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Das Brautkleid Kofferversteigerung der Bahn in der Bad Godesberger Stadthalle. Für Überraschungen immer zu haben, will Anna Marie endlich einmal an so einem Ereignis teilnehmen. Als auf einer Kleiderpuppe jedoch ein Brautkleid herein- geschoben wird, ist sie überwältigt. Die Koffer sind vergessen. Nach einem kurzen Bietergefecht erhält sie den Zuschlag. Doch wer ist der Mann, der ebenfalls darauf geboten und ihr offensichtlich den Vortritt gelassen hat? Er steht plötzlich hinter ihr und fordert sie zu einem gemeinsamen Cafébesuch auf. Schon bald wird sie erfahren, wer er ist und was es mit dem Brautkleid auf sich hat. Ihr beschauliches Leben wird dadurch in einen Alptraum verwandelt.
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Seitenzahl: 333
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"Niemand ist imstande, die empfindliche Lücke im Herzen zu schließen, die eine Kugel hinterlässt."
- Stanislaw Jerzy Lec -
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Über den Autor
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Anna Marie legte die Papiere in die Unterschriftenmappe, klappte sie zu und warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. Jetzt ist es genug. Ich sollte gar nicht hier sein. Sie schob den Stuhl zurück, erhob sich, zog den Blazer von der Rückenlehne des Bürostuhls und griff nach ihrer Handtasche. Erleichtert darüber, dass sich Herr Gürtler, der Firmenchef und ihr direkter Vorgesetzter, gerade zum Mittag außer Haus befand und sie darum nicht noch einmal aufhalten konnte, legte sie die Mappe auf seinen Schreibtisch.
Die Sonne hatte fast den höchsten Stand am Himmel erreicht, als Anna Marie auf den Parkplatz vor der Bad Godesberger Stadthalle einbog. Wenigstens einmal wollte sie an einer Kofferversteigerung der Bahn teilnehmen. Hätte sie diesen Termin nicht fest eingeplant, müsste sie sich selbst die Schuld für die späte Ankunft geben. So aber war das eindeutig ihrem Chef zuzuschreiben – oder ihrer Gutmütigkeit. Wieder einmal konnte sie sich, obwohl sie den Urlaubstag schon vor Wochen eingetragen hatte, dem Wunsch des alten Herrn nicht entziehen, wenigstens für eine Stunde im Büro zu erscheinen.
Für eine Stunde! Verdammt nochmal! Was bin ich blöd. Hätte ich mir doch denken können, dass es wieder länger dauert als angesagt. Mit diesen Gedanken lenkte Anna Marie ihren Mini durch die Parkreihen. Alles belegt. Mist! War ja auch nicht anders zu erwarten.
In der letzten Parkreihe, ganz am Rand, war ein Parkplatz frei. Sie erkannte auch sofort weshalb. Der auf dem Nachbarplatz stehende schwarze Mercedes war von seinem Fahrer über dem Begrenzungsstrich geparkt worden. Aber ihr kleiner Mini passte dennoch hinein. Sie stellte den Motor ab und stieg aus. Bei einem Blick auf die Lücke zwischen den Autos bemerkte sie, dass der Fahrer wohl von der Beifahrerseite würde einsteigen müssen, um seinen Platz hinter dem Lenkrad einnehmen zu können. Selbst schuld, dachte sie grinsend und eilte in die Stadthalle.
Es wimmelte von Besuchern, deren Vorfreude, Spannung und Neugier leicht von den jeweiligen Gesichtern abzulesen war. Ihr selbst ging es ja ebenso.
Bevor Anna Marie den Saal betrat, ließ sie sich registrieren. Schließlich wollte sie unter allen Umständen etwas ersteigern. Sitzplätze gab es keine mehr. Die Leute standen eng aneinandergedrängt. Wie üblich bei solchen Auktionen, wollte wohl jeder mindestens einen Koffer mit Überraschungsmoment ergattern. Anna Marie suchte sich einen Stehplatz, an dem sie dennoch einen guten Blick zum Auktionator hatte. Gerade wurde ein Koffer – rosarot mit Blümchen – an eine ältere Dame übergeben. Den hat sie doch sicher für die Enkelin ersteigert, überlegte sie. Gleich darauf lief ein Herr in schwarzer Dreiviertelhose, rotem T-Shirt und mit bunten Tattoos auf beiden Armen nach vorne und holte einen großen grauen Samsonite Vierrollen-Trolley ab. Nun stellte der Auktionator ein Paar blaue Pistenski für Kinder vor. Die waren sehr schnell versteigert.
Wow! Anna Marie blieb für einen Moment die Luft weg, als einer der Helfer eine Schneiderpuppe hereinschob, auf der ein atemberaubend schönes Brautkleid stilvoll präsentiert wurde. Bei jedem Sonnenstrahl, der auf das Kleid fiel, schien es, als funkelten tausend Glitzersteinchen.
„Wer hat Interesse an diesem aus Organza und Spitze gefertigten, mit Strasssteinchen besetzten weißen Ball- oder Brautkleid von Elena Marques in Größe 38?“, fragte der Auktionator. „Ich beginne mit fünfzig Euro. Wir gehen in Zehn-Euro Schritten weiter.“
Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, bis sie bei der letzten Überlegung stehen blieben. Das muss ich haben!
„Die Dame im roten Kleid. Ja, der Herr mit der Sonnenbrille. Für sich selbst oder Ihre Tochter? Na, ist auch egal. Die Dame mit dem Strohhut“, rief der Auktionator und fuchtelte bedeutsam mit seinem Holzhammer.
Wie unter Zwang streckte Anna Marie ihre Hand nach oben.
Die Dame mit dem Strohhut hob erneut ihre Hand und gleich darauf erneut der Herr mit der Sonnenbrille.
Und wieder überbot ihn Anna Marie, während die Dame im roten Kleid mit ihrer Nachbarin diskutierte und die Dame mit dem Strohhut ihr Handy ans Ohr hielt, aber geistesgegenwärtig die andere Hand nach oben streckte.
Der Sonnenbrillenheini bot erneut.
Was will denn der Typ mit einem Brautkleid?, fragte sich Anna Marie und streckte, nachdem sie dem Sonnenbrillenheini einen bittenden Blick zugeworfen hatte, wiederholt ihre Hand hoch.
