Der Glücksfall - Gabriele Walter - E-Book

Der Glücksfall E-Book

Gabriele Walter

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Beschreibung

Liebe - und manchmal geht sie seltsame Wege Gerade mal zwei Tage arbeitet Jessica, als Assistentin der Geschäftsleitung, in einem Frankfurter Sterne Hotel. Da geschieht das Unglück! Achtlos stolpert sie über einen Koffer, stürzt die Hoteltreppe hinunter und fällt ins Koma. Als sie zu sich kommt, liegt sie neben einem Grabstein auf dem alten Friedhof von Sweetheart Abby, in Schottland. Ohne jegliche Erinnerung, verwirrt und mutlos, ergreift sie die Hand des Fremden, der ihr seine Hilfe anbietet. Er steht ihr auch weiterhin bei und bringt sie zu einem ortsansässigen Arzt, der in ihr seine Patientin Claudia Rainolds erkennt.

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Die Autorin

Im Jahre 1954 wurde sie in Schwäbisch Hall geboren. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in Schwäbisch Gmünd. 1973 heiratete sie. 1981 zog die Familie ins Nördlinger Ries.

Bereits als Teenager schrieb sie Kurzgeschichten für ihre Freundinnen. Nach der Schulzeit wollte sie ihren größten Wunsch, Schriftstellerin zu werden, in die Tat umsetzen. Doch das Leben kam dazwischen. Erst Jahre später gelangte sie nach einigen Umwegen in eine Situation, die sie erkennen ließ, dass allein das Schreiben genau das war, was sie schon immer tun wollte. Und so wurde es zu einem wesentlichen Teil ihres Lebens.

Während ihrer jahrelangen beruflichen Tätigkeit als Einzelhandelskauffrau, Ausbilderin und Seminarleiterin durfte sie Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten kennenlernen und zwischenmenschliche Erfahrungen sammeln, die sich in ihren Romanen widerspiegeln.

Ihre Romane handeln von der Liebe, die stets geheimnisvoll und zuweilen sogar gefährlich sein kann, von Schicksalen, wie sie einem täglich begegnen und mystischen Ereignissen, die der Verstand mitunter nur schwer erklären kann. Es geht jedoch immer um Frauenschicksale. Starke, schwache, träumende, liebende und mit dem Schicksal hadernde Frauen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 1

Wieder einmal zu spät dran. Dabei wollte Jessica, gerade an diesem Morgen, alles richtigmachen. Den Wecker hatte sie so eingestellt, dass er sie zu einer unmenschlichen Zeit aus ihren Träumen reißen konnte – was er dann auch tat. Da sich ihre ersten Gedanken augenblicklich an die letzten des Vorabends hängten, schlug sie die leichte Steppdecke zurück und erhob sich. Schließlich wollte sie genügend Zeit haben, ein dezentes Make-up aufzulegen und die richtige Kleidung auszuwählen.

Manch einer könnte denken, das Make-up okay, na klar, logisch, aber die Klamotten hätte sie doch, um Stress am Morgen zu vermeiden, schon am Abend zuvor herauslegen können. Natürlich hatte sie das bereits des Öfteren versucht. Doch dann passte das Shirt, der Pulli, die Bluse oder was sie sonst so zurechtgelegt hatte, weder zu ihrer Stimmung, noch zum Wetter und sie war gezwungen erneut zu wählen. Wie auch immer, diesen Tag wollte sie perfekt beginnen. Sogar frühstücken wollte sie, um eine ordentliche Grundlage im Magen zu haben.

So stellte sie sich also unter die Dusche, föhnte danach die langen schwarzen Haare und steckte sie zu einer eleganten Businessfrisur hoch.

Doch dann ging alles schief, was nur schiefgehen konnte.

Die am Vorabend nicht richtig verschlossene Nagellackflasche, sie hatte es nach dem Auftragen der Farbe einfach vergessen, kippte ins Waschbecken. Ihre goldene Puderdose rutsche ihr beim Öffnen aus der Hand, was überpuderte Bodenfliesen zur Folge hatte und an der letzten Strumpfhose, lief eine Laufmasche hoch, während sie diese über ihre Beine streifte. Sie entfernte den Nagellack, kümmerte sich nicht um den Puder und entschied sich für einen ihrer schwarzen Hosenanzüge, ein weißes T-Shirt und den bunten Schal, den sie während des letzten Afrikaurlaubs erstanden hatte. Ihr Magen rebellierte. Sie verzichtete aufs Frühstück. Hastig trank sie lediglich einen Schluck des heißen Kaffees, an dem sie sich dann auch noch die Zunge verbrannte.

Im Grunde hatte Jessica Rehberger es, finanziell gesehen, nicht nötig zu arbeiten. Ihr Vater verdiente genug, um ihr ein Leben in Luxus zu ermöglichen. Doch schon als Teenager erzählte sie jedem, der es hören wollte oder auch nicht, sie würde ihre eigene Million verdienen.

Die besten Voraussetzungen dafür hatte sie, während sechs Semestern Tourismus und Eventmanagement Studium, an der Best-Sabel-Hochschule in Berlin erworben. Nach Abschluss des Bachelor-Studiums machte sie den Master an der Waikato University, im neuseeländischen Hamilton. Und nun freute sie sich auf die kommenden zwei Jahre. Während dieser Zeit wollte sie Erfahrungen in der Geschäftsleitung des schönsten Sternehotels in Frankfurt sammeln. Und dann würde sie, irgendwo auf dieser wundervollen Welt, ihr eigenes Hotel eröffnen. Wo, wusste sie noch nicht so genau. Sie liebte die Sonne, das Meer und fröhliche Menschen. Da sollte sich wohl etwas Passendes finden lassen.

Die Möglichkeit, eine angemessene Wohnung von Neuseeland aus zu finden, bot sich nur in begrenztem Rahmen an. Daher nahm sie das Angebot ihres Vaters, in der Penthousewohnung seines vor kurzem erworbenen Apartmenthauses, zu wohnen, nur allzu gerne an. Zugegeben, den Faktor Bequemlichkeit durfte man nicht außer Acht lassen. Doch nun lag es an ihr, ihm zu beweisen, dass sie sich die Miete auch ohne seinen monatlichen Zuschuss leisten kann. Auf eigenen Beinen zu stehen, dieses Ziel strebte sie an.

Ja, ihres Vaters Geld und seine Beziehungen hatten ihr so manche Tür geöffnet, durch die sie um vieles leichter ins Leben starten konnte, als manch einer ihrer Kommilitonen. Und sie wollte auch keineswegs undankbar erscheinen. Dennoch hatte sie sich fest vorgenommen, ab sofort ihre Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen, um all den Skeptikern, Neidern und Zynikern zu beweisen, dass sie jeden Cent, den Papi in sie investiert hatte, auch wert war. Vor allem ihrem Vater würde sie beweisen, dass sie es von nun an auch ohne seine Hilfe schaffen konnte. Sollte er sich doch seine Millionen sonst wohin stecken.

Jessica legte ihren Kopf selbstbewusst in den schlanken Nacken und lächelte. Mein erster Arbeitstag! Heute ist der erste Tag ins Glück. Sie griff nach der schwarzen Umhängetasche, legte ihren rechten Daumen auf den Scanner an der Wand, wodurch sich wenig später die verchromte Schiebetür des Fahrstuhls leise öffnete. Es gab einen Fahrstuhl, der allen Mietern des Hauses zugänglich war. Der zweite, verborgen hinter einer verchromten Tür, konnte jedoch ausschließlich vom Mieter der Penthouse Wohnung genutzt werden. Diese besondere Sicherheitszugabe des Vermieters, ließ sich allein durch die Daumenabdrücke der zugangsberechtigten Personen öffnen. In ihrem Fall, ihr eigener und für den Notfall, der ihres Vaters. Über die Gegensprechanlage angemeldete Gäste benutzten den öffentlichen Fahrstuhl. Sie fuhren bis zur vorletzten Etage hoch und gelangten, nachdem sie den Fahrstuhl verlassen hatten, durch eine Stahltür, die ausschließlich vom Penthouse aus geöffnet werden konnte, zu einem Treppenhaus mit Wendeltreppe. Der Sicherheitsausgang für die Penthouse Bewohner, im Falle eines Brandes.

Bereits am Tag zuvor hatte sie sich über öffentliche Verkehrsmittel und Verbindungen erkundigt und bestieg nun den überfüllten Bus, der sie in die Nähe ihrer zukünftigen Arbeitsstätte bringen würde. Die Fahrt stellte sich als äußerst unbequem heraus. Alle Plätze waren bereits besetzt und so musste sie sich, wie manch anderer, an einer Stange festhalten. Die unterschiedlichsten Gerüche, von aufdringlichen Parfüms, Aftershaves, Putzmitteln bis hin zu Essensgerüchen und Schweiß, zogen an ihrer Nase vorbei. Während einige Fahrgäste ihre Zeitung lasen oder über Kopfhörer Musik hörten, unterhielten sich einige Jugendliche lautstark, kreischten, lachten oder zankten sich. Kein wünschenswerter Start in den Morgen. Das brachte Jessica dazu, über das großzügige Geschenk ihres Vaters nachzudenken, welches sie am Tag zuvor, nach der Landung auf dem Frankfurter Flughafen, wohl doch etwas voreilig abgelehnt hatte. Möglicherweise wäre es doch sinnvoll, zumindest entschieden angenehmer, in dem strahlend roten XKR Jaguar Cabrio zu fahren, statt in diesem unbequemen Bus. Doch sie hatte es nun mal endgültig satt, Geschenke statt Zuwendung von ihm zu erhalten, obgleich das wohl seiner Art entsprach, ihr zu zeigen, dass er sie durchaus wahrnahm.

