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Es wird dich dein Leben kosten … Von Anfang an gibt der Fund der vergrabenen, grausam zugerichteten Leiche eines jungen Rumänen am Mittellandkanal bei Peine unheimliche Rätsel auf. Allerdings stößt der Mord weder bei den Behörden noch in den Medien auf großes Interesse und landet schließlich beim LKA-Niedersachsen in der Abteilung "Organisiertes Verbrechen und Menschenhandel" auf dem Schreibtisch von Carsten Sanders. Zusammen mit seiner Kollegin Mandy Kolwicz vom LKA-Sachsen-Anhalt taucht er immer tiefer in die Ermittlungen ein. Eine der eher schwachen Spuren führt ins Braunschweiger Rotlichtmilieu. Nach und nach müssen die beiden erkennen, dass sie in ein Wespennest gestochen haben und es mit einer kaltblütigen Organisation zu tun bekommen, deren Mitglieder keinerlei Skrupel zu haben scheinen - auch nicht gegenüber der Polizei. Menschen, die ein ganz besonderes Spiel spielen und sich an blutigen Trophäen ergötzen ...
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Seitenzahl: 379
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Bisher vom Autor bei KBV erschienen:
Die Stunde der Flammen
Hardy Crueger, geb. 1962 in Oldenburg, studierte nach einer Facharbeiterausbildung Geschichte und Soziologie und lebt als freiberuflicher Schriftsteller in Braunschweig. Nach ersten Erfahrungen im literarischen Untergrund schreibt er heute Krimis, Psychothriller und Romane zu geschichtlichen Themen.
Außerdem leitet Crueger die »KrimiWerkstatt Braunschweig« und gibt die dort entstehenden Publikationen heraus. Seit 2014 ist er im Vorstand des Verbands deutscher Schriftsteller (VS) NDS/Bremen tätig.
Mit Die Stunde der Flammen veröffentlichte er 2015 bei KBV den ersten Thriller um das Ermittlerpaar Carsten Sanders vom LKA Niedersachsen und Mandy Kolwicz aus Sachsen-Anhalt. www.HardyCrueger.de
HARDY CRUEGER
SANDERS & KOLWICZ BAND 2
Originalausgabe© 2017 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlaggestaltung: Sabine Hockertzunter Verwendung von: © Sasajo - www.fotolia.deLektorat: Nicola Härms, RheinbachPrint-ISBN 978-3-95441-366-9E-Book-ISBN 978-3-95441-378-2
Bundesrepublik Deutschland Strafgesetzbuch (StGB)
§ 211 Mord
§ 212 Totschlag
1. KAPITEL
1 – Peine, Freitag 7. Oktober, Nachmittag
2 – Braunschweig, Montag, 10. Oktober, Nachmittag
3 – Hannover, Montag, 10. Oktober, Nachmittag
4 – China, Dienstag, 11. Oktober, +8 Stunden
5 – Hannover, Montag, 10. Oktober, später Nachmittag
6 – Braunschweig, Montag, 11. Oktober, Abend
2. KAPITEL
7 – Hannover, Dienstag, 11. Oktober, Morgen
8 – Braunschweig, Dienstag, 11. Oktober, Abend
9 – Hannover, Mittwoch, 12. Oktober, Morgen
10 – Braunschweig, Mittwoch, 12. Oktober, früher Morgen
11 – Kolumbien, Mittwoch, 12. Oktober, -7 Stunden
12 – Hannover, Donnerstag, 13. Oktober, Vormittag
13 – Braunschweig, Donnerstag, 13. Oktober, Abend
3. KAPITEL
14 – Magdeburg, Freitag, 14. Oktober, Nachmittag
15 – Peine/Braunschweig, Freitag, 14. Oktober, Nachmittag
16 – Argentinien, Freitag, 14. Oktober, Nacht, -5 Stunden
17 – Braunschweig, Samstag, 15. Oktober, früher Morgen
18 – Dortmund, Samstag, 15. Oktober, zur gleichen Zeit
19 – Braunschweig, Samstag, 15. Oktober, Mittag
20 – Braunschweig, Samstag, 15. Oktober, früher Abend
21 – Köln/Berlin, Samstag, 15. Oktober, Nacht
4. KAPITEL
22 – Hannover, Montag, 17. Oktober, Mittag
23 – Russland, Montag, 17. Oktober, später Nachmittag, +1 Stunde
24 – Hannover, Montag, 17. Oktober, später Nachmittag
25 – Argentinien, Montag, 17. Oktober, später Nachmittag, -5 Stunden
26 – Hannover, Dienstag, 18. Oktober, Morgen
5. KAPITEL
27 – Hannover/Braunschweig, Mittwoch, 19. Oktober, Vormittag
28 – Braunschweig, Mittwoch, 19. Oktober, Vormittag
29 – Braunschweig, Mittwoch, 19. Oktober, Mittag
30 – zur gleichen Zeit
31 – Hannover, Mittwoch, 19. Oktober, früher Abend
32 – Braunschweig, Mittwoch, 19. Oktober, zur gleichen Zeit
6. KAPITEL
33 – München, Donnerstag, 20. Oktober, Vormittag
34 – Hannover, Donnerstag, 20. Oktober, zur gleichen Zeit
35 – Braunschweig, Donnerstag, 20. Oktober, zur gleichen Zeit
36 – Hannover, zur gleichen Zeit
37 – Hannover, zur gleichen Zeit
38 – München/Wolfsburg, Mitternacht
39 – Braunschweig, Donnerstag, 20. Oktober, Mitternacht
7. KAPITEL
40 – Hannover/Braunschweig, Freitag, 21. Oktober, Krankenhaus
41 – Braunschweig, Friedrichshöhe
42 – Braunschweig, Polizeidirektion
43 – Braunschweig, Mittellandkanal
44 – Braunschweig, Polizeidirektion
45 – Braunschweig, Rote Rose
46 – Braunschweig, Polizeidirektion
8. KAPITEL
47 – Rote Rose
48 – Polizeikommissariat Nord
49 – Rote Rose
50 – Hafen
51 – Rote Rose
52 – Rote Rose
53 – Hafen
54 – Rote Rose
55 – Mittellandkanal
56 – Hafen
57 – Hafen
58 – Mittellandkanal
9. KAPITEL
59 – Braunschweig, Donnerstag, 3. November, Nachmittag
60 – Braunschweig, Friedrichshöhe, zur gleichen Zeit
NACHWORT UND DANK
(1)Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
(2)Ein Mörder ist, wer
aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs,
aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder
um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken,
einen Menschen tötet.
(1)Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.
(2)In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen.
Die Frauenstimme in dem kleinen Transistorradio sprach von der EU, islamistischem Terror, der Finanzkrise, Migranten und Börsenwerten. Sie sagte, dass Hannover 96 verloren und auch Eintracht Braunschweig nicht gewonnen habe. Erzählte vom zähfließenden Verkehr auf der A2. Und von einem aufziehenden Tiefdruckgebiet, das am Abend Niedersachsen erreichen und nur nördlich des Mittellandkanals Regen bringen sollte.
Andreas Petzold war das alles ziemlich egal. Auch der Regen. Denn er hatte heute frei und saß gemütlich in seinem Angelstuhl, der an einer dreieckigen Bucht auf der südlichen Seite des Kanals stand. Zufrieden öffnete er eine Bierflasche. Aber als Maite Kelly und Roland Kaiser aus dem kleinen Lautsprecher quäkten, war es vorbei mit der Zufriedenheit. »Warum hast du nicht Nein gesagt …«. Das momentane Lieblingslied seiner Frau.
