Das Buch der tausend Türen - Gareth Brown - E-Book

Das Buch der tausend Türen E-Book

Gareth Brown

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Beschreibung

Die junge Buchhändlerin Cassie Andrews führt ein normales Leben in New York – bis sie eines Tages ein Buch voll geheimnisvoller Zeichnungen und verschlüsselter Notizen bekommt. Und einer Widmung: Dies ist das Buch der Türen, und jede Tür ist jede Türen. Cassie entdeckt, dass das Buch magische Kräfte hat und sie zu jeder Zeit an jeden Ort der Welt bringen kann. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Izzy reist Cassie an die spektakulärsten Orte und erlebt die faszinierendsten Abenteuer. Das Buch der Türen ist zwar nicht das einzige magische Buch auf der Welt, sehr wohl aber das mächtigste, und bald sind skrupellose Büchersammler hinter Cassie her, um das wertvolle Stück in ihren Besitz zu bringen. In den falschen Händen hätte die Magie des Buches jedoch katastrophale Folgen, und der Einzige, der Cassie jetzt noch helfen kann, ist der geheimnisvolle Bibliothekar Drummond Fox …

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Seitenzahl: 601

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Das Buch

Cassies Hirn machte einen Rückwärtssalto und ihr stand ungläubig der Mund offen. Dann fragte sie sich, ob sie es mit einer optischen Täuschung zu tun hatte. Dort, wo sich der Wohnungsflur befinden sollte, eröffnete sich ihr eine ganze Welt. Sie spürte die kühle Luft und die Feuchtigkeit und den frischen Duft einer anderen Gegend. Es war dunkel, aber nicht so dunkel wie im verschneiten New York.

An dem Tag, an dem sie von ihrem Lieblingskunden Mr. Webber ein eigenartiges Buch erbt, verändert sich das Leben der jungen Buchhändlerin Cassie Andrews für immer. In dem Buch befinden sich rätselhafte Zeichnungen und verschlüsselte Botschaften, und auf der ersten Seite steht: »Dies ist Das Buch der tausend Türen. Halte es in der Hand, und jede Tür ist jede Tür.« Zunächst kann Cassie nichts mit diesem seltsamen Geschenk anfangen, aber dann entdeckt sie durch Zufall, dass das Buch magische Kräfte hat: Sie kann damit an jeden Ort der Welt reisen – und durch die Zeit. So ein mächtiges Buch bleibt natürlich nicht lange unbemerkt, und schon bald sind skrupellose Büchersammler hinter Cassie her. Sie würden alles tun, um Das Buch der tausend Türen in ihren Besitz bekommen, und schrecken dabei auch nicht vor Mord zurück. Bis Cassie von dem geheimnisvollen Bibliothekar Drummond Fox unerwartete Hilfe bekommt …

Der Autor

Gareth Brown wurde in Falkirk, Schottland, geboren und träumte schon als kleiner Junge davon, Romane zu schreiben. Nach dem Studium arbeitete er im öffentlichen Dienst, gab jedoch seinen Traum von der Schriftstellerei nie auf. Wenn er nicht gerade schreibt, liebt es Gareth Brown, neue Länder und Städte zu erkunden. Seine vielen Reisen inspirierten ihn zu seinem Debütroman Das Buch der tausend Türen, der in Großbritannien zu einem Bestseller wurde. Der Autor lebt mit seiner Frau in der Nähe von Edinburgh.

»Eine wunderbare Reise in andere Welten.«

Kirkus Reviews

»Gareth Brown erzählt mit einer bezaubernden Leichtigkeit.«

Publishers Weekly

Roman

Aus dem Englischen übersetztvon Sabine Hübner

Die englische Originalausgabe ist unter dem Titel

THEBOOKOFDOORS

bei Bantam erschienen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 08/2024

Redaktion: Michelle Stöger

Copyright © 2024 by Gareth Brown

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabeund der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München,unter Verwendung eines Motivs von Beci Kelly / TW

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-30854-4V003

Gewidmet meiner Frau May,

um all unserer gemeinsamen Erinnerungen willen

und all der Abenteuer,

die noch auf uns warten (NMINOO! VWDDR!).

Erster Teil

Türen

Mr. Webbers stiller Tod

Wenige Minuten vor seinem Tod saß John Webber in der Buchhandlung Kellner Books an der Upper East Side von New York City und las Der Graf von Monte Christo. Wie üblich saß er in der Mitte des Ladens, den Mantel ordentlich über der Stuhllehne gefaltet, den Roman vor sich auf dem Tisch. Er hielt einen Moment inne, um einen Schluck Kaffee zu trinken, und schloss das Buch, nachdem er ein Lesezeichen aus weichem Leder eingelegt hatte.

»Wie geht es Ihnen, Mr. Webber?«, fragte Cassie, die mit einem Stapel Bücher unter dem Arm durch den Laden ging. Es war schon spät am Tag und Mr. Webber der einzige Kunde.

»Ach, ich bin alt und müde und gehe immer mehr aus dem Leim«, erwiderte er, wie jedesmal, wenn Cassie sich nach seinem Befinden erkundigte. »Aber ansonsten kann ich nicht klagen.«

Mr. Webber besuchte die Buchhandlung regelmäßig und gehörte zu den Kunden, mit denen Cassie stets ein paar Worte wechselte. Er war ein Gentleman, sprach mit leiser Stimme und trug ordentliche, teuer wirkende Kleidung. Sein Alter ließ sich höchstens an der runzligen Haut von Händen und Hals ablesen, nicht aber an seiner glatten Gesichtshaut oder dem vollen weißen Haarschopf. Er war einsam, das wusste Cassie, ertrug diese Einsamkeit jedoch geduldig und fiel damit niemandem zur Last.

»Ich lese gerade den Grafen von Monte Christo«, vertraute er ihr an und wies mit einem Nicken auf das Buch. Das Lesezeichen reckte sich Cassie entgegen wie die Zunge einer Schlange. »Ich habe ihn schon einmal gelesen, aber jetzt im Alter ist es ein Trost, meine Lieblingsbücher wieder zu lesen. Als würde man Zeit mit alten Freunden verbringen.« Er hüstelte, ein ironisches Lachen, mit dem er Cassie zeigen wollte, dass er diesen Satz selbst ein bisschen albern fand. »Haben Sie das Buch gelesen?«

»Ja«, sagte Cassie und klemmte sich die Bücher fester unter den Arm. »Mit zehn Jahren vielleicht.« Sie erinnerte sich an ein langes, verregnetes Wochenende im Herbst, an dem sie Der Graf von Monte Christo ins Reich der Fantasie entführt hatte, wie so viele andere Bücher auch.

»Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wie es war, zehn Jahre alt zu sein«, murmelte Mr. Webber lächelnd. »Wahrscheinlich war ich schon bei meiner Geburt im mittleren Alter und steckte in einem Anzug. Wie hat Ihnen das Buch damals gefallen?«

»Natürlich ist es ein Klassiker«, erwiderte Cassie. »Aber das Stück in der Mitte, dieser ganze Teil in Rom – das war mir zu lang. Ich wollte immer gleich zur Rache am Schluss kommen.«

Mr. Webber nickte. »Er lässt einen wirklich auf die Belohnung warten.«

»Hmmm«, stimmte Cassie zu.

Der Augenblick zog sich in die Länge, leise Jazzmusik aus den Wandlautsprechern füllte die Stille.

»Waren Sie schon mal in Rom?«, fragte Mr. Webber und rieb sich die Hände, als seien sie kalt. Cassie wusste, dass er vor seiner Pensionierung Pianist und Komponist gewesen war, und konnte sich gut vorstellen, wie diese langen, feingliedrigen Finger schwerelos über die Tasten tanzten.

»Ja, ich bin mal in Rom gewesen«, erwiderte Cassie, »kann mich aber kaum noch daran erinnern.« Sie hatte vor Jahren einmal eine Woche dort verbracht, als sie durch Europa gereist war. Sie erinnerte sich sehr wohl daran, wollte aber Mr. Webber reden lassen. Er steckte voller Geschichten aus seinem reichen Leben; ein Mann, der mehr Geschichten kannte als Menschen, denen er sie hätte erzählen können.

»Ich habe Rom geliebt«, sagte er und lehnte sich entspannt auf seinem Stuhl zurück. »Von allen Orten, die ich bereist habe – und ich bin viel gereist –, war Rom eine meiner Lieblingsstädte. Man konnte herumlaufen und sich fünfhundert Jahre zurückträumen.«

»Hmmm«, murmelte Cassie und merkte, wie Mr. Webber sich in seinen Erinnerungen verlor. Er war in Rom wohl sehr glücklich gewesen.

»Ich wohnte damals in einem kleinen Hotel neben dem Trevi-Brunnen«, sagte er. »Und bekam jeden Morgen den Kaffee ans Bett gebracht, ob ich es wollte oder nicht. Punkt sieben Uhr. Es klopfte kurz, dann kam die alte Hotelbesitzerin hereinmarschiert, knallte mir die Tasse auf den Nachttisch und marschierte wieder hinaus. An meinem ersten Morgen stand ich nackt mitten im Zimmer und überlegte, was ich anziehen sollte, als sie hereinplatzte, die Kaffeetasse in der Hand. Sie maß mich einen Moment lang von oben bis unten, völlig unbeeindruckt von meinem Anblick, und ging wieder hinaus.« Er lachte bei dieser Erinnerung. »Sie hat mich … im Adamskostüm gesehen.«

»Oh mein Gott«, sagte Cassie und lachte auch.