Unmerklich lächelnd schüttelte sie den Kopf, während sie sich an das irritiert wirkende Gesicht des Autoverkäufers aus dem Mainzer Jaguar-Haus erinnerte. Er hatte sie am Flughafen erwartet, um ihr die Schlüssel des Wagens zu überreichen, der nur einige Meter entfernt stand.

„Wow, Amigo!“, hatte sie perplex ausgerufen und leise hinzugefügt: „Da hat sich Papi seine Freiheit ja ´ne Stange kosten lassen.“ Doch sogleich, noch während sie den Wagen wohlwollend betrachtete, stand für sie fest, dass sie dieses Geschenk ablehnen würde. Darum schüttelte sie verneinend den Kopf, als ihr der Mitarbeiter des Autohauses den Schlüssel reichte. „Ein schöner Wagen, doch ich kann ihn mir nicht leisten.“

„Aber“, erklärte der Verkäufer fassungslos, „der Wagen ist bezahlt. Selbst Steuer und Versicherung für ein Jahr, alles bereits erledigt von Ihrem Vater.“

„Dann soll auch mein Vater ihn fahren. Richten Sie ihm aus, dass ich mir ein Auto kaufen werde, sowie ich finanziell dazu in der Lage bin.“

*

Das erste Lebensjahr hatte Jessica unter der Obhut ihrer Eltern verbracht. Doch dann musste etwas geschehen sein, das ihre Mutter dazu veranlasste, Ehemann und Kind zu verlassen. Während der folgenden beiden Jahre kümmerte sich der Vater um sie – mit Hilfe der Haushälterin natürlich. Daran konnte sie sich jedoch nur sporadisch erinnern. An die Honigzimtmilch, zum Beispiel, die ihr Frau Höpfner stets ans Bett brachte, wenn sie wieder mal nicht schlafen konnte.

Die folgenden drei Jahre lebte sie bei ihren Großeltern väterlicherseits, in einem großen Haus mit Butler, Dienstmädchen und Köchin. Doch eine Honigzimtmilch gab es nicht. Sie hatte stets leise zu sein. Nach dem Mittagessen wurde sie in ihr Zimmer gebracht und ins Bett gesteckt. Da sie jedoch nicht müde war, setzte sie sich jedes Mal auf eine der breiten Fensterbänke und blickte sehnsuchtsvoll hinaus. Da das Haus inmitten eines riesigen, von Gärtnerhand gepflegten Gartens stand, gab es vieles zu beobachten. Immer wieder konnte sie auch dem Gärtner bei der Arbeit zusehen und ihr kleines trauriges Herz tat Freudensprünge, wenn er ihr zuwinkte. Eines Tages arbeitete er direkt unter ihrem Fenster. Als er sie entdeckte, winkte er ihr zunächst wie immer freundlich zu, dann plötzlich gab er ihr ein unverkennbares Zeichen, zu ihm hinunterzukommen. Sie fasste all ihren Mut zusammen und schlich aus dem Haus. Hinter Sträuchern und Bäumen konnte sie sich gut verstecken. Trotzdem wurde sie von einem Hausmädchen entdeckt und vor ihre Großmutter geschleift. Von da an weigerte sie sich trotzig, ein Mittagsschläfchen zu halten. Das war das erste Mal, dass sie gegen ihre Großmutter aufbegehrte. Doch von diesem Tag an durfte sie täglich zu Miklos in den Garten. Miklos, dessen grau gelocktes Haar und der ebenso graue, fast weiße Vollbart, erinnerte sie an Heidis Großvater, den Alm-Öhi. Er wusste spannende Geschichten von Feen und Kobolden zu erzählen, die angeblich, verborgen in Nischen und unter besonders dichten Stauden, in diesem Garten lebten. Viele Erzählungen handelten von seiner Heimat Ungarn, wo er als Kind gelebt hatte. Er erklärte ihr alle Gartenwerkzeuge, die sich im Geräteschuppen befanden. Und sie durfte ihm bei der Gartenarbeit helfen. Das waren die schönsten Stunden des Tages. Miklos war es auch, der ihr sagte, dass sie allein durch ihr Lächeln die Herzen der Menschen erreichen konnte. Auf ihre Frage, warum sie das Herz ihres Vaters und das ihrer Großeltern nicht erreichen konnte, entgegnete er, dass er ihr das leider auch nicht erklären könne. Es sei denn, deren Herzen wären aus Eis. Aber Eis könne schmelzen und eines Tages, da war er ganz sicher, würde genau das geschehen.

Ihren Großvater sah sie nur selten. Der Hotelier hatte viel zu tun in seinem Frankfurter Hotel. Die Großmutter dagegen achtete täglich auf Jessicas Erziehung. Ihre Haltung bei Tisch wurde kritisiert, sie hatte den Mund zu halten, wenn Erwachsene sich unterhielten, und durfte nur sprechen, wenn sie angesprochen wurde. Lief sie zu schnell durch die weitläufigen Räume des Hauses, genügte nur ein strenger Blick aus Großmutters wunderschönen, jedoch eiskalten blauen Augen, um den Wildfang zu bändigen. „Gutes Benehmen“, pflegte sie stets zu sagen, „ist der Schlüssel zu einem erfolgreichen Leben.“ Überhaupt verhielten sich die Großeltern dem kleinen Mädchen gegenüber zwar stets höflich, aber dennoch distanziert. Kleine Liebesbezeugungen gab es nur selten. Über ihre Mutter wurde während dieser Zeit nicht gesprochen. Die ersten kindlichen Fragen, nach der Frau ohne Gesicht – es gab kein einziges Foto ihrer Mutter –, wurden von der Großmutter ignoriert oder sofort im Keim erstickt. Großvater murmelte lediglich, sie solle ihn mit ihrer Fragerei in Ruhe lassen, er hätte zu tun und keine Zeit sich unnötigen Verhören zu unterziehen oder Fragen zu beantworten, für die es keine Antworten gab. Jahre später, als sie einmal am Grab der Großeltern stand, fragte sie sich, ob diese beiden Menschen jemals erfahren durften, was Glück und Liebe bedeuteten?

Da sich ihre Mutter nie bei ihr meldete und ihr Vater, sowie Jessica sie auch nur erwähnte, immer wieder betonte, dass die Mutter keinen Kontakt wünsche, gab sie es irgendwann auf nach ihr zu fragen. Dennoch tat es der kleinen Seele weh, dass diese sich für ein Leben ohne sie entschieden hatte, und der Stachel, ein ungeliebtes Kind zu sein, bohrte sich tiefer und tiefer in ihr Herz.

An ihrem sechsten Geburtstag holte ihr Vater sie zurück nach Hause. Die Monate bis zur Einschulung verbrachte sie unter der Aufsicht eines freundlichen, pädagogisch geschulten Kindermädchens. Ihn selbst sah sie nur selten. Er hatte ebenfalls in Großvaters Hotel zu tun oder in dem neuen, das zu jener Zeit in Düsseldorf erbaut wurde. Begegnete sie ihm dann doch einmal oder saß ihm bei Mahlzeiten gegenüber – was äußerst selten vorkam, starrte er sie stets nur unverwandt an und führte lediglich belanglose Konversation mit ihr. Wie oft hatte sie sich bei derartigen Gelegenheiten gefragt, warum ihr schöner, stolzer Papa, der nur selten lächelte, sie nicht mochte. Dabei hätte sie sich so gerne einmal in seine Arme geschmiegt. Miklos, der ihre Mutter noch gekannt hatte, hielt es für denkbar, dass der Vater seine Frau möglicherweise so sehr geliebt hatte, dass ihn allein Jessicas Anblick, wegen der Ähnlichkeit mit der Mutter, zu sehr schmerzte. Das hatte sie damals nicht wirklich verstanden. Natürlich fragte sie auch das Kindermädchen und die Haushälterin, ja sogar Vaters Diener. Die Antworten waren stets dieselben. „Aber Kind, das stimmt doch nicht. Dein Vater liebt dich, er kann es nur nicht so zeigen. Solche Menschen gibt es. Und sieh´ doch mal, welch schönes Geschenk du heute erhalten hast. Solche Geschenke bekommen nur Kinder, die geliebt werden.“

Bis zu dem Tag, als ihr Vater sie, ohne sie zuvor über seine Absicht zu informieren, ins Internat Schloss Hohenwehrda im Haunetal brachte, hatte sie das sogar geglaubt. Zunächst begriff sie nicht, wie ihr geschah, dann fühlte sie sich einfach nur abgeschoben. Irgendwann erfuhr sie, dass der Aufenthalt in diesem Internat sehr teuer war, also handelte es sich vermutlich ebenfalls um ein Geschenk. Mit der Zeit begriff sie, dass er mit all den Geschenken, die von nun an im Internat eintrafen, lediglich sein schlechtes Gewissen beruhigen wollte.

Ihre gesamte Schulzeit, bis zum Abitur, musste sie im Internat verbringen. Dank der Mitschüler Anika Bader, Ricarda Gilbert und Leander Schönberg, in denen sie Freunde fürs Leben fand, fühlte sie sich von Tag zu Tag wohler. Die kesse Anika, die stille Ricarda … Rice genannt und der coole, überaus intelligente Leander, dem unter anderem ein gesunder Mutterwitz in die Wiege gelegt worden war, sorgten stets für Kurzweil während dieser Jahre. Da sie eine überdurchschnittlich begabte Schülerin war, erhielt sie Anerkennung und Lob von den Lehrkräften. Allerdings konnte auch deren Zuneigung, die Liebe nicht ersetzen, die sie sich von ihrem Vater so sehr wünschte.