Gleich heute Morgen, noch im Bett, hatten sie sich wieder gestritten. Nichts, was er in letzter Zeit tat und sagte, war ihr gut genug. Nach ihrer Ansicht wurde er immer mehr zu einem übel riechenden, wortkargen, dicken, mürrischen Monster, das zu nichts, aber auch gar nichts fähig war, und lange würde sie das nicht mehr mitmachen.
Nach dem Mittag hatte er sich wortlos sein Angelzeug angezogen, war in die Garage gegangen und mit Fahrrad und Anhänger losgefahren. Raus aus der Peiner Südstadt, runter zum Kanal.
Er seufzte und trank die Flasche in einem Zug halb leer. Nun saß er hier, rülpste und schaute auf das große Binnenfrachtschiff, das von einer kleinen weißen Motorjacht überholt wurde, an deren Heck die dänische Flagge im Fahrtwind wehte. Über das Wasser konnte man weit, weit weg fahren. Im Radio sang jetzt Udo Jürgens davon, dass er noch niemals in New York war.
Auch Andreas Petzold war noch nie in New York gewesen. Er merkte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Warum nicht noch einmal einen neuen Anfang wagen? So wie diese »Auswanderer« im Fernsehen. Einige von denen schafften es tatsächlich. Er trank die Flasche leer. Warum eigentlich nicht? Auf nach Amerika! Seine Ehe stand vor dem Aus, er wurde nicht jünger, seine Tochter hatte sich mit einem Afrikaner eingelassen – rosig waren die Aussichten hier nicht. Seine Blase machte sich bemerkbar.
Der Angler nahm eine der langen Spitzen seines Schnurrbarts zwischen Daumen und Zeigefinger und zwirbelte sie herum und herum, als würde er spinnen. Noch war er nicht zu alt für eine Veränderung. Die Blase begann immer mehr zu drücken. Warum soll ich mich nicht trennen, fragte er sich, stellte die leere Flasche in die Halterung der Stofflehne und hebelte sich stöhnend aus dem Stuhl. Eigentlich war seine Ehe sowieso schon zu Ende. Er spürte, dass er nur noch einen kleinen Anstoß brauchte, einen kleinen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es musste nicht gleich New York sein. Vielleicht könnte er erst mal zu seinem alten Kumpel Uwe nach Braunschweig? Nein, das ging nicht. Sie hatten sich seit fast einem halben Jahr nicht mehr gesehen, nur ab und zu telefoniert. Er konnte ihn nicht einfach anrufen und sagen: »Hey, Uwe, alte Socke! Kann ich mal für zwei, drei Monate bei dir pennen?« Nein, das ging nicht.
Andreas Petzold kniff die Augen zusammen und warf einen letzten Blick auf die beiden Posen im Wasser, die durch die Kielwellen der Schiffe hin und her tanzten. Eine neue Brille wäre auch mal nicht schlecht, dachte er, drehte sich um, stiefelte die Böschung hoch. Überquerte den Weg, stellte sich an den Rand eines Dickichts und öffnete die Hose gerade in dem Augenblick, als ein Auto auf der anderen Seite der Bucht auftauchte. Mist. Er stand da wie auf dem Präsentierteller, drückte die Büsche beiseite und drang ein paar Meter in das Wäldchen ein, bis man ihn nicht mehr sah.
Endlich konnte er die Hose öffnen und dem Urin freien Lauf lassen. Erleichtert ließ er seinen Blick über den Boden des kleinen Wäldchens schweifen. Vertrocknete Zweige und schwarzes Totholz lagen herum, dazwischen die vom letzten Sturm abgerissenen frischeren Äste und braunes Herbstlaub, das unter seinem Strahl prasselte. Hier könnte man glatt Pilze finden, dachte er und schaute sich um. Da vorn … nein, das war nur ein halb aufgerichtetes helles Blatt. Aber da, das könnten glatt welche sein. Er kniff die Augen zusammen. Drei kleine Boviste oder junge Röhrlinge, die durch das Erdreich stießen.
Er beschloss, sich das näher anzusehen. Vielleicht konnte er sich heute Abend frischen Fisch mit Pilzen in die Pfanne hauen. Seine Frau würde das sowieso nicht essen. Sie hasste Fisch und misstraute allem selbst Gesammelten aus der Natur. Petzold knöpfte die Hose zu, bückte sich, drückte ein paar Äste zur Seite und machte ein, zwei, drei Schritte auf die Pilze zu. Streckte den Kopf vor. Zog die Stirn kraus, riss die Augen auf, kniff sie wieder zusammen. Was da in einer Reihe aus dem Boden ragte, schienen gar keine Boviste zu sein. Das könnten … Der Angler ging in die Knie und starrte wie hypnotisiert darauf … das waren … Zehen! Ein großer Zeh und daneben zwei kleine. An einem Fuß, der in der Erde verschwand. Und da war noch ein kleiner Zeh, aus dem sich weiße Maden wanden.
Andreas Petzold sprang auf. Verfing sich mit den Haaren in den überhängenden Ästen des Dickichts. Befreite sich mit schwingenden Armen. Brach durch die Büsche. Hastete zurück auf den Weg. Zog hektisch das Handy aus der Jackentasche und rief die Polizei an.
Er hatte Mühe, der Beamtin vom Polizeikommissariat Peine zu erklären, wo genau er sich befand: »Am Kanal, auf der südlichen Seite«, sagte er aufgeregt, »bei Berkum, da ist doch so eine Bucht. Da liegt … ja, die dreieckige Bucht … am Kanal … da liegt, glaube ich, eine Leiche im Gebüsch. Zumindest habe ich einen Fuß gesehen … ja, ich bin mir sicher, mit Zehen dran …« Dann wartete er auf die Polizei.
Dem ersten Streifenwagen folgten innerhalb der nächsten Stunde noch einer und ein Bulli, dann kam ein Rettungswagen, dann ein Multivan der Spurensicherung, ein Zivilfahrzeug mit Mitarbeitern der Kriminalpolizei Peine und schließlich der Leichenwagen. Zwischendurch auch immer wieder Reporter verschiedener Medien, die penetrant versuchten, die Leiche zu fotografieren oder zu filmen und den Angler zu interviewen, der sie gefunden hatte. Aber der saß im Bulli, gab einem Polizisten seine Personalien, wartete, bis ein Beamter der Kriminalpolizei Peine in den VW Bus stieg. Ein älterer Mann, klein, gesetzt, mit einem runden Gesicht und einem grauen Haarkranz am Hinterkopf.
»Wie geht es Ihnen, Herr Petzold?«, fragte er, stellte ein Diktiergerät auf »Aufnahme« und legte ein Protokollblatt vor sich auf den kleinen Tisch.
»Ganz gut, danke«, sagte der Angler. »Ich dachte, Sie wollten wissen, wie ich den Toten gefunden habe.«
»Ja, natürlich, aber es gibt Menschen, die können den Anblick einer Leiche nicht gut ertragen.«
»Ich hab′ nur ein paar Zehen gesehen, kein Problem.«
»Gut. Sie brauchen also keinen Psychologen. Dann erzählen Sie mal.«
»Also, ich saß dahinten am Kanal und war am Angeln …«
Nach der Befragung entließ der Kriminalhauptkommissar den Zeugen. Petzold ging zu seinem Angelzeug rüber, packte es zusammen und versuchte halbherzig, der Journaille und den Paparazzi zu entkommen. Es gelang ihm nicht. Man gab ihm ein bisschen Geld für ein paar Worte vor laufender Kamera. Er zwirbelte seinen Schnurrbart und erzählte, dass er die Zehen für Pilze gehalten hatte. Danach packte er seine Sachen zusammen und fuhr mit dem Fahrrad am Kanal entlang, unter der B65 hindurch, über den »Opfergraben« bis zum Peiner Hafen. Dort setzte er sich auf eine Bank und schaute einem Lastkahn zu, der mit viel Schrott im Bauch tief im Wasser lag, den Hafen verließ und irgendwo hinfuhr.