Die Damen schienen diesmal abgelenkt und boten nicht weiter. Fast schien es, als wolle der Mann weiterbieten, ließ seine Hand dann aber wieder sinken.
„Zum Ersten, zum Zweiten und … zum Dritten.“ Der Hammer schlug hart auf den Tisch. „Ersteigert für einhundertdreißig Euro von der jungen Frau im beigen Hosenanzug. Kommen Sie nach vorne und holen Sie sich Ihr Brautkleid ab.“
Ihre Freude war Anna Marie deutlich anzumerken, als sie sich einen kurzen, aber überglücklichen Jauchzer erlaubte. Dass sie statt eines Koffers ein Brautkleid ersteigern würde, damit hatte sie wahrlich nicht gerechnet. Während sie sich einen Weg zum Auktionator bahnte, fragte sie sich eine Sekunde selbst, was sie sich bei diesem Unsinn gedacht hatte. Außerdem bemerkte sie, dass ihr der Sonnenbrillenheini mit Blicken folgte. Seltsam! War er womöglich ein Bräutigam? Wollte er das Kleid für seine Herzensdame retten? Ein Bräutigam darf das Brautkleid vor der Hochzeit nicht sehen. Das bringt doch Unglück. Also Unsinn! Da steckt was anderes dahinter. Vielleicht zieht er heimlich Frauenklamotten an. Aber was geht es mich an? Nichts!
Als sie das Brautkleid in die Arme nahm, lösten sich all die wirren Gedanken in Luft auf. Sie schaute auch nicht mehr nach rechts oder nach links, sondern ging mit dem Kleid direkt zur Kasse. Vor der Kasse standen bereits mehrere Personen, die ihr Ersteigertes ebenfalls bezahlen wollten. Sie musste also einige Minuten warten.
„Das haben sie ersteigert?“, fragte eine ältere Dame, die vor ihr in der Schlange stand. „Sie möchten wohl bald heiraten?“
„Nein, dazu fehlt mir leider noch der richtige Mann“, antwortete Anna Marie freundlich. „Aber wer weiß …“
„So wunderschön wie Sie sind, junge Frau, wird das nicht lange dauern“, meinte sie freundlich lächelnd. „Besuchen Sie solche Kofferversteigerungen regelmäßig?“
„Nein. Ich bin zum ersten Mal hier.“
„Das erste Mal und dann ersteigern Sie statt eines Koffers ein Brautkleid?“
„Genau!“, antwortete Anna Marie bestätigend nickend. „Dass ich ein Brautkleid und keinen Koffer ersteigern würde, damit habe ich auch nicht gerechnet.“
„Sie schulden mir etwas“, sagte plötzlich eine männliche Stimme hinter ihr.
„Wie bitte?“, fragte Anna Marie, als sie sich dem Fremden zuwandte, der sie um Haupteslänge überragte. „Ich wüsste jetzt aber nicht, weshalb ich Ihnen …“, sagte sie, verstummte jedoch, bevor sie den Satz zu Ende brachte. Kein Lächeln verzauberte den Moment, als sie direkt in glasklare, stechend blaue Augen blickte. Nicht einmal in den Augenwinkeln war die geringste Spur davon zu finden. Obwohl es Anna Marie einen Moment eiskalt über den Rücken lief, gelang es ihr nicht, sich einer gewissen Anziehung zu erwehren.
Da hob sich die linke Augenbraue des – zugegeben – überaus gutaussehenden Fremden etwas an. „Ich habe Ihnen das Brautkleid überlassen“, bemerkte er.
„Ach? Haben Sie das? Na gut, dann …“ Anna Marie stockte und sah ihn fragend an. „Was wollten Sie überhaupt mit dem Kleid? Sind Sie etwa …?“ Sie lachte auf und schüttelte sogleich verneinend den Kopf. „Ich habe mich tatsächlich gefragt, was ein Mann wie Sie mit einem Brautkleid will. Geben Sie es zu, Sie wollten lediglich den Preis hochtreiben.“
„Ich wollte lediglich verhindern, dass eine der Damen das Kleid ersteigert. Kommen Sie, zumindest ein Kaffee sollte drin sein“, fuhr er freundlich bittend fort. Das überaus charmante Lächeln, das sich überraschend auf seinen Lippen zeigte, veränderte die Mimik seines markanten Gesichtes auf angenehme Weise.
Vergessen war das kurze Schaudern, das sie einen Augenblick etwas geängstigt hatte. „Na dann …, warum nicht?“, antwortete sie zögernd, während sie sich dem Kassierer zuwandte, der sie in diesem Moment ansprach. Sie reichte ihm das Geld, das er forderte, und nahm das Kleid in Empfang, das ihr ein junger Mann kurz zuvor abgenommen hatte, um einen Kleidersack darüberzustülpen.
„Dann lassen Sie uns gehen“, meinte der Fremde mit ausladender Geste. „Mein Wagen steht …“
„Gleich da drüben ist der Trinkpavillon“, unterbrach ihn Anna Marie und deutete in die entgegengesetzte Richtung. „Warum denn in die Ferne schweifen …“
„Ja, ja, der gute Schiller.“
„Fast – Goethe“, berichtigte ihn Anna Marie.
„Genau! Da habe ich wohl etwas verwechselt“, meinte er und sah sie fragend an.
„Warten Sie hier einen Moment“, bat ihn Anna Marie. „Ich lege nur noch eben das Kleid in den Kofferraum meines Wagens.“
Er blieb jedoch an ihrer Seite. „Oh! Ich begleite Sie gerne. So ein paar Schritte nach längerem Sitzen tun mir sicherlich gut.“
Irgendwie seltsam, der Typ. Seinen Namen hat er mir auch noch nicht genannt, überlegte sie, während sie über den Parkplatz zu ihrem Wagen eilten.
„Übrigens … Wo sind nur meine Manieren? Entschuldigen Sie, ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt“, sagte er stehenbleibend, als hätte er ihre Gedanken gelesen, und streckte ihr seine rechte Hand entgegen. „Tommaso Giordano.“
„Italiener?“, fragte Anna Marie, während sie ebenfalls anhielt, ihre Hand unter dem Kleidersack hervorschob und seine ergriff.
„Mein Vater ist Italiener, meine Mutter Deutsche.“
Daher also sein dunkler Teint, das schwarze Haar und diese verboten langen Wimpern, überlegte Anna Marie.
