Das Buch des Kurfürsten - Marlene Klaus - E-Book

Das Buch des Kurfürsten E-Book

Marlene Klaus

4,3

Beschreibung

Heidelberg, November 1595. Hedwig und Philipp Eichhorn leben mit ihrem Kind in der Residenzstadt. Sie arbeitet als Magd, er als Knecht in der kurfürstlichen Kanzlei. Ihr junges Glück wird brutal zerstört, als man Hedwig und das Kind entführt. Die Entführer erpressen Philipp, er soll ein Buch, das den Besitz der kurfürstlichen Gefolgsleute auflistet, aus der Kanzlei stehlen. Hedwig, die in einer Hütte außerhalb Heidelbergs festgehalten wird, fürchtet um ihr Leben und das ihrer Tochter. Aber auch Philipp ist in Gefahr. Immer enger zieht sich das Netz der Verschwörer um die Eheleute. Doch ihr Mut und ihre Liebe lässt sie nicht im Stich.

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DAS BUCH DESKURFÜRSTEN

Historischer Roman

von

Marlene Klaus

Für Tone,

wo immer du sein magst.

Ich hoffe,

du singst und trommelst

noch immer.

Und für Kutira,

deine visionäre Kraft

schürte den Mut

zum Anfangen.

Martini 1595

Eins

Der Schnee kam früh in diesem Jahr.

Hedwig erlaubte sich, einen Augenblick innezuhalten und sah aus dem Fenster. Es schneite große Flocken. Zielsicher strömten sie zu Boden, stetig und eilig wie die Vorüberhastenden unten auf der dämmrigen Hauptstraße. Ein weißer Flaum legte sich auf Baretts und Schauben, auf Simse und Dächer Heidelbergs.

Wie sie es liebte, so weit über allem zu stehen und hinunterzuschauen. Dabei befand sie sich erst im zweiten Obergeschoss des großen Hauses. Drei Stockwerke gab es noch über diesem. Gleichwohl, sie sollte mit ihrer Arbeit fortfahren. Sie warf einen letzten Blick hinunter, sah vereinzelt Laternenlichter huschen, da zuckte sie jäh zusammen und trat einen Schritt vom Fenster zurück.

Da war er wieder! Nicht mehr als ein Schemen im treibenden Schnee. Oder täuschte sie sich? Nein, drüben harrte er reglos in einer Mauernische der Heiliggeistkirche. Eingehüllt in einen dunklen Umhang, die schneebedeckte Kapuze tief ins Gesicht gezogen, nicht anders als die meisten Menschen in dieser Jahreszeit, dennoch auf besondere Weise eigentümlich, ohne dass sie hätte sagen können, woran das lag. Sie meinte, ihn schon öfter gesehen zu haben, und er war ihr unheimlich. Er war wie unsichtbar und doch da.