Er sah sie forschend an und fragte: »Ich habe Ihnen das schon mal erzählt, nicht wahr?«

»Nein«, log sie. »Ich glaube nicht.«

»Sie sind zu nachsichtig mit mir, Cassie. Ich bin zu einem dieser alten Menschen geworden, die junge Leute mit ihren Geschichten langweilen.«

»Eine gute Geschichte hört man sich gerne auch zweimal an«, erwiderte sie.

Er schüttelte den Kopf, als ärgere er sich über sich selbst.

»Reisen Sie immer noch, Mr. Webber?«, fragte Cassie, um ihn abzulenken.

»Ach, ich fahre nirgends mehr hin«, antwortete er. »Zu alt und zu schwach. Ich bezweifle, dass ich einen langen Flug überstehen würde.« Er verschränkte die Hände vor dem Bauch und starrte gedankenverloren auf den Tisch.

»Das ist ein bisschen düster«, meinte Cassie.

»Nur realistisch«, erwiderte er lächelnd. Dann sah er sie ernst an. »Es ist wichtig, realistisch zu sein. Das Leben ist wie ein Zug, der immer schneller und schneller fährt, und je eher man das erkennt, desto besser. Ich rase auf die letzte Station zu, das weiß ich. Aber ich beklage mich nicht, ich habe mein Leben gelebt. Junge Menschen wie Sie hingegen, Cassie, müssen raus und die Welt sehen, solange es geht. Es gibt so viel jenseits dieser vier Wände zu entdecken. Lassen Sie die Welt nicht an sich vorüberziehen.«

»Ich habe schon viel gesehen, Mr. Webber, machen Sie sich keine Sorgen«, meinte Cassie, der es unangenehm war, dass sich das Gespräch jetzt um sie drehte. Mit einem Nicken wies sie auf die Bücher, die sie unterm Arm trug. »Ich bringe die mal nach hinten, bevor mir die Arme abfallen.«

Sie ging an der Kaffeebar vorbei – die jetzt geschlossen war – bis zu dem fensterlosen Kabuff im Hinterzimmer, in dem sich Kartons und Personalschließfächer befanden. Dort ließ sie die Bücher auf den chaotischen Schreibtisch fallen, damit Mrs. K. sich am nächsten Morgen darum kümmern konnte.

»Cassie, ich wollte Ihnen keine Ratschläge erteilen«, sagte Mr. Webber mit ernster Miene, als sie zurückkam. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht gekränkt.«

»Mich gekränkt?«, fragte Cassie ehrlich verblüfft. »Unsinn! Ich habe mir gar nichts dabei gedacht.«

»Na ja, was ich eigentlich sagen wollte: Bitte erzählen Sie Mrs. Kellner nicht, dass ich Ihnen vorgeschlagen habe, sie und ihre Buchhandlung zu verlassen.«

»Da bekämen Sie lebenslanges Hausverbot«, meinte Cassie grinsend. »Aber keine Sorge. Ich verrate nichts. Und ich habe auch nicht vor, in nächster Zeit zu verreisen.«

Während sie die Tassen und Teller von den Tischen räumte, blickte sich Cassie in dem Laden um, in dem sie seit ihrer Ankunft in New York City vor sechs Jahren arbeitete. Genau so stellte sie sich eine Buchhandlung vor: Regale und Tische voller Bücher, leise Hintergrundmusik, Lampen, die an Kabeln von der hohen Decke hingen und sowohl helle Bereiche als auch heimeliges Dunkel schufen. In den Ecken und zwischen den Regalen standen bequeme Sessel, und an den Wänden hingen Kunstwerke, die nicht zusammenpassten. Obwohl die Wände zehn Jahre lang nicht mehr gestrichen worden waren und die Regale vermutlich aus den 1960er-Jahren stammten, wirkte es nicht heruntergekommen, sondern in seiner Schäbigkeit gemütlich. Hier fühlte man sich auf Anhieb wohl.

Mit einem Kopfnicken wies sie auf Mr. Webbers Kaffeetasse. »Darf ich Ihnen noch mal nachgießen, bevor ich zumache?«

»Ich hatte schon mehr als genug«, erwiderte er und schüttelte den Kopf. »Ich werde die ganze Nacht zum Pinkeln rennen müssen.«

Cassie verzog das Gesicht, halb amüsiert, halb abgestoßen.

»Ich gewähre Ihnen einen Einblick in das Leben eines alten Menschen«, sagte Mr. Webber ungerührt. »Eine einzige Vergnügungstour. So, geben Sie mir noch ein paar Minuten, damit ich meine Kräfte sammeln kann, dann sind Sie mich los.«

»Lassen Sie sich Zeit«, erwiderte sie. »Es ist schön, am Ende des Tages Gesellschaft zu haben.«

»Ja«, pflichtete Mr. Webber ihr bei und starrte auf den Tisch, während seine Hand auf dem Buch ruhte. »Ja, das stimmt.« Er blickte auf und lächelte sie etwas schüchtern an. Sie klopfte ihm im Vorbeigehen leicht auf die Schulter. Aus dem großen Schaufenster ergoss sich sanftes Licht in die Nacht, ein Kaminfeuer im dunklen Raum der Stadt, und als Cassie sich auf ihren Stuhl setzte, begann es zu schneien. Die Schneeflocken wirbelten wie Sonnenstäubchen durchs dunstige Licht.

»Wie schön!«, murmelte sie entzückt.

Das Schneetreiben wurde immer dichter, die Gebäude gegenüber bildeten ein Kreuzworträtsel aus hellen und dunklen Fensterquadraten. Passanten zogen ihre Kapuzen hoch, eilten mit gesenktem Kopf dahin, und Besucher der kleinen Sushi-Bar direkt gegenüber blickten, die Essstäbchen in der Hand, besorgt in das wilde Gestöber hinaus.

»Eine Sturmnacht genießt man am besten in einem warmen Zimmer mit einem Buch im Schoß«, murmelte Cassie vor sich hin. Sie lächelte traurig, weil diese Worte einmal jemand zu ihr gesagt hatte, den sie vermisste.

Sie warf einen Blick auf die Wanduhr und sah, dass es Zeit war, den Laden zu schließen. Mr. Webber saß immer noch an seinem Tisch und hatte den Kopf zur Seite geneigt, als lausche er, weil jemand ihn beim Namen gerufen hatte. Es sah unbequem aus. Cassie runzelte die Stirn, und tief in ihrem Inneren machte sich ein unbehagliches Gefühl breit.

»Mr. Webber?«, fragte sie und erhob sich.

Beklommen eilte sie durch den Laden, und die jazzige Musikberieselung im Hintergrund klang plötzlich misstönig. Als sie Mr. Webber eine Hand auf die Schulter legte, reagierte er nicht. Seine Miene wirkte starr, die leblosen Augen standen offen, die Lippen waren leicht geöffnet.

»Mr. Webber?«, versuchte sie es erneut, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war.

Cassie wusste, wie der Tod aussah. Als sie ihm vor vielen Jahren zum ersten Mal begegnet war, hatte er ihr den Mann geraubt, bei dem sie groß geworden war. Die einzige Familie, die sie je gehabt hatte. Nun war der Tod erneut gekommen und hatte einen freundlichen Mann mitgenommen, den sie kaum kannte, während das Schneetreiben sie abgelenkt hatte.

»Ach, Mr. Webber«, sagte sie, während Traurigkeit in ihr aufstieg.

Als Erste erschienen die Rettungssanitäter, stürmten geräuschvoll in den Laden und schüttelten sich den Schnee aus Kleidung und Haaren. Sie waren voller Energie, als gebe es noch eine Chance, Mr. Webber zu retten, doch als sie ihn erblickten, erlosch ihr Tatendrang.

»Er ist tot«, sagte einer der beiden zu ihr, und dann standen sie zu dritt schweigend da, wie Partygäste, die einander nicht kannten. Mr. Webber starrte mit leerem Blick vor sich hin ins Nichts. Dann kamen zwei Polizisten, ein junger und ein älterer Mann, die ihr Fragen stellten, während die Sanitäter Mr. Webber von seinem Stuhl auf eine Bahre hoben und festschnallten.

»Er kommt zwei- bis dreimal die Woche abends vorbei«, erklärte sie ihnen. »Kurz bevor die Kaffeebar zumacht. Er holt sich seinen Kaffee, sitzt da und liest sein Buch, bis ich den Laden schließe.«

Der junge Polizeibeamte wirkte gelangweilt. Die Hände in die Hüften gestemmt, stand er da und schaute den Sanitätern bei der Arbeit zu. »Wahrscheinlich einsam«, meinte er.

»Er mag Bücher«, sagte Cassie, und der Polizist sah sie an. »Manchmal reden wir über Bücher, die wir gelesen haben, Bücher, die er gerade liest. Er mag die Klassiker.« Noch während die Worte über ihre Lippen purzelten, merkte sie, dass sie plapperte. Sie verschränkte die Arme, um sich zu bremsen. Die Polizisten machten sie befangen, ihr war alles, was sie tat, quälend bewusst.

»Okay«, erwiderte der Polizist und betrachtete sie mit professioneller Teilnahmslosigkeit.

»Es hat ihm bestimmt Freude gemacht, sich mit Ihnen zu unterhalten, Ma’am«, meinte sein älterer Kollege. Wahrscheinlich wollte er einfach etwas Nettes sagen. Er ging den Inhalt von Mr. Webbers Brieftasche durch, auf der Suche nach seiner Adresse oder den Kontaktdaten der nächsten Angehörigen. Das kam Cassie seltsam obszön vor, als würde jemand eine Schublade mit fremder Unterwäsche durchwühlen.