Sie erwartungsvoll anblickend, hielt er ihre Hand länger als nötig.
„Oh! Anna Marie Köster“, stellte sie sich nun ebenfalls vor und entzog ihm ihre Hand, bevor sie raschen Schrittes weiter über den Parkplatz eilte. „Einen Moment bitte“, sagte sie, als sie an ihrem Mini ankam. Sie öffnete den Kofferraum, legte den Kleidersack vorsichtig hinein und schloss ihn wieder.
„Da haben Sie aber ganz schön nah am Nachbarfahrzeug geparkt“, bemerkte Tommaso.
„Woher wollen Sie das wissen? Könnte ja auch sein, dass er sein Fahrzeug so dicht an meinem geparkt hat.“
„Aber wie ist er dann ausgestiegen? Das war auf der Fahrerseite unmöglich.“
„Tja, möglicherweise auf der Beifahrerseite und sollte ich nicht vor ihm wegfahren, wird er auch auf dieser einsteigen. Ist selber schuld. Schauen Sie doch mal“, forderte Anna Marie ihn auf und deutete auf die überschrittene Trennlinie der Parkfläche. „Bloß weil der Typ einen dicken Mercedes fährt, darf er sich nicht einbilden, dass ihm der ganze Parkplatz zur Verfügung steht.“
„Sie haben recht, ziemlich unverschämt, der Typ. Ha, ha“, lachte er laut und fügte fröhlich hinzu: „Lassen Sie uns einen Kaffee trinken.“
Sein Lachen gefiel Anna Marie. Dennoch war sie nicht sicher, ob sie ihn wirklich sympathisch fand. Er scheint ein Mann mit Charakter zu sein, der nicht leicht zu durchschauen sein wird, überlegte sie. Sein wird? Will ich ihn denn durchschauen. Ich gehe jetzt einen Kaffee mit ihm trinken, danach fahre ich nach Hause und sehe ihn nie wieder.
Wie es schien, waren alle Plätze besetzt. Anna Marie war keineswegs enttäuscht, im Gegenteil, sie hoffte, dass sich auf diese Weise das gemeinsame Kaffeetrinken erledigt hatte. Doch da deutete Tommaso Giordano auf einen Tisch, an dem sich just in diesem Moment ein Paar erhob, und eilte dort hin. Höflich zog er einen Stuhl zurück und bat sie, sich zu setzen. „Das Schicksal meint es gut mit mir.“
Anna Marie sagte nichts dazu. Sie nahm Platz und wartete, bis auch er sich gesetzt hatte.
„Eigentlich wollte ich keinen Koffer ersteigern“, erklärte er. „Mein Bruder meinte, in meinem Leben würde die Spontanität fehlen. Ich kam gerade von einem Besuch bei ihm und als ich auf dem Plakat da vorne von der Kofferversteigerung las, entschloss ich mich spontan, daran teilzunehmen. Ganz sicher wollte ich kein Brautkleid nach Hause bringen.“
„Und warum haben Sie dann mitgeboten?“
„Ehrlich gesagt weiß ich nicht, welches Teufelchen mich geritten hat. Ich wollte nur, dass die beiden Alten dieses wundervolle Kleid nicht bekommen. Hätten Sie mir nicht diesen bittenden Blick zugeworfen …“
„Habe ich gar nicht“, unterbrach sie ihn und lehnte sich demonstrativ entspannt zurück.
„Doch …, haben Sie. Ich hätte es für Sie ersteigert. Aber als ich merkte, dass die beiden Frauen nicht mehr mitboten, habe ich mir überlegt, Ihnen die Freude, es selbst ergattert zu haben, nicht zu nehmen.“
Skeptisch, mit einer Spur Sarkasmus in den Augenwinkeln, blickte sie ihn einige Sekunden an. „Ach ja?“ Was redet er denn da? Blödsinn!
„Ja. Zumal es wohl auch ziemlich seltsam ausgesehen hätte, wenn ich als Mann ...“, meinte er.
„Das stimmt allerdings. Ich hatte mich auch gefragt, weshalb Sie ein Brautkleid ersteigern wollen.“
„Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?“, fragte er schmunzelnd.
„Nun ja…“, sie lächelte verschmitzt, „ich denke, das möchten Sie nicht wirklich wissen. Jedenfalls bin ich sehr glücklich, dass ich den Zuschlag bekommen habe.“
„Wie ich am Rande mitbekam, haben Sie nicht vor, zu heiraten?“
„Nein, habe ich nicht. Ich wollte auch nur einen Koffer ersteigern. Zum einen, weil ich das noch nie gemacht habe, und zum anderen, weil ich mich überraschen lassen wollte. Ich liebe Überraschungen. Dabei wäre es mir fast egal gewesen, was ich dann in dem Koffer vorgefunden hätte.“
„Fast?“
„Nun ja, es gibt ein paar Sachen …, schmutzige Unterwäsche, stinkende Socken oder eine Leiche zum Beispiel.“
„Ha, ha“, lachte er abermals schallend. „Wer packt denn schon eine Leiche in seinen Koffer und lässt ihn dann einfach stehen? Schließlich fängt so ein Toter nach einigen Tagen gewaltig an zu stinken. Überdies wird jeder Koffer geöffnet, bevor er hier landet. Die Polizei wäre also längst verständigt worden.“
„Meinen Sie? Und was, wenn so ein Koffer erst vor Beginn der Veranstaltung dazugestellt wird? Plötzlich steht da ein zusätzlicher, nicht registrierter Koffer. Bei dieser Menge an liegengebliebenen Gegenständen fällt das doch gar nicht auf.“
Er stützte beide Ellbogen auf den Tisch, legte seine Hände ineinander und schaute einige Sekunden nachdenklich darüber hinweg direkt in ihre Augen. „Möglich. Aber ich denke eher, dass die Verantwortlichen ausgiebig über das Für und Wider – den Koffer zu öffnen – diskutiert hätten, um dann am Ende das Bombenräumkommando zu rufen“, erklärte er. „Leichen finden Sie hier sicher nicht.“
„Jedenfalls habe ich nun ein Brautkleid, mit dem ich im Grunde nichts anzufangen weiß, aber immer noch keinen Koffer.“
„Und ich dachte gar nicht mehr daran, einen Koffer zu ersteigern, nachdem ich Sie gesehen hatte“, sagte er sehr ernst, während sein Blick erneut tief in ihren Augen versank. „Ich sitze hier mit der schönsten Frau, die mir je in meinem Leben begegnet ist, das ist mir Überraschung genug.“
Auf Anna Maries Wangen legte sich ein zartrosa Schleier, während sie sich verlegen räusperte. Was soll ich bloß von diesem Mann halten? Vorhin wirkte er einen Moment geradezu angsteinflößend. Und nun sagt er so etwas. Das ist doch nur so … Allerdings sieht er fantastisch aus, strahlt geradezu vor Selbstbewusstsein und … ja, ein guter Schuss Arroganz ist auch dabei. Was er wohl beruflich macht? In diesem dunkelblauen Anzug mit der blauweiß gestreiften Krawatte auf dem weißen Hemd wirkt er irgendwie … weltmännisch. Ein Mann jedenfalls, den man niemals bei einer Kofferversteigerung erwarten würde.