Er hätte sie gerne, sagte er zumindest, in einem seiner eigenen Hotels eingesetzt. Sie hatte die Wahl zwischen Nairobi, Ankara, Lissabon, Mailand, Rom, Brüssel, Salzburg, Wien, München, Düsseldorf, Berlin und natürlich Frankfurt. Doch Jessica wollte zunächst Erfahrungen in einem Hotel sammeln, dessen Manager nicht jede ihrer Entscheidungen mit dem großen Boss abklärte oder mit Kollegen, die vor ihr katzbuckelten, weil sie dessen Tochter war. Darum hatte sie ihn auch gebeten, sich weder für sie einzusetzen, noch sonst wie einzumischen. Er hatte lediglich seine linke Augenbraue verwundert hochgezogen und – soweit sie das am Monitor ihres PCs beurteilen konnte – anerkennend genickt. Mit vierundzwanzig Jahren wurde es schließlich höchste Zeit, das Leben bei den Hörnern zu packen und sich die Welt untertan zu machen.

Bei ihren Bewerbungen kam es ihr gelegen, dass sie ihn nie zu offiziellen Anlässen begleiten durfte. Dadurch gab es weder Berichte über sie, noch Fotos, auf denen sie an seiner Seite stand. Interviews im privaten Umfeld hatte er grundsätzlich abgelehnt.

Die Namensgleichheit mit dem in Hotelkreisen bekannten Hotelier, Anton Rehberger, hatte sie beim Vorstellungsgespräch per Internetschaltung mit Worten wie, „Zufall“, „Schön wär’s“, und der Frage „Hat der überhaupt eine Tochter?“, abgetan.

Herr Benedikt, der Personalchef des Hotels hatte gönnerhaft gelacht, es zur Kenntnis genommen und auf ihre Frage lediglich gemeint: „Soweit ich weiß, ja. Sie müsste tatsächlich in Ihrem Alter sein.“

*

Mit nun doch aufgeregt pochendem Herzen klopfte sie an die Tür des Personalbüros.

„Ja, bitte?“

„Guten Morgen, ich bin Jessica Rehberger“, grüßte Jessica, nachdem sie die Tür geöffnet hatte.

„Guten Morgen, Frau Rehberger. Kommen Sie nur herein. Sie werden bereits erwartet“, wurde sie von der, im eleganten Outfit des Hotels gekleideten Frau mittleren Alters begrüßt.

Das tizianrote Haar, empfand Jessica etwas zu auffällig. Vermutlich gefärbt, um die ersten grauen zu überdecken. Na, jedem Tierchen sein Pläsierchen, dachte sie innerlich schmunzelnd. Sehr gut dazu passte allerdings das herzliche Lächeln, wodurch sich, bezeichnend für Menschen die gerne lachten, winzige Augenfältchen zeigten.

„Ich bin Isolde Kugler, Herrn Benedikts Sekretärin“, stellte sie sich vor, während sie sich, trotz ihres drallen Körperumfangs, eilig hinter ihrem Schreibtisch erhob und Jessica die fleischige Hand entgegenstreckte.

Möglicherweise will sie ja mit der auffallenden Farbe auf dem Kopf von ihrem üppigen Hüftgold ablenken, dachte Jessica. Aber erquickend frisch und fröhlich scheint sie zu sein. Sicherlich dient sie sogar gerne als Prellbock, zwischen Personal und Chef.

„Herzlich willkommen im Lindenhof“, fügte sie hinzu und meldete Jessica gleich darauf, über die Sprechanlage, bei Werner Benedikt an.

„Ja“, kam eine knappe Aufforderung zurück.

Frau Kugler öffnete die Tür zum Büro des Personalchefs und schloss sie wieder hinter Jessica.

„Frau Rehberger, guten Tag“, begrüßte er sie, während er seinen Chefsessel zurückschob, sich erhob und sein Jackett zuknöpfte. „Endlich lernen wir uns persönlich kennen. Wann sind Sie denn in Frankfurt angekommen?“, fragte er, auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch deutend.

„Gestern“, antwortete Jessica und setzte sich.

„Und heute schon bei der Arbeit?“, wollte er verwundert wissen, während auch er sich wieder setzte und anerkennend hinzufügte: „Das nenne ich zielstrebig. Sie haben wohl noch einiges vor, in Ihrem Leben? Haben Sie sich wenigstens, nach den Prüfungen, einige Tage Urlaub am Strand gegönnt? In Neuseeland soll es ja herrliche Strände geben.“

„Oh ja, ich verbrachte einige Tage in Raglan. Die Wahle Bay bietet ideale Bedingungen zum Surfen. Es war fantastisch.“

„Wären Sie dann nicht lieber dortgeblieben? Für so fähige Leute, mit Ihrer Ausbildung, hätte sich doch sicher ein Hotel gefunden, in dem Sie mit Kusshand eingestellt worden wären.“

„Ich wollte die Assistenz der Geschäftsführung in einem deutschen Hotel absolvieren und da ich ein Frankfurter Kind bin, am liebsten natürlich hier. Über Ihre Ausschreibung im Internet war ich zugegebenermaßen ein wenig erstaunt. Doch für mich erschien das wie ein Fingerzeig des Schicksals. Noch in derselben Stunde habe ich meine Bewerbung geschrieben. Ich freue mich sehr, dass Sie sich für mich entschieden haben.“

„Und wir freuen uns, dass wir Sie für unser Haus gewinnen konnten. Aber weshalb erstaunt?“

„Nun ja, ich wunderte mich, da Ihnen doch sicher ständig Bewerbungen von fähigen Leuten ins Haus flattern.“

„Das stimmt schon. Aber wir bevorzugten eine internationale Ausschreibung, um jemanden wie Sie zu finden. Mit fundierter Ausbildung, besten Zeugnissen, Auslandserfahrung, ambitioniert und dennoch keinen überhöhten Gehaltsvorstellungen.“

„Sie meinen also, ich müsse demnächst um eine Gehaltserhöhung ersuchen?“, fragte sie scherzhaft.

Werner Benedikt räusperte sich verlegen. „Na, dann wollen wir mal. Ich habe Ihren Vertrag bereits vorliegen. Sie können ihn gleich unterschreiben. So Sie das nach meiner dämlichen Rede noch möchten.“

„Ich will.“

„Das freut mich“, antwortete er und durchsuchte einen Stapel Papier. „Wo habe ich ihn bloß? Ach, wissen Sie was, das machen wir, nachdem Frau Kugler Sie im Hause herumgeführt hat.“

„Frau Kugler?“, stutzte Jessica.

„Frau Kugler ist für die Arbeitseinteilung des Personals verantwortlich. Deshalb werden Sie auch von ihr mit den Mitarbeitern bekannt gemacht und ins Tagesgeschäft eingeführt.“

„Ach! Ich dachte, ich arbeite Hand in Hand mit Herrn Peterhoff, dem Manager des Hotels?“, fragte Jessica skeptisch.

„Das werden Sie auch. Aber da sich Herr Peterhoff zurzeit in Schottland, in seinem wohlverdienten Herbsturlaub befindet“, erklärte er, „werden Sie für die nächsten Tage mit Frau Kugler zusammenarbeiten.“ Er erhob sich und forderte sie mit ausladender Handbewegung auf, ihn zu begleiten. „Wenn ich also bitten darf.“

„Gerne.“

„Da fällt mir ein, Sie kennen Herrn Peterhoff ja noch gar nicht. Als wir dieses aufschlussreiche Internetvorstellungsgespräch führten, hielt er sich in Argentinien auf – im Sommerurlaub.“

„Ja, ich erinnere mich.“

„Ich hoffe, Sie bekommen jetzt keinen falschen Eindruck?“, fragte er mit leicht zynischem Unterton in der Stimme.

Jessica vernahm den Missklang wohl, der, wie sie vermutete, auf Unzufriedenheit und auch ein wenig Neid beruhte. „Aber ich bitte Sie. So ein Urlaub dient schließlich dazu, unsere Ressourcen wieder aufzuladen. Wo haben Sie Ihren letzten Urlaub verbracht?“

„Im Allgäu, Bad Hindelang beim Zelten, mit meiner Frau und meinen beiden Söhnen – drei und fünf. Da baut man, glauben Sie mir, die letzten Ressourcen ab. Die beiden sind wie Max und Moritz. Ständig nur Unsinn im Sinn. Und ich den lieben langen Tag hinter ihnen her, um das Schlimmste zu verhindern. Meine Frau meinte dazu nur, ich solle mich nicht so anstellen, sie hätte das ständig zu Hause und so ein Urlaub wäre doch die reinste Erholung.“

Jessica konnte nicht anders, sie musste schallend lachen. „Mir scheint, Sie sind ein glücklicher Familienvater. Jetzt verstehe ich aber auch, dass Sie Herrn Peterhoff ein wenig beneiden“, kaum ausgesprochen, hätte sie sich am liebsten auf ihr vorlautes Mundwerk geschlagen. Dennoch konnte sie ein erneutes Glucksen, nicht verhindern. In Erwartung ihres ersten Rüffels hielt sie eine Sekunde die Luft an.

Zwei steile Falten zeigten sich über Herrn Benedikts Nasenwurzel, bevor er schuldbewusst fragte: „Das alles haben Sie aus meinen Worten herausgehört?“

„Wohl eher aus dem Ton, der etwas ...“, Jessica räusperte sich, „entschuldigen Sie.“

„Ich sehe schon“, erklärte er, „Sie haben ein feines Gespür für Zwischentöne. Zu Ihrer Info, ich mag Jan Peterhoff. Er ist ein kompetenter Geschäftsführer. Aber ja, manchmal beneide ich ihn. Er ist familiär unabhängig, kann tun und lassen, was er will, ich dagegen ...“, er atmete einmal tief durch, bevor er anhob weiterzusprechen, „ich ...“

„Ich bin jedenfalls sicher, Sie hatten gute Gründe, sich für Familie zu entscheiden“, unterbrach ihn Jessica, um ihm aus seiner Verlegenheit herauszuhelfen.

