ihrer Mutter sein musste, kam zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Hast wohl gehört, dass wir kommen, und wolltest dir all die schönen Dinge ansehen, nicht wahr? Hast du denn auch was in der Börse?«
Lia schüttelte den Kopf, das Kinn trotzig vorgeschoben.
»Und deine Eltern?«
»Der Earl …« Sie biss sich auf die Lippe und blickte schnell zu Boden. Das Letzte, das sie zugeben sollte, war, die Tochter Strongbows zu sein. Besser, die Händler hielten sie tatsächlich für ein armes, eingeschüchtertes Dorfkind. Sie schüttelte den Kopf, als wäre sie zu ängstlich, um zu sprechen.
»Jaja, der Earl …« Die Frau kniete vor ihr nieder und sah sie mit einem zahnlückigen Lächeln an. »Hat euch wohl auch alles genommen, nicht wahr? Wer alles in unsinnige Feldzüge steckt, um einen König zu beeindrucken, muss es wieder von irgendwoher holen.«
»Dabei ließe sich mit der Kleinen bestimmt gut Geld verdienen«, merkte der Dünne an und betrachtete sie von oben bis unten. »Kamen deine Eltern noch nie auf den Gedanken, dein hübsches Gesicht zu nutzen? Diese großen grauen Augen blitzen wie ein Gewitterhimmel, und mit dieser goldenen Pracht …« Er streckte die Hand nach ihrem Haar aus, und Lia wich zurück, funkelte ihn an, was ihn lachen ließ.
»Ja, ein wahres Juwel. Wenn sie noch singen oder tanzen kann …«
»Du hast recht.« Der Mann mit dem Fassbauch stützte sich auf die Peitsche und musterte sie nun ebenfalls. Nur in seinen Augen lag keine Berechnung, von ihm ging etwas Warmes, Gutmütiges aus, das Lia an ihren Großvater erinnerte. »Vielleicht sollten wir sie mit zur Burg nehmen und sie dem Earl zeigen. Er weiß Schönheit bestimmt zu schätzen. Lebt nicht auch seine Mutter auf der Burg, Gareth? Sie hätte bestimmt ihre Freude an so einem reizenden Ding.«
Fast wäre Lia ein abfälliger Laut entkommen. Ihre Großmutter mochte Schönheit etwas abgewinnen, aber nicht dem Bastard ihres Sohnes.
Gareth grinste breit. »Der Earl weiß bestimmt gar nicht, was für ein Schatz da unter seinem Gesinde herumläuft, und wird uns dankbar sein, ihn entdeckt zu haben. Schulden hin oder her, er ist immer noch ein Earl, und wer so eine Burg sein Eigen nennt, wird sich erkenntlich zeigen können.«
Lia wollte protestieren, diese Händler hatten nicht über sie zu entscheiden. Aber dann kam ihr ein Einfall. Ihr Vater würde bald hier eintreffen, das bedeutete, dass nicht länger der Constable der Burg über Recht und Unrecht entschied. Lia konnte ihm alles erklären, ohne einen Finger oder Schlimmeres zu verlieren.
Der freundliche Mann zog sie leicht am Ohr und lächelte aufmunternd. »Der Earl kann dich seiner Mutter schenken, dort würde es dir gutgehen, und deine Eltern wären wohl auch froh darüber, ein Maul weniger füllen zu müssen im Wissen, dass du da oben auf der Burg lebst.«
Lia senkte den Blick.
»Na, na, keine Angst, komm, hoch mit dir.« Er packte sie unvermittelt unter den Achseln und hob sie auf die Tücher auf dem Wagen. »Dann verrate uns mal deinen Namen. Ich bin Merfyn, das hier ist Rhian«, er zeigte auf die schwarzhaarige Frau, »unseren mürrischen Gareth kennst du ja schon, und da vorne bei den Viechern sind Nerys, Sion und Taran.« Die Händler hoben die Hände und winkten ihr zu.
Lia versuchte sich an einem Lächeln. »Ich heiße Lia«, flüsterte sie, froh darüber, nicht ihren wahren, normannischen Namen, den ihr Vater ihr gegeben hatte, nennen zu müssen. »Mein Großvater ist der Fletcher hier, er macht die besten Pfeile.«
Merfyn lachte. »Gut zu wissen.« Er öffnete den Beutel an seinem Gürtel und zog ein zerfleddertes Bündel heraus. »Hier.«
Lia faltete das Tuch vorsichtig auseinander und fand ein Stück angekohltes Haferfladenbrot darin.