Er senkte kurz seinen Blick, hob ihn wieder und räusperte sich ebenfalls. „Ich jedenfalls würde den Koffer in einem entfernten Bundesland auf einer Mülldeponie entsorgen“, griff er das Thema „Toter im Koffer“ wieder auf.
Die Verlegenheit steht ihm, dachte sie, in sich hineinschmunzelnd. Und nun will er mich das eben Gesagte wohl schnellstens wieder vergessen lassen. „Woher kommen Sie nochmal?“
„Ich wohne in Wiesbaden. Aber ich komme gerade von einem Besuch bei meinem Bruder. Er lebt in Koblenz. Ich befand mich auf dem Heimweg“, erklärte er.
„Oh!“
Tommaso Giordanos rechter Mundwinkel verzog sich ein wenig nach oben, doch bevor er etwas dazu sagen konnte, trat eine Kellnerin an den Tisch.
„Was kann ich Ihnen bringen?“, fragte die junge Frau.
Mit einer zuvorkommenden Geste deutete Tommaso Giordano auf Anna Marie.
„Einen Cappuccino, bitte.“
„Mir dasselbe“, bestellte er knapp und wandte sich wieder an Anna Marie: „Wozu dann dieses Brautkleid?“, fragte er neugierig, als die Kellnerin den Tisch verließ.
„Nun ja, ich habe das Kleid gesehen und mich sofort darin verliebt. Ich musste es einfach haben. Und wer weiß, eines Tages werde ich es vielleicht sogar tragen.“
„Ein Kleid, das einer anderen Braut womöglich kein Glück gebracht hat?“, mutmaßte er.
„Wie kommen Sie denn darauf? Das Kleid ist nagelneu.“
„Ist es das?“
„Zumindest sieht es so aus.“
„Aber haben Sie sich nicht eine Sekunde gefragt, weshalb die Besitzerin, nachdem sie es einfach im Abteil einer Bahn zu vergessen hatte, das nicht im Fundbüro gemeldet hat?“, fragte er wissbegierig weiter. „Ich meine – ein Brautkleid – das vergisst man doch nicht einfach so.“
„Da muss ich Ihnen recht geben. Nein, ich habe nicht darüber nachgedacht. Die Schönheit des Kleides muss mir den Verstand vernebelt haben“, gab sie nachdenklich zu, um gleich darauf nach Erklärungen zu suchen. „Andererseits könnte es doch auch einen ganz banalen Grund dafür geben. Die Braut hat es sich plötzlich anders überlegt und hat das Weite gesucht. Oder das Kleid wurde gestohlen und der Dieb hat es in der Bahn vergessen. Er kann es doch wohl schlecht zurückfordern. Und die Bestohlene erwartete sicher nicht, es bei der Bahn zu finden. Keine Ahnung, aber da ließe sich sicher eine passende Erklärung finden.“
„Der Bräutigam wurde erschossen und das Kleid gestohlen“, platzte er theatralisch heraus und blickte sie in Erwartung einer Antwort herausfordernd an.
„Na, Sie haben ja einen eigenartigen Humor“, entgegnete Anna Marie und schüttelte sich innerlich. „Wollen Sie mir das Kleid madig machen, damit ich es Ihnen doch noch überlasse?“
Die Kellnerin trat an den Tisch und servierte den Cappuccino. Gleich darauf zog sie ihre schwarze Kellnerbörse hervor. „Zusammen oder getrennt?“
Tommaso Giordano reichte der Kellnerin zwei Scheine. „Stimmt so.“
Anna Marie nippte an der Tasse und ließ ihren Blick über das Gesicht des Fremden gleiten, als er sich unbeobachtet fühlte. Ein interessanter Typ, aber mir doch ein wenig zu absonderlich, dachte sie und nippte erneut an der Tasse.
„Es ist keineswegs in meinem Sinn, Ihnen das Kleid madig zu machen. Aber wäre es nicht interessant, die Geschichte des Kleides zu kennen“, fragte er, nachdem die Kellnerin sich wieder entfernt hatte.
Anna Marie zuckte mit den Schultern. „Ja, durchaus, aber wie könnte man denn etwas über ein vergessenes Kleid in Erfahrung bringen?“
„Man könnte einen Artikel in die Zeitung setzen.“
„Könnte man“, stimmte Anna Marie zu, fragte sich aber, weshalb er das Thema so hartnäckig verfolgte. Irgendwie seltsam ist er schon. Was will er eigentlich? Wird Zeit, dass ich mich verabschiede. „Danke für den Cappuccino, aber nun muss ich wirklich gehen“, sagte sie, nachdem sie ihre Tasse leer getrunken hatte, und erhob sich.
„Es war mir eine Freude. Und ich habe die Unterhaltung mit Ihnen sehr genossen“, antwortete er, trank einen letzten Schluck, schob seinen Stuhl zurück und erhob sich ebenfalls. „Wir haben denselben Weg.“
„Ah ja“, entgegnete sie. Wann werde ich den Mann endlich wieder los, fragte sie sich und schlug flotten Schrittes den Weg zum Parkplatz ein. Na ja, er wird ja dann zu seinem Wagen gehen und ich werde ihn hoffentlich nie wiedersehen, dachte sie und wunderte sich über den leisen Hauch des Bedauerns, der sich unerwartet in ihr bemerkbar machte.
Ohne ein Wort zu verlieren, folgte er ihr bis zu ihrem Mini.
„Wo steht denn Ihr Wagen?“, fragte sie interessiert.