Er schmunzelte. „Sie haben recht. Danke, dass Sie mich daran erinnern.“

„Entschuldigen Sie, ich wollte mir nicht anmaßen, Ihre Situation zu beurteilen.“

„Nein, nein, ich schätze offene Kritik. Auch, wenn sie so … sanft vorgetragen wird, wie Ihre.“

„Aber ich wollte Sie wirklich nicht ...“

„Machen Sie jetzt bloß keinen Fehler“, sagte er humorvoll lächelnd.

Er öffnete die Tür und ließ ihr, mit einer weiteren ausladenden Handbewegung, den Vortritt.

„Was Frau Kugler angeht“, schloss er die private Plänkelei, „sie ist sozusagen mein persönlicher Puffer. Das Personal spricht bei Problemen zuerst zu ihr. Auf diese Weise hält sie mir den Rücken frei. Frau Kugler“, wandte er sich an seine Sekretärin, „ich überlasse Ihnen nun Frau Rehberger. Zeigen Sie ihr zunächst das Haus und machen Sie sie schon mal mit einigen Damen und Herren vom Personal bekannt.“

„Gerne“, entgegnete sie und erhob sich sofort.

„Also dann, ich erwarte Sie in ...“, er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und wandte sich ab, „sagen wir zwei Stunden, in meinem Büro.“

Jessica nickte.

„Na, dann wollen wir mal“, sagte nun auch Frau Kugler. „Lassen Sie uns zunächst die Gästezimmer in Augenschein nehmen. Ich habe mit der Abnahme extra auf Sie gewartet. So können Sie sich schon mal ein Bild machen. Danach zeige ich Ihnen die Speisesäle, die Bar, die Küche und den Fitnessbereich.“

Zwei Stunden vergingen wie im Fluge. Beim letzten Raum, in den Isolde Kugler sie führte, handelte es sich um ihr zukünftiges Büro.

„Das Vorzimmer zum Allerheiligsten. Jetzt, zu Beginn Ihrer Tätigkeit, werden Sie allerdings selten hier zu tun haben, da Sie zunächst sämtliche Stationen im Hause kennenlernen sollen. Aber selbstverständlich können Sie Ihren Mantel und die Tasche hier ablegen. Das ...“, sie deutete auf einen hohen Schrank rechts vom Fenster, „ist Ihr Garderobenschrank.“

Jessica öffnete ihn und erblickte einen petrolgrünen Blazer mit Weste, zwei weiße Blusen, eine schwarze Hose und einen Rock.

„Größe sechsunddreißig, wie von Ihnen angegeben. Sollten die Sachen dennoch nicht passen, was ich mir bei Ihrer Figur nicht vorstellen kann“, meinte sie neidlos, „melden Sie sich in der Kleiderkammer. Außerdem sollten Sie denen dann Bescheid geben, wegen der Zweitausstattung. So, dann ziehen Sie sich gleich mal in Ruhe um. Den Weg ins Personalbüro finden Sie sicher ohne mich. Ich gehe währenddessen schon mal vor.“

Hose, Bluse und Weste passten perfekt. Sie strich einmal liebevoll darüber und betrachtete sich im Spiegel der Schranktür. Sieht gut aus, dachte sie, während sie in den Blazer schlüpfte. Na dann, auf ins Getümmel.

Nach austauschen der üblichen Floskeln unterschrieb Jessica wenig später ihren Vertrag.

„Herr Peterhoff wünscht“, erklärte Frau Kugler wenig später, „dass Sie an der Rezeption beginnen. Herrn Oswald, unseren Chefconcierge, habe ich Ihnen ja bereits vorgestellt. An der Rezeption haben Sie den ersten und wichtigsten Kontakt mit unseren Gästen. Bereits hier entscheidet sich, ob sich der Gast in unserem Hause wohlfühlt. Sie werden Buchungen entgegennehmen, die Pagen anweisen und für die Wünsche der Gäste, ein offenes Ohr haben. Na, Herr Oswald wird Sie sofort, wie ich ihn kenne, unter seine Fittiche nehmen“, meinte sie lächelnd.

„Ich bin schon ganz heiß darauf.“

„Heiß?“ Herr Benedikt lachte auf. „Hoffentlich verbrennen Sie sich nicht, junge Frau.“

„Ich werde mein Bestes geben, um Ihren Erwartungen gerecht zu werden.“

„Das hoffe ich doch. Sie finden den Weg sicher alleine. Ich bräuchte Frau Kugler dringend in meinem Büro“, erklärte Werner Benedikt.

„Selbstverständlich“, antwortete sie und schritt, nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, als wolle sie sich selbst beweisen, dass sie alles schaffen konnte, zur Empfangshalle. „Da bin ich, Herr Oswald. Was kann ich tun?“

„Hier“, sagte der distinguiert wirkende Mittfünfziger und reichte ihr einen auf einem Silbertablett liegenden Brief, „bringen Sie den bitte in Zimmer 106 zu Frau Gabler. Gehen Sie zuvor aber in die Küche, dort steht sicherlich schon das Frühstück bereit, das Frau Gabler heute in ihrem Zimmer einzunehmen wünscht. Und dann sehen Sie bitte in Zimmer 86 vorbei. Das Zimmermädchen meinte, da wäre etwas mit dem Abfluss der Dusche nicht in Ordnung. Vielleicht müssen wir einen Installateur kommen lassen“, sagte er und fuhr damit fort, den Rest der Post zu sortieren. „Ach, Frau Rehberger“, wandte er sich noch einmal an Jessica, „was ich noch sagen wollte ..., ich stehe Ihnen jederzeit für Fragen zur Verfügung, aber behelligen Sie mich nicht mit solchen, deren Antworten Sie sich selbst geben können. Erledigen Sie Ihre Aufgaben weitestgehend selbstständig. Ich habe genug mit meiner eigenen Arbeit zu tun.“

Jessica nickte. „Ich verstehe“, antwortete sie und ging los.

Obwohl sie freundlich nach Frau Gablers Frühstück fragte, maulte der Chefkoch sie mürrisch an.

„Höchste Zeit, so bekommt sie den Kaffee wenigstens noch lauwarm.“

„Ich gehöre nicht zum Zimmerservice“, erklärte sie spitzzüngig, sich ihrer Stellung bewusst.

„Oh, bin ich da jemandem auf den Schlips getreten? Das mit dem Zimmerservice mag angehen, aber an Tagen wie diesem, muss eben jeder mal ran. Und nun machen Sie schon und diskutieren Sie hier nicht herum.“

„Ungehobelter Kerl“, flüsterte sie vor sich hin, fragte dann aber laut: „Was ist denn heute anders?“

„Hat man Ihnen das nicht gesagt?“, fragte er, während er mit einem Kochlöffel etwas Soße auf einen kleinen Teller gab, um diese zu probieren. „Da fehlen noch etwas Estragon und eine Prise Salz.“

Jessica schüttelte verneinend den Kopf.

„Wir haben einen Hotelkritiker im Haus, den niemand kennt“, wandte er sich erneut an Jessica. „Wir wissen nur, dass es sich um einen Herrn handelt, der eine schwarze Hornbrille trägt und um die fünfzig ist. Zwei Herren, auf die diese Beschreibung passt, nehmen gerade ein Frühstück zu sich.“

„Und wie kommt es, dass Sie davon wissen?“

„Ein Insidertipp“, klärte er sie auf.

„Und derjenige, der Ihnen den Tipp gab, wusste seinen Namen nicht? Das ist doch etwas seltsam“, meinte Jessica.

„Es kursiert da ein Gerücht. Es soll einen Neuen in der Branche geben. Niemand kennt ihn. Es gab nur so gewisse Hinweise. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrer Fragerei. Ab mit Ihnen.“

„Ist ja schon gut“, gab sie unwillig zurück, zog das Tablett von der Anrichte und verließ die Küche. Das fängt ja gut an, dachte sie. Der Koch hält mich jetzt für eine extrovertierte Zicke.

Wenig Minuten später servierte sie Frau Gabler das Frühstück und überreichte ihr den Brief. Nachdem sie die Dusche in Zimmer 86 inspiziert hatte, empfahl sie Gero Oswald, einen Installateur zu rufen. Anschließend begrüßte sie Gäste und nahm Buchungen an. Gegen Abend checkte ein älteres Ehepaar ein, das seinen vierzigsten Hochzeitstag im Hotel verbringen würde.

„Dieses Ehepaar“, vertraute Gero Oswald ihr an, „hat bereits ihre erste Hochzeitsnacht hier verbracht, bevor sie am anderen Tag in die Flitterwochen flogen. Seit damals besuchen sie Jahr für Jahr, an ihrem Hochzeitstag, unser Restaurant. Sie essen jedes Jahr dasselbe Menü. Heute feiern sie ihre Rubinhochzeit und scheinen noch so glücklich zu sein, wie am ersten Tag.“

„Und das in einer Zeit, in der Trennungen an der Tagesordnung sind. Wie romantisch“, meinte Jessica und fügte schmunzelnd hinzu: „Glauben Sie an die große Liebe, an Seelenverwandtschaft und so ein Zeug, Herr Oswald?“

„Ich habe weder das eine, noch das andere gefunden“, erklärte er und strich dabei mit seinem Mittelfinger über seinen schmalen, bereits ergrauten Oberlippenbart.

„Sie sind nicht verheiratet?“

„Die Richtige ist mir noch nicht über den Weg gelaufen“, sagte er, während er seinen Blick wohlwollend über Jessicas Gestalt wandern ließ.

„Nun ja, was nicht ist, kann ja noch werden“, antwortete sie höflich und um das Gespräch zu beenden, wandte sie sich einem Gast zu, der um seinen Schlüssel bat.