»Du bist ganz blass, du musst etwas essen.«
»Vielen Dank.« Sie sah das Brot an und fühlte sich schlecht, von Menschen zu nehmen, die bestimmt selbst nicht viel hatten. Aber es wäre ihr unhöflich vorgekommen, Merfyns Freundlichkeit abzulehnen. Zwar war ihr immer noch übel, aber ihr Magen fühlte sich auch an wie ein hohler Stein, seit sie sich übergeben hatte. Bis zum Abendbrot würde sie es nie aushalten, ohne zu essen. Zögerlich biss sie ab und war erstaunt, wie gut es schmeckte.
Merfyn knallte die Peitsche, und der Wagen fuhr rumpelnd an. Schnell hielt sie sich an der Seite des Karrens fest.
»So, dann erzähl mal, was treibst du eigentlich hier draußen im Wald?«
Lia wies auf die schwarzhaarige Frau, sie musste sich Mühe geben, weiter ängstlich zu wirken und nicht allzu erleichtert, einen Weg in die Burg gefunden zu haben. »Wie Rhian schon gesagt hat. Ich war neugierig.« Sie biss erneut ab, um niemandem in die Augen sehen zu müssen.
»Nun, wir freuen uns, deiner Unterhaltung zu dienen. Als Gegenleistung erzählst du uns alles, was du über den Earl und seine Männer weißt.« Er tätschelte ihr Knie, ehe er erneut die Peitsche schwang. »Kinder merken sich alles, was geredet wird, und verstehen mehr, als die meisten glauben. Also erzähl. Wer hält heute die Burg, wenn der Earl hinter dem König herrennt?«
Basilia hielt im Kauen inne und befand, dass die Information keinen Schaden anrichten konnte. »Die Mutter des Earls – Lady Isabel de Beaumont. Und sein Onkel, der Constable – Sir Hervey de Montmorency.«
Merfyn seufzte schwer und tauschte einen Blick mit Gareth an seiner Seite. »Hat sich das also nicht geändert. Wir werden sehen, ob wir heute überhaupt ein Geschäft machen, bevor der Earl eintrifft. Der Constable ist nicht gerade gastfreundlich.«
Lia biss sich auf die Lippe, fast hätte sie »das könnt ihr laut sagen« gemurmelt. Stattdessen klammerte sie sich noch stärker fest, der Wagen holperte immer mehr. Die Römerstraße war teilweise gepflastert, aber zwischen den vergilbten Steinen hatten sich längst Gräser und Farne ausgebreitet. Auch die eine oder andere weiß blühende Blume reckte im Gitternetz aus Licht und Schatten ihr Köpfchen hervor.
Die Bäume standen so nahe an der Burg nicht mehr so dicht wie weiter westlich, wo das Gehölz wild verwachsen war. Hier hielt der gräfliche Förster den Wald in Zaum, ließ Holz schlagen für Feuer, Häuser und vor allem auch für Bögen. Schließlich unterstanden ihrem Vater die besten Bogenschützen des Landes, was ihm und schon seinem Vater davor den Namen Strongbow eingebracht hatte. Die Händler plauderten weiter über den Earl, über König Henrys Feldzüge im Frankenreich und über die aufständischen Waliser im Westen, denen sie den Sieg wünschten.
»Ich sage ja nicht, dass die Normannen nur schlecht sind«, ließ sich Gareth mit seiner volltönenden Stimme vernehmen. »Wir machen durchaus ein gutes Geschäft mit ihnen, aber ich wäre trotzdem nicht traurig, sie vom Rand der Erde fallen zu sehen und meine Waren nur noch wahren Briten feilzubieten.«
Rhian lachte, im zunehmenden Sonnenlicht zeigten sich ihre Falten deutlich, was sie älter wirken ließ, als Lia anfangs angenommen hatte. Vielleicht war sie die Frau des grauen Merfyn. »Ich wäre ja schon zufrieden, wenn es uns gelänge, sie nach England zurückzudrängen. Sollen die Sachsen sich mit ihnen herumschlagen. Schließlich waren sie es auch, die sich haben überrennen lassen und die ganze Bande ins Land ließen.«
Lia hörte nicht länger hin. Sie musste sich überlegen, wo sie sich in der Burg versteckte, bis ihr Vater eintraf, was sie ihm erzählte und wie sie zukünftig Colwyn aus dem Weg ging. Denn eines war sicher, er würde Rache suchen, sobald ihr Vater die Burg wieder verließ. Wenn er das noch konnte … Ob es ihrem Großvater gelungen war, ihm zu helfen?
Lia zog sich das Schultertuch über den Kopf und unterdrückte ein Schaudern. Wenn sie entdeckt wurde, ehe sie zur Burg gelangten, konnte ihr niemand mehr helfen.