„Ich bin der Typ“, antwortete er mit angedeutetem Grinsen und einem Augenzwinkern in Richtung Mercedes, „der annimmt, dass ihm der ganze Parkplatz zur Verfügung steht.“
„Oh je!“, hauchte Anna Marie peinlich berührt, bevor sie verschämt lächelnd hinzufügte: „Da bin ich wohl ordentlich ins Fettnäpfchen getreten.“
„Kein Problem“, antwortete er und lachte laut auf. „Sie haben ja recht. „Ich wäre Ihnen aber äußerst dankbar, würden Sie Ihren Mini aus der Parklücke fahren, damit ich nicht über die Beifahrerseite einsteigen muss.“
„Aber ja …, selbstverständlich! Also nochmal, danke für den Cappuccino und a questo punto, addio“, entgegnete sie und ließ sich geschmeidig auf den Fahrersitz hinters Steuer gleiten.
„Fahren Sie vorsichtig. Arrivederci, Bella“, verabschiedete er sich und schlug ihre Fahrertür zu.
Ein seltsamer Mann. Und was war das mit mir? Irgendetwas zog mich regelrecht zu ihm hin und gleichzeitig … Seine Aura scheint irgendwie dunkel zu sein. Heißt es nicht, Frauen lieben Bösewichte, die ihnen zu Füßen liegen? So ein Quatsch! Ach, was zerbreche ich mir den Kopf wegen dieses Fremden, den ich nie wiedersehen werde, überlegte sie. Schon während sie den Mini startete, schloss sie das Thema Tommaso Giordano für sich ab. Ich habe ein Brautkleid im Kofferraum. Ich bin verrückt! Was soll ich mit einem Brautkleid? Ich habe noch nicht mal einen Mann. Und den werde ich auch nicht kriegen, jedenfalls nicht, solange ich bis spät in die Nacht Überstunden mache und dann oft nur noch müde ins Bett falle. Ines hat recht, ich sollte wenigstens am Wochenende unter Leute. Vielleicht begleite ich sie ja doch zu diesem Konzert.
Als sie nach nicht einmal einer viertel Stunde in die Einfahrt des Hauses einbog, in dem sie vor gut einem Jahr die Dachwohnung bezogen hatte, blieb sie erst einmal hinter dem Steuer sitzen. Erst jetzt fiel ihr ein, dass die nette, aber einsame alte Dame – ihre Vermieterin – stets neugierig darauf lauerte, ein paar nette Worte mit ihr zu wechseln. Auf eine Erklärung bezüglich des Brautkleides hatte sie jedoch so gar keine Lust. Ich hole es später, wenn es dunkel ist, überlegte sie, griff nach ihrer Handtasche und stieg aus.
„Schönen Abend, Kindchen“, begrüßte die alte Dame sie auch schon mit fragendem Unterton, während sie aus dem Garten kommend langsam auf Anna Marie zuging und fragend feststellte: „Heute haben Sie aber früh Feierabend?!“
„Ich hatte einen freien Tag“, antwortete sie. „Guten Abend, Frau Zimmermann.“
„Ach? Und was haben Sie unternommen? Waren Sie beim Shoppen – wie die jungen Leute heutzutage sagen?“, fragte sie weiter.
„Nein, am Vormittag sollte ich für eine Stunde in die Firma kommen. Daraus wurden dann fast vier Stunden und dann war ich einfach nur bummeln und habe in einem Café einen Cappuccino getrunken. Jetzt mache ich mir einen kleinen Imbiss, lege mich danach noch ein wenig auf den Balkon und genieße die untergehende Sonne. Schönen Abend noch, Frau Zimmermann“, sagte sie abschließend und ging rasch weiter. Nur so war es möglich, einem längeren Gespräch zu entgehen.
„Danke, den wünsche ich Ihnen auch“, rief ihr die alte Dame freudlos nach.
Normalerweise unterhielt sich Anna Marie gerne mit ihr. Frau Zimmermann konnte wunderbare Geschichten aus ihrem langen Leben erzählen. Sie hatte immerhin bereits stolze neunundachtzig Lenze auf dem Buckel. Leider war ihr Ehemann vor fünf Jahren gestorben und der einzige Sohn lebte seit über vierzig Jahren in Lissabon. Er hatte sie wohl mehrfach gebeten, zu ihm zu ziehen, doch sie hatte stets abgelehnt. Als sie Anna Marie einmal davon berichtete, hatte sie gemeint: „Einen alten Baum verpflanzt man doch nicht.“ Also besuchte ihr Sohn sie zu Geburtstagen, Weihnachten und anderen Feiertagen, aber das wars dann auch. Außer ein paar Worten über den Gartenzaun oder mit dem Postboten fand nur wenig Kommunikation statt.
Während Anna Marie den Schlüssel im Haustürschloss herumdrehte, tat ihr die alte Dame plötzlich leid. Voll der Eindrücke des Nachmittags, die ihr nach wie vor durch den Kopf gingen, wäre sie am liebsten gleich nach oben gegangen, um den Tag noch einmal Revue passieren zu lassen, aber nun entschied sie sich dagegen. Das hatte schließlich Zeit. Sie blieb stehen und wandte sich noch einmal zu ihr um. „Was halten Sie von einem gemeinsamen Schlummertrunk in Ihrem Garten? Ich belege mir rasch eine Scheibe Brot und komme mit einer Flasche Rotwein zu Ihnen in die Pergola.“
„Und ich hole inzwischen zwei Gläser“, antwortete die alte Dame mit freudestrahlendem Gesicht.
***
Es wurde ein reizender Abend, dennoch war Anna Marie froh, als sich Frau Zimmermann gegen neun von ihr verabschiedete. „Es war sehr lieb von Ihnen, den Abend mit mir alten Frau zu verbringen. Aber jetzt benötigen die alten Knochen Ruhe. Gute Nacht, mein liebes Kind.“
„Gute Nacht, Frau Zimmermann. Ich gehe auch gleich nach oben“, antwortete sie und überlegte, den Kleidersack aus ihrem Auto zu holen, entschied sich jedoch dagegen.