„Sind Sie denn liiert?“, fragte Gero Oswald, nachdem der Gast weiter gegangen war.

„Um Himmels willen, nein! Das wäre das Letzte, das ich jetzt brauchen könnte.“

„Bei Ihnen stehen die Männer doch sicher Schlange?“

„Männer stehen nicht auf intelligente Frauen.“

„Also, ich hätte keine Probleme damit“, erklärte er schmunzelnd.

„So, so ...“

„Keine Angst, ich stehe auf Blondinen.“

„Na bitte, da haben wir´s ja wieder.“

„Was haben wir? Blondinen müssen nicht zwangsläufig dumm sein.“

„Natürlich nicht, so habe ich das nicht gemeint. Aber es ist doch so, dass die Männerwelt Blondinen allgemein für sexy hält und dunkelhaarige für biedere Hausmütterchen.“

„Nun, was mich angeht, ich …“

„Herr Oswald“, unterbrach ein Page leise, aber deutlich aufgeregt das Gespräch, „auf der Bank am Eingang, hat sich´s ein Bettler bequem gemacht.“

„Nicht schon wieder. Bitte kümmern Sie sich darum“, wandte er sich an Jessica.

„Ja und was ...?“

„Tun Sie, was Sie für richtig halten.“

„Was ich …? Na gut“, entgegnete sie und schritt mit gemischten Gefühlen durchs Foyer zur Drehtür. Da sah sie ihn auch schon. Der alte Mann saß in sich zusammengesunken auf der Bank, die Arme vor der Brust überkreuzt, als wolle er sich wärmen oder festhalten. Festhalten aus Angst, dass er sich verlieren könnte, dachte Jessica.

Sein fast weißes Haar, fiel ihm in lockigen Strähnen ins wettergegerbte, zur Hälfte von einem Vollbart verdeckte Gesicht. Obwohl er eine zerschlissene Jacke und abgetragene Cordhosen trug, wirkte er nicht ungepflegt. Er schien nur müde zu sein.

Ich werde ihn fragen, ob er hungrig oder durstig ist. Durstig? Sind die nicht alle Alkoholiker? Faul herum gammelnde, stinkende Alkoholiker. Jetzt lass mal diese Vorurteile. Nikolaus! Gib ihm einen roten Mantel mit Kapuze und einen Sack über den Buckel und der Nikolaus steht vor dir, dachte sie und musste unwillkürlich lächeln.

„Sie möchten, dass ich verschwinde“, sagte er, als sie vor ihm stand.

Er fragte es nicht, er stellte es einfach nur fest. Vermutlich basierte seine Annahme auf jahrelanger Erfahrung. Er hatte sich gesetzt, um ein wenig auszuruhen, und wurde nun, wie ein räudiger Hund, vertrieben.

„Nein, ich ...“

Er hob seinen Blick und Jessica sah in die strahlendsten blauen Augen, die sie je gesehen hatte. Sie konnte gar nicht anders, als zu sagen, was sie keinesfalls sagen sollte. Aber der alte Mann rührte an ihr Herz. „Nein, ich wollte Sie fragen, ob ich etwas für sie tun kann. Geht es Ihnen gut? Sind Sie hungrig oder kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?“

„Ja, ich bin tatsächlich hungrig und Durst habe ich auch. Meine Kehle fühlt sich ganz trocken an“, sagte er langsam. „Was meinen Sie“, fragte er schmunzelnd und sah an sich hinunter, „sehe ich so aus, als ob ich mir diesen Nobelschuppen leisten kann?“

„Nein“, sagte sie knapp.

„Na, was wollen Sie dann?“, fragte er noch immer lächelnd.

„Ihnen eine warme Mahlzeit besorgen, ein Zimmer mit Dusche und ein Bett zum Ausruhen.“

„Hm“, lachte er auf und sagte, während er sich mühsam aufrappelte: „Hat Sie der Hotelmanager geschickt?“

„Nein, der befindet sich zurzeit im Urlaub.“

„Ach ja“, auch das klang nicht wie eine Frage, sondern eher, als hätte sie ihn an etwas erinnert, das er vergessen hatte. „Na, dann gehe ich mal wieder.“

Jessica hakte sich etwas unbeholfen an seinem rechten Arm unter und half ihm hoch. „Auf keinen Fall!“, erwiderte sie mit fester Stimme. „Ich habe das nicht nur so dahingesagt. Kommen Sie.“ Mein Gott, was mache ich hier? Ich spinne. Ich bin total übergeschnappt. Die ersten, die mich mit dem Alten sehen – selbst am Kücheneingang, halten mich für närrisch und ihn werfen sie in hohem Bogen wieder raus. „Ich bringe Sie jetzt zum Personaleingang. Geben Sie mir einige Minuten, dann organisiere ich erst mal eine warme Mahlzeit für Sie.“

„Nein, mein Kind, ich möchte Ihnen keine Schwierigkeiten machen“, sagte er mit einem feinen, kaum hörbaren Zittern in der Stimme.

„Ich denke, dazu sind Sie gar nicht in der Lage. Es sei denn, Sie sind ein verkappter Schwerverbrecher, aber das kann ich mir beileibe nicht vorstellen.“

„Würde man jedem Verbrecher ansehen, dass er einer ist, wäre es einfach, ihn hinter Gitter zu bringen“, gab er zu bedenken.

„Ja, da haben Sie wohl recht. Aber was auch immer Sie anstellen, wenn Sie von hier weggehen, zuerst essen Sie mal ordentlich.“

„Sie sind eine resolute kleine Person. Ich wünschte, so etwas wie Sie, wäre mir früher begegnet“, meinte er schmunzelnd.

„Früher? Ich weiß nicht, was Sie in Ihrem früheren Leben gemacht haben oder wer Sie waren, aber vielleicht wäre ich Ihnen damals gar nicht aufgefallen.“

„Möglicherweise“, sagte er nur und lächelte kaum merklich.

Seitlich des Personaleinganges stand eine Bank. „Setzen Sie sich. Ich bin gleich wieder bei Ihnen ... Ach! Fleisch oder Fisch?“

„Nun ja, Fleisch wäre mir lieber.“

Jessica beeilte sich, an die Rezeption zu kommen.

„Na, das hat ja gedauert. Gab es Probleme?“, fragte Gero Oswald.

„Nein. Es handelt sich um einen sehr netten alten Herrn und er tut mir unendlich leid. Ich möchte ihm helfen, denn ich denke, es geht ihm nicht so gut. Haben wir noch ein Einzelzimmer frei?“

„Frau Rehberger, das ist unmöglich!“, empörte er sich. „Wer weiß, welche Krankheit oder Ungeziefer uns der Alte einschleppt.“

„Der Mann trägt zwar abgetragene, aber keineswegs ungepflegte Kleider. Außerdem sitzen sie viel zu gut, um aus einer Kleiderkammer zu sein. Er selbst sieht sehr gepflegt aus. Er riecht auch nicht so …, Sie wissen schon, so muffig, nach ungewaschenen Kleidern und so. Er wirkt nur etwas schwach. Würden Sie einen Gast aus dem Hotel verweisen, nur weil er schwächelt?“

„Natürlich nicht! Aber der bezahlt auch für sein Wohlergehen.“

„Das tut der Mann auch.“

„Ach! Der kann sich ein Zimmer in unserem Hotel leisten?“

„Die Rechnung übernehme ich.“

„Sie?“, fragte er erstaunt. „Bekommen die Studenten heutzutage so viel Zuschuss, dass sie es ansparen können?“

„Herr Oswald, in Ihrer Brust schlägt doch das Herz eines edlen Ritters, das habe ich auf den ersten Blick erkannt“, schmeichelte sie und schenkte ihm ihr schönstes Lächeln.

Er schüttelte einlenkend den Kopf und noch während er mit dem Mittelfinger über seinen Schnurrbart strich, drehte er sich zum Schlüsselbrett, nahm einen Schlüssel herunter und reichte ihn ihr. „Eine Nacht. Wenn das rauskommt, sind wir beide gefeuert.“

„Die Rechnung übernehme ich. Tragen Sie mich auf das Zimmer ein. Das mit der Bezahlung krieg ich schon irgendwie hin. Danke, Herr Oswald“, sagte sie leise, bevor sie sich auf den Weg in die Küche machte, ein Menü auf das Zimmer ihres Gastes bestellte und zum Personaleingang zurücklief.

Der alte Mann saß in sich zusammengesunken mit geschlossenen Augen auf der Bank und schien die letzten schwachen Sonnenstrahlen zu genießen. Er schien nur flach zu atmen, zumindest bemerkte sie kein Heben und Senken seiner Brust.

„Herr …? Wie heißen Sie eigentlich?“

„Golya. Rudolf Golya und wer sind Sie, junge Frau?“

„Jessica. Nennen Sie mich einfach Jessica. Und nun folgen Sie mir bitte, Herr Golya“, bat sie ihn fröhlich. Sie führte ihn an der Küche und am Personalraum vorbei, über die Lounge zu den Gästezimmern und öffnete die Tür. „So, hier können Sie sich frisch machen und dann mal richtig ausschlafen. Das wird Ihnen guttun. Ein Zimmerkellner bringt Ihnen gleich etwas zu Essen.“

„Sie sind ein guter Mensch, Jessica. Ich hoffe, ich kann Ihnen das irgendwann mal vergelten.“

Jessica lächelte. „Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und schlafen Sie gut. Wir sehen uns dann morgen früh wieder.“ Was auch immer ich hier getan habe, es fühlt sich verdammt gut an. „Ja!“, jauchzte sie leise, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

„Na, haben Sie Ihren Gast gut untergebracht?“, fragte Gero Oswald und verzog seine Lippen zu einem kleinen spöttischen Grinsen. „Sie hatten recht, er sieht nicht aus wie ein Penner. Na ja, da gibt es wohl auch solche und solche.“

„Sie haben ihn gesehen?“

„Kurz. Als Sie mit ihm aus dem Personaltrakt kamen.“

„Jedenfalls ist er sehr nett.“

„Ich weiß nicht“, sagte Gero Oswald nachdenklich, „irgendwie erinnerte der mich an jemanden.“

„An den Nikolaus?“, fragte Jessica spontan.