»Für einen alten Mann gibt es nichts Besseres als eine hübsche Frau, auf die er sich freuen kann«, sagte der jüngere Polizist grinsend. Der Ältere schüttelte missbilligend den Kopf, ohne von Mr. Webbers Brieftasche aufzublicken.

»Darum ging es nicht!«, fuhr Cassie den Jüngeren gereizt an. »Er war einfach nett. Bringen Sie da keinen falschen Ton rein!«

Der junge Polizist nickte entschuldigend, bevor er seinem Kollegen einen genervten Blick zuwarf. Er ging zur Tür, um sie den Sanitätern aufzuhalten.

»So«, sagte der ältere Polizist und zog Mr. Webbers Führerschein aus der Brieftasche. »Apartment 4, 300 East 94th Street. Schöne Gegend.«

Er steckte den Führerschein wieder in die Brieftasche zurück und klappte sie zu. »Wir melden uns, wenn wir weitere Informationen brauchen«, sagte er zu Cassie. »Falls Ihnen aber noch irgendetwas einfällt, rufen Sie einfach an.« Er reichte ihr eine NYPD-Visitenkarte mit einer Telefonnummer drauf.

»Was zum Beispiel?«, fragte Cassie.

Der Polizist zuckte gleichgültig die Achseln. »Alles, was wir wissen müssen.«

Cassie nickte, als sei das eine gute Antwort, obwohl es keine war. »Was ist mit seiner Familie?«

»Wir kümmern uns drum«, sagte der ältere Polizist.

»Falls er überhaupt eine hat«, fügte der jüngere Polizist hinzu, der an der Tür wartete. Cassie sah, dass er gehen wollte; ihn langweilte das alles, und sie hasste ihn dafür. Mr. Webber hatte etwas Besseres verdient. Jeder hatte etwas Besseres verdient.

»Kommen Sie zurecht, Miss?«, fragte der ältere Polizist. Er wirkte völlig übermüdet, machte aber trotzdem seinen Job, und zwar besser als sein jüngerer Kollege.

»Klar«, sagte Cassie und runzelte ärgerlich die Stirn. »Natürlich.«

Er sah sie einen Moment lang an.

»Menschen sterben nun mal«, meinte er, um etwas Tröstliches zu sagen. »So ist das Leben.«

Cassie nickte. Das wusste sie. Menschen starben nun mal.

Cassie stand im vorderen Teil des Ladens und sah zu, wie zuerst der Rettungswagen und dann das Polizeiauto davonfuhren. Ihr eigenes Spiegelbild stand geisterhaft im Fenster – eine große, ungelenke junge Frau in Kleidern aus dem Secondhandshop: ein alter Wollpulli mit rundem Ausschnitt und eine Jeans, die an den Knien fast durchgescheuert war.

»Leben Sie wohl, Mr. Webber«, sagte sie und schob sich zerstreut die Ärmel ihres Pullovers bis zu den Ellbogen hoch.

Sie sagte sich selbst, dass sie eigentlich keinen Grund hatte, traurig zu sein – Mr. Webber war alt gewesen und offenbar friedlich an einem Ort eingeschlafen, an dem er glücklich war –, aber die Trauer ließ sich nicht abschütteln, sondern begleitete ihre Gedanken wie ein permanent dröhnender Bass im Hintergrund.

Sie griff zum Telefonhörer und rief Mrs. Kellner zu Hause an.

»Tot?«, fragte Mrs. Kellner, nachdem Cassie ihr erzählt hatte, was passiert war. Das Wort klang wie ein Pistolenschuss, ein kurzer, scharfer Knall.

Cassie wartete. Dann ertönte ein langer, müder Seufzer.

»Der arme Mr. Webber«, sagte Mrs. Kellner, und Cassie konnte förmlich hören, wie sie den Kopf schüttelte. »Aber es gibt schlimmere Arten zu sterben. Ganz gewiss wäre Mr. Webber der gleichen Meinung. Wie geht es Ihnen, Cassie?«

Die Frage überraschte Cassie, so wie es sie immer überraschte, wenn jemand sich nach ihrem Befinden erkundigte.

»Ach, alles in Ordnung«, log sie und wehrte die Frage ab. »Bis auf den Schock vermutlich.«

»Hm, na gut. Irgendwann sind wir alle dran, und Mr. Webber hatte ein schönes Alter. Es ist traurig, aber kein Grund, deprimiert zu sein, hören Sie?«

»Ja, Ma’am«, sagte Cassie, der Mrs. Kellners freundlicher, robuster Rat guttat.

»Und jetzt schließen Sie ab, und sehen Sie zu, dass Sie nach Hause kommen. Draußen tobt ein Schneesturm, und ich will nicht, dass Sie sich verkühlen. Das ist keine Bitte, sondern ein Befehl.«

Nachdem Cassie Mrs. Kellner eine gute Nacht gewünscht hatte, machte sie sich ans Aufräumen und überlegte, wie gut die Kellners Mr. Webber wohl gekannt hatten. Sie schienen die meisten Leute, die regelmäßig den Laden besuchten, näher zu kennen. Wobei Mr. Kellner nicht mehr besonders viel mitbekam, weil er schon seit einigen Jahren an Demenz erkrankt war. Cassie versuchte sich zu erinnern, wann Mr. Kellner zum letzten Mal im Laden gewesen war. Das lag sicher schon Jahre zurück. Inzwischen sprach Mrs. Kellner kaum noch von ihrem Mann.

Als Cassie den Boden zwischen den Kaffeetischen fegte, sah sie Mr. Webbers Exemplar des Grafen von Monte Christo auf dem Tisch neben der halb vollen Kaffeetasse liegen. Der Anblick traf sie wie ein Schlag in die Magengrube, als hätte man Mr. Webber ohne seinen wertvollsten Besitz mitgenommen. Daneben entdeckte sie noch ein anderes Buch, kleiner, mit braunem Ledereinband, rissig und verblichen wie die verwitterte Farbe eines Türrahmens. Cassie hatte es zuvor gar nicht bemerkt – weder nach Mr. Webbers Ankunft noch als die Sanitäter und Polizisten da gewesen waren. Wie konnte sie es nur übersehen haben?

Den Besen gegen ihre Schulter gelehnt, griff sie nach dem Buch. Es fühlte sich merkwürdig leicht an, leichter, als es eigentlich sein sollte. Der lederne Buchrücken quietschte vertraut, als sie es aufschlug. Die Seiten waren dick und rau und eng mit dunkler Tinte beschrieben, aber in einer Sprache und Schrift, die Cassie nicht kannte. Als sie das Buch durchblätterte, entdeckte sie Zeichnungen und Strichmännchen – manche umrahmten den Text, andere nahmen ganze Seiten ein. Es wirkte wie eine Art Tagebuch, in dem jemand über viele Jahre hinweg seine Gedanken gesammelt hatte. Das Ganze sah allerdings chaotisch aus. Der Text verlief nicht in einer Richtung; er ging rauf und runter, lief quer über die Bilder oder wand sich um sie herum.

Gleich auf der ersten Seite des Buchs standen ein paar Zeilen, die in der gleichen Handschrift wie der übrige Text verfasst waren, die Cassie jedoch lesen konnte:

Dies ist Das Buch der tausend Türen.

Halte es in der Hand, und jede Tür ist jede Tür.

Darunter befand sich eine weitere Botschaft, eindeutig in einer anderen Schrift. Cassie schnappte nach Luft, als sie sah, dass die Widmung ihr galt:

Cassie, dieses Buch ist für Sie, als Dank für Ihre Freundlichkeit. Mögen Sie die Orte genießen, an die es Sie führt, und die Freundschaften, die Sie dort finden werden.

John Webber

Überrascht und gleichzeitig gerührt runzelte Cassie die Stirn. Wieder blätterte sie in dem Buch und blieb etwa nach einem Drittel an einer schlichten schwarzen Tintenzeichnung hängen: Auf einer einzelnen Seite war ein Eingang abgebildet. Die Tür stand weit offen, und dahinter sah Cassie einen dunklen Raum, an dessen gegenüberliegender Seite sich ein Fenster befand. Jenseits dieses Fensters erblickte sie hellen Sonnenschein, einen tiefblauen Himmel, bunt blühende Frühlingsblumen im saftig grünen Gras. Alles war mit schwarzer Tinte gezeichnet, bis auf den Blick aus dem Fenster; hier sah man die herrlichsten Farben.

Cassie klappte das Buch zu und strich über das rissige Leder.

War sie freundlich zu Mr. Webber gewesen? Hatte er vorgehabt, ihr das Buch an diesem Abend zu schenken? Vielleicht hatte er es kurz vor seinem Tod auf den Tisch gelegt, als das Schneetreiben Cassie abgelenkt hatte?

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie die Polizei anrufen und von dem Buch erzählen sollte. Aber sie hörte schon den Kommentar des jüngeren Polizisten: Sieht aus wie das Notizbuch eines Irren!

»Keine gute Idee«, murmelte sie vor sich hin.

Mr. Webber hatte ihr das Buch schenken wollen. Sie würde es zu Ehren dieses netten Mannes behalten, der ihr so oft am Ende des Tages Gesellschaft geleistet hatte. Und auch sein Exemplar des Grafen von Monte Christo würde sie mitnehmen; es sollte ein gutes Zuhause bekommen.