Sie erreichten die grasbewachsene Ebene des Dorfes, und Lia machte sich so klein wie möglich. Das enge Tal bot den einzigen Zugang zur Burg. Auf der anderen Seite lagen die steil abfallenden Klippen zum Fluss, deshalb galt Striguil als uneinnehmbar. Am Fuße des Burghügels standen die Katen von Fischern, Handwerkern und Bauern mit ihren durch Hecken und geflochtenen Zäunen eingegrenzten Feldern eng beieinander. Rauch von den Herdfeuern stieg in Säulen von den Strohdächern auf und sammelte sich zu einer dunklen Wolke, die über dem Dorf hing. Die Menschen hier ernährten die Burg und profitierten im Gegenzug vom Schutz, den ein solches Bollwerk und die kampferprobte Garnison vor Raubbanden und der rauen Umwelt bot. Manchmal kamen Sachsen von England über den Fluss, um zu plündern, aber auch Briten fielen gerne in normannisch besetztes Land ein.
Vor ihr erhob sich Striguil Castle wie ein graues Ungetüm. Aus der Ferne wirkte sogar das Holz der Palisaden grau – ganz so, als wollte die Burg wie ein Gewittersturm auf seine Untergebenen herabblicken. Aber Lia hatte keine Angst vor diesen Mauern, eher erfüllten sie sie mit Ehrfurcht und heute auch mit der Hoffnung auf Schutz.
Wären die Dinge anders gelegen, hätte Gott entschieden, ihre Mutter als Hochwohlgeborene zur Erde zu schicken und nicht als einfache Magd, würde Lia in dieser Burg leben. Es wäre ihr Zuhause, Kinder wie Colwyn hätten nie gewagt, Hand an sie und ihre Schwester zu legen.
Vorsichtig schob sie ihr Tuch aus dem Gesicht und sah sich nach ihrer Familie oder Colwyns Angehörigen um, die auf der Suche nach ihr durch die Siedlung streiften. Aber nur ein paar Kinder von den Feldern betrachteten den Wagen, die Basilia aus der Ferne nicht erkannten. Noch nicht.
Am liebsten hätte sie selbst die Peitsche in die Hand genommen, um schneller voranzukommen. Sie bewegten sich quälend langsam vorwärts, der Weg war kaum noch befestigt und matschig vom Frühlingsregen.
»Hört ihr das?« Rhian sah zurück zum Wald, die Stirn in Falten gezogen. »Zieht ein Gewitter auf?«
Gareth schnaubte. »Der Himmel ist klar, dummes Weib.«
»Was ist es dann?«
Basilia lauschte ebenfalls. Da war etwas … sie konnte es über den Lärm der Händler eher spüren als hören, ein kaum vernehmbares Beben, wie der Nachhall eines Donners.
Erschrocken blickte sie zurück, und da drangen auch schon gerüstete Reiter aus dem Wald hinter ihnen. Die Hufe ihrer schweren Pferde stampften auf den Boden, gelb-rote Waffenröcke leuchteten so farbenfroh wie der Frühling über den Ringpanzern. Lanzenspitzen funkelten mit den Beschlägen der Zäume in der Sonne, die Beine der Tiere waren über und über mit Matsch besudelt, trotzdem tat das ihrem beeindruckenden Anblick keinen Abbruch.
Basilia sah ihnen entgegen und vergaß ganz, sich zwischen den Händlern zu verbergen, um nicht erkannt zu werden. Sie hielt nur Ausschau nach einem hochgewachsenen Mann mit rotem Haar und einem sanften, schönen Gesicht, das nichts von einem Krieger hatte und noch weniger zu dem Beinamen Strongbow passte. Aber er war nicht da. Wieso war ihr Vater nicht dabei?
An der Spitze hielt sich stattdessen ein wahrhafter Hüne auf einem muskulösen Rappen. Goldene Locken ragten unter dem Helm hervor und tanzten im Wind. Das Gesicht konnte sie aus der Ferne und wegen des Nasenkolbens des Helms nicht erkennen, aber sie wusste trotzdem, wer er war. Schließlich gab es solch eine Erscheinung nur einmal in Wales: Raymond FitzGerald de Carew, den alle Raymond le Gros nannten, da er so riesenhaft war – ein Ritter ihres Vaters.
Die Reiter machten einen Bogen um die Händler und den Karren, kaum einer warf ihnen auch nur einen Blick zu. So enttäuscht Basilia auch war, ihren Vater nicht zu sehen, so froh war sie, dass ihr Plan, heimlich in die Burg zu gelangen, um dort auf ihn zu warten, noch gelingen konnte. Denn wenn seine Ritter hier waren, konnte auch er nicht weit sein. Vielleicht war er einfach länger beim Grab seines Vaters in Tintern Abbey geblieben.
Der Zug setzte seinen Weg fort, vorbei an den Flachsfeldern, auf denen sich erste blassblaue Blütenkelche gen Himmel reckten, und weiter den festgetretenen Pfad hinauf zur Burg. Rhian und die andere Frau Nerys, die vielleicht ihre Tochter war, holten Schellen und Flöten hervor und begleiteten ihre Schritte mit fröhlicher Musik, sodass alle wussten, dass sie hier waren und Kostbarkeiten aus fernen Ländern brachten.