In ihrer Wohnung angekommen, legte sie sich aufs Sofa, griff nach der Fernbedienung und schaltete das Fernsehgerät ein. Nachrichten! Schon wollte sie umschalten, als Sie eine Frau erblickte, die ein Brautkleid über den Armen trug. „Mein Gott!“, flüsterte sie entsetzt. Das bin ja ich! Die haben mich gefilmt, wie ich das Brautkleid abhole. So ein Mist! Wenn das die Kollegen sehen. Da kann ich mich doch nicht mehr in der Firma blicken lassen. Oh nein, wie peinlich. Ihre Blicke werden mich verfolgen und sie werden hinter vorgehaltener Hand über mich tuscheln und lachen. Und sie werden sich neugierig auf mich stürzen und mich ausfragen. Nein – werden sie nicht! Sie werden mich mit Fragen bombardieren, aber sie werden sich die Geschichte anhören und wir werden alle gemeinsam darüber lachen. Außer vielleicht Egon Faller.
Der Abteilungsleiter des Wareneinkaufs konnte sie nicht mehr leiden, seit sie ihn einmal nicht zum Chef vorgelassen hatte. Er hatte sie damals einen bissigen Zerberus genannt. Das hatte sie sehr verletzt, denn sie war kein mehrköpfiger Hund, wie in der griechischen Mythologie beschrieben. Und sie bewachte auch nicht den Eingang zur Unterwelt. Aber an diesen Lackaffen wollte sie jetzt nicht denken, darum schob sie den Gedanken schnell von sich und konzentrierte sich auf die Nachrichten.
Ob Frau Zimmermann wohl schon zu Bett gegangen ist? Na, ich warte noch ein paar Minuten, dann hole ich das Kleid herauf.
Sie nahm ein Glas vom Regal, goss den Rest des Weins hinein und schlenderte auf die Terrasse. In ihrem Liegestuhl liegend blickte sie verträumt in den mit einzelnen Schleierwölkchen bedeckten Himmel und ließ ihren Gedanken freien Lauf.
Eine halbe Stunde später drehte sich Anna Marie vor ihrem Standspiegel im Schlafzimmer. Ihre Augen strahlten vor Freude. Als plötzlich die untergehende Sonne ihre letzten Strahlen ins Zimmer sandte, glaubte sie sich in einem Märchen. Ihr blondes Haar war umgeben von einem goldenen Schimmer und die unzähligen Steinchen glitzerten wie Tautropfen am Morgen. Sekunden sah sie sich in einer weißen Kutsche an der Seite eines gutaussehenden Mannes, sah sich auf einem roten Teppich zum Altar schreiten und gleich darauf in den Armen des Bräutigams zu einer Walzermelodie übers Parkett tanzen. Einen Augenblick glaubte sie, ihr Herz müsse vor Glück zerspringen. Doch dann blieb sie abrupt stehen. „Nein!“, flüsterte sie, als sie sich der Albernheit ihrer Träumerei bewusstwurde. Jetzt ist es aber genug und schon gar nicht mit dem, dachte sie, als sie begriff, dass sie Tommaso Giordano an ihrer Seite gesehen hatte. Niemals mit einem Mann, den eine kriminelle Aura umgibt.
Tatsächlich kam es am Tag darauf zu einem regelrechten Spießrutenlauf in der Firma. Nachdem sie gegen acht Uhr die Büroräume der Firma betreten hatte, war die Nachricht bereits wie ein Lauffeuer durch die Firma gedrungen. Immer wieder musste sie den Kollegen gegenüber Rede und Antwort stehen. Allgemeines Bedauern brach aus, als sie erklärte, dass es noch keine Einladung zur Hochzeit geben würde. Erleichtert atmete sie auf, als sie die Tür zum Vorzimmer ihres Chefs hinter sich schloss.
„Sie werden heiraten, habe ich gehört“, begrüßte sie ihr Chef, als sie dessen Büro betrat. „Ich bin etwas irritiert und auch ein wenig enttäuscht, dass Sie mir diese Neuigkeit nicht zuerst zukommen ließen.“
„Ich werde nicht heiraten“, entgegnete sie bestimmt.
„Wie kommt es dann zu solchem Gerede?“, fragte er und forderte sie mit einladender Handbewegung auf sich zu setzen.
„Ich war gestern bei einer Kofferversteigerung. Statt eines Koffers schoben die Veranstalter plötzlich dieses bezaubernd schöne Brautkleid auf einer Kleiderpuppe herein. Ich weiß nicht, was mich da geritten hat, aber ich konnte nicht anders, als es zu ersteigern. Hätte ich auch nur geahnt, dass die ganze Aktion gefilmt wurde, um sie am Abend in den Nachrichten auszustrahlen, glauben sie mir, ich hätte darauf verzichtet. Sollte ich den richtigen Mann dazu finden – was in Anbetracht der vielen Überstunden äußerst schwierig sein wird – erfahren Sie es als erster.“
„Na, da bin ich aber beruhigt. Sie bleiben mir also erhalten“, antwortete er schmunzelnd, ohne auf die Überstunden einzugehen. „Ich würde nur sehr ungern auf meine kluge und wunderschöne Assistentin verzichten. Aber was hat das mit dieser Kofferversteigerung auf sich? Davon habe ich noch nie etwas gehört.“
Anna Marie berichtete kurz, wie es zu so einer Versteigerung kommt und erinnerte ihn gleich darauf an die Besprechung mit den Abteilungsleitern. Das Thema war damit vom Tisch, zumindest bei ihrem Chef.
Zur Mittagszeit wurde sie noch einige Male darauf angesprochen, aber das endete, nachdem sie noch ein letztes Mal laut und deutlich vernehmen ließ, dass sie nicht vorhatte zu heiraten. Und auf die Frage, weshalb sie dann ein Brautkleid gekauft habe, erklärte sie, dass sie das Kleid einfach nur bezaubernd schön fand und es – ja – verrückterweise besitzen wollte. „Und wer weiß, vielleicht begegnet mir ja eines Tages auch der richtige Mann zum Heiraten.“
Lediglich von Egon Faller – wie nicht anders zu erwarten – kam ein bissiger Kommentar. Er stellte sich bei der Essenausgabe in der Kantine hinter sie und meinte: „Hätte mich auch gewundert. Ein Mann, der sich mit unserem bissigen Zerberus einlässt, muss wohl erst geboren werden. Ha, ha, ha!“
Man musste sich schon mächtig ins Zeug legen, um Anna Marie wütend zu machen. Selbst bei Egon Faller blieb sie stets freundlich, wenn auch distanziert. Doch nun brodelte Wut in ihr hoch. „Ich weiß ja nicht, wie Sie sich eine Frau vorstellen“, entgegnete sie dennoch gelassen, „und da ich Ihre Ehefrau nicht kenne, kann ich Ihren Frauengeschmack auch nur nach der Auswahl der jungen Frauen beurteilen, bei denen Sie sich die Unverschämtheit herausnehmen, sie immer wieder anzutatschen. Kann es sein, dass Ihre Ehefrau Ihnen nicht mehr die nötige Befriedigung verschafft – aus welchen Gründen auch immer – so dass Sie sich gezwungen fühlen, Ihr Ego bei jüngeren Frauen aufzupolstern?“
Anna Marie hatte bereits etliche Beschwerden von jungen Kolleginnen entgegengenommen und wusste somit nur zu gut Bescheid über Egon Fallers sexuelle Belästigungen. Und nicht nur sie, seine Neigung hatte längst die Runde gemacht. Sie verriet also kein Geheimnis. Er war der Letzte, der sich ihr gegenüber derart respektlos äußern durfte.