Kurze Zeit später verließ sie den Laden, in ihren alten grauen Wintermantel gehüllt, mit burgunderrotem Schal und Pudelmütze. Sie spürte nicht einmal den eisigen Wind, so sehr war sie in Gedanken bei dem Inhalt des seltsamen Notizbuchs. Schon nach wenigen Schritten blieb sie unter einer Straßenlampe stehen und zog es aus ihrer Tasche. Dass auf der gegenüberliegenden Straßenseite jemand im Schatten eines Hauseingangs stand und sie beobachtete, bemerkte sie nicht.

Wieder blätterte sie in dem Buch: noch mehr Text, scheinbar willkürlich gezogene Linien, als könnten die Seiten entnommen und in anderer Reihenfolge erneut zusammengefügt werden, um einen grandiosen geheimen Plan zu enthüllen. Genau in der Mitte des Notizbuchs waren auf einer Doppelseite, ordentlich aufgereiht, mindestens hundert Türen zu sehen. Jede dieser Türen unterschied sich in Form, Größe oder besonderen Merkmalen von den anderen, genau wie die Türen einer beliebigen Straße. Das war alles sehr seltsam, aber rätselhaft schön und verlockend, und Cassie konnte sich kaum losreißen. Wer mochte so viele Stunden damit zugebracht haben, dieses Buch vollzukritzeln? Es kam ihr wie ein geheimnisvoller Schatz vor und ließ sie in Gedanken nicht mehr los.

Sie wischte die Schneeflocken von den Seiten, steckte das Buch wieder ein. Und so, wie in den stillen Straßen das Schneegestöber tobte, wirbelten ihr auf dem Weg zur U-Bahn die seltsamen Tintenkritzeleien durch den Kopf.

Die Gestalt im Eingang folgte ihr nicht.

Das Lieblingsspiel

Als Cassie zu Hause ankam, ging sie als erstes in ihr Zimmer und stellte Mr. Webbers Exemplar des Grafen von Monte Christo zu den Taschenbüchern in das Regal am Kopfende ihres Betts.

Dieses Regal spiegelte ihr Leben wider: Hier standen die Bücher, die sie als Kind verschlungen hatte, die Bücher, die sie auf ihren Reisen durch Europa gekauft oder gefunden hatte, und die Bücher, die sie gesammelt hatte, seit sie in New York lebte. Hier stand schon ihr eigenes zerfleddertes Exemplar von Der Graf von Monte Christo, ein altes Taschenbuch, das früher einmal ihrem Großvater gehört hatte. Cassie erinnerte sich, wie sie es damals in Myrtle Creek in der Tischlerwerkstatt ihres Großvaters gelesen hatte, in einen Sitzsack in der Ecke versunken, während ihr Großvater seiner Arbeit nachging. Draußen war ein heftiger Regenguss niedergegangen, aber drinnen hatte die Luft nach Holz und Öl geduftet. Als Cassie das Buch aus dem Regal nahm und darin blätterte, wehte sie der Hauch der Vergangenheit an und weckte so viele Gefühle und Erinnerungen an die behagliche Geborgenheit jener Kindheitstage, dass es ihr das Herz abschnürte.

Sie stellte das Buch zurück und ging ins Bad. Dort zog sie ihren alten Pullover aus und ließ ihn auf den Haufen schmutziger Wäsche fallen. Als sie sich im Spiegel auf der Rückseite der Tür erblickte, versuchte sie sich einmal ganz unvoreingenommen zu betrachten. Sie war immer ein wenig enttäuscht, wenn sie sich im Spiegel oder auf Fotos sah. Für ihren Geschmack war sie zu groß und zu dünn. Sie fand ihre Hüften zu schmal und ihren Busen zu flach, und ihre großen Augen waren immer etwas zu weit aufgerissen, wie bei einem verschreckten Reh. Sie trug nie Make-up, weil sie nicht gelernt hatte, wie man sich richtig schminkte, und ihr blondes Haar war nicht zu bändigen, ganz gleich, wie gründlich sie es bürstete.

»Bis du wieder da?«, rief Izzy aus dem Wohnzimmer.

»Ja«, erwiderte Cassie. Als sie die Badtür öffnete, verschwand ihr Spiegelbild aus ihrem Blickfeld. Sie ging ins Wohnzimmer. Izzy saß in einem weiten T-Shirt und Pyjamahosen mit untergeschlagenen Beinen auf dem Sofa.

»Wie lief es in der Arbeit?«, fragte Cassie. »Offenbar gut, weil du schon daheim und im Pyjama bist.«

Izzy verdrehte müde die Augen. »Wir sind noch ein bisschen um die Häuser gezogen. In der letzten Bar haben ein paar Typen versucht, uns aufzureißen. So ein großer Kerl wollte mich mit seinem Charme rumkriegen. Er war schrecklich, so ein Muskelprotz mit zusammengewachsenen Augenbrauen. Schlug einen Spaziergang zum Times Square vor, um die Lichter anzuschauen.«

»Wow«, sagte Cassie.

»Genau«, stimmte Izzy zu. »Die einzigen Leute, die sich für den Times Square interessieren, sind Touristen und Terroristen.«

Cassie lächelte, weil es so guttat, die Stimme ihrer Freundin zu hören, die sie von ihrer Traurigkeit ablenkte. Der Heimweg in der leeren U-Bahn und durch schneebedeckte Straßen hatte sich so lang und einsam angefühlt.

»Das habe ich ihm auch gesagt«, fuhr Izzy fort, während Cassie sich zu ihr auf die Couch gesellte. »Niemand interessiert sich für den Times Square, außer Touristen und Terroristen. Er war gekränkt, als hätte ich etwas Schreckliches gesagt.« Sie verzog das Gesicht und ahmte eine Männerstimme nach. »Das ist widerlich! Du weißt doch, dass Terroristen Menschen töten!«

»Sehr speziell«, meinte Cassie grinsend.

»Danach war die Stimmung futsch und wir haben uns verabschiedet. Ein Glück.« Sie nickte zum Fenster hin, vor dem immer noch Schnee fiel.

Izzy arbeitete in der Schmuckabteilung bei Bloomingdale’s und ging alle paar Wochen nach Feierabend mit ihren Kolleginnen etwas trinken. Ihre Welt bestand aus teuren Produkten und reichen Menschen und Touristen, die große Augen machten. Es war eine Welt, für die Cassie weder Verständnis noch Sympathie aufbrachte, aber Izzy liebte ihren Job. Früher wollte sie Schauspielerin werden und hatte davon geträumt, am Broadway zu schauspielern und zu singen. Kurz nachdem sie von Florida nach New York gezogen war, hatte sie Cassie kennengelernt. Sie waren sich bei Kellner Books begegnet, wo Izzy damals jobbte, während sie an kleinen Theatern Castingtermine und Auftritte absolvierte. Doch als ihr nach einigen Jahren klargeworden war, dass sie nicht weiterkam, hatte sie ihren Traum begraben. »Kannst du dir was Schlimmeres vorstellen?«, hatte sie eines Abends bei einem Drink in der Rooftop-Bar des Library Hotels zu Cassie gesagt. »Du bist dreißig plus und siehst all diese schönen jungen Frauen, die zu den gleichen Castings kommen wie du und dich mit den gleichen Blicken betrachten wie du jetzt ältere Frauen? Ich sag dir, Cassie, die Welt hält einen endlosen Vorrat an schönen Frauen parat, immer wieder kommt eine neuere, jüngere daher. Und ich bin keine so gute Schauspielerin, dass mein Aussehen keine Rolle spielen würde.«

Cassie und Izzy hatten über ein Jahr lang zusammen bei Kellner Books gearbeitet und rasch Freundschaft geschlossen. Obwohl sie ganz verschiedene Menschen waren und sich für völlig andere Dinge interessierten, hatten sie sich auf Anhieb gut verstanden. Es war eine natürliche, lockere Beziehung, eine dieser Freundschaften, die ganz spontan entstanden und das eigene Leben veränderten. Als Cassie auf der Suche nach einer Wohnung gewesen war, hatte Izzy ihr vorgeschlagen, zusammenzuziehen, um Geld zu sparen. Seitdem teilten sie sich ein Zwei-Zimmer-Apartment in Lower Manhattan. Ihre Wohnung lag am Rand von Little Italy über einem Cheesecake-Laden und einer Reinigung. Im Winter war es kalt, im Sommer heiß, und wegen der Unterteilungen, die der Vermieter vorgenommen hatte, passten ihre Möbel nicht richtig in die Zimmer, aber Cassie und Izzy fühlten sich wohl. Auch als Izzy bei Kellner Books gekündigt hatte, um bei Bloomingdale’s zu arbeiten, war ihre Freundschaft weiter bestehen geblieben. Izzy arbeitete gern tagsüber, Cassie hingegen lieber am Nachmittag oder an Wochenenden. Deshalb sahen sie einander manchmal tagelang nicht, kamen sich dafür aber auch nicht in die Quere. Wenn sich ihre Wege alle drei bis vier Tage kreuzten, erzählte Izzy Cassie alles, was sich in ihrem Leben ereignet hatte, und Cassie hörte zu. War Izzys Redefluss dann versiegt, blickte sie Cassie mit mütterlicher Miene an und erkundigte sich: »Und wie geht es dir, Cassie? Was tut sich in deiner Welt?«

Auch jetzt betrachtete Izzy, deren wirre Locken zu einem lockeren Dutt gebunden waren, sie mit diesem Gesichtsausdruck. Sie war eine schöne Frau mit hohen Wangenknochen und großen braunen Augen. So attraktiv, wie Kaufhäuser sich ihre Verkäuferinnen wünschen, so attraktiv, dass sie das Zeug zum Filmstar gehabt hätte, wenn sie eine gute Schauspielerin gewesen wäre. Im Vergleich zu ihr fühlte sich Cassie wie ein Mauerblümchen, auch wenn Izzy ihr dieses Gefühl niemals vermittelt hatte. Das war bezeichnend für Izzy.