Basilia hätte sie am liebsten angefleht, still zu sein, denn immer mehr Dorfleute kamen herbei, um den Karren genauer zu begutachten. Basilia hielt den Kopf gesenkt. Das Tuch tief in die Stirn gezogen, lehnte sie sich hinter eine der Truhen und betete stumm.
Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust. Sie wusste, sie tat etwas Verbotenes, es war ihr nicht erlaubt, die Burg zu betreten, wenn ihr Vater nicht da war. Denn für alle anderen Bewohner war sie eine Sünde, an die sich niemand gerne erinnerte. Den meisten missfiel es schon, dass ihre Mutter hier als Magd arbeitete, ein ständiger Beweis für die Verfehlungen des Earls. Allen voran ihrer Großmutter, Lady Isabel, die bestimmt einen Tobsuchtsanfall erleiden würde, wenn sie wüsste, dass Lia sie gerade Großmutter in Gedanken genannt hatte.
Sie atmete tief durch – sie hatte keine andere Wahl. Ihr Verbrechen gegen Colwyn wog sehr viel schwerer als dieses heimliche Eindringen in die normannische Welt.
Die Wachen von den Palisaden winkten sie weiter. Das Torhaus schloss sich wie ein dunkler Tunnel um sie, von dessen Mauern die Musik unerträglich laut hallte. Schließlich gelangten sie in einen weitläufigen Hof, und weitere Wachen in Ringpanzern und mit dem gelb-roten Wappen traten klirrend an sie heran, große, zottelige Hunde begleiteten sie.
»Woher kommt ihr?« Ein Ritter mit einem sonderbaren Schnarren in der Stimme schob die Händler mit dem Schwert zur Seite. Er war nicht besonders hochgewachsen, wirkte unter der Rüstung aber sehr kräftig.
Merfyn breitete die Hände aus und antwortete in akzentstarkem Normannisch: »Von hier und da. Zuletzt waren wir in Monmouth und sind dem Wye flussabwärts gefolgt. Wir bringen feinstes Tuch aus Flandern, Wein aus dem Frankenreich und Kostbarkeiten von den Ostmännern aus Dublin. Auch ein paar Einzelstücke von den Kreuzfahrern aus dem Morgenland nennen wir unser Eigen.«
Der Ritter trat gelangweilt an den Karren heran, hob das Abdecktuch an und spähte in die Truhen, die Augen in dem runden, von dunklen Stoppeln übersäten Gesicht zu Schlitzen verengt.
Basilia rutschte langsam, den Blick gesenkt, zu Boden. Sie zwang sich, Ruhe zu bewahren, schließlich war sie fast noch nie auf der Burg gewesen. Ihr Vater besuchte sie in den seltenen Momenten, in denen er hier war, meist zu Hause in der Hütte. Somit kannten die Wachen sie kaum, verbanden sie eher als Teil eines Zwillingspärchens. Ohne Alina fiel sie bestimmt nicht weiter auf.
Sie betete, dass ihre Mutter wegen der Ankunft des Earls und seines Gefolges genug in der Halle zu tun hatte und nicht gerade jetzt in den Hof kam und sie entdeckte. Verstohlen sah sie sich nach einem möglichen Versteck um.
Vor ihr ragte der rechteckige Steinturm mit den schmalen Fensterhöhlen in die Höhe, als wäre er direkt aus den Klippen gewachsen. Die Reihen aus rotem Sandstein in den ansonsten grauen Mauern leuchteten in der Sonne.
Lia wusste, zur einen Seite führte eine fast senkrechte Felswand zum Fluss hinab, auf der anderen eine steile Böschung ins Tal. Nur eine erhöhte Galerie aus Holzplanken, die zwischen der Wehrmauer an der Flussseite und dem Burgturm angebracht war, ermöglichte es, auf den Hof auf der anderen Seite zu gelangen. Dort gab es Gärten, vielleicht könnte sie sich zwischen den Bäumen verbergen? Oder lieber gleich hier in den Ställen? Lia sah ein paar der Ritter, die vorhin angekommen waren, unter dem strohgedeckten Unterstand vor dem Stall beisammenstehen. Noch konnte sie nicht unentdeckt dorthin gelangen.
»Stellt den Wagen hier bei der Mauer ab, wo er nicht stört, dann wartet auf den Constable.« Der Ritter deutete auf einen Platz neben dem Torhaus, als ein Schatten auf sie fiel.