„Hm!“, lacht er auf. „Vielleicht. Ja, könnte schon sein, aber ...“

„... dafür ist es noch ein wenig zu früh“, vollendete sie seinen Einwand.

„Allerdings. Sehen Sie zu, dass er das Zimmer morgen beizeiten räumt.“

*

Als Jessica zu vorgerückter Stunde in ihrem Apartment ankam, fühlte sie sich wie erschlagen. Ihre Füße schmerzten, als hätte sie an einem Marathonlauf teilgenommen. Dennoch fühlte sie sich rundum zufrieden und glücklich.

Sie warf den Schlüsselbund auf die schmale Marmorkonsole, knöpfte den Blazer ihres Hosenanzugs auf, während sie ihre Pumps von den Füßen kickte. Erschöpft, mit hängenden Schultern trottete sie in die Küche, öffnete die Kühlschranktür, entnahm ihm eine Flasche Wasser und trank gierig einige kräftige Schlucke. Danach schlenderte sie ins Bad, ließ die Wanne volllaufen und genoss wenig später das nach Flieder duftende Schaumbad. Obwohl sie mit geschlossenen Lidern über die Eindrücke des ersten Arbeitstages nachdachte, besonders über den alten Mann, entspannte sie sich langsam. Doch bevor sie einschlief, wurde sie durch ein merkwürdig grummelndes Geräusch ihres Magens daran erinnert, dass sie seit dem Sandwich am Mittag nichts zu sich genommen hatte. Noch einmal rappelte sie sich auf, stieg aus der Wanne, rubbelte sich gut ab, föhnte ihre Haare und schlüpfte in ihren grau-schwarzgestreiften Seidenpyjama. In der Küche packte sie das appetitlich aussehende Sushi aus der Schachtel, das sie nach Feierabend in einem Feinkostgeschäft, nahe am Hotel gekauft hatte. Als sie alles schön auf einen Teller arrangiert hatte, auch je ein Schälchen Sojasoße und Wasabi, trug es ins Wohnzimmer. Dort machte sie es sich auf dem Sofa bequem, schaltete den Fernseher an und aß genussvoll. Satt und rundum zufrieden, kuschelte sie sich danach unter die Wolldecke, um sich den Rest des Krimis anzusehen. Das Ende bekam sie nicht mehr mit.

Irgendwann, mitten in der Nacht, erwachte sie von lautem Geschrei und Gelächter einiger Leute, die sich in einer dieser Dokusoaps um Dinge stritten, die einen wirklich nicht interessieren mussten. Sie schaltete das Gerät ab und tapste im Halbschlaf zu ihrem Bett.

Mit dem Gedanken an den alten Herrn Golya, schlief sie wieder ein. Gegen Morgen träumte sie vom Nikolaus.

Kapitel 2

Wieder erwachte Jan Peterhoff durch lautes Trommeln auf die Fensterscheibe.

„Mist! Dieses verdammte Regenwetter! Wenn das so weitergeht, war´s das mit erholsamen Angelstunden“, murmelte er vor sich hin. So hatte er sich seinen Urlaub in Schottland, fern jeglichen Touristentrubels, nicht vorgestellt, als er ein Zimmer im Southpark House bei Dumfries buchte. Nun ja, er durfte nicht meckern. Die ersten drei Tage konnte er, da die Sonne es gut mit ihm gemeint hatte, das herrliche Herbstwetter genießen.

Am ersten Tag war er durch Dumfries gebummelt. Er hatte das Museum besucht und war am Nachmittag mit einem Mietwagen nach Gretna Green gefahren, um sich das berühmte World Famos Old Blacksmith‘s Shop Museum anzusehen. Weshalb es ihn dorthin gezogen hatte, konnte er sich selbst nicht erklären. Vermutlich reine Neugier. Wenn man schon mal in der Nähe wohnte ... Er selbst bezeichnete sich eher als rational denkenden Charakter, der mit Romantik nichts am Hut hatte. Zumindest betonte er das stets, wie, um es sich selbst zu beweisen. Auf der Rückfahrt war er nach Caerlaverock Castle abgebogen, wo er sich von der beeindruckenden Einzigartigkeit des Wasserschlosses überzeugen konnte. Ja, Schottland hatte ihn mit seinem ganz eigenen Reiz und dem Zauber, der über dieser grandiosen Landschaft lag, für sich eingenommen. Bewundernd ließ er seine Blicke über die mit Heide bedeckten Hochmoore, die schroffen Bergrücken und die malerisch in die Landschaft eingebetteten Seen gleiten. Mitunter konnte er sie fühlen, die dramatische Vergangenheit dieses Landes, die so deutliche Spuren hinterlassen hatte. Hier liebte er selbst den Frühnebel, der wie ein Hauch aus längst vergangener Zeit über der Landschaft lag.

Am zweiten Tag war er schon in aller Früh zum River Nith aufgebrochen, um seiner Leidenschaft, dem Angeln, zu frönen. Seine Ausbeute, zwei Bachforellen, hatte er in der Hotelküche abgegeben. Mit stolzgeschwellter Brust hatte er tags darauf einen prächtigen Lachs, von immerhin neun Pfund, an den Küchenchef weitergereicht.

Den darauffolgenden Regentag hatte er im Hotel verbracht. Den Vormittag im Wellnessbereich, wo er seinem Rücken eine angenehme Massage gönnte. Zum Lunch bekam er vom Chefkoch persönlich einen schottischen Lachsauflauf serviert. Lediglich um den Koch nicht zu beleidigen, hatte er das schmackhaft zubereitete Fischgericht verzehrt. Seine Abneigung gegen Fisch lag darin, dass sein Vater und Großvater ebenfalls begeisterte Angler waren. Fisch hatte er als Kind im Überfluss auf den Teller bekommen. Irgendwie unverständlich, dass er trotz dieser Abneigung nicht eine Minute an den Gedanken verschwendete, das Angeln an den Nagel zu hängen. Doch er liebte die Ruhe und diese genoss er beim Angeln immer wieder aufs Neue. Um seinem Frust, über das trotz allem hervorragend zubereitete Gericht, Herr zu werden, war er nach dem Lunch, mit Regenschirm bewaffnet, zu einem Spaziergang an der frischen Luft aufgebrochen. Während dieses Spaziergangs war er dann zu der Erkenntnis gelangt, dass er mit dem Koch ein offenes Wort sprechen müsse, wollte er nicht an jedem folgenden Tag ein Fischgericht serviert bekommen. Was der Koch dann auch mit verständnisvollem Schmunzeln akzeptierte. Den Abend hatte er an der Hotelbar verbracht.

Schon eine süße Maus, die kleine Barfrau, drängte sich bei der Erinnerung daran, sofort ein sinnvoller Gedanke auf. Die wäre eine echte Bereicherung für unsere Hotelbar. Schade, dass sie nur leidlich deutsch spricht. Ihr französisch fand ich nicht schlecht. Im Grunde ist Englisch ohnehin das Wichtigste. Jedenfalls hätte ich keinen Whisky getrunken, hätte sie ihn mir nicht so herausfordernd angeboten. Die weiß, wie man´s macht. Außerdem kennt sie sich nicht nur mit Whisky aus, die Cocktails, die sie gemixt hat, sahen durchweg alle gut aus und die zwei, die ich probierte, schmeckten lecker. Mal sehen, was ich heute Abend in die Wege leiten kann. Wie heißt sie noch? Chiara. Jan schlug die Decke zurück, schwang seine Beine aus dem Bett und erhob sich. Egal, ich lass mir den Spaß nicht nehmen. Heute wird geangelt. Die Fische beißen auch bei Regen, überlegte er. Sich dehnend und streckend schlenderte er zur Dusche und ließ das heiße Wasser über seinen maskulinen Körper perlen. Er genoss die morgendliche Dusche, die seine Lebensgeister zu erwecken schienen. Als er dann, sein Haar trocken rubbelnd, vor dem vom Wasserdampf angelaufenen Spiegel stand, wischte er einen kleinen Teil davon ab und warf einen ersten, kritischen Blick hinein. Der Dreitagebart steht mir gar nicht mal schlecht, dachte er, während er darüberstrich und zunächst seine rechte Gesichtshälfte und dann die linke betrachtete. Sein Großvater – Bartträger, würde vermutlich fragen, ob er sich endlich entschlossen hätte, ein ganzer Mann zu werden. Benedikt dagegen würde ganz sicher die Nase rümpfen und eine spöttische Bemerkung abgeben, so etwas wie: „Den nächsten Urlaub verbringen Sie wohl im Kongo.“ Er wusste genau, dass ihn der Personalchef um sein unabhängiges Leben beneidete, aber auch, dass er ihn schätzte und das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit.

Nachdem er seine glatten blonden Haare geföhnt und die Zähne ordentlich geschrubbt hatte, fuhr er erneut über die Bartstoppeln. „Ne!“, meinte er, nachdem er sich entschieden hatte, sie erst mal stehen zu lassen. Er schlüpfte in warme Unterwäsche, in die bequeme hellbraune Cordhose und zog einen warmen braunen Rollkragenpullover über den Kopf.

Nach dem Frühstück, das er stets auf seinem Zimmer einnahm, da er dem Hoteltrubel, dem er zu Hause zur Genüge ausgesetzt war, entfliehen wollte, schlüpfte er in die grüne Anglerweste. Wegen des Regens zog er seine Kapuzenjacke drüber und verließ das Hotel, um erneut zum River Nith zu fahren.