»Was sich in meiner Welt tut?«, kam Cassie Izzys Frage zuvor.

»Okay, was tut sich in deiner Welt?«

»Nichts«, sagte Cassie. »Kaum was.«

»Komm schon«, sagte Izzy. Sie entknotete ihre Beine, sprang auf und schlenderte zur Küchenanrichte. »Ich hol dir erst mal einen schönen Schluck Wein, und dann erzählst du mir von deinem Nichts und Kaum was.«

Als Izzy den Deckenfluter hinter der Tür anschaltete, ergoss sich sanftes Licht sich über die Wände.

»Mr. Webber ist heute gestorben«, sagte Cassie. Sie blickte in ihren Schoß und merkte, dass sie immer noch sein Buch in den Händen hielt. Eigentlich hatte sie es auch in das Regal im Schlafzimmer stellen wollen.

»Oh, wie schrecklich!«, meinte Izzy. »Und wer ist Mr. Webber?«

»Ein älterer Herr«, meinte Cassie. »Er kommt gelegentlich in den Laden. Trinkt einen Kaffee und liest.«

»Mein Gott, es ist so kalt – was ist denn das für ein Wetter?«, murmelte Izzy und schloss die Tür zum Flur, als sie mit den Tassen zum Sofa zurücktappte. Sie tranken Wein nämlich nicht aus Gläsern, jedenfalls nicht hier in der Wohnung.

»Ich glaube, er war einsam. Und er mochte den Buchladen.«

»Und was ist passiert?«, fragte Izzy und schenkte Wein ein. »Ist er gestolpert und hingefallen? Mein Onkel Michael ist so gestorben. Er ist gestürzt, hat sich die Hüfte gebrochen und kam nicht mehr hoch. Ist auf dem Wohnzimmerboden gestorben.« Sie schauerte.

»Nein, nichts dergleichen«, erwiderte Cassie. Sie nahm die Tasse entgegen, obwohl sie keine Lust auf Wein hatte. »Er ist einfach gestorben. Er saß nur da, als wäre es an der Zeit gewesen.«

Izzy nickte, schien aber enttäuscht.

»Jedenfalls haben das die Polizisten gesagt«, sagte Cassie nachdenklich. »Leute sterben eben.«

Izzy machte es sich auf dem Sofa bequem und schlug die Beine unter. Cassie trank einen Schluck Wein und so saßen sie eine Weile schweigend nebeneinander.

»Schau dir das an«, murmelte Izzy und starrte aus dem Fenster. Die Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren im dichten Schneegestöber kaum zu sehen. Der Wind hatte sich gelegt, aber die Flocken waren jetzt größer und weicher und sanken langsam, aber stetig vom Himmel herab.

»Wie schön das aussieht!«, sagte Cassie.

»Was ist denn das?« Izzy deutete auf das Notizbuch in Cassies Schoß. Cassie reichte es ihr und erklärte, von wem das Geschenk stammte.

»Leder«, bemerkte Izzy. Sie klappte das Buch auf und blätterte darin. »Wow. Das sieht aus, als hätte irgendein Verrückter Buchstabensuppe gekotzt. Ob es viel wert ist?«

»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Cassie. Es ärgerte sie, dass dies Izzys erster Gedanke war. Darum ging es doch nicht. »Es war ja ein Geschenk.«

»Ich glaube, Mr. Webber war in dich verliebt, Cassie«, sagte Izzy mit schelmischem Lächeln und gab ihr das Buch zurück.

»Hör auf«, protestierte Cassie. »Ganz bestimmt nicht. Er war einfach nett. Und wollte mir eine Freude machen.«

Izzy nippte mit leicht glasigem Blick an ihrem Wein. »Okay, lass uns nicht streiten. Denken wir lieber an schönere Dinge.«

»Zum Beispiel?«, fragte Cassie und stellte ihre Tasse auf den Tisch. »Ich kann das nicht trinken; ich schlafe sofort ein.«

»Du verträgst wirklich nichts«, murmelte Izzy. »Erzähl mir mal von … Erzähl mir von deinem schönsten Tag.«

»Was?«, fragte Cassie lächelnd, obwohl sie sich genau an ihr Lieblingsspiel erinnerte. Sie hatten es oft im Laden gespielt, wenn alles ruhig war und es nichts zu tun gab. Dann hatten sie sich gegenseitig aufgefordert, von irgendeiner Lieblingssache zu erzählen: dem Lieblingsessen, dem Lieblingsurlaub, dem liebsten miesen Date. Ein wunderbarer Zeitvertreib.

»Erzähl mir von deinem schönsten Tag«, wiederholte Izzy. »Was war dein schönster Tag im Leben?«

Cassie dachte darüber nach und starrte aus dem Fenster in die verschneite Welt hinaus. Mr. Webbers Buch lag immer noch auf ihrem Schoß.

»Ich sag dir mal, was definitiv nicht mein Lieblingstag war«, riss Izzy Cassie aus ihren Gedanken. »Der Tag im Greyhound-Bus.«

»Oh mein Gott!«, stöhnte Cassie, als sie sich daran erinnerte, wie sie gemeinsam nach Florida gefahren waren, um Izzys Cousine zu besuchen. Sie hatten fast vierundzwanzig Stunden im Greyhound-Bus nach Miami verbracht, hin- und hergerissen zwischen Panik und Fröhlichkeit, angesichts all der Dinge, die sie erlebten. »Weißt du noch, der Mann, der so gestunken hat, als hätte er seinen Sitz mit dem Klo verwechselt?«

»Oje, erinner mich bloß nicht daran!«, ächzte Izzy und schlug sich die Hand vor den Mund, als müsse sie sich gleich übergeben.

Cassie wandte sich gedanklich besseren Zeiten zu. Sie dachte an das Haus, in dem sie aufgewachsen war; nur sie und ihr Großvater, nur sie und ein Buch, aber darüber wollte sie nicht reden. Diese Erinnerungen waren zu kostbar. Stattdessen dachte sie an die Reise, die sie unternommen hatte, bevor sie nach dem Tod ihres Großvaters nach New York gezogen war. Sie hatte allein einen Trip durch Europa unternommen, teils um ihre Trauer zu bewältigen, teils um herauszufinden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Ein Jahr lang war sie mit dem Rucksack unterwegs gewesen, meist allein, manchmal auch in Begleitung neuer Freunde: in Paris mit einem attraktiven Typen aus Deutschland, in London mit einem japanischen Pärchen. In Rom hatte sie ein lesbisches Paar mittleren Alters aus Holland kennengelernt. Die beiden Frauen hatten sie einige Wochen lang begleitet, weil sie offenbar dachten, sie sei jung und ahnungslos und brauche Schutz. All diesen Menschen hatte Cassie damals versprochen, in Kontakt zu bleiben, hatte dieses Versprechen aber nicht gehalten. Diese Menschen waren nur Statisten in ihrem Leben. Doch obwohl sie sie inzwischen aus den Augen verloren hatte, zählten sie und die warmen, sonnigen Tage, die sie in Europa verbracht hatte, zu ihren glücklichsten Erinnerungen.

»Ich erinnere mich an Venedig«, sagte Cassie.

»Oooh, Venedig«, erwiderte Izzy. »Wie schön.« Izzy hatte das Land niemals verlassen, aber sie träumte davon, zurück nach Italien zu gehen, wo ihre Familie ursprünglich herkam.

»Ich habe damals in der Jugendherberge übernachtet«, sagte Cassie. »Und ich hatte ein Zimmer für mich allein. Es war sonst niemand da, jedenfalls am Anfang. Geleitet wurde das Hostel von einem unglaublich netten Ehepaar. Ich kann mich nicht mehr an ihre Namen erinnern …« Sie dachte einen Moment nach, kramte aber vergeblich in ihrem Gedächtnis. »Sie hatten kleine Kinder und haben auch mich wie eine Tochter behandelt.«

Izzy ließ den Kopf gegen die Rückenlehne des Sofas sinken, während sie lauschte.

»Die Straße, in der ich gewohnt habe«, fuhr Cassie fort, »hatte ein Kopfsteinpflaster. Sie war schmal mit lauter gelben und orangefarbenen Häusern mit riesigen Holztüren und kleinen Fenstern mit Jalousien. Vermutlich würde ich sie heute nicht mehr finden. Gegenüber dem Hostel gab es eine Bäckerei und ich habe immer bei offenem Fenster geschlafen, weil es so warm war.«

»Mmmmm, Wärme ist schön«, murmelte Izzy schläfrig.

»Und morgens, wenn ich aufgewacht bin, roch es nach frischem Brot und Gebäck.« Cassie seufzte. »Der köstlichste Duft, den es gibt. Ich hörte die Einheimischen unten reden und lachen. Obwohl es noch so früh war, hatte das Café am Ende der Straße schon Tische und Stühle rausgestellt, und die Leute schauten auf dem Weg zur Arbeit auf einen Cappuccino vorbei.«

»Ich will nach Italien«, sagte Izzy.