Was wollte er? Spähte er das Haus ihrer Herrschaft aus? Hedwig sah sich in dem großen Wohnraum um. Alles hier war so wunderbar gestaltet und kostbar. Wollte er die Beliers ausrauben? Sollte sie Herrn Belier ihre Beobachtung mitteilen? Sie schaute noch einmal hinunter – er war weg! Vielleicht hatte er auf jemanden gewartet? Ach, sicher täuschte sie sich. Heidelberg quoll ja über von Menschen aller Art. Sie durfte nicht so misstrauisch sein. Zudem war das Haus ihrer Herrschaft stattlich und sicher. Sämtliche Türeinfassungen waren nicht nur aus Stein, sondern auch mit rankendem Grün ummalt. Im gesamten Haus roch es auch drei Jahre nach dem Neubau noch immer nach frischem Holz, Stein und Farbe. Es war prachtvoll! Abermals spürte sie Stolz. Sie hätte Philipp wieder und wieder dafür küssen mögen, dass er ihr diese Anstellung verschafft hatte. Bereits vor einem Jahr hatte er beim Tuchhändler Belier vorgesprochen und um eine Stellung für sein zukünftiges Weib gebeten. Mit einem Empfehlungsschreiben seiner kurfürstlichen Gnaden, denn es war unüblich für eine verheiratete Hausfrau, als Magd zu arbeiten. Kurz vor ihrer Hochzeit im vergangenen Februar war sie dann mit ihrem Vater hier gewesen, um die Anstellung fest zu verabreden. Denn da hatte auch er längst begriffen, dass nichts sie und Philipp davon abbringen würde, sich an ihrem sechzehnten Geburtstag zu vermählen. Sie hatten Ziele. Ebenso sehr wie Philipp sich gewünscht hatte, Knecht in der kurfürstlichen Kanzlei zu sein, war es ihr Wunsch gewesen, in einem guten Haus in Heidelberg Arbeit zu finden. Sie würden ihr Leben gemeinsam aufbauen. Eines Tages ein Gärtchen besitzen, Ziegen, Gänse. Da musste man gut zusammen wirtschaften. Dafür hatte sie ihre anfängliche Unsicherheit wegen ihrer Herrschaft in Kauf genommen. Beliers waren Wallonen. Inzwischen wusste sie: Sie hätte es nicht besser treffen können. Fremde hin oder her, Beliers waren nicht nur wohlhabend, sondern auch wohlwollend und großmütig. Als sie vor vier Monaten mit ihrer Tochter Juli niedergekommen war, durfte sie nicht nur die üblichen sechs Wochen zu Hause bleiben, sondern sieben. Und ihre Herrschaft hatte nichts dagegen gehabt, dass sie ihr Töchterchen mit hierher brachte, solange sie in der Küche unter der Aufsicht der Köchin schlief und Hedwig nicht an ihrer Pflichterfüllung hinderte. Ja, in diesem Hause wehte ein angenehmer Geist. Beliers waren vor vielen Jahren des Glaubens wegen aus Tournai weggegangen und zunächst nach Frankfurt gezogen, bevor sie sich in Heidelberg niederließen. Mit Unterstützung des jungen Kurfürsten, wie Madame immer wieder betonte. Die Familie stand gut mit dem Hof. Dass der Herr Tuchhändler da nicht Nein sagte, als der Kanzleiverwandte Philipp Eichhorn mit einem Empfehlungsschreiben von Kurfürst Friedrich um eine Stellung für sein Eheweib bat, lag auf der Hand. Seine Teller füllten sich nicht zuletzt durch Bestellungen kostbarer Tuche, wenn die Hofkleidung der kurfürstlichen Kammerjungen und Lakaien oder die Röcke der Trabanten und Soldaten neu gefertigt werden sollten. Kurfürst Friedrich war den Beliers teuer – verständlicherweise. Und so hatte Hedwig vor neun Monaten, kurz nach ihrer Hochzeit, ihre Stellung als Magd angetreten. Ach, es war, wie sie und Philipp es sich gewünscht hatten.

Trompetenschall ließ Hedwig zusammenschrecken. Der Turmbläser. Vier Uhr. Es dunkelte bereits. Die Glocken von Heiliggeist ertönten, kündeten vom Schließen der Stadttore, läuteten den Abend ein. Hedwig warf einen Blick durch den behaglichen Raum. Ja, alles war gerichtet, alles an seinem Platz.

Hedwig strich im Hinausgehen über den Samtbezug eines Sessels. Es war angenehm, in einem solchen Sessel zu sitzen, zweimal hatte sie nicht widerstehen können und es ausprobiert. Sie betrat das Zimmer, das zur rückwärtigen Seite auf den Hof hinausging. In diesem Raum standen zierliche Tische und Stühle, man spielte abends Schach oder Karten an ihnen. Von hier aus gelangte man in den Vorraum, in dem es den Kamin gab. Hedwig hatte diesen, sowie jenen im darunterliegenden Stockwerk, vor zwei Stunden entzündet, sie musste nun nachlegen und das Feuer im Auge behalten. Sie ging in die Hocke, um die Holzscheite mit dem Schürhaken zurechtzuschieben, als sie auf der Wendeltreppe hinter sich im Treppenturm Schritte vernahm. Sie verharrte. Dann erkannte sie am Klirren des Schlüsselbunds Madame Belier. Ihre Röcke raschelten über die Steinstufen, Hedwig erhob sich und drehte sich um. Madame stand in der Tür zum Vorraum.

„Sind alle Fenster geschlossen?“

„Ja, Herrin.“

„Das Wasser für die Fußwäsche gerichtet und die Nachttöpfe verteilt?“

„Ja, Madame Belier.“

Das abendliche Abfragen, bevor sie nach Hause gehen konnte, war Hedwig inzwischen so vertraut wie das Wippen von Madames großen rotblonden Locken, wenn sie nickte. Munter umschaukelte Frau Beliers Haar ihr Doppelkinn und die Halskrause. „Lege zwei Scheite nach, dann gehe hinunter. Herr Belier wird die Löhne vor dem Abendgebet auszahlen.“