Er hatte eine Leiche gefunden. Der Tod konnte einen schneller ereilen, als man dachte. Dann war es zu spät. Dann ging nichts mehr. Rien ne va plus. Er nahm sein Handy und rief Kumpel Uwe in Braunschweig an.
Kriminaltechniker Dieter Neugebauer machte seinen Beruf ganz gerne. Dabei zu helfen, Verbrechen aufzuklären und Täter dingfest zu machen, war keine der schlechtesten Aufgaben in dieser Welt. Die Sicherung von Spuren bei einem Leichenfund lag ihm besonders, denn von seinem Charakter her war er akribisch veranlagt.
Zum Glück hatten die Beamten, die als Erste den Fundort der Leiche erreicht hatten, nicht alles zertrampelt und den Platz nur abgesperrt. Auch der Angler, der den Toten gefunden hatte, war ihm nicht näher als zwei Schritte gekommen. Alles war noch so, wie der oder die Totengräber den Ort verlassen hatten. Das war gut.
Einer seiner Kollegen hantierte mit der Fotokamera, und während der andere die Ausgrabungsgeräte herbeischaffte, nahm Neugebauer das Fundstück in Augenschein. Vier Zehen und der Ballen eines menschlichen Fußes ragten aus dem Erdreich und den braunen Blättern hervor. Der kleine Zeh war noch verborgen. Der vierte wies eine Wunde auf, in der ein paar Maden herumkrochen. Dünne weiße Würmchen von drei bis vier Millimetern Länge. Von den Proportionen her würde er sagen, dass es ein männlicher Fuß war, von der Lage her ein rechter. Dort, wo unter dem Erdreich der Rest des Körpers verborgen sein müsste, wenn es sich nicht um einen einzelnen, abgehackten Fuß handelte, lagen mehr Laub und Äste als daneben.
»Wir werden uns ganz vorsichtig heranarbeiten müssen«, sagte er zu seinen Mitarbeitern, nahm eine kleine Schaufel und ließ sich auf die Knie nieder. »Wie bei einer archäologischen Grabung. Wenn wir den Leichnam erst freigelegt haben, sind alle Spuren in der Umgebung zerstört. Also, Obacht und höchste Sorgfalt, meine Damen und Herren.«
Zwei Stunden später hatten die Kriminaltechniker endlich jeden Quadratzentimeter im Radius von etwa drei Metern um die Leiche herum untersucht. Ein paar ziemlich unbrauchbare Fußspuren entdeckt, eine uralte Zigarettenschachtel, einen Nagel, ein in starker Auflösung befindliches Kondom, einige Fetzen halb kompostiertes Toilettenpapier und jede Menge kleinsten, in unterschiedlichen Stadien der Zersetzung befindlichen Plastikmüll. Auch auf dem Grab fanden sie nichts, was von Interesse war. Dann mussten sie Scheinwerfer aufstellen, um weiterarbeiten zu können.
Im weißen Schein Hunderter LED-Lämpchen machten sie sich an ihre grausige Arbeit und legten Stück für Stück die unbekleidete Leiche eines Mannes frei. Obwohl der Körper mit Erde verschmiert war, konnte man erkennen, wie furchtbar er zugerichtet war.
Neugebauer war ein Profi und arbeitete schon lange in seinem Beruf. Mentalen Abstand zu den Menschen zu halten, deren tote Körper man untersuchte, war das erste Gebot, damit er auch nicht häufiger als andere Menschen zur Psychotherapie gehen musste. Es war ein Kadaver, den er da untersuchte, nichts weiter. Ob der vorher Frosch oder Schaf oder Schwein geheißen hatte, war völlig Wurst. Es war ein technischer Vorgang, kein emotionaler. Trotzdem ertappte er sich bei dem Wunsch, dass dem Opfer die grausamen Wunden, die er jetzt schon ausmachen konnte, nicht durch Folterung zugefügt worden waren, sondern erst nach seinem Tode.
Im Scheinwerferlicht kam ein junger, spindeldürrer Kommissar der Mordkommission der Kripo Braunschweig, die für den Bezirk Peine zuständig war, auf die Fundstelle zu. Blass schaute er nur kurz auf den Toten, kratzte sich den im Wuchs befindlichen Vollbart und wendete sich Neugebauer zu: »Klunker, guten Abend. Das sieht ja furchtbar aus.«
»′nabend. Neugebauer«, sagte der Forensiker, erhob sich und zog den Mundschutz ab. »Ein Mann, wie unschwer zu erkennen ist. Ich würde ihn auf nicht älter als dreißig Jahre schätzen. Er ist ein Meter zweiundachtzig groß und wog vielleicht fünfundachtzig Kilo. Die Leiche ist nackt, und wir konnten bisher nichts Persönliches bei ihr finden. Wir denken, dass er seit vier, höchstens sechs Tagen hier liegt. Eine Zehe wurde bereits angefressen, vielleicht von einer Ratte.«
»Aha.« Der Kommissar blickte in die Grube. Die Kopfhaut über der Stirn und ein Teil des Gesichts fehlten, und man konnte die hell schimmernden Schädelknochen sehen. Eine dunkle, leere Augenhöhle, das Nasenbein, zerrissene Haut.
»Das … das sieht ja alles … nicht besonders … schön aus …«, sagte Klunker, wurde noch eine Nuance bleicher und unterdrückte ein Würgen.
»Wenn Sie brechen müssen, dann bitte nicht hier.« Und reiß dich zusammen, Mensch, das ist dein Job, dachte Neugebauer.
Der junge Mann sah nicht noch einmal die Leiche an, nur Neugebauer ins Gesicht: »Können Sie … können Sie schon etwas zur Todesursache sagen?«
»Nein. Da sind so viele Verletzungen, das muss die Obduktion ergeben.« Neugebauers Blick glitt über die mit Erde verschmierte Brust, der auf der rechten Seite ein etwa Handteller großes Stück Haut fehlte. Siffendes, schwarzes Fleisch, in dem sich weiße Maden wanden. »Er wurde getötet und hierhergebracht. Ich vermute, dass auf eine ziemlich altertümliche Art und Weise seine Identität verschleiert werden sollte. Man hat sich sogar die Mühe gemacht und seine Fingerkuppen abgeschnitten.« Er ging in die Hocke, griff in die Grube und hob eine Hand des Toten hoch. »Hier, sehen Sie?« Dort, wo die Fingerkuppen hätten sein sollen, waren nur Fleischwunden zu sehen, aus denen hin und wieder ein kleiner bleicher Knochen ragte. »Aber es ist nur Stückwerk, denn sie haben ihm nicht alle Zähne herausgebrochen.« Neugebauer erhob sich wieder. »Er sollte hier liegen und vermodern. Das war der Plan. Vermutlich führt seine Identität zu den Mördern.«
Kommissar Klunker schaute nicht auf die filetierten Fingerkuppen, sondern nur dem Kriminaltechniker fest in die Augen, und nickte übertrieben. So verschieden sind die Gemüter, dachte Neugebauer und schaute auf den entstellten Körper. Die einen können so etwas tun und die anderen so etwas nicht mal ansehen. Aber es reizte ihn, den Kommissar ein bisschen zu erschrecken. So, wie er seine kleine Schwester früher mit einem Regenwurm erschreckt hatte, zeigte er auf den halb gesichtslosen Schädelknochen des Opfers, auf das mit Erde und Blut verschmierte Schädeldach, die zerrissene Haut über den Augenhöhlen.