»Ich bin jeden Tag aus dem Bett gesprungen und die Treppen nach unten gerannt«, fuhr Cassie fort. »Wenn man die große Holztür öffnete, hatte man die Bäckerei gleich vor der Nase, und meistens wartete davor schon eine riesige Schlange.«

»Ich liebe Brot«, murmelte Izzy. »Ich kann es zwar nicht essen, weil es bei mir sofort auf den Hüften ansetzt. Aber ich liebe es.«

Cassie hörte gar nicht zu, blieb noch eine Weile im Netz ihrer eigenen Erinnerungen gefangen.

»Ich bring das mal in mein Zimmer«, sagte sie schließlich und wies mit einem Nicken auf das Buch in ihrer Hand. »Und dann mache ich uns einen Kaffee, sonst schlafe ich noch vor dir ein.«

»Ich bin gar nicht müde«, behauptete Izzy mit eindeutig schläfriger Stimme. »Du irrst dich.«

Cassie lächelte und stemmte sich von der Couch hoch.

Sie dachte wieder an Venedig, an die vielen Tassen Kaffee, die sie in dem Café an der Ecke getrunken hatte, an das knusprige Brot, das sie zum Frühstück gegessen hatte, und als sie nach der Türklinke griff, erschauerte sie und fühlte sich einen Moment lang ganz komisch, als spanne sich die Welt in ihrem Inneren an und löse sich wieder.

Dann öffnete sie die Tür und sah vor sich das Kopfsteinpflaster der schmalen Gasse in Venedig liegen, ruhig und dunkel und glänzend vom Regen.

Venedig

Cassies Hirn machte einen Rückwärtssalto und ihr stand ungläubig der Mund offen. Dann fragte sie sich, ob sie es mit einer optischen Täuschung zu tun hatte.

Dort, wo sich der Wohnungsflur befinden sollte, eröffnete sich ihr eine ganze Welt. Sie spürte die kühle Luft und die Feuchtigkeit und den frischen Duft einer anderen Gegend. Es war dunkel, aber nicht so dunkel wie im verschneiten New York.

Direkt vor ihr ging in der Bäckerei, in der sie damals so oft gewesen war, das Licht an und riss ein Loch in die nieselige Nacht. Drinnen ging ein Mann umher, eine verschwommene Gestalt hinter der regennassen Schaufensterscheibe, und Cassie wurde klar, dass sie hier kein Bild sah, sondern die Realität!

»O mein Gott«, sagte sie verblüfft.

»Rein oder raus, Süße?«, fragte Izzy, in einer Welt, die noch Sinn ergab. »Mach die Tür zu, es zieht ganz fürchterlich.«

»Izzy«, sagte Cassie und hörte ihre eigene Stimme wie aus weiter Ferne. »Komm mal her.«

In einer venezianischen Bäckerei, die eigentlich gar nicht hätte da sein sollen, zog der Mann hinter der Glasscheibe jetzt einen dunklen Mantel aus und verschwand weiter hinten im Laden durch eine Tür, um ihn aufzuhängen.

»Komm mal her, Izzy«, wiederholte Cassie gepresst.

»Was gibt’s denn?«, fragte Izzy. »Shit, haben wir etwa wieder Ratten?«

Cassie erwiderte nichts. Sie kniff die Augen zusammen, zählte bis drei und öffnete sie wieder. Die Gasse war immer noch da. Der Regen, das Kopfsteinpflaster, der Mann in der Bäckerei. Cassie sah jetzt, dass der Himmel nicht völlig dunkel war – es dämmerte –, und eine sachliche Stimme in ihrem Hinterkopf sagte: Klar, in Italien ist es sechs Stunden später als in New York. Da ist es jetzt früh am Morgen.

Dann stand Izzy neben ihr. Cassie wandte den Kopf und sah, dass Izzy entgeistert die Augen aufriss.

»Ist das ein Schlaganfall?«, fragte Izzy mit monotoner Stimme. »Scheiße, Cassie, bin ich high?«

»Das … kann … nicht … sein«, sagte Cassie langsam, ohne Izzys Frage zu beantworten. »Das ist unmöglich.«

»Was zum Teufel ist das?«, keuchte Izzy.

»Venedig!«, rief Cassie. »Die Straße, von der ich dir gerade erzählt habe!«

»Und was macht diese Straße hier in meiner Wohnung?«, fragte Izzy. Sie war kurz davor, hysterisch zu werden. »Ich muss pinkeln! Wo ist die Toilette?«

Cassie ließ die Türklinke los und streckte die Hand aus. Izzy packte ihre Freundin am Arm.

»Was machst du denn da?«

»Wie?«, erwiderte Cassie.

Izzy ließ sie los und beide sahen zu, wie Cassie die Hand über die Türschwelle streckte. Sie spürte eine sanfte Brise, den zarten Kuss der Regentropfen. Sie bewegte die Finger, drehte die Handfläche nach oben. Sie kicherte, ungläubig und entzückt zugleich, und zog ihre Hand wieder ins Zimmer zurück. Sie und Izzy inspizierten die Hand genau.

»Regen«, sagte Cassie und betrachtete die Tropfen auf ihrer Haut. »Ich habe den Wind gespürt«, fügte sie lächelnd hinzu und sah wieder durch die Tür.

Es war unglaublich. Ein anderer Ort, eine Stadt in einem Land jenseits des Ozeans lag direkt vor ihrer Türschwelle. Cassie dachte gründlich darüber nach.

»Was meinst du?«, fragte Izzy.

»Meine Hand war in Venedig«, antwortete Cassie. »Mein Körper war in New York, aber meine Hand war in Venedig.«

Izzy schwieg verblüfft.

»Wie kann das sein?«, flüsterte Cassie vor sich hin.

Schweigend starrten sie durch die Tür. Sie konnten den Blick nicht mehr abwenden. Auf der anderen Straßenseite entdeckten sie jetzt eine zweite Person in der Bäckerei. Von den beiden waren durch das regennasse Fenster nur die Silhouetten zu erkennen.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Izzy, und Cassie erlebte zum ersten Mal, dass ihre sonst so selbstbewusste Freundin unsicher klang.

»Ich möchte da hin«, murmelte Cassie.

»Wohin?«

»Nach Venedig«, erwiderte Cassie und deutete auf die Gasse. War es nicht klar, dass sie dort hinwollte? Es war ein weit entfernter Ort, ein Ort, den sie liebte und der jetzt direkt vor ihnen lag.

»Wir können doch nicht nach Venedig!«, rief Izzy. »Ich bin schon im Schlafanzug. Und du … Keine Ahnung, was du da trägst, aber du hast auch keine Schuhe an!«

»Ich muss wissen, ob das hier echt ist«, sagte Cassie, die Izzys Protest kaum gehört hatte. Es sah real aus. Und es fühlte sich real an. »Streck mal die Hand aus, Izzy.«

Argwöhnisch betrachtete Izzy die Welt auf der anderen Seite der Türschwelle.

»Bitte!«, bat Cassie. »Ich möchte sichergehen, dass ich mir das nicht nur einbilde.«

Izzy bekreuzigte sich – was Cassie erst ein einziges Mal bei ihr beobachtet hatte, als vor vielen Jahren ein Fußgänger von einem Auto überfahren worden war – und streckte dann die Hand aus. Ihre Finger gingen über die Schwelle, und Izzy kniff die Augen zusammen, als erwarte sie, dass es wehtun würde. Und dann schwebte ihre Hand in dieser Gasse, die eigentlich gar nicht hierhergehörte, und Cassie presste besorgt die Hand auf den Mund. Sie wollte, dass es wahr war. Sie wollte glauben, dass so ein Wunder geschehen konnte.

Jetzt hörte sie Izzy ungläubig lachen. »Es ist kühl«, sagte sie. »Ich spüre die Luft.«

»Ja«, bestätigte Cassie, glücklich, dass Izzy es auch fühlte und dass es tatsächlich Wirklichkeit war. »Und den Regen?«

»Ja, auch den Regen.« Sie bewegte die Finger, genau wie Cassie zuvor, und zog ihre Hand dann in die Wohnung zurück, wo sie sie kopfschüttelnd inspizierte.

Cassie wollte durch die Tür treten. Sie wollte nach Venedig. Was sie vor sich sah, machte ihr keine Angst; es gab auch keinen Grund, Angst zu haben, nur Grund zum Staunen.

»Bleib da«, sagte Izzy, als könnte sie Cassies Gedanken lesen. »Was ist, wenn du nicht mehr zurückkannst? Wenn du strumpfsockig in Venedig im Regen stecken bleibst und nicht mehr zurückkannst?«

Cassie zögerte, Izzys Warnung bremste ihren Überschwang.

»Ich mache ein Bild!«, schlug Izzy vor. Sie zog ihr Handy aus der Pyjamatasche und fotografierte die Tür und die dahinterliegende Gasse. Dann trat sie einen Schritt zurück und machte weitere Fotos von Cassie, wie sie vor der Tür stand. »Lächeln!«, sagte Izzy.

Cassie lächelte geistesabwesend. Sie wollte nur durch diese Tür treten. Das war ihr innigster Wunsch.

»Warte mal. Ich mach noch ein Video«, rief Izzy. »Wink doch mal oder so was.«

Cassie hob die freie Hand und deutete auf die Tür.

»Sieht wie Venedig aus«, sagte sie. »Wo unser Flur sein sollte.« Sie lachte leicht überdreht. »Es ist verrückt!«

»Streck die Hand wieder rein!«, wies Izzy sie an.

Cassie beugte sich vor, um die Hand durch den Türrahmen zu stecken, trat dann einen Schritt vor und steckte auch den Kopf durch.

»Cassie!«, rief Izzy.

Cassie spürte, wie Izzy sie packte und zurückzog.