„Was reden Sie denn da?“, blaffte er sie an.
„Fühlen Sie sich etwa angegriffen?“, fragte sie freundlich lächelnd.
„Ich werde Sie wegen Verleumdung anzeigen.“
„Ach wirklich? Das würde ich mir an Ihrer Stelle sehr gut überlegen. Ich habe Ihnen doch lediglich eine Antwort auf Ihre Beleidigung gegeben“, erklärte sie immer noch lächelnd. Oh, wie ich diesen Mann verabscheue!
Egon Faller knallte sein Tablett auf die Ablage und verließ wutschnaubend die Kantine, während Anna Marie von mehreren Seiten Beifall erhielt. Der Herr schien offenbar nicht allzu beliebt zu sein. Wie auch immer, sie hatte längst mit dem Chef über das ungebührliche Verhalten des Abteilungsleiters gesprochen, worauf bereits eine deutliche Unterredung stattgefunden hatte. Bisher hatten alle die Füße stillgehalten aus Rücksicht auf seine familiäre Situation. Immerhin hatte der Mann vier Kinder. Würde er sein Verhalten jedoch nicht ändern, müsste er demnächst mit seiner Kündigung rechnen.
Als sie am Spätnachmittag ihre Handtasche ergriff, um in den Feierabend zu starten, warf sie im Vorübergehen einen kurzen Blick aus ihrem Bürofenster auf den Hof hinunter. Egon Faller befand sich im Gespräch mit einem Fremden. Hoffentlich ist der verschwunden, bis ich unten bin. Auf eine weitere Begegnung mit ihm, kann ich gut verzichten.
Tatsächlich war der Kollege weit und breit nicht mehr zu sehen, als sie das Gebäude verließ und, sich umherblickend, über den Hof zu ihrem Wagen ging. Auch von dem Fremden war nichts mehr zu sehen. Anna Marie ließ sich hinters Steuer sinken und startete den Motor. Erleichtert, diesen Tag hinter sich gebracht zu haben, freute sie sich auf einen gemütlichen Feierabend. Während sie vom Firmenparkplatz fuhr, bemerkte sie den grauen Kastenwagen, der ihr in einigem Abstand folgte. War das der Mann, mit dem sich Faller unterhalten hat? Möglicherweise ein Lieferant also. Bei einem weiteren Blick in den Rückspiegel fiel ihr zwar auf, dass er noch immer hinter ihr fuhr, sie dachte jedoch nicht weiter darüber nach. Auch dass er hartnäckig hinter ihr blieb, nachdem sie von der Deutschherrenstraße in die Paracelsusstraße abgebogen war, wunderte sie nicht. Wie der Wagen aber auf der Ließemer Straße hinter ihr herfuhr, kam ihr das dann doch etwas seltsam vor.
Der verfolgt mich! Sich selbst tadelnd, schüttelte sie, wegen ihrer unsinnigen Gedanken, verneinend den Kopf. Unsinn! Sicher ein Handwerker, entkräftete sie das aufkommende Unbehagen. Doch als sie in die Marienstraße und anschließend in den Wattendorfer Weg einbog und der Wagen immer noch wie Kaugummi an ihr klebte, ließ sich das mulmige Gefühl nicht mehr beruhigen. Aber weshalb sollte er mich verfolgen …? Erleichtert atmete sie einige Sekunden später auf, nachdem der Kastenwagen weiterfuhr, als sie in Frau Zimmermanns Hofeinfahrt einbog. Na bitte. Die alte Dame war nicht zu sehen. Anna Marie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Ach ja, die Ratesendung.
Eine Stunde später, während sie sich gemütlich in ihrer Badewanne rekelte, ließ sie den Tag Revue passieren. Zuletzt kam ihr auch der graue Lieferwagen wieder in den Sinn, der ein ungutes Gefühl bei ihr hinterlassen hatte. Womöglich hängt doch ein Verbrechen an dem Kleid, fiel ihr plötzlich ein. Unsinn! Das kommt davon, wenn man sich mit einem Mann wie Tommaso Giordano unterhält. Er hat mir diesen Floh von dem erschossenen Bräutigam und dem gestohlenen Brautkleid ins Ohr gesetzt. Wo leben wir denn? „Ha!“ Dass er mir nicht gleich mit der Mafia gekommen ist?!
Nachdem sie einige Sekunden zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen die Wärme des Wassers genossen hatte, wurde sie erneut von einer inneren Unruhe erfasst. Das Gespräch mit diesem seltsamen Mann hatte einige Bilder in ihren Kopf gepflanzt, die sie einfach nicht wieder los wurde. Sie erhob sich. Mit solchen Gedanken hatte es keinen Sinn, ein Bad zur Entspannung zu nehmen.
Sie stieg aus der Wanne, zog das flauschige, nach Flieder duftende Badetuch von der Stange und wickelte es um ihren schlanken Körper. Nachdem sie sich gut abgerubbelt und ihre Haare geföhnt hatte, schlüpfte sie in ihren Pyjama. Ein Glas Wein wäre jetzt nicht schlecht, überlegte sie und ging in die Küche, wo sie nach der Rotweinflasche und einem Glas griff. Nun, bereits mit den Gedanken beim abendlichen Fernsehprogramm, kuschelte sie sich aufs Sofa. Nachdem sie Wein ins Glas gegossen hatte, nahm sie einen kräftigen Schluck. Dann griff sie nach der Fernbedienung und schaltete das Fernsehgerät an. Soll heute nicht der dritte Teil der spannenden Serie ausgestrahlt werden?