»Sehen Sie? Die Haare sind größtenteils entfernt worden. Er wurde regelrecht skalpiert. Kann sein, dass die längliche Rissverletzung da am Hals die tödliche Wunde war. Sieht aus wie mit einer Säge …«
Der junge Mann folgte mit seinem Blick dem Zeigefinger, schlug die Hand vor den Mund, drehte sich um, rannte ein paar Schritte und übergab sich. Mann, dachte Neugebauer, der ist echt sensibel. Aber wahrscheinlich fehlte ihm einfach ein bisschen Erfahrung.
Der Kriminaltechniker wendete sich wieder der Leiche zu und schaute auf einen runden Einstichkanal im Oberkörper des Mannes. Oberhalb des Herzens. Der Blutverlust allein durch diesen Einstich und die Risswunde am Hals musste immens gewesen sein. Gemeinsam mit den Kollegen hob er den Toten aus dem Grab. Die vom Leichenwasser feuchte Erde klebte an ihm. Sie legten ihn auf eine Plastikplane, drehten ihn auf die Seite. Neugebauer entfernte vorsichtig die Erdanhaftungen. Das Loch, das er in der Brust entdeckt hatte, verlief nicht durch den ganzen Körper, denn er fand keine Austrittsstelle. Aber er sah, dass auch auf dem Rücken mindestens zwei große, rechteckige Hautstücke fehlten.
Sie maßen die Temperatur der Luft und des Gehirns, machten weitere Fotos und legten den blutleeren Ermordeten vorsichtig auf die Bahre. Untersuchten noch einmal akribisch den Fundort, während Kommissar Klunker nach Braunschweig zurückfuhr und der Leichnam in das Rechtsmedizinische Institut der Medizinischen Hochschule Hannover gebracht wurde.
Die Frau lag regungslos auf dem Bett. Auf dem Rücken, ohne Decke und atmete regelmäßig, als würde sie schlafen. Ihre Beine waren gespreizt und an die Bettpfosten gefesselt. Der schwarze, hochgeschnittene Slip betonte ihre langen Beine, auf denen sich Rosenranken emporschlängelten. Der hauchdünne Stoff bedeckte ihre Scham wie eine Phantasmagorie und entließ einen kleinen bunten Schmetterling, der stetig auf ihren Bauchnabel zuflog. Das Piercing darin funkelte im Licht eines Punktstrahlers. Ihr nackter Busen hob und senkte sich im Rhythmus ihres Atems. Den Kopf hatte sie auf die Seite gedreht und in ihr dunkles, lockiges Haar gebettet. Am Hals zeichneten sich Sehnen und unnatürlich dicke Adern ab. Auch die Arme mit den verschlungenen Tätowierungen waren an das Bett gefesselt.
Der Mann stand an der Seite des Bettes und betrachtete die schlafende Frau. Verschlang ihren Körper mit Blicken. Ließ ihn über die Beine gleiten, den Schoß, die Brust. Verweilte auf ihrem Gesicht, fixierte den Hals. Und bekam endlich eine Erektion. Er setzte sich auf die Bettkante, streckte eine Hand aus und legte sie auf ihren Venushügel. Ließ die Fingerspitzen über den dünnen Stoff gleiten, umfasste mit der anderen sein Glied. Fixierte den Hals der Frau. Fletschte stöhnend die spitzen Zähne. Er musste genau den richtigen Augenblick abpassen. Griff nach ihrer Brust. Massierte sie. Röchelte. Zog gleichzeitig seine Vorhaut hin und her. Begann zu knurren. Bleckte die spitzen Eckzähne. Endlich. Endlich. Endlich! Ein Orgasmus! Er riss den Mund auf, stürzte sich auf die Frau, und da war er. Im gleichen Moment, als er ihr in den Hals biss, sie sich schreiend aufbäumte und ihr Blut zu fließen begann, floss auch sein Samen. Weiß und Rot. Schneeweißchen und Rosenrot. Unschuld und Verderbtheit. Opfer und Vampir. Der Mann stöhnte und keuchte. Verschmierte das Blut mit seinen Lippen, rieb sein Gesicht darin. Leckte seufzend das süße Blut vom weißen Hals der wimmernden Frau. Es war herrlich. Die Erfüllung seines geheimsten Wunsches: einen Menschen zu beißen und ihm das Blut auszusaugen wie ein Vampir.
Kriminaloberkommissar Carsten Sanders lag in seinem Bürosessel, die Beine auf dem Schreibtisch, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und schaute aus dem Fenster. Vier Uhr, noch eine Stunde, dann war der Montag endlich um, zumindest im Büro. Der frustrierende Montag, ein frustratingly monday. Er nahm die Hände vom Kopf, griff nach dem Blatt Papier auf seinem Schoß, schrieb ein paar Zeilen unter einen Vers, der bereits darauf stand und der ein neuer Song für seine Band werden sollte. Es ging um Frustrationen im Allgemeinen. Im Besonderen aber die eines Kriminalbeamten im Dezernat 35 des LKA Niedersachsen.
Über ein Jahr hatten er und Kollegen aus ganz Europa daran gearbeitet, ein Netz von Menschenhändlern zu zerschlagen. Der Zugriff auf die führenden Köpfe der gut organisierten Bande hatte vor einigen Monaten in drei Ländern zeitgleich und erfolgreich stattgefunden. Heute Morgen hatte er die Urteile der drei beteiligten Männer, die in Deutschland vor Gericht gestanden hatten, erfahren. Einer musste für eineinhalb Jahre ins Gefängnis, einer bekam acht Monate auf Bewährung. Der Dritte wurde freigesprochen, weil er jung und angeblich nur der Fahrer gewesen war. Das hatten die Männer als Strafe dafür bekommen, dass sie mindestens zwanzig Frauen, Mädchen und Jungen aus Georgien und Aserbaidschan dem sexuellen Verlangen von Männern geopfert hatten. Dass sie zwanzig Menschen körperlich misshandelt, versklavt und seelisch zerstört hatten.
Außerdem war ihm schon gleich heute Morgen der Kaffeebecher aus der Hand gerutscht, sein Bruder Ulli hatte verschlafen und ihn angegiftet, ein Radfahrer hatte ihm die Vorfahrt genommen – und dann auch noch rumgeschrien und ihm gedroht, als er ihn darauf hingewiesen hatte. »Frus-tra-tingly monday …«, brummte Sanders.
Gerade hatte er das letzte Wort der zweiten Strophe für den neuen Song seiner Band Riders in the 21st century aufgeschrieben, als es an die Tür klopfte. Carsten sagte: »Herein«, ohne die Beine vom Tisch zu nehmen.
Bernd Janischke, Leiter des Dezernats »Organisierte Kriminalität und Menschenhandel«, betrat Sanders Büro. Mit geneigtem Kopf und einer dünnen roten Pappmappe in der Hand. »Carsten. Du wirst es nicht glauben«, sagte er resigniert. »Jetzt ist es so weit. Ich habe es gerade erfahren. Vom Abteilungsleiter König höchstpersönlich. Es ist so … frustrierend.« Bernd stand da, in einer schlackernden Jeans, mit hängenden Schultern, dunklen Ringen unter den Augen, wirrem Haar und schlecht rasiert.