»Es ist tatsächlich real«, sagte Cassie. »Ich kann es einfach nicht glauben.«

»Das reicht jetzt, ich dreh gleich durch!«

Und bevor Cassie reagieren konnte, schlug Izzy die Tür zu. Schweigend starrten sie auf das im Rahmen vibrierende Türblatt, dann sah Izzy Cassie fragend an. Als sie nickte, öffnete Izzy die Tür erneut, hinter der man nur noch den viel zu engen Flur sah, die Türen zum Bad und zu den beiden Zimmern und am Eingang ihre Mäntel und Schuhe. Cassie, die vor Anspannung die Luft angehalten hatte, atmete aus, überwältigt von Erleichterung und Enttäuschung.

Sofort checkte Izzy ihr Smartphone. Cassie drängte sich so dicht an sie, dass ihre Köpfe fast zusammenstießen, und beide starrten gebannt auf das Display: die Fotos, die Izzy aufgenommen hatte, das Video von Cassie, wie sie an der Tür stand und sich dann hineinbeugte – oder heraus? –, bis man Izzys Aufschrei hörte und das Video abbrach.

»Wie ist das möglich?«, fragte Izzy verdattert.

Cassie stemmte die Hände in die Hüften und merkte dabei, dass sie immer noch Mr. Webbers Buch festhielt und dass sie es während der wunderbaren Entdeckung Venedigs in ihrem Flur die ganze Zeit umklammert hatte. Sie hob es hoch und fuhr mit dem Daumen über den braunen Ledereinband. Ihr fiel auf, dass sich das Buch in ihrer Hand jetzt warm anfühlte. Es war auch schwerer als vorhin, als sie es in der Buchhandlung vom Tisch genommen hatte.

»Es ist das Buch«, sagte sie, während sie es nochmals eingehend untersuchte. Es fühlte sich nicht nur schwerer an, sondern auch kompakter, als hätte die Zahl der Seiten zwischen den Buchdeckeln zugenommen.

»Hä?«, machte Izzy.

»Es ist das Buch«, wiederholte Cassie. Dann setzte sie sich, griff nach ihrer immer noch vollen Weintasse und leerte sie auf einen Zug.

»Wie meinst du das? Es ist das Buch?«, fragte Izzy.

»Das Buch der tausend Türen«, sagte Cassie, schlug die erste Seite auf und las, was dort stand, oberhalb von Mr. Webbers Widmung. »Jede Tür ist jede Tür. Ich habe doch vorhin an die Gasse gedacht, und an die Tür des Hotels, in dem ich damals gewohnt habe«, sagte Cassie. »Ich habe das Buch in der Hand gehalten und daran gedacht, und plötzlich fühlte ich mich …« Sie erschauerte.

»Wie denn?«, erkundigte sich Izzy.

»Seltsam. Dann habe ich die Tür aufgemacht, und da war Venedig. Genau das Venedig, an das ich gerade gedacht hatte.« In Cassie dämmerte Verwunderung wie der allerschönste Sonnenaufgang, den sie je erlebt hatte. Konnte es sein …?

Izzy starrte sie an, als müsse sie das erst mal sacken lassen. Dann fragte sie: »Hast du den Verstand verloren? Glaubst du im Ernst, ein Buch könnte all das bewirkt haben?«

Cassie zuckte die Achseln, und Izzy fühlte sich durch ihre Miene zu weiteren Ausführungen bemüßigt.

»Ich weiß, dass du Bücher magst, Cass, aber magische Bücher, die dich in andere Welten befördern?«

»Das Buch der tausend Türen«, sagte Cassie und freute sich am Klang dieser Worte. Sie schlug das Buch erneut auf, blätterte darin und legte den Finger auf eine beliebige Seite. Es war zufällig die mit der Zeichnung der Tür, des dunklen Zimmers und des Fensters, aus dem sie früher am Abend Blumen im Sonnenschein gesehen hatte. Aber jetzt war da kein Fenster mehr. Jetzt sah Cassie durch den gezeichneten Türrahmen eine Gasse mit Kopfsteinpflaster und das Schaufenster einer Bäckerei. Es war die Gasse, auf die sie gerade geblickt hatte. Cassie starrte ungläubig auf die Seite. Sie blätterte weiter, um das Bild mit den Blumen zu finden, aber es war verschwunden.

»Das Buch hat sich verändert«, murmelte sie ganz aufgeregt. Noch eine Entdeckung, noch so ein Ding der Unmöglichkeit! Es war fast so, als sei das Buch lebendig oder kommuniziere mit ihr. »Schau mal«, sagte sie zu Izzy, hielt ihr das Buch hin und merkte, dass sie kurz davorstand, hysterisch zu werden. »Schau dir dieses Bild an! Das war vorher ein anderes! Jetzt sieht es aus wie diese Gasse in Venedig!«

Izzy nahm das Buch und starrte auf die Seite.

»Das ist doch diese Gasse, oder nicht?«, fragte Cassie, weil sie von Izzy eine Bestätigung dessen brauchte, was sie hier sah.

»Kann sein«, meinte Izzy zögerlich, als scheue sie sich, etwas zuzugeben, das eigentlich unmöglich war.

»Komm schon«, drängte Cassie, nahm das Buch wieder an sich und betrachtete das Bild erneut. »Es ist definitiv diese Gasse. Aber vorhin war ein anderes Bild auf dieser Seite. Sie hat sich verändert.«

Cassie war schwindelig, ihr Bauch kribbelte vor Aufregung. »Ist das Magie?«

»Ein magisches Buch?«, meinte Izzy mit skeptisch hochgezogener Augenbraue.

»Warum denn nicht?«, fragte Cassie. »Du hast doch gesehen, was gerade passiert ist!«

»Wenn du dir so sicher bist, dass es das Buch war, dann mach es doch noch mal.« Izzy schloss die Tür zum Flur und deutete darauf. »Na los, lass etwas anderes erscheinen.«

Cassie dachte kurz nach und merkte, dass sie sich genau das wünschte. Sie wollte diese Tür noch einmal öffnen, zu einem anderen Ort hin.

Sie wollte dieses seltsame, wunderbare Buch benutzen.

Es reizte sie, weil ihr hier etwas Überraschendes geboten wurde, in einer Welt, die sonst wenig Überraschungen bereithielt.

»Du gehst erst mal aufs Klo«, sagte Cassie. »Und dann holen wir unsere Mäntel.«

Magische Mitternachtstour durch Manhattan

»Wo willst du hin?«, fragte Cassie. Sie stand vor der Tür, und ihr Magen schlug Purzelbäume. Izzy war auf der Toilette gewesen und hatte sich angezogen. Sie beide trugen jetzt Mantel und Schuhe, und Cassie hielt Das Buch der tausend Türen in der Hand.

Izzy zuckte die Achseln. »Nicht Italien«, sagte sie. »Lieber irgendwohin, von wo aus wir heimlaufen können, falls wir hängen bleiben.«

»Gut«, sagte Cassie. Sie dachte an die Buchhandlung, weil das ihr Lieblingsort war, aber dann schlug Izzy etwas Besseres vor.

»Ich habe eine Idee«, sagte sie. »Die Rooftop-Bar des Library Hotels. Erinnerst du dich?«

Natürlich erinnerte Cassie sich. Als sie noch gemeinsam bei Kellner’s gearbeitet hatten, waren sie nach der Arbeit gerne auf einen Drink ins Library Hotel gegangen. Das taten sie zwar immer noch gelegentlich, aber nicht mehr so häufig wie früher. Izzy gefiel es, weil man dort, umgeben von den Hochhaustürmen Midtown Manhattans, im Freien sitzen und bei teuren Cocktails die reichen jungen Menschen beim Socializing beobachten konnte. Cassie wiederum hatte die tolle Aussicht geliebt, die Gelegenheit, auf sämtliche Fenster Manhattans zu blicken.

»Ja«, sagte sie. »Gute Idee.«

»Such du dir aber auch was aus«, meinte Izzy. »Wir gehen erst zu meinem Ort und dann zu deinem!«

Cassie lächelte, weil ihr die Idee gefiel. »So was wie eine magische Mitternachtstour durch Manhattan?«

»Fantastisch!«, rief Izzy mit leuchtenden Augen.

»Also dann«, sagte Cassie und stellte sich wieder vor die Tür zum Flur. »Die Bar im Library Hotel.«

Sie stellte sich die Hotelbar vor, die Tür, die auf die Dachterrasse hinausführte, und hielt dabei Das Buch der tausend Türen fest umklammert. Dann nickte sie entschlossen, streckte die Hand aus, zog die Tür auf … und sah nur den Flur.

»Shit.«

»Was ist passiert?«, fragte Izzy. »Was ist schiefgegangen?«

»Keine Ahnung!«

»Was hast du denn letztes Mal gemacht? Mach das doch noch mal. Aber nicht mit Venedig.«

Ihre Blicke trafen sich.

»Das ist bestimmt leichter«, meinte Izzy. »Ist ja nur ein paar Kilometer entfernt. Und Venedig liegt auf der anderen Seite des Atlantiks!«

»Möchtest du es versuchen?«, schlug Cassie vor und hielt Izzy Das Buch der tausend Türen hin.

»Uh-uh«, meinte Izzy und wich zurück.

Cassie seufzte. Sie schloss die Tür erneut und versuchte, ruhig zu atmen. Warum hatte sie solches Herzrasen? Sie versuchte sich zu erinnern, was sie beim ersten Mal gemacht hatte.