Als er dort ankam, hörte der Regen wie auf Kommando plötzlich auf. Die dunklen Wolken zogen weiter und überließen einem strahlend blauen Himmel und der immer noch wärmenden Sonne, ihren angestammten Platz. Er öffnete den Kofferraum und nahm Klappstuhl, Gummistiefel und Angelzeug heraus. Zunächst tauschte er seine Straßenschuhe mit den Gummistiefeln. Dann nahm er die Anglertasche und hängte sie über seine Schulter, klemmte sich den Klappstuhl unter den Arm und ergriff den Eimer. Zuletzt nahm er die Rute und machte sich auf den Weg zum steinigen Ufer. Nachdem er alles abgestellt hatte, sog er zunächst die frische, kühle Luft tief in seine Lungen. Es roch nach Algen und feuchtem Gras. Er mochte diesen Geruch, der ihn stets an seine Kindheit erinnerte, als sein Vater noch lebte und sie gemeinsam mit Großvater Zeit beim Angeln verbrachten. Vermutlich war das der Grund, aus dem er das Angeln nicht längst aufgegeben hatte.

*

Jessicas erster Gedanke nach dem Erwachen galt dem alten Herrn, den sie am Tag zuvor im Hotel untergebracht hatte. Sie freute sich auf Herrn Golya. In aller Eile zog sie sich an, frühstückte zwei Scheiben Toast mit Erdbeermarmelade und trank eine Tasse Kaffee dazu, bevor sie ihre Jacke über die Schultern hängte und den Fahrstuhl betrat. Sein Frühstück würde sie ihm heute eigenhändig servieren.

Aufgeregt wie ein Kind, das sich auf ein neues Spielzeug freut, zog sie sich in ihrem Büro um, lief in die Hotelküche und ließ ein nahrhaftes Frühstück zusammenstellen. Zaghaft klopfte sie an die Zimmertür. Als keine Antwort kam, klopfte sie erneut, diesmal etwas kräftiger. Ob der alte Herr noch schläft? Er wird doch nicht …? Er sah gestern ziemlich erschöpft aus. Auch beim dritten Klopfen kam keine Antwort. Besorgt öffnete sie die Tür und spähte zunächst durch den Spalt ins Zimmer.

Lediglich die aufgeschlagene Bettdecke erinnerte daran, dass hier ein Gast übernachtet hatte.

Enttäuscht wollte sie die Tür wieder zuziehen, da überlegte sie es sich anders, betrat das Zimmer und klopfte an die Badezimmertür. „Herr Golya?“

Auch hier kam keine Antwort.

„Der Gast hat das Zimmer bereits vor einer Stunde verlassen. Ich werde es gleich fertigmachen“, erklärte ein Zimmermädchen, das nun ebenfalls das Zimmer betrat. „Sie gehören zum Personal?“, stellte die kleine, zierliche Frau mit dem freundlichen Gesicht, erstaunt fest. „Aber ich kenne Sie noch nicht.“

„Ich bin Jessica Rehberger“, stellte sie sich vor und reichte der Kollegin die Hand. „Seit gestern Herrn Peterhoffs Assistentin. Und Sie?“

„Ilona Heller. Zimmermädchen. Sagen Sie ruhig Ilona zu mir, wie das hier alle tun.“ Ihre lebhaften Augen strahlten, als sie Jessica einen Brief überreichte. „Den soll ich an der Rezeption für eine Frau Rehberger hinterlegen. Der freundliche alte Herr hat ihn mir gegeben. Aber“, fügte sie hinzu, „das kann ich mir ja nun sparen.“

„Heute schon gefrühstückt?“, fragte Jessica, während sie den Brief entgegennahm.

„Nein, aber sobald ich hier fertig bin, mach ich Pause.“

„Ziehen Sie Ihre Pause vor. Setzen Sie sich in das Zimmer und frühstücken Sie“, sagte sie und reichte Ilona das Tablett. „Guten Appetit.“

Ilona starrte sie mit offenem Mund an.

„Aber das bleibt unter uns“, befahl Jessica freundlich zwinkernd.

Ilona nickte. „Das bleibt ganz sicher unter uns, sonst schmeißt mich der Benedikt raus.“

Jessica eilte in ihr Büro, öffnete das Kuvert und las.

Liebe Jessica, herzlichen Dank für Ihre Hilfe und Ihre Freundlichkeit.

Ich bin sicher, dass wir uns wiedersehen.

Rudolf Golya

Schade, dachte Jessica enttäuscht.Ich hätte mich gerne von ihm verabschiedet. Na ja, kann man nichts machen. Sie steckte den Brief in ihre Handtasche und begab sich an die Rezeption.

„Frau Rehberger, würden Sie mal eben in den Wellnessbereich gehen, um Herrn Klausen zu beschwichtigen? Unser Harry hatte einen Unfall mit seinem Rad. Er hat angerufen und gesagt, dass er in etwa fünfzehn Minuten hier sein wird.“

„Mach ich. Wer ist Harry?“

„Unser Fitnesstrainer. Und dann liegt hier die Post für Herrn Peterhoff, die Sie ja nun bearbeiten. Sollten Sie Fragen dazu haben, bin ich gerne bereit, Ihnen zu helfen, sofern ich dazu in der Lage bin. Aber behelligen Sie mich nicht mit Dingen, die Sie selbst erledigen können. Ich habe genug mit meiner eigenen Arbeit zu tun.“

„Danke, Herr Oswald, ich werde versuchen, mich daran zu halten.“

„Was ist übrigens mit Ihrem Gast?“, flüsterte er.

„Leider hat er es vorgezogen, das Hotel bereits in aller Frühe zu verlassen. Er hinterließ lediglich eine kurze Nachricht für mich.“

„Seien Sie froh. Es gibt unter diesen Leuten auch solche, die sich nach ein wenig Freundlichkeit, wie Kletten an einen hängen.“ Plötzlich schmunzelte er und gab ihr einen sanften Puffer mit dem Ellbogen. „Oder haben Sie etwa Ihr Herz an den Alten verloren?“

„Herr Oswald!“, empörte sie sich belustigt.

„Natürlich nicht. Sie sind mit einem jungen, gutaussehenden, intelligenten Mann zusammen, den Sie an der Uni kennengelernt haben?“, fragte er neugierig weiter.

„Wie ich bereits gestern erwähnte, Herr Oswald, ließ mir mein Studium bisher keine Zeit für die Liebe“, antwortete sie bedauernd, fügte jedoch kleinlaut hinzu: „Die ich mir allerdings genommen hätte, wäre mir der Richtige begegnet.“

„Da sieht man´s mal wieder, die Kerle von heute haben entweder keine Augen im Kopf oder kein Rückgrat. Wäre ich ein paar Jährchen jünger … Ich war mal ein ganz passabler Bursche.“

„Aber Herr Oswald, das sind Sie doch noch immer“, flüsterte sie, bevor sie sich abwandte, um in den Wellnessbereich zu gehen.

*

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als ein Wagen in der Nähe hielt.

Jan, der erst vor wenigen Minuten seinen Lunch verzehrt hatte, lag gedankenverloren im Gras und döste vor sich hin. Vom Zuschlagen einer Autotür schreckte er auf. Oh nein! Hoffentlich ein Angler, der seine Angel weit genug entfernt von meiner, in den Fluss hängt und keine Unterhaltung sucht. Wenigstens im Urlaub wollte er seine Ruhe haben und diese rundum genießen. Stress, Gespräche und Diskussionen hatte er im Berufsleben genug.

„Hi, Sir“, meldete sich eine weibliche Stimme.

Überrascht setzte er sich auf und wandte sich der weiblichen Stimme zu, die ihm durchaus bekannt vorkam. „Chiara! Was machen Sie denn hier? What ...“

„Ich habe verstanden“, unterbrach sie ihn mit englischem Akzent. „Habe erfahren, dass Sie hier sind“, sprach sie langsam weiter. „Ich wollte sprechen with you. Allein.“

Einigermaßen verwundert erhob er sich höflich. „Ach so? Um was geht es?“

„You told me, yesterday in die Bar, ich wäre gut. Und Sie sagten von die Hotel in Fränkfurt. Ich lebe in Dumfries schon immer und ich wollte fragen, kann ich in die Hotel in Fränkfurt arbeiten?“

Jan fühlte sich einen Moment überrumpelt, obwohl er selbst schon darüber nachgedacht hatte, kam ihre Frage nun doch unerwartet. Er rollte mit den Augäpfeln und ließ die Luft aus seinen aufgeblasenen Wangen.

„Nein? Kein good idea?“, fragte sie unsicher.

„Nein! Doch …, ich meine, doch, es ist sogar eine hervorragende Idee. Ich halte Sie für eine sehr qualifizierte Barkeeperin. Stellen Sie sich vor, ich dachte selbst schon daran, Sie zu fragen, ob Sie sich vorstellen könnten, in Deutschland zu arbeiten.“

„Oh!“, rief sie erfreut aus, „wirklich?“ Sie legte eine Hand auf Jans Arm. „That´s so wonderful. Ich werde gehen, um Miss Hooper zu sagen. Wann kann ich kommen to Fränkfurt?“

„Nun ja, zuvor werde ich meinen Personalchef kontaktieren. Könnte nämlich sein, dass er zwischenzeitlich bereits einen Barkeeper eingestellt hat. Sollte dies nicht der Fall sein, werde ich mir einen Vertrag zufaxen lassen. Sie könnten dann, meinetwegen bereits in einer Woche anfangen.“

„Danke, Sir“, flüsterte sie ergriffen und einen Moment sah es so aus, als wolle sie ihm vor lauter Freude um den Hals fallen. „I am so happy.“

Er nickte zustimmend. „Es ist noch nichts entschieden“, dämpfte er ihre Freude, „aber sollte es klappen, würde ich mich ebenfalls freuen. Na dann, bis später.“

Sie sah ihn einige Sekunden stumm an, senkte zunächst den Blick, nickte dann aber und erhob sich. „Okay, see you later“, antwortete sie.