Martinstag! Ihr erster Lohn! Da sie noch kein volles Jahr bei Beliers arbeitete, bekam sie heute nur vier statt fünf Gulden. Doch die würde sie Philipp später am Abend stolz vorzählen. Ihm die zehn Ellen Tuch unterbreiten, das Paar Schuhe, das erste von dreien, das einen Teil ihres Lohnes ausmachte. Sie freute sich schon jetzt auf sein Lächeln. Sie würde sich auf seinen Schoß setzen und ihm sagen, er könne künftig darauf verzichten, sie wegen jeder kleinen Ausgabe zu tadeln – sie verdiente jetzt schließlich ihr eigenes Geld. Wie griesgrämig er manchmal sein konnte. Tand nannte er die kleinen Dinge, die sie erwarb, schalt sie verschwendungssüchtig. Dabei war sie das keinesfalls! Aber in der Stadt gab es so viel Verlockendes zu sehen. Beutler, Nestler, Krämer, Gürtler, Goldschmiede – das alles kannte sie von ihrem Heimatdorf Reilingen nicht. Und sie kaufte manches doch nur, um ihre Wohnung behaglich zu gestalten. Einen tönernen Kerzenständer etwa, obwohl sie kaum Kerzen benutzten, denn die waren teuer. Ein farbenfrohes Tuch, um Juli darin einzuwickeln. Es gefiel ihr, und sie tat es doch für ihre kleine Familie. Wenn sie ihm dies vorhielt, grummelte er meist noch ein wenig – und beruhigte sich wieder.

Madame Belier zog sich in den großen Wohnraum zurück, ihr faltig gereihter Rock schwang und schabte am Türrahmen. Hedwig legte Holz nach und betrat schließlich den kleinen turmartigen Anbau mit der Wendeltreppe, die alle Stockwerke bis zum untersten Giebelgeschoss miteinander verband. Sie stieg hinunter, die Hand tastend am Mauerwerk streichend, denn im Turm war es inzwischen dunkel. Sie erreichte das erste Obergeschoss. Der Vorraum war mit Steinfliesen ausgelegt. Er erstreckte sich über die ganze Breite der Hoffront, und Hedwig erkannte am gelblichen Flackern, das durch das Fenster hereinfiel, dass unten im Hof bereits die Fackeln brannten. Auch hier legte sie Holz im Kamin nach, entzündete einen Kienspan an einem brennenden Scheit und hielt ihn an den Docht der großen Hauskerze, die auf einer Gipssäule stand. Zufrieden blickte sie umher. Gleich würden sich die Beliers mit dem Gesinde in diesem schmucken Vorraum versammeln. Herr Belier würde die Löhne auszahlen und das Abendgebet mit den Seinen sprechen. Hier, wo die prunkvollsten Räume der Familie lagen, hier, wo sonst nur Handelsvertreter, Hofangestellte, Geldgeber und Gäste empfangen wurden.

Hedwig überlegte, ob die Zeit wohl noch reichte, um einen Blick auf Juli zu werfen, als sie hastiges Trappeln auf der Wendeltreppe hörte. Unwillkürlich schmunzelte sie. Das konnte nur eine sein. Und richtig, Appel, ebenfalls Magd im Hause Belier, schnellte durch die Tür, ihre kleinen schwarzen Locken wirbelten um ihren Kopf. Sie brachte kalte Luft mit herein. Ihre Miene hellte sich auf, als sie Hedwig sah, die Wangen gerötet vom Laufen und der Erregung. Sie drehte sich um sich selbst, griff nach den Enden ihres wollenen Umhangtuches und schwang es mit ausgestreckten Armen über dem Kopf. Sie lachte und summte. Dann hielt sie inne und blitzte Hedwig mit ihren großen schwarzen Augen an.

Hedwig verschränkte die Arme vor der Brust und unterdrückte das Grinsen.

Appel stapfte trotzig mit dem Fuß auf. „Nun frag schon!“, befahl sie.

Hedwig zog spöttisch die Augenbrauen hoch. „Welcher also?“

Wieder stapfte Appel mit dem Fuß. „Dummes, niederträchtiges Weib! Nicht welcher! Wann!“

„Also gut. Wann triffst du welchen deiner unzähligen Verehrer?“

„Oh du Schändliche! Da eile ich mich, um es dir zu erzählen, bevor du nach Hause gehst, und du, du hast nichts Besseres im Sinn, als mich zu … zu …“

„Zu?“

„Zu beleidigen!“

„Aber Appel! Jeden Tag nennst du mir einen anderen Namen, wie soll ich mir die alle merken?“ Vorsichtshalber duckte sie sich. Und richtig, in gespieltem Zorn ließ Appel das Umhangtuch in Hedwigs Richtung schwingen.