»Der Constable ist schon hier.«
Lia zuckte bei der ruhigen, von Eis überzogenen Stimme zusammen und schob sich so unauffällig wie möglich hinter Rhian. Im nächsten Moment trat auch schon der Onkel ihres Vaters, Hervey de Montmorency, zu den Händlern und rieb sich die schmalen Hände mit den langen, beringten Fingern. Er war nicht nur der Constable der Burg, sondern auch der Ehemann Lady Isabels. Schon bald nach dem Tod des verstorbenen Earls hatte Lady Isabel dessen Halbbruder geheiratet, was die beiden zum Herrscherpaar Striguils machte, solange ihr Vater nicht hier war. Hervey war Mitte fünfzig, das graue Haar trug er penibel kurzgeschnitten, und auf seinen glattrasierten Wangen schimmerten Äderchen blau hindurch. Die stechend grauen Augen inspizierten die Ladung. Anders als bei ihrem Vater lag keine Wärme und Güte darin.
»Verzeiht, werte Gäste, ich will nur sichergehen, dass sich hier drin kein dreckiges Waliserpack versteckt.« Er nahm dem Ritter das Schwert aus der Hand und stach damit in die Tücher, zerfetzte sie gnadenlos.
Rhian schrie entsetzt auf, aber Gareth ergriff ihren Arm und zog sie zurück. Das brachte sie aber nicht zum Schweigen. »Er zerstört es …«, keuchte sie abgehackt. »Er zerstört alles!«
»Was ist los?« De Montmorency wandte sich ihr zu, nicht einmal hämisch lächelnd, sondern als verwirrte ihn die Aufregung der Händlerin tatsächlich. »Wieso vergießt du Tränen für diese Lumpen, Weib? Ich sollte euch allein schon für die Beleidigung, dieses mottenzerfressene Zeug hier hochzubringen, aufhängen.«
»Der Earl hat uns eingeladen!« Merfyn trat vor die anderen, den Griff der Peitsche hielt er fest umklammert, als müsste er sich davon abhalten, sie gegen den Constable einzusetzen. »Er lässt uns jedes Jahr zu Pfingsten kommen. Das könnt Ihr nicht tun!«
»Da irrst du dich, ich ziehe in Erwägung, dir zu zeigen, was ich alles tun kann.« Sein Blick flog erneut zum Karren und dann zurück zu Merfyn. »Wünschst du eine Demonstration?« Er hob das Schwert, setzte die Spitze an Merfyns Brust über dem ausladenden Bauch.
Alles wurde still, als hielte die ganze Welt die Luft an. Auch Lia atmete nicht mehr. Sie ballte die Hände zu Fäusten, ihr wurde übel vor Wut und auch vor Angst. Wo blieb ihr Vater? Er würde diesem Unrecht bestimmt ein Ende bereiten.
»Verzeiht, Mylord.« Merfyn hob ergeben die Hände, wissend, dass er gegen den Constable einer Burg machtlos war. »Es steht Euch natürlich frei, mit der Ware zu tun, was Euch gefällt.«
»Bist du verrückt?« Rhian schob sich nach vorne, ehe Gareth sie aufhalten konnte. »Der Earl wird davon hören, damit kommt Ihr nicht durch, Ihr widerwärtiges Wiesel!« Sie ließ noch weitere walisische Beschimpfungen folgen, die de Montmorency bestimmt nicht verstand, aber das musste er auch nicht, der Hass in ihrer Stimme sprach Bände.
»Hört auf«, zischte Lia drängend, nicht wissend, vor was sie mehr Angst hatte – durch ihre Einmischung entdeckt zu werden oder tatenlos zusehen zu müssen, wie ein Unglück geschah.
Aber Rhian dachte nicht daran, auf sie zu hören. Sie fuhr in gebrochenem Normannisch fort: »Nein! Zu lange lassen wir uns schon alles gefallen, uns von den Freinc in den Staub treten, das hört jetzt auf! Ihr werdet uns den Schaden ersetzen!«
De Montmorencys Lippen hoben sich zu einem schmalen Lächeln, das Lia einen Schauer über den Rücken jagte. Er hob seine freie Hand, legte sie fast schon zärtlich auf Merfyns Schulter und machte mit der anderen eine ruckartige Bewegung nach vorne. Ein gemeinsamer Aufschrei gellte ihr in den Ohren, vielleicht schrie sie sogar selbst. Die Hunde sprangen bellend um sie herum, sie wusste gar nicht richtig, was geschah, sah nur die blutige Schwertspitze, die plötzlich aus dem Rücken des Händlers blickte. Die Peitsche fiel ihm aus der Hand, gebückt stand er da, ein dumpfer Laut drang ihm aus der Kehle, dann zog de Montmorency das Schwert zurück.
Basilia zuckte bei dem Geräusch zusammen, Rhian und Nerys schrien erneut, und Merfyn brach in sich zusammen, ehe Rhian ihre Arme um ihn schlingen konnte.