„Ja doch, ich komme ja schon“, rief Irene Zimmermann, die gerade in der Küche Kartoffeln schälte und sich nun mühsam erhob. Wer ist denn das? Sie warf einen kurzen Blick zur Wanduhr. Um diese Zeit? Der Postbote. Vielleicht hat Frau Köster etwas bestellt. Sie hat mir gar nicht Bescheid gesagt.
Erneut schlug die Türklingel an.
„Na, der hat es aber eilig. Eine alte Frau ist doch kein D-Zug“, murmelte sie vor sich hin und schaute vorsichtshalber aus dem Küchenfenster. Als sie vor der Haustür einen ihr unbekannten Mann mit einem Paket in der Hand entdeckte, bestätigte sich ihre Ahnung, dass es sich vermutlich um ein Paket für Frau Köster handelte. Sie selbst hatte jedenfalls nichts bestellt. Gewarnt von „Vorsicht Falle“ und „Aktenzeichen XY“ – zwei Sendungen, die sie über Jahre hinweg regelmäßig angeschaut hatte und immer noch tat – öffnete sie zunächst das Fenster und fragte den Mann, der eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte und sie keines Blickes würdigte, was er denn wolle.
„Ich haben Paket für Frau Köster“, antwortete er mit osteuropäischem Akzent. „Sie aber nicht aufmachen.“
„Die junge Frau ist bei der Arbeit. Sie können es aber bei mir abgeben. Stellen Sie es einfach vor die Tür. Ich hole es dann herein“, erklärte sie, während sie aus dem Fenster blickend nach einem beschrifteten Lieferwagen mit entsprechendem Firmenlogo Ausschau hielt. Sie konnte aber nur einen grauen Kastenwagen ohne jegliche Beschriftung erspähen.
„Das nicht gehen, ich brauchen Unterschrift“, antwortete der Mann hektisch.
„Na gut, ich komme.“ Da sie wusste, dass es die Leute von den Lieferdiensten immer eilig hatten, beeilte sie sich nun zur Haustür zu kommen, obwohl ihr die Situation Unbehagen bereitete. Doch kaum hatte sie die Haustür geöffnet, schob ihr der Mann, dessen Gesicht bis zur Nase vermummt war, das Paket äußerst brutal entgegen und sie selbst dadurch in den Hausflur zurück.
„Hey! Was soll denn das?“, rief sie ihm noch aufgebracht entgegen, ehe sie rückwärts taumelte, da sie nicht mehr so gut zu Fuß war und auch ihr Gleichgewichtssinn im Alter nachgelassen hatte. Zunächst wurde sie noch einen Augenblick von der Wand gestützt, doch als ihr bewusstwurde, dass es sich hier um einen Überfall handelte, sackte sie kraftlos in sich zusammen. Ihr Herz raste und die Angst schnürte ihr regelrecht die Kehle zu, während sie hektisch nach Luft schnappte. Ihr wurde schwindelig.
Der Mann hatte inzwischen eine Rolle silbernes Klebeband aus seiner Tasche gezogen, zerrte ein Stück herunter, riss es ab und beugte sich über die vor Angst zitternde und wimmernde alte Frau. Doch bevor er dazu kam, es ihr über den Mund zu kleben, fuhr ein Wagen in die Einfahrt des Hauses.
„Frau Zimmermann, guten Morgen“, rief der Postbote wenig später fröhlich grüßend, als er die offenstehende Haustür entdeckte und deshalb annahm, dass die alte Dame nicht weit sein konnte. „Ich habe Post für Sie.“
Offensichtlich etwas verwirrt, hielt der falsche Lieferant in seiner Bewegung inne, schaute sich hektisch um und zog es dann doch vor, das Weite zu suchen. Eilig stürmte er, den Postboten noch unsanft anrempelnd, aus dem Haus und auf den grauen Kastenwagen zu.
„Hallo!“, rief der Postbote empört, als er durch das heftige Anrempeln fast das Gleichgewicht verlor. „Frau Zimmerman! Um Gottes Willen, was war das denn?“ Er schaute noch einmal über die Schulter, konnte jedoch nur noch sehen, wie der Kerl in einen grauen Kleinbus stieg und eilig vom Hof fuhr.
Frau Zimmermann atmete einige Male tief ein und wieder aus. „Ich weiß es nicht. Der Kerl hatte angeblich ein Paket für Frau Köster und als ich die Tür öffnete, um es entgegenzunehmen“, berichtete sie, mühsam bemüht aufzustehen, „hat er mich rücksichtslos zurückgeschoben. Der wollte mir eben ein Klebeband auf den Mund pressen. Gott sei Dank sind Sie gerade gekommen.“
„Warten Sie, ich helfe Ihnen“, sagte der Postbote und griff beherzt unter die Arme der alten Dame.
„Ich danke Ihnen, junger Mann“, murmelte sie, während sie ihre Kleidung zurechtstrich.
„Bitte, gern geschehen. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Wie wär’s mit einem Schnaps auf den Schreck hin?“, fragte er schelmisch grinsend, in Erwartung, die alte Dame dadurch etwas aufheitern zu können.
„Nein, wirklich nicht“, antwortete sie lächelnd, „oder hätten Sie einen dabei. Ich habe nämlich keinen im Haus.“
„Nein. Aber ein Glas Wasser tut Ihnen sicher auch gut. Ich bringe Sie in Ihre Küche“, sagte er und geleitete die alte Dame behutsam zu einem Stuhl. Dann goss er Wasser aus der auf dem Tisch stehenden Karaffe in ein Glas und reichte es ihr. „Mein Gott! Sie zittern ja“, bemerkte er sogleich. „Soll ich Ihren Arzt verständigen? Sie haben sicher einen Schock.“ Schon lief er in die Diele, zog eine Wolljacke von der Garderobe und legte sie ihr um die Schultern.
„Danke. Nein, es geht schon, aber Sie könnten die Polizei verständigen. Da drüben liegt das Telefon“, bat sie ihn und deutete auf eine schmale Konsole. „Der wollte mich fesseln. Und wer weiß, was der mir sonst noch angetan hätte, wären Sie nicht gekommen. Sicher wollte der mich berauben.“