Sie hatte an Venedig gedacht. An die Straße, die Bäckerei. Die Tür. Sie hatte sich an diese Tür in Venedig erinnert – nein, nicht nur erinnert, sie hatte sie visualisiert. Und dann hatte sie dieses komische Gefühl überkommen …

Sie schloss die Augen und dachte an die Tür, die auf die Dachterrasse des Library Hotels führte: eine Glastür, die sich kalt anfühlte, auf der Außenseite verschmutzt. Sie visualisierte, wie sie nach der Türklinke griff.

Dann spürte sie wieder diesen prickelnden, komischen Druck, der durch ihren ganzen Körper ging, und plötzlich rief ein neutraler Teil ihres Bewusstseins: Es hat funktioniert.

»Schau nur!«, keuchte Izzy.

Cassie öffnete die Augen und blickte auf das Buch hinunter. Wieder lag es schwer in ihrer Hand, aber jetzt sah sie, dass noch etwas anderes passierte. Ein Leuchten umgab das Buch, eine Aura, etwas wie ein immaterieller Schatten, aber herrlich bunt wie ein Regenbogen. Cassie bewegte das Buch vor und zurück, und die Regenbogen-Aura folgte der Bewegung und schwebte träge in der Luft.

»Es leuchtet!«, sagte Izzy.

Cassie wandte den Blick zur Tür. Sie griff nach der Klinke und zog.

Aber die Tür bewegte sich nicht.

»Hä?«, murmelte sie überrascht.

»Was ist jetzt schon wieder los?«, fragte Izzy.

»Die Tür geht nicht auf.«

Cassie blickte auf das Buch in ihrer Hand. Es war immer noch von dieser seltsamen bunten Aura umgeben. Es war immer noch schwer. Irgendetwas passierte gerade.

Wieder blickte sie zur Tür und zog zwei- oder dreimal heftig an der Klinke, um die Tür nach innen zu öffnen.

»Sie geht einfach nicht auf«, murmelte sie.

Kurz darauf sagte Izzy: »Die Tür der Bar öffnet sich nach draußen, oder?«

Cassie war sofort klar, dass Izzy recht hatte. Die Tür – ihre normale Tür zum Flur – ging nach innen auf, genau wie die Tür in Venedig. Aber wenn sie im Library Hotel auf die Dachterrasse wollten, mussten sie die Tür nach außen aufdrücken.

»Das gibt’s doch nicht«, murmelte Cassie verblüfft. Ihre Tür hatte sich verändert und bewegte sich jetzt in eine Richtung, die normalerweise unmöglich war. Als Cassie dagegendrückte, schwang die Tür auf. Kalte Luft strömte herein und traf Cassie und Izzy wie zwei Hunde, die aufgeregt auf ihren Spaziergang warteten. Die Aura um das Buch herum verblasste allmählich, wurde vom Wind weggeweht, bis das Buch wieder leichter in ihrer Hand lag.

Sie sah Izzy an.

»Komm!«, sagte Izzy, und dann stolperten sie kichernd wie Kinder auf die Dachterrasse des Library Hotels.

Der Schnee wirbelte vor dem Nachthimmel, und die Lichter der Stadt waren kaum zu erkennen. Die riesigen Gebäude, die das Library Hotel umgaben, glichen stumm blickenden Riesen.

Izzy führte Cassie zu einer Bank am anderen Ende der Dachterrasse und öffnete einen der riesigen Sonnenschirme zum Schutz gegen den Schneesturm. Außer ihnen befand sich nur noch ein Mann auf der Terrasse, der mit seinem Drink an einem Tisch auf der anderen Seite saß. »Ob wir uns was zu trinken bestellen können?«, fragte Izzy und spähte durchs Fenster in die Bar hinein. Gleich hinter der Glasscheibe saß ein Pianist, und der Klang seiner Musik schwebte in die Nacht hinaus und tanzte mit den wirbelnden Flocken.

»Das ist unglaublich.« Cassie schüttelte staunend den Kopf. Wie war es möglich, dass sie quer durch die Stadt gereist waren? Sie blickte auf das schlichte braune Notizbuch in ihrer Hand und merkte, wie sehr sie es bereits liebte. Es war einfach so in ihr Leben gekommen und wirkte Wunder.

»Es ist zwar eiskalt hier, aber egal«, sagte Izzy und lachte in den Sturm hinaus. »Wir sind im Library Hotel!«

»Ich weiß«, rief Cassie und zog Izzy unter dem Schutz des Schirms hervor. »Komm mit!«

Sie lehnten sich an die Balustrade, um in die Schlucht der Madison Avenue hinunterzuschauen. Es war eine arktische Welt dort unten, wo sich rasch immer mehr Schnee aufhäufte und das Licht der Straßenlaternen und Scheinwerfer im Gestöber milchig verschwamm. Ein paar Abenteuerlustige stapften mit gesenktem Kopf und hochgezogener Kapuze durch den Sturm. Hinter ihnen in der Bar beendete der Pianist ein langsames Stück und begann etwas Rascheres, die Jazzversion irgendeines Big-Band-Klassikers, der Cassie bekannt vorkam.

»Nimm meine Hand«, verlangte Izzy grinsend.

»Was?«, fragte Cassie und blickte ihre Freundin an, die Augen gegen das Schneetreiben zusammengekniffen.

»Tanz mit mir, Cassie!«, meinte Izzy.

»Du bist ja beschwipst!«

»Genau!«

Izzy zog Cassie an sich, und eine Minute lang tanzten sie unter dem kalten Nachthimmel zu den Klängen aus der Bar.

»Das ist ja verrückt«, sagte Cassie, als sie beide auf die Stühle unter dem Schirm sanken und sich den Schnee von den Gesichtern wischten.

»Ich glaube immer noch, ich träume«, sagte Izzy. »Haben wir gerade im Himmel getanzt?«

»Eine Verrückte hat mich gepackt und zum Foxtrott gezwungen«, stimmte Cassie zu.

Izzy beobachtete lächelnd das Schneetreiben und schüttelte den Kopf. Hinter ihnen beendete der Pianist sein Stück und ging wieder zu etwas Langsamerem über, das besser zu der späten Abendstunde in einer New Yorker Bar passte.

»Überleg nur, was du mit dieser Fähigkeit alles anfangen könntest«, sagte Izzy nach einer Weile. »Wenn du hinkannst, wo immer du willst.«

Cassie dachte nach.

»Du musst nie mehr mit der U-Bahn zur Arbeit fahren«, schlug Izzy vor. »Du kannst von deinem Zimmer aus direkt in die Buchhandlung spazieren.«

Bei dem Gedanken musste Cassie lächeln. »Manchmal gefällt mir die Fahrt zur Arbeit ganz gut. Allerdings nicht, wenn es so kalt ist wie heute.«

»Kälte ist das Schlimmste«, stimmte Izzy zu. Sie sah über die Schulter zur Bar. »Ich hätte wirklich gern einen Drink.«

Cassie spielte in Gedanken immer noch all die Möglichkeiten durch. »Ich muss nie mehr eine öffentliche Toilette benutzen.«

»Stimmt!«, rief Izzy. »Wäre das nicht klasse? Nie mehr freischwebend pinkeln zu müssen!«

»Ich kann jederzeit zu Hause aufs Klo gehen«, sagte Cassie.

»Aber was ist, wenn ich gerade auf dem Klo bin?«, fragte Izzy. »Was ist, wenn du reinkommst, während ich pinkle?«

»Als ob ich das noch nie mitbekommen hätte! Du lässt doch sowieso die Tür offen.«

»Es ist ein Riesenglück, dass dieses Buch bei dir gelandet ist«, befand Izzy und schmiegte sich enger an Cassie, weil ihr so kalt war. »Ich meine, überleg mal, was ein weniger guter Mensch mit dem Buch alles anstellen könnte.«

Cassie schwieg, weil sie sich mit solchen Gedanken nicht befassen wollte. Sie wollte sich keine Sorgen machen, sondern mit den Möglichkeiten spielen, die sich ihr durch dieses faszinierende Geschenk boten.

»Stell dir mal vor, irgendein Geistesgestörter kann ungehindert zu jeder Frau ins Schlafzimmer«, sagte Izzy.

»Ja«, erwiderte Cassie.

»Du könntest in ein anderes Land reisen, ein Verbrechen begehen und wieder herkommen, und niemand wüsste, dass du je dort warst. Selbst wenn man dich verdächtigen würde, hättest du das perfekte Alibi, weil du ja in einem anderen Land gewesen bist.«

Cassie nickte, sagte aber nichts.

»Ein Dieb«, fuhr Izzy fort, »könnte in jeden Safe rein und wieder raus. Er müsste nicht mal mehr einbrechen. Er müsste die Bank oder den Juwelierladen nicht mal mehr betreten. Du könntest die Safetür öffnen und dich bedienen. Nichts wäre mehr vor dir sicher.«

»Okay«, sagte Cassie mürrisch. »Könnten wir bitte aufhören, all die schlimmen Dinge aufzulisten, die man mit dem Buch anstellen könnte? Das hier ist eine unglaubliche Erfahrung, Izzy. Es ist das Beste, was mir je passiert ist. Ein magisches Buch, das mich hinbringt, wo ich will. Mach mir das nicht kaputt.«

Izzy hob entschuldigend die Hände.

Einen Moment lang saßen sie schweigend da, dann wurde Cassie ungeduldig. Sie wollte weitere Orte erkunden.

»Sollen wir woanders hin?«

»In Ordnung«, erwiderte Izzy. »Irgendwohin, wo es wärmer ist.«