»Behauptet nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.« De Montmorency gab das bluttriefende Schwert an den Ritter mit der schnarrenden Stimme zurück, der es mit derselben gelangweilten Miene entgegennahm und abwischte. Ganz so, als wäre hier überhaupt nichts passiert, als wäre nicht gerade ein Mensch gestorben! Voller Entsetzen sah Lia sich um. Diese Burg war voll von Rittern, die geschworen hatten, Schwache und Arme zu beschützen und Ehre und Gerechtigkeit zu dienen! So hatte es ihr Vater ihr immer erklärt! Aber niemand sah auch nur in die Richtung des Torhauses!
»Tut doch etwas!« Sie sah den Wachen in die versteinerten Gesichter, aber keiner zuckte auch nur mit der Wimper. »Helft ihnen!«
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, sie zuckte zusammen, bemerkte aber, dass es Nerys war, die sie an sich zog. »Sei still, Kind«, flüsterte sie sanft und sah zu Rhian, die über Merfyn gebeugt bitterliches Wehklagen ausstieß. Lia schüttelte den Kopf, sie konnte all das nicht glauben, meinte in einen Albtraum geraten zu sein.
»Jetzt verschwindet von hier, Gesinde, bevor ich mit eurer Brut fortfahre.« Wie aus dem Nichts schnellte de Montmorencys Hand nach vorne, packte Basilia an der Schulter und entriss sie aus Nerys’ Händen, ehe sie zurückweichen konnte. Wie eine Schlange, die aus dem Nichts hervorstieß und seine Zähne in ihrem Opfer verfing, nur waren es Ringe, die sich in ihre Haut bohrten.
Lia wand sich und suchte gleichzeitig nach einem Fluchtweg. Die Ritter, die vorhin angekommen waren, wandten sich ihnen endlich zu, traten durch den Tumult näher, aber wenn sie sie erkannten, würde sie nie von hier wegkommen! »Nehmt Eure Hände von mir, sofort!«
»Was sagst du da?«
Sie hielt abrupt inne, konnte kaum noch atmen, als ihr bewusst wurde, dass sie instinktiv normannisch gesprochen hatte, damit de Montmorency sie verstand. Die Sprache ihres Vaters, des Adels, die auch ihre Mutter durch die lange Zeit auf der normannischen Burg fließend beherrschte. Aber keiner dieser Händler sprach sie richtig, und das Kind eines Händlers sollte sie schon gar nicht kennen.
De Montmorencys Griff lockerte sich einen flüchtigen Moment lang, dann flog ihr Schultertuch zurück, und seine eisenharte Hand schloss sich um ihr Kinn, riss ihren Kopf hoch, sodass sie ihn ansehen musste.
»Na, wen haben wir denn da?« Verachtung troff aus seiner Stimme, starrte ihr aus seinen grauen Augen entgegen. »Die Bastardbrut. He, de Quincy!« Er winkte dem Ritter von vorhin. »Komm her. Sieh mal, wer sich hierher verirrt hat. Eine von den Zwillingen.«
Lia reckte ihr Kinn vor, fast ohnmächtig vor Angst, gleichzeitig aber auch getrieben von grenzenlosem Zorn. »Ich bin Basilia de Clare, und mein Vater wird hiervon hören!«
Sie spürte die Blicke der Händler, die Fassungslosigkeit, die Trauer, das Unverständnis, und Lia wünschte, ihr Name trüge tatsächlich Macht, dass sie all das hier hätte verhindern können.
Ein Lachen schlug ihr entgegen, der Griff um ihr Kinn verstärkte sich schmerzhaft. »Hört ihr das? Sie nennt sich de Clare!« Er beugte sich ein wenig zu ihr hinunter, bis sie seinen intensiv blumigen Seifengeruch einatmete, von dem ihr ein Würgereiz hochstieg. »Du bist keine de Clare, wage es nie wieder, diesen stolzen Namen mit einem dreckigen Bastard wie dir in Verbindung zu bringen. Du bist ein Nichts.« Er stieß sie grob von sich, sie taumelte zurück, versuchte ihr Gleichgewicht zu halten, stürzte aber in den Schlamm. Tränen schossen ihr in die Augen, sie rieb ihr Kinn, das fürchterlich schmerzte. Sie sah zu den Händlern, die Merfyn auf den Karren hoben. Rhian starrte sie an, voller Unglauben, und Lia fühlte sich wie ein Unheilbringer. »So und jetzt …« De Montmorency trat vor sie hin, und Lia hatte keine Zeit, lange nachzudenken. Sie war frei, er hielt sie nicht mehr fest, sie musste fort von hier. Ohne einen weiteren Augenblick zu vergeuden, sprang sie auf die Füße und rannte los, de Montmorencys Stimme in ihrem Ohr: »De Quincy! Schaff sie in den Zwinger zu den Hunden, bis ich entschieden habe, wie ich sie für ihr unrechtmäßiges Eintreten bestrafe.«
Lia umrundete den Karren, das Torhaus war direkt vor ihr, sie wollte darin verschwinden, aber der Schlamm hielt sie zurück, ihre Füße wollten nicht weiter. Im nächsten Moment verspürte sie einen dumpfen Schmerz in ihrer Schulter, als sie grob niedergestoßen wurde. Sie verlor den Boden unter den Füßen, der Ritter de Quincy hob sie hoch und warf sie sich über die Schulter.