„Ach du!“, schmollte ihre Kollegin.

Hedwig betrachtete sie. Appel war schön. Auch wenn sie selbst mit ihrem dunkelbraunen Haar und den blauen Augen nicht unansehnlich war, so kam sie nicht gegen Appels milchweiße Wangen an und deren schwarze Augen, die Unschuld und Versprechen zugleich waren. Hedwig lächelte. Appel tändelte sowohl mit Bäcker Henrichs Lehrling als auch mit Timotheus, dem vierzehnjährigen Lehrjungen des Hauses Belier. Sogar dem Gesellen Meinrad Lücke machte sie schöne Augen. Und wer wusste, wem sonst noch. Sie setzte sich damit gewitzt über das eine oder andere Gebot des Herrn Belier hinweg. Aber Appel strahlte dabei so viel Leben aus, so viel Schalkhaftigkeit. Hedwig hatte die ein Jahr ältere Kollegin gern. „Nun sag schon“, lachte sie daher.

„Adam hat mich gefragt!“, strahlte Appel.

„Adam?“

„Ach Hedwig, du vergisst ja wirklich alles! Adam! Goldschmied Adelmanns Lehrling!“

„Ach der.“

Appel drehte sich erneut um sich selbst. „Er hat mich gefragt, ob ich übermorgen den Einmarsch des Tataren mit ihm zusammen anschauen will!“ Ein holdseliges Lächeln lag auf ihrem Gesicht.

„So, wie du aussiehst, hast du Ja gesagt, was?“

Appel erwiderte, indem sie den Kopf wie in schüchterner Ablehnung neigte und den Busen vorschob: „Aber selbstverständlich! Was denkst du denn?!“

Hedwig wollte fragen, ob Appel um Erlaubnis gebeten hatte, heute Abend ausgehen zu dürfen, als Schritte im Treppenturm das Herannahen der anderen Hausmitglieder ankündigten. So raunte sie ihr nur rasch zu: „Dann nimm dich bloß vor den Mahnreden des Paterfamilias in Acht!“ Sie betonte das Wort verschwörerisch. Charles Belier wurde nämlich nicht müde, Appel vorzuhalten, was geziemendes Verhalten sei, und beim täglichen Abendgebet verurteilte er leichtsinnige Reden und Taten und blickte diese dabei besonders streng an. Hedwig wusste dies nur, weil Appel es ihr erzählt hatte. Sie selbst musste nicht mit der Familie Belier beten. Man ging davon aus, dass ihr Eheherr diese Pflicht zu Hause erfüllte und abendlich aus dem Katechismus vorlas.

Herr Belier betrat den Vorraum, gefolgt von Wittib Zwengel, der Kinderfrau, und den Kindern Daniel und Susanna. Zuletzt folgte Margret, die fünfzehnjährige Küchenhilfe.

Charles Belier war ein Mann in seinen besten Jahren. Ein gebildeter, die Schönheit liebender und in edle Stoffe gewandeter Kaufherr mit einer lustigen Färbung in der Sprache, die Hedwig gefiel.

„Liebe ’ausverwandte“, hob er mit seiner ruhigen Stimme an, „bevor wir dem ’errn für geistige Führung danken und seinen göttlichen Schutz vor nächtlichen Übeln erflehen, gebietet die Sitte des ’eutigen Tages, dass ihr für eure Dienste entlohnt werdet.“

Hedwig mochte, wie er die H’s verschluckte. Wenn er mit ihr sprach, hoffte sie, er möge ihren Namen aussprechen und Wörter mit vielen H’s verwenden. Sie fand es erstaunlich, eine fremde Sprache zu beherrschen und bewunderte Familie Belier dafür, dass sie die ihre aufgegeben und das Deutsche gelernt hatten. Sie schnappte einiges an Wörtern in dem Handelshaus auf, in dem Käufer und Freunde aus dem gesamten Reich, aus Italien, England oder Polen ein und aus gingen.

Herr Belier räusperte sich und blickte Hilfe suchend zum Treppenturm. Da das Kommen seines Eheweibs nicht zu hören war, wandte er sich an Hedwig. „’edwig, du bekommst als Erste deinen Lohn. Schicke Frau Spahr ’erauf, sobald du dein Töchter geholt ’ast.“

„Ja, Herr Belier.“

„Und Velten soll sich eilen, sobald er ’inter dir abgeschlossen ’at.“

„Gewiss, Herr Belier.“

Ein seltsamer Augenblick des Schweigens entstand, in dem Hedwig der unheimliche Schemen einfiel und sie sich erneut fragte, ob sie Herrn Belier warnen sollte. Aber wovor eigentlich? Vor einer dunklen Ahnung, die sie beim Anblick eines wartenden Mannes befallen hatte?