Carsten schaute seinen Chef mitleidig an. In letzter Zeit hatte er sich verändert. Lachte kaum noch, und immer war sein Glas halb leer, nie halb voll.
»Was ist denn los, Bernd?«, fragte er. »Wurde dein 97. Antrag auf vorzeitigen Ruhestand abgelehnt?«
»Ach, Carsten, sei nicht albern. Zwanzig Jahre muss ich hier noch schuften, das weißt du ganz genau. Aber die zwanzig Jahre werden jetzt richtig zur Hölle«, sagte Bernd und setzte sich.
Carsten seufzte. »Na komm, dann erzähl mal.« Er ertappte sich in letzter Zeit immer öfter dabei, dass er mit seinem Chef redete wie mit seinem Bruder. Nur war der geistig behindert und nicht Beamter im höheren Dienst.
»Das ganze Gebäude wird saniert.«
»Oha!« Sanders nahm die Beine vom Tisch und richtete sich auf. »Wirklich? Seit Jahren wird davon geredet.«
»Und zwar schon ziemlich bald. Nächstes Jahr im Januar soll es losgehen.«
»Was? So schnell geht das auf einmal?«
»Ja. Aber weißt du, was das bedeutet? Ein halbes Jahr Dreck und Lärm, mindestens. Und dann sitzen wir alle in einem Großraumbüro. Carsten, ich weiß wirklich nicht, ob ich das auch noch ertragen kann. Das ist so eine schreckliche Vorstellung. Wir werden alle zusammen in einem einzigen Raum sitzen. Mit Fenstern zum Flur hin. Wo jeder reingaffen kann. Ich weiß nicht, ob ich das durchhalte … ich … ich …«
Früher hätte sein Freund und Vorgesetzter Bernd Janischke über so etwas gescherzt, und sie hätten gemeinsam darüber gelacht. Aber jetzt saß der kleine Mann wie ein begossener Pudel auf dem Stuhl neben Carstens Schreibtisch.
»Hey, Bernd«, sagte Carsten, beugte sich vor und tätschelte seinen Arm. »Was ist denn nur los mit dir? Es ist doch gar nicht der Umbau, oder? Es gibt Lösungen. Wir könnten uns in einer gemütlichen Ecke separieren. Mit hochgewachsenen Zimmerpflanzen und Aktenschränken. Sieh es doch mal positiv. Kürzere Wege, mehr Kommunikation, bessere Arbeitsbedingungen.«
»Du hast ja recht, Carsten.« Bernd stützte den Ellenbogen auf den Schreibtisch. Legte schwer die Stirn in seine Hand. »Aber in letzter Zeit geht mir das hier alles so dermaßen an die Nieren. Ich kann das bald nicht mehr mitmachen. Ich fühle mich so leer. So ausgebrannt.«
»Ich glaube, da bist du nicht der Einzige.«
»Wo ist denn da der Sinn? Für eine Bande, die wir zerschlagen, bilden sich drei neue, die noch brutaler sind. Die Leute, die wir schützen sollen, vertrauen uns nicht. Die Richter denken oft nur an das Wohl der Täter und vergessen die Opfer. Es ist alles so … verschroben. So ungerecht. Sinnlos.«
Carsten nickte stumm. Sein Chef schien in eine Krise zu rutschen. »Ach, Bernd. Hast du dich mal für eine Supervision angemeldet?«
»Supervision.« Bernd richtete sich auf, nahm den Ellenbogen vom Tisch und seufzte. »Die bringt auch keine Gerechtigkeit. Hier, das wollte ich dir geben. Kam eben rein. Eine Anfrage vom Dezernat 32 zu einem unbekannten Toten. Aus Peine. Hast du vielleicht schon in den Nachrichten gehört.« Er hielt Carsten die Mappe hin.
Sanders nahm sie nicht an. »Nein, habe ich nicht. Aber was soll ich denn damit?« Er hatte wirklich nicht gern mit Tötungsdelikten zu tun. Die Mordserie vor drei Jahren hatte ihn weit mehr als ein paar verbrannte Haare gekostet. Seitdem hatte sich sein Verhältnis zu Feuer verändert. Bei jedem Kaminfeuer, bei jedem Grillabend, wenn er das geröstete Fleisch roch, flammte die Erinnerung daran wieder auf.
»Du sollst dir das mal ansehen. Vielleicht ist das Opfer Mitglied einer Bande. Ich glaube, es gibt Hinweise darauf. So genau hab ich mir das nicht durchgelesen.« Bernd legte die Mappe auf den Schreibtisch und stand auf. »Wenn du nicht ermitteln willst, ist es auch egal. Das hat ja sowieso keinen Zweck. Mach′s gut, Carsten«, sagte er und ging. Langsam und gebeugt, als würde er eine zentnerschwere Last tragen.
Kriminaloberkommissar Carsten Sanders kannte den Frust und die Zweifel, die sich in den Köpfen vieler Kollegen eingenistet hatten. Bei den Uniformierten draußen auf der Straße noch mehr als hier bei ihnen im Amt. Vielleicht hing das bei Bernd aber auch irgendwie mit dem Tod seiner Mutter zusammen, bei der er nach dem Scheitern seiner letzten Beziehung vor ein paar Jahren wieder eingezogen war. Vielleicht war er einfach einsam, dachte Sanders und schlug seufzend die rote Mappe auf.
Von
LKA NDS, Abtlg. 3, Dezernat 32, Zentralstelle Gewalt, Vermisste/unbekannte Tote
An
LKA NDS, Abtlg. 3, Dezernat 35, Zentralstelle Organisierte Kriminalität, Menschenhandel
Aktenzeichen: 07102016-PE-UbkT-m
Montag, 10.10.
Mit der Bitte um Abgl. des DNS-Profils in Zentral- und Europol-Datenbanken und Prüfg. auf evtl. Verbindg. im Schleuser- sowie Menschenhandelmilieu.
Gez. G. Horn
Anlagen:
Fallprotokoll
Zeugenaufnahme
Berichte: Spurensicherung, Obduktion
Bildmaterial: Fundort, Leiche
Nichts Überflüssiges, nichts Nettes, nichts Kollegiales, danke, Herr oder Frau G. Horn, da macht die Arbeit richtig Spaß, dachte Sanders und begann zu lesen. Schon nach den ersten Sätzen hätte er brechen können. Der würdige Abschluss für einen frustratingly monday. Aber voll abscheulicher Faszination und beruflicher Neugier las er weiter und weiter und erfuhr immer mehr über den Tod des etwa dreißigjährigen Mannes, den ein Angler am Freitag der vergangenen Woche im Gebüsch einer Baumgruppe am Mittellandkanal bei Peine gefunden hatte.
Als er noch lebte, war er ein großer, gut durchtrainierter Mann mit mehr Muskelmasse als Fett gewesen. Die Leiche war nackt vergraben worden und hatte etwa sechs Tage dort gelegen. Der Todeszeitpunkt lag für die Rechtsmediziner mit höchster Wahrscheinlichkeit in der Nacht von Samstag, den 1. Oktober, auf Sonntag, den 2. Oktober, zwischen achtzehn Uhr und null Uhr; die Zeit der Leichenablage wahrscheinlich Sonntagmorgen zwischen null Uhr und sechs Uhr. Die Todesursache gaben sie mit Verbluten an, was angesichts der langen Liste seiner Wunden, unter anderem Verletzungen der Aorta und der Halsschlagader und der Misshandlungen kein Wunder war. Sie hatten sie in ante mortem und post mortem eingeteilt.