»Lasst mich sofort runter!« Sie strampelte und trat, aber er hielt sie gnadenlos fest. »Ich schwöre, das werdet Ihr bereuen!«
»Halt’s Maul, Gör, bevor ich dich über die Mauer in den Fluss werfe.«
Das Gebell von Hunden nahm zu, Lia hob den Kopf, so gut es ging, und sah eine Jagdhündin umzingelt von einem Wurf Welpen.
»Wirf sie rein, de Quincy!«
Lia gab einen entsetzten Laut von sich, ehe sie es verhindern konnte. Sie hörte das Knurren der Hündin, sah ihr rot leuchtendes Zahnfleisch, als sie die Zähne fletschte und sich vor ihre Welpen stellte. Das tiefe Grollen aus ihrer Kehle vibrierte durch Lias Körper.
»Wartet.«
Lia fuhr beim Klang der resoluten Frauenstimme zusammen.
»Wo bringt Ihr sie hin, Sir Robert?«
»Der Constable will sie im Zwinger haben, Madame.«
»Lasst sie bei mir.«
Der Ritter ließ sie zu Boden sinken, und Lia blickte langsam hoch in das strenge, von einem Wimpel umschlossene Gesicht ihrer Großmutter, Lady Isabel de Beaumont.
»Was hast du diesmal angestellt?«
»Ich wurde Zeugin eines Mordes, und nun will man mich anscheinend beseitigen … Madame.« Sie hob ihre Röcke und knickste, wenn in der Geste auch keine Höflichkeit lag.
Lady Isabel sah über sie hinweg zu Robert de Quincy, der den Kopf schüttelte, mit einem Laut, der ihre Worte ins Lächerliche zog.
»Welche von den beiden ist sie denn überhaupt?«
»Basilia.«
»Das hätte ich mir denken können. Nun, dann komm mal mit, ich werde mich um dich kümmern, bis jemand deine Mutter ausfindig macht, damit sie dich entfernt.«
Lia konnte sie nur erstaunt ansehen. Zwar klangen Lady Isabels Worte nicht besonders freundlich, trotzdem kam sie nicht umhin zu erkennen, dass ihre Großmutter sie gerade gerettet hatte. Nur wie sollte Lady Isabel sich gegen ihren Gatten durchsetzen? De Montmorency war zu allem fähig, das hatte sie gerade mit eigenen Augen gesehen, sie musste weg von hier.
Widerwillig folgte sie der Dame mit ihrem prunkvollen Brokat-Bliaut und dem strengen Wimpel, suchte aber nach wie vor nach einem Ausweg. Ihr Blick fiel zum Unterstand der Pferde, wo zwei der mächtigen Schlachtrösser noch gezäumt dastanden und darauf warteten, versorgt zu werden. Sie war schon ein paar Mal auf dem Pferd ihres Vaters geritten, aber das war lange her, und er hatte immer hinter ihr gesessen.
Ein Kribbeln fuhr durch ihren Körper, ihr Blick wanderte an den Tieren vorbei und traf zu ihrer Überraschung den des hünenhaften Ritters Raymond le Gros, der sie unverwandt anstarrte. Sie zuckte zusammen, ertappt, als könnte er ihre Fluchtgedanken lesen. Sie wusste nicht, wieso er sie ansah, aber es konnte nichts Gutes bedeuten. Die Ritter waren gefährlich, wenn ihr Vater nicht da war und sie im Zaum hielt, das hatte sie eben auf schmerzvolle Weise erfahren. Trotzdem konnte sie nicht wegsehen, etwas war sonderbar an seinem nachdenklichen Blick.
Er hatte den Helm abgesetzt, die goldenen Locken standen ihm wirr vom Kopf ab, was ihn trotz seiner Größe sehr jung aussehen ließ. Er war definitiv jünger als ihr Vater, der schon mehr als dreißig Jahre zählte. Weiterhin beobachtete er sie und Lady Isabel, flüchtig sah er zurück zu de Quincy, dann zu den Pferden, und schließlich ging er auf ein kleineres Tier zu, einen abgesattelten Zelter-Wallach, der noch ein paar Packtaschen umgehängt hatte und sein Zaumzeug trug.