Jan bemerkte sehr wohl die unterschwellige Enttäuschung in ihrer Stimme. Sie hat doch nicht etwa angenommen, ich würde sie nach Frankfurt holen, weil ich etwas für sie empfinde. Oder doch? Habe ich ihr Hoffnungen gemacht? Ist wohl besser, diesen Abend nicht in der Hotelbar zu verbringen. Allerdings wäre es nicht anständig, sie im Unklaren zu lassen. „Chiara, einen Moment bitte“, sagte er, während er sich erhob, seine Angel ergriff und zum erneuten Auslegen bereitmachte. „Ich denke, ich sollte Ihnen sagen, dass ich Ihre Arbeit und die Art, wie Sie mit den Gästen umgehen, sehr schätze. Ich habe Ihrer Anfrage jedoch nicht zugestimmt, weil ich … Wie soll ich sagen? Ich ...“

Chiaras Augen weiteten sich. Plötzlich schien sie zu begreifen. „Oh Sir, Sie annehmen, ich wollen, wie sagt man, ein romance with you, weil ich eben ein wenig enttäuscht klang. Right?“

Er räusperte sich verlegen, bückte sich nach seiner Angel und warf sie aus. „Nun ja, entschuldigen Sie, falls ich etwas missverstanden habe. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.“

„Sie sind ein – wie sagt man in german – netter, schöner Mann, aber …“, erklärte sie, „ich mag kein Mann. Sie verstehen? Ich wollte Ihnen nur ein wenig ...“

Ein Ruck ging durch seine Angel. „Da hat einer angebissen!“, unterbrach er sie, während die Rolle schnurrte und die Schnur lief. „Das muss ein enormer Brocken sein.“ Er holte die Angelschnur ein wenig ein, doch der Fisch kämpfte und Jan gab ihm Schnur. Das wiederholte er einige Male, bis der Fisch müde wurde.

„I take the landing net“, rief Chiara aufgeregt, trat näher ans Flussufer und fing den Lachs gekonnt mit dem Kescher, als Jan ihn endlich herauszog.

„Danke“, sagte Jan, während er ihr den Kescher abnahm, „das haben Sie gut gemacht.“

„Ich gehen with my Dad to angle. I hope, ein wenig with you sitzen zu dürfen. Ich werde auch sein wie Maus.“

„Ach so! Darum wirkten Sie gerade so enttäuscht, als ich mich verabschiedete. Und ich Trottel dachte … Ja dann, setzen Sie sich. Falls Sie hungrig sind, in meinem Lunchpaket liegt noch ein Putensandwich.“

„Oh, gerne, ich habe wegen Aufregung noch kein Breakfast.“ Chiara blieb noch eine Stunde, während der sie sich natürlich auch ein wenig über Chiaras Ausbildung und ihre Pläne unterhielten. Sie half ihm beim nächsten Lachs ein weiteres Mal mit dem Kescher, dann verabschiedete sie sich von Jan.

Am Spätnachmittag fuhr auch er ins Hotel zurück und setzte sich sogleich mit dem Lindenhof in Verbindung.

„Lindenhof Rezeption – Rehberger. Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“

„Peterhoff, guten Tag. Frau Rehberger? Rehberger?“, stutzte er. „Ihr Name kommt mir irgendwie bekannt vor, aber ich weiß jetzt nicht …“

„Ich bin Ihre neue Assistentin.“

„Meine Assistentin? Na klar! Ich hielt Ihre Bewerbungsunterlagen in Händen. – Bemerkenswerter Abschluss. Alle Achtung! Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.“

„Danke, Herr Peterhoff. Ich hoffe, der Grund Ihres Anrufes ist nicht Langeweile?“

„Nein, nein. Es ist alles wunderbar. Eine atemberaubend schöne Landschaft. Gestern hat es zwar geregnet, aber heute scheint schon wieder Sonne und die Fische beißen auch gut.“

„Das freut mich für Sie“, antwortete sie professionell freundlich. „Aber um uns das mitzuteilen, rufen Sie wohl kaum an. Was kann ich denn nun für Sie tun?“

„Faxen Sie mir bitte …, Unsinn …, mailen Sie mir einen Anstellungsvertrag. Ich kann den hier ausdrucken, damit ihn die junge Dame, bei der es sich um eine hochqualifizierte Barkeeperin handelt, unterschreiben kann. Sie ist hier im Hotel angestellt und denkt über neue Perspektiven nach, wie ich heute Vormittag erfuhr. Da wir dringend eine qualifizierte Kraft für die Bar suchen, habe ich der Dame eine Anstellung in Aussicht gestellt. – Sofern Herr Benedikt noch niemanden gefunden hat?“

„Tut mir leid, dazu kann ich nichts sagen, da ich selbst, wie Sie ja wissen, erst den zweiten Tag hier arbeite.“

„Finden Sie das heraus und unterrichten Sie ihn bitte, falls noch nichts geschehen ist, von der Möglichkeit, eine schottische Barkeeperin in unserer Bar zu beschäftigen. Gehen Sie das aber so an, dass er das Gefühl hat, er wolle sie einstellen. Sie wissen, was ich meine?“

„Ich verstehe. Sie könnten die Dame auch ohne Herrn Benedikts Zustimmung einstellen, aber sie möchten nicht, dass er sich übergangen fühlt. Das krieg ich hin.“

„Wunderbar!“, rief er freudig aus. „Ich schätze Leute mit Intuition und Verstand. Ich freue mich schon darauf, Sie kennen zu lernen.“

„Das sagten Sie bereits. Ich melde mich, sowie ich mit Herrn Benedikt gesprochen habe.“

„Danke“, antwortete er und beendete schmunzelnd das Gespräch. Na, da bin ich aber gespannt. – Sympathische Stimme. Und dann der Name – seltsam. Der Name. Ich habe diesen Namen schon mal gehört und ich meine, auch schon darüber nachgedacht zu haben, als ich ihn in den Bewerbungsunterlagen las. Warum habe ich ihn nicht längst gegoogelt? Er schlug seinen Laptop auf und gab den Namen in die Suchmaschine ein. Ah! Kein Wunder, jeder in der Branche, hat den Namen des Hotelmagnaten Rehberger schon mal gehört. Ob die junge Frau irgendwie mit ihm verwandt ist? Vermutlich nicht, sonst würde sie ja wohl kaum in unserem Hotel arbeiten. Sicher nur Zufall.

*

Der ist ja gut drauf, dachte Jessica. Ob sich der alte Jan Peterhoff in die junge Barkeeperin verliebt hat? Denkfehler! Du weißt doch gar nicht, wie alt der ist. Und nach seiner sympathisch klingenden, energiegeladenen Stimme zu urteilen, könnte er auch jünger sein. Na, wie auch immer, mir soll´s recht sein. „Herr Oswald, ich müsste mal kurz an die Bar.“

„Ist es dafür nicht zu früh?“

Jessica grinste ihn nur an.

„War das der Chef?“, fragte er weiter und deutete mit dem Kinn auf das Telefon.

„Ja, das war Herr Peterhoff.“

„Der kann´s auch nicht lassen. Hat wohl schon Sehnsucht nach uns?“

„So hat sich das eben nicht angehört“, antwortete sie, noch bevor sie den Empfangstresen verließ. Sie beeilte sich, in die Bar zu kommen, in der sich um diese Zeit nur wenige Hotelgäste einen Drink gönnten.

Horst Prado, der lustig grinsende, sympathisch wirkende Kellner, mit dem sie bereits am Tag zuvor bekannt gemacht worden war, servierte einem Gast ein Getränk. Bevor er ihn wieder verließ, stellte er das leer getrunkene Glas auf sein Tablett und schwenkte dieses elegant vom Tisch, um es zur Theke zurückzutragen.

Sie wünschte ihm einen guten Tag und fragte: „Sind Sie etwa allein hier?“

„Um diese Zeit ist nicht viel los“, antwortete er lässig. „Allerdings kommen die ersten Gäste bereits nach dem Mittagessen. Da fängt dann zwar Susanne ihren Dienst an, aber was die Cocktails angeht stehe ich auf ziemlich verlorenem Posten.“

„Und, warum ist das so?“

„Weil ich Kellner und kein Barkeeper bin“, erklärte er. „Seit Maurice auf die Bahamas geflüchtet ist, stehen wir hier ziemlich unter Druck.“

„Kam das denn so plötzlich? Man hätte doch rechtzeitig nach einem Ersatz suchen können.“

„Soviel ich weiß, haben sich bereits zwei beworben, aber die waren wohl nicht qualifiziert genug für ein Sterne Hotel.“

„Okay, ich werde mit Herrn Benedikt sprechen.“

„Als ob wir das nicht schon getan hätten. Aber bitte, versuchen Sie Ihr Glück, sonst hole ich Sie zu Hilfe“, meinte er grinsend.

„Mein Cosmopolitan ist ganz ordentlich“, antwortete sie scherzhaft lächelnd, „und einen Americano krieg ich auch noch hin.“

„Mein Sex on the Beach ist auch nicht zu verachten“, antwortete er und zwinkerte ihr lachend zu. „Mit dem habe ich noch Jede rumgekriegt.“

Jessica winkte ihm noch knapp zu und ging zum Personalbüro. „Hallo, Frau Kugler, kann ich kurz zu Herrn Benedikt?“

Die Sekretärin erhob sich, klopfte an dessen Tür und öffnete sie, bevor er sie hereinbat. „Frau Rehberger möchte sie sprechen.“