Sanders überflog die Einzelheiten nur. Die lange Liste der Beschreibungen und lateinischen Fachausdrücke der verletzten Hautpartien und Organe, der Hämatome, der Schnitt- und Stichverletzungen und der großen Wunde am Hals. Die fehlenden Hautstücke, Fingerkuppen und einige Zähne. Von der Skalpierung und dem teilweise entfernten Gesicht. Dann las er sich die Zusammenfassung und Einschätzung des rechtsmedizinischen Teams um Prof. Dr. med. Tekanaki der MH Hannover durch:
»Die dem Opfer ante mortem beigebrachten Verwundungen, insbesondere Abwehrverletzungen an den Händen und Prellungen an den Unterarmen, deuten auf ein kämpferisches Szenario hin.
Mit welchen Waffen die beiden stichartigen Verletzungen in der rechten Brust und über dem Herzen hervorgerufen wurden, muss noch eruiert werden.
Die rissartige Wunde könnte durch eine Art Säge verursacht worden sein. Vielleicht durch den Versuch, das Opfer zu enthaupten. Dass es sich dabei um eine Bisswunde handelt, wäre nicht in Gänze auszuschließen. Exaktere Untersuchungsergebnisse sind zu erwarten.
Schnittmarken auf dem Schädelknochen lassen die Vermutung zu, dass der Verlust der oberen Gesichtshaut auf eine nicht fachgerechte Entfernung der Kopfschwarte (Skalpierung) zurückzuführen sein könnte oder aber auf den Versuch, das Opfer post mortem unkenntlich zu machen.
Die Entfernung der Fingerkuppen deutet genauso auf den Versuch hin, die Identifizierung des Opfers zu erschweren, wie die herausgebrochenen Zähne. Es liegt aber im Bereich des Möglichen, dass nur Zähne entfernt wurden, die zahnmedizinische Behandlungen erfahren haben oder einen gewissen Wert besaßen (Edelmetall).
Der Mageninhalt (Salamipizza, gemischter Salat, Weißbrot, Energydrink) ist ca. drei bis vier Stunden vor dem Tode in den Körper eingebracht worden.
In Leber und Haaren deuten Spuren von THC und Alkaloide auf einen wiederkehrenden Drogenkonsum (u. a. Cannabis, Kokain) hin.
Am Genital fanden sich Spuren von Sperma, vermutlich mit Menstruationsblut vermischtes Scheidensekret, was auf einen vollzogenen Koitus vor seinem Ableben hinweist.
Die nähere Umgebung des Fundortes der Leiche sollte umgehend auf ein zweites Opfer oder Leichenteile untersucht werden! Die Körperflüssigkeiten der Frau befinden sich noch in der DNS-Analyse.
Warum in mehreren Bereichen, u. a. des oberen Rückens, der rechten Brust und der linken Wade, Hautpartien entfernt wurden, entzieht sich der Erkenntnis des Obduktionsteams. Die Vermutung, dass damit eine Beschleunigung der Verwesungsprozesse eingeleitet werden sollte, wurde ausgesprochen.
Nach dem ersten noch zu bestätigenden Ergebnis der Zahnschmelzanalyse, die durch eine freie Kapazität im Labor bereits durchgeführt werden konnte, ist der Mann höchstwahrscheinlich in Südosteuropa aufgewachsen, im nördlichsten Teil des alpidischen Gebirgsgürtels, sehr wahrscheinlich westlich des Karpatenbogens in Rumänien.«
Sanders schnappte sich einen Notizzettel und legte eine Stichwortliste zu erledigender Arbeiten an. Als Erstes schrieb er den Namen des Kollegen von der Mordkommission in Braunschweig auf: Kriminalhauptkommissar Martin Klunker. Den wollte er anrufen und fragen, ob bereits nach einer weiteren Leiche gesucht wurde. Dann nahm er sich den Bericht der Spurensicherung vor.
Als er den Namen des Verfassers las, musste er lächeln. Herr Neugebauer, den kannte er. Ein alter Hase, der ihm im Fall des irren Serienmörders wertvolle Hinweise gegeben hatte. Den Namen notierte er als nächsten, noch bevor er dessen Beschreibung der Auffindesituation und des Fundortes zu lesen begann und sich die Lage auf Satellitenbilder im Internet anschaute. Ihm fiel ein gekalkter Acker auf, der westlich von Peine als weiße, asymmetrische Form zwischen dem gleichförmigen Flickenteppich der grünen Felder hervorstach. Daneben die dreieckige Bucht, die Nase am Rande des Mittellandkanals. Er zoomte hinein und sah sich die Gegend des Fundortes an, schaute auf die beigelegten Fotos, las im Bericht.
»Weder in der näheren, größtenteils unberührten Umgebung des Grabes noch im weiteren Umkreis konnten bisher verwertbare Spuren der oder des Täters gefunden werden. Wegen des Wurzelwerks, evtl. auch aus Zeitmangel, wurde das Erdloch nicht lang und nicht tief genug ausgehoben, sodass mehrere Zehen des rechten Fußes von einem Tier, vermutlich einer Rattus norvegicus, von Erde befreit und angefressen werden konnten. In dieser Wunde nisteten in kürzester Zeit Maden der Familie der Calliphorida.
Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde die Grube mit einem scharfen Spaten ausgehoben. Es ist aber auch möglich, dass für dickere Wurzeln eine Axt oder ein Beil benutzt wurde.
Die Leiche lag auf dem Rücken. Durch die Enge der Grube wurde das Kinn auf die Brust gedrückt. Die Arme lagen über Kreuz auf dem Rumpf, unter dem sich nur wenig Blut und Leichenwasser befanden. Die intensive Untersuchung der Grube brachte keine Ergebnisse zutage.«
Sanders starrte auf den Bildschirm. Vergrößerte die Gegend um den Fundort noch weiter. Das Wäldchen, bis die Baumkronen unscharf wurden. Eigentlich müsste da mal jemand hinfahren und sich das ansehen, dachte er und strich sich über das fliehende Kinn. Dann schaltete er wieder auf die Kartenansicht um und zoomte aus der Gegend raus. Nördlich, keine vier Kilometer entfernt, verlief die A2, weiter westlich die A7. Der Totengräber konnte von überall hergekommen sein. Sogar über den Kanal.
Wie wurde die Leiche transportiert?, schrieb er auf den Zettel unter Neugebauers Namen.
Die Fotos der Leiche sah er sich nicht an. Nicht an einem Montag kurz vor Feierabend. Er blätterte zurück und las stattdessen den formellen Polizeibericht, wer wann die Notrufzentrale angerufen hatte. Was die uniformierten Kollegen am Einsatzort vorgefunden hatten. Welche Aussage der Zeuge gemacht hatte. Wie das routinierte Zusammenspiel polizeilicher Akteure nach dem Auffinden einer menschlichen Leiche begann. Und dass die Suche nach weiteren Zeugen in den umliegenden Dörfern Berkum, Rosenthal, Handorf und in der Stadt Peine begonnen hatte, nachdem man den ungefähren Zeitpunkt der Leichenablage bestimmt hatte. Dann rief er den Kriminaltechniker an.
»Hallo? Neugebauer hier«, hörte er die hohe männliche Stimme.