Lady Isabel zerrte sie weiter, aber Lia konnte nicht anders, als sich weiter auf Sir Raymond zu konzentrieren. Er nahm die Packtaschen ab, führte das Pferd mit der weißen Blesse an die seitliche brusthohe Umzäunung des Unterstands, klopfte ihm den Hals und schob ihm mit dem Stiefel etwas Heu hin. Dort blieb das Tier friedlich stehen und fraß.
Lia schüttelte den Kopf, sie hatten bereits die Außentreppe des Burgturms erreicht, wenn sie erst mal drinnen war, konnte sie nicht mehr verschwinden. Ihre Mutter wäre ebenso machtlos gegen de Montmorency und würde sich im Versuch, sie zu schützen, nur selbst in Gefahr bringen. Aber wo sollte sie hin? Zu Hause wartete bestimmt bereits Colwyns Vater. Der würde sie zurück zur Burg zerren, zum Constable, für eine grausame Bestrafung, wenn er diese nicht selbst in die Hand nahm.
»Madame?«
Lady Isabel blieb stehen und sah sie voller Verachtung an. »Was ist?«
»Ich müsste den Abtritt aufsuchen.«
Der stechende Blick der Dame ruhte auf ihr, Lia glaubte nicht, sich je so klein gefühlt zu haben, aber dann nickte sie und wies nach oben. »Na dann komm.«
Lia fluchte innerlich. Sie hatte erwartet, irgendwo draußen einen vorzufinden und nicht in der Burg.
»Was ist jetzt? Beweg dich. Oder soll ich jemanden besorgen, der dir dabei behilflich ist?«
Lia wusste nicht, wie Großmütter sich normalerweise verhielten, sie hatte keine andere als Lady Isabel. Die Frau ihres Großvaters, des Pfeilmachers, hatte sie nie kennengelernt, sie war schon jung gestorben. Doch sie stellte sich oft vor, dass sie bestimmt eine gutmütige Frau gewesen war.
Unvermittelt fiel ein Schatten auf sie, und Raymond le Gros’ Gestalt türmte sich neben ihr auf. Lia wich einen Schritt zurück, näher zu Lady Isabel, was ihr selbst sofort albern vorkam, schließlich hatte bestimmt ihre Großmutter den Hünen wie angedroht herbeigewinkt, um ihr Beine zu machen.
»Madame.« Sir Raymond verneigte sich knapp, seine Miene war düster in dem kantigen Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen und dem eckigen Kinn. »Mylord Striguil hat mich gebeten, Euch mitzuteilen, dass er noch seine Lehnsmänner aus der Nachbarschaft besucht, um sie auf die drohende Gefahr der Waliser aufmerksam zu machen.«
»Drohende Gefahr?«
Raymond nickte. »Es heißt, Rhys und Owain Gwynedd haben ein Bündnis geschlossen, die Fürsten von Süd- und Nordwales sind somit gegen uns vereint.«
Lady Isabel führte mit einem dramatischen Keuchen ihre Hand an die Kehle, aber Lia interessierte sich nicht für das Gespräch. Eine Bewegung aus den Augenwinkeln zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es war Raymonds kräftige Kriegerhand, die auf ihrer Augenhöhe, während er sprach, zu den Pferden zeigte und eine wegscheuchende Geste machte. Erstaunt sah sie zu dem Ritter auf, aber er schien sich ganz auf Lady Isabel zu konzentrieren. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie angreifen, und sollten sie unerwartet siegen, werden sich auch die Clanführer hier im Osten des Landes gegen uns erheben.« Er machte einen Schritt auf Lady Isabel zu, als wollte er die Dringlichkeit seiner Worte unterstreichen, gleichzeitig schob er damit aber auch Lia hinter sich. »Das alles muss Euch nicht sorgen, Madame, Ihr sollt nur wissen, dass Euer Sohn gesund aus dem Frankenreich zurückgekehrt ist und bald hier eintreffen wird. Außerdem …«
Basilia hörte nicht länger hin. Sie war nicht sicher, warum Raymond ihr half und ob es nicht vielleicht eine grausame Falle war, aber sie hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Eine bessere Möglichkeit würde sich nicht ergeben. Ohne zurückzusehen, schlich sie so unauffällig wie möglich zum Stall hinüber, kletterte auf die Umzäunung neben dem fressenden Wallach und gelangte so ohne Schwierigkeiten auf seinen Rücken. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, die Welt sah von so hoch oben ganz anders aus, sie spürte die Atemzüge des Pferdes, jeden Muskel, der sich unter ihr bewegte. Bislang war sie nur einmal ohne Sattel geritten, aber sie konnte sich jetzt keine Angst erlauben.