»Guten Tag, Herr Neugebauer. LKA Niedersachsen, Oberkommissar Sanders am Apparat.«
»Guten Tag. Sanders? Den Namen habe ich doch schon mal irgendwo gehört …«
»Ja. Vor ein paar Jahren. Als ein Serienmörder nacheinander fünf Frauen verbrannt hat. Einer der Scheiterhaufen lag in Ihrem damaligen Zuständigkeitsbereich. In Hillerse war das, glaube ich. Sie sind nicht mehr in Gifhorn tätig?«
»Nein, nein. Die Liebe, wissen Sie. In Hillerse, ja, das war eine ziemlich unschöne Sache.«
»Sie hatten mir damals wertvolle Hinweise gegeben. Schön, dass Sie noch nicht in Pension sind. Ein Mann mit Ihrer Erfahrung ist in der Aufklärung von Tötungsdelikten kaum zu ersetzen.«
»Oh, danke für die Blumen. Aber es gibt Nachwuchs.«
Sanders zog die Augenbrauen hoch. »Bei Ihnen? Da gratuliere ich aber.«
»Nein, nein, dafür sind wir zu alt.« Neugebauer lachte kurz auf. »In meinem Beruf, meinte ich. Wobei kann ich Ihnen denn heute helfen? Es geht doch sicher um den Leichenfund letzten Freitag, am Kanal?«
»Genau.«
»Und da ermittelt jetzt das LKA?«
Sanders lächelte: »Wir helfen, wo wir können. Sie haben die Leiche gesehen und wie übel sie zugerichtet ist …«
»Übel, das kann man wohl sagen. Der junge Kollege aus Braunschweig hat sich übergeben müssen.«
»Das glaube ich gern. Man könnte vermuten, dass es sich um einen Mord im Milieu von organisierter Kriminalität handelt. Vielleicht ist er das Opfer eines Bandenkrieges.«
»Das habe ich mir auch gedacht. Allerdings gab es keine Schusswunde, soweit ich das gesehen habe.«
»Das stimmt …« Sanders notierte es auf seinem Zettel. »Herr Neugebauer, ich war noch nicht persönlich am Tatort, habe mir aber die Gegend im Internet angesehen. Was meinen Sie, wie hat der Täter den Leichnam da hingeschafft? Mit einem Auto oder einem Boot?«
»Die Täter. Ich gehe davon aus, dass es zwei Personen waren, die den Körper dort verscharrt haben. Der Mann war groß und schwer. Außerdem geht das Einbuddeln dann schneller: Der eine hackt, der andere gräbt.«
»Hackt was?«
»Na, die Wurzeln durch.«
»Okay …« Sanders schrieb die These auf.
»Zu Ihrer Frage: Ich glaube, dass die mit dem Auto gekommen sind. Die Fundstelle ist fast vollkommen von Bäumen und Gebüsch umgeben. Nur in der vom Kanal abgewandten Richtung ist eine größere Lücke. Dorthin zeigte auch der Kopf der Leiche. Der Angler, der den Toten gefunden hat, ist von der Kanalseite her gekommen und hat sich in das Gebüsch geschlagen, weil er urinieren musste. Der Fußpfad, der sich an dem Wäldchen entlangzieht, ist fast dreißig Meter entfernt. Ich glaube, die Totengräber haben im Schutz der Bäume geparkt, dann die Leiche in das Wäldchen getragen und wussten gar nicht, dass es nicht weit hinter der Grabung schon wieder zu Ende war.«
»Gut, kommen wir zu der Leiche. Sie konnten keine Spuren einer Fesselung feststellen?«
»Nein, dann hätte ich das doch in meinem Bericht erwähnt.«
»Stimmt. Als Nächstes habe ich eine Frage zu den fehlenden Hautstücken. Warten Sie …« Sanders blätterte in der Mappe. »Moment … ah, da. Im Obduktionsbericht steht das so: Warum in mehreren Bereichen, u. a. des oberen Rückens, der rechten Brust und der linken Wade, Hautpartien entfernt wurden, entzieht sich der Erkenntnis des Obduktionsteams. Die Vermutung, dass damit eine Beschleunigung der Verwesungsprozesse eingeleitet werden sollte, wurde ausgesprochen. Würden Sie diese Vermutung teilen?«
»Hm …« Neugebauer schwieg zwei Atemzüge lang. »Eigentlich nicht. Dann hätten die Stücke wahrscheinlich mit in der Grube gelegen, wir haben aber nichts dergleichen gefunden. Ich fand das auch recht merkwürdig. Meine erste spontane Idee war, dass der Mann an diesen Stellen tätowiert war.«
Sanders stutzte. »Sie meinen, man hat Tattoos aus dem Mann herausgeschnitten?«
»Das könnte ich mir vorstellen. Vielleicht waren das Motive, die mehr über den Toten verraten haben als die, die man nicht entfernt hat.«
»Der Körper ist tätowiert? Das steht gar nicht in dem Bericht. Aber vielleicht … warten Sie … sind welche bei den Fotos dabei …«
»Ganz bestimmt. Ich kann mich nicht mehr an die Motive erinnern. Waren wohl nichts Besonderes.«
Sanders blätterte in der Mappe weiter nach hinten, zog die Bilder der Leiche, die er sich nicht hatte ansehen wollen, aus einer Klarsichthülle, fächerte sie auseinander, und … »Tatsächlich. Es sind wirklich Fotos von zwei blassen Hautverzierungen dabei. Ein furchtbar schlecht gemachter Löwenkopf auf dem linken Oberarm und ein schwarzes Kreuz über dem Herzen. Das ist aber durch den großen Einstich beschädigt.«
»Ein gläubiger Mensch.«
»Das war er vielleicht. Und durchtrainiert und kräftig.« Sanders schaute auf die muskulösen Arme des Toten.
»Das war er auf jeden Fall.«
»Ein Bodybuilder …«, sagte der Kommissar leise, mehr zu sich selbst als laut ausgesprochen.
»Kann sein. Auf jeden Fall hat er an Gewichten und Geräten trainiert.«
»Vielleicht in einer JVA.«
»Vielleicht in einer JVA. Finden Sie die Muckibude, und dann wissen Sie mehr über ihn.«
»Das werde ich tun. Vielen Dank, Herr Neugebauer, für Ihre Überlegungen.«
»Keine Ursache. Sie können mich jederzeit anrufen. Auf Wiederhören.«
Sanders legte auf. Starrte vor sich hin. Auf den Schreibtisch. Dann doch auf die Fotografien des Ermordeten.
Kein Wunder, dass der Kollege aus Braunschweig sich hatte übergeben müssen. Kommissar Klunker, den wollte er doch anrufen, wegen einer eventuellen zweiten Leiche. Schnell suchte er in der Mappe nach der Nummer und rief die Kripo in Braunschweig an. Aber der Mann hatte sich krankgemeldet, sagte die Kommissarin am anderen Ende. Und so fragte er sie, ob die Suche nach einer vermuteten zweiten Leiche bereits angelaufen sei. Die Frau bejahte das und bedankte sich für die unnötige Nachfrage.
Sanders räumte seinen Schreibtisch auf, wusch Kaffee- und Teebecher aus und warf sich das dunkelblaue Jackett über. Der Tote war tot, es gab keine aktuelle Bedrohung, die Zeit saß ihm nicht im Nacken wie in dem Fall des Mordbrenners. Alle weiteren Schritte, die er zur Identifizierung des Mannes einleiten musste, konnten bis morgen warten. Siebzehn Uhr war Dienstschluss, und er ließ seinen Bruder Ulli nicht gern länger als nötig allein.
Xui Chenglong rutschte auf seinem Stuhl hin und her und freute sich wie ein kleiner Junge auf die »Köstlichkeiten nach Mitternacht«, die er in den nächsten Stunden zu sich nehmen würde. Schon lange, seit dem vergangenen Hundefleischfest vor einem viertel Jahr, hatte er nichts derart Erbauliches mehr gegessen.
Er schaute sich im »Zimmer der Aufrechten« um, nickte seinem Gegenüber zu, der unentwegt mit seinen Nachbarn plauderte. Der Kollege, der an dem ebenso lukrativen wie innovativen Vertragsabschluss mitgearbeitet hatte. Beide hatten sie der Großreederei »China Ocean Shipping Company« einen Weg in die Zukunft geebnet, als sie einen Flughafen in Deutschland gekauft hatten. Den ersten der COSCo, um die langfristig angestrebte Entwicklung im Luftfrachtgeschäft umzusetzen und endlich die Unabhängigkeit von internationalen Fluglinien zu erlangen. Sie hatten den ersten Schritt getan, und der Firmenvorstand hatte sie fürstlich dafür belohnt.
Eine dieser Belohnungen bestand in zwei Tagen Sonderurlaub und der Reservierung von Plätzen im Drachenei, einem besonderen Restaurant mit ein paar geheimen Nebenräumen, in denen hin und wieder spezielle Nachtmenüs, leider ohne den absoluten Höhepunkt, serviert wurden. Das Drachenei lag in Süd-China bei der Stadt Pingxiang in der schönen Provinz Guangxi, nahe der vietnamesischen Grenze. Den Tag hatten sie in den grünen, sanft geschwungenen Bergen verbracht, die der Millionenstadt ein beruhigendes, gelassenes Panorama gaben. Den Abend in einem Kino, um sich den amüsanten Animationsfilm »Sausage Party – Es geht um die Wurst« anzusehen. Jetzt, um kurz vor Mitternacht, saßen sie erwartungsvoll im Drachenei.
Chenglong fuhr sich mit der Zunge über die großen, vorstehenden Schneidezähne und schaute zum zweiten runden Tisch hinüber, an dem weitere, meist männliche Gäste sich auf das extravagante Mahl freuten. Auch eine Langnase war darunter. Ein wohlgenährter Mann mit einem runden, roten Gesicht, der sich an der großartigen chinesischen Küche laben wollte. Auch der Mann schaute in die Runde, und als ihre Blicke sich trafen, nickte er ihm kurz zu. Dann betraten zwei Kellner mit Tabletts den fensterlosen Raum, gefolgt von einer Frau in einem engen roten Qipao-Kleid und mit hochgesteckten Haaren.
»Willkommen im Haus des Dracheneis«, sagte sie. »Die ›Acht Köstlichkeiten des Drachens Wu‹ werden Sie heute verzaubern. Ihren Körper stählen. Ihrer Manneskraft die Stärke eines Elefanten verleihen. Ihren Geist unerschöpflich machen. Ihre Gesundheit in göttliche Sphären aufsteigen lassen. Beginnen Sie mit der ›Speise der Mutter‹: in der frischen Milch einer jungen Mutter gekochte Kobra.«
Auf einen Wink hin erklang plötzlich leise klassische Musik mit der lustig plingenden Guzheng und der traurigen, gequält weinenden Suona. Die Kellner verteilten die Schüsseln und huschten ebenso stumm und lautlos hinaus, wie sie gekommen waren.
Xui Chenglong tunkte seinen Porzellanlöffel in die weißliche Flüssigkeit, hob ihn an die Nase und sog langsam und genießerisch den Duft der dampfenden Muttermilch ein. Dann schlürfte er ihn laut und vernehmlich leer, wie alle anderen Anwesenden auch. Angelte mit der Zunge das Stück Kobrafleisch aus der Vertiefung, kaute bedächtig darauf herum und stöhnte, als das Aroma des zerquetschten Fleisches seine Geschmacksnerven reizte.
Zwei Stunden dauerte das Mahl. Das »Sushi Alive« wurde vor ihren Augen von zwei Köchen aus den lebenden Fischen geschnitten und in noch warmen Klebreis eingerollt. Das war noch nichts Besonderes, das gab es überall in China. Aber »Der Schutz des Drachen« aus geschmortem Fleisch vom Schuppentier, das war verboten und umso köstlicher. Auch der nächste Gang »Die Weisheit der Welt«, das Gehirn von Rhesusäffchen, war nicht mit den neuen Artenschutzgesetzen vereinbar, aber es schmeckte wunderbar zu den »Farbenfrohen Verwandlungen«, den mit Gold bestäubten Fleischstreifen vom Chamäleon.
Ein Highlight aber war ohne Zweifel der gedämpfte Leopardenfötus, »Die wilde Kraft«. Als er die schwachen Knöchelchen zerkaute, spürte er die ganze Kraft des Tieres, konzentriert in dem ungeborenen Leben, magisch durch seinen Körper strömen.
Als letzter Gang und würdiger Abschluss der »Köstlichkeiten nach Mitternacht« wurde »Das Glück des Drachen Wu« serviert, mit menschlicher Plazenta gefüllte Teigtaschen.
Es war unbeschreiblich, und Chenglong seufzte immer wieder, tief und lange, wie in einer alle Sinne überreizenden Ekstase. So etwas bekam man im heutigen China nur noch selten, dachte er und sank in seinem Stuhl nach hinten. Wie musste es erst sein, wenn er irgendwann einmal das Sinnlichste kosten durfte?
Xui Chenglong hatte alle Gerichte mit vollster Konzentration zu sich genommen. Die Speisen im Munde zergehen lassen. Jede Nuance lauter stöhnend als alle anderen ausgekostet und nicht bemerkt, dass der rotgesichtige dicke Mann ihn dabei manches Mal anstarrte.
Die Frau in dem Qipao-Kleid hatte jeden Gang angekündigt. Jetzt betrat sie den Raum, gefolgt von jungen Frauen, die zu der klassischen Musik zu tanzen begannen.
»Nun stehen Ihnen ›Die Freuden der Lende‹ zu Diensten, verehrte Herren. Bedienen Sie sich.«
Der Erste, der aufstand, war die Langnase. Aber er ging nicht zu den Mädchen. Mit einem breiten Grinsen kam er auf Chenglong zu.
Carsten Sanders stellte den dunkelblauen Audi A4 in die Einfahrt seines Hauses in Langenhagen und freute sich auf ein Telefongespräch mit Mandy. Eigentlich telefonierten sie montags nicht, wenn sie das Wochenende zusammen in Braunschweig verbracht hatten. In der Wohnung von Mandys Tochter Xenia. Aber er wollte ihr unbedingt von dem Toten erzählen. Abartige Gewaltverbrechen konnten ihn mit lähmender Ohnmacht und Traurigkeit überwältigen. Er war dünnhäutiger geworden seit den Brandmorden, so viel stand fest.
Sein älterer Bruder Ullrich saß in der Küche und trank einen Kakao, der bei der Zubereitung verdächtig wenig Spuren hinterlassen hatte. Ulli hatte um sechzehn Uhr Arbeitsschluss. Er arbeitete seit Neuestem, weil Inklusion und Teilhabe am »normalen Leben« demnächst gesetzlich verankert werden sollten, in der Keksfabrik Bahlsen. Das war gar nicht so gut für ihn, er war dabei, auseinanderzugehen wie ein Hefekloß. Die Hosenträger an seiner braunen Cordhose brauchte er schon lange nicht mehr, trug sie aber immer noch.
»Hey, Ulli«, sagte Carsten. »Wie war dein Tag?«
»Gut. Und deiner?«