Endlich vernahm man Schritte auf der Treppe, hastige von unten, vom Rascheln des Rockes begleitete, und deutlich gemächlichere von oben. Ein freundlicher Wortwechsel, dann betrat Madame Belier den Vorraum, gefolgt von Meinrad Lücke, dem Gesellen, welcher der Hausherrin den Vortritt gelassen und ihr offenbar auch die Kiste abgenommen hatte, die er wie eine Jagdbeute hinter ihr hertrug. Auf seinem gefütterten violetten Wams schmolzen Schneeflocken, er brachte einen kalten Windhauch mit herein. Er stellte die Kiste neben Frau Belier auf dem Boden ab, rieb die Handflächen aneinander, äugte dankbar zum Kamin und reihte sich schließlich bei den Kindern ein. Wie jeden Abend hatte er zusammen mit Velten, dem Knecht, und dem Lehrjungen Timotheus die Läden und Türen in den Verkaufsräumen im Erdgeschoss verschlossen. Das quietschende Klirren, Rasseln und Scheppern war dumpf bis nach oben gedrungen.

Frau Belier stand neben ihrem Eheherrn. Sie sah eindrucksvoll aus in ihrer braunen Schoßjacke mit den gepufften Ärmeln und mit dieser ausladenden Hüfte unter dem Hüftpolster, an der der riesige Schlüsselbund im Kaminfeuerschein glänzte. Sie war füllig, hatte gerötete, volle Wangen und strahlte jene stolze Zufriedenheit aus, die eines erfolgreichen Bürgers Eheweib wohl anstand. Sie öffnete den großen Leinenbeutel, den sie an einer Schnur am Arm getragen hatte.

Es klimperte, als Herr Belier den großen Lederbeutel von seinem Gürtel nahm, um die Gulden herauszuzählen. „’edwig“, sagte er und winkte sie zu sich.

Hedwig trat vor und nahm die Münzen in Empfang. Madame zog ein Paar Halbstiefel aus dem Leinenbeutel und gab sie ihr. Hedwig wurde vor Freude rot. Es waren schöne Stiefel aus Rindsleder, dunkelbraun, und sie hatten einen breiten Schaft. Madame beugte sich hinunter, öffnete die Kiste und entnahm ihr ein Bündel. Wie Hedwig von Appel und Frau Spahr wusste, pflegte Madame Belier die zehn Ellen Tuch in übrig gebliebene Tuchreste zu packen und mit einer Schnur zu umwickeln, sodass sie getragen werden konnten. Das Bündel, das Madame Hedwig reichte, war in wollfarbenes Leinen gewickelt. Letztlich war dies eine Dreingabe, denn aus diesen Resten ließ sich noch immer etwas fertigen, und wenn es eine Windel für Juli war. Hedwig knickste ehrerbietig. „Danke, Herr Belier. Danke, Frau Belier.“

„Gute Nacht, Hedwig, gehab dich wohl.“

Hedwig verabschiedete sich und ging die Stufen hinunter. Um im Dunkeln nicht zu stürzen, musste sie langsamer gehen, als ihr lieb war. Unten angekommen trat sie in den Hofraum, wandte sich nach rechts, wo an den Treppenturm eine Küche aus Stein angebaut war. Lächelnd öffnete sie die Tür und wurde sofort von Wärme und dem Geruch von Holzfeuer und frisch gebackenem Brot empfangen. Und vom freundlichen Lächeln Frau Spahrs. Die Köchin stand am großen Holztisch in der Mitte des niedrigen Raumes und richtete Äpfel, Birnen und Karottenstücke in einer Schale.

„War sie brav?“

„Aber ja, das war sie. Sie ist es immer.“

Hedwig hörte an Frau Spahrs Ton, dass deren Lächeln noch breiter geworden war. Augen indes hatte sie nur für das Weidekörbchen, das links neben dem Herd stand. Im Nu war sie dort und äugte hinein. Wärme kroch ihr vom Bauch in die Brust und weiter hinauf bis in die Wangen. Ihre Tochter!

„Sie schläft, oder?“, fragte Frau Spahr herzlich.

„Ja, das tut sie.“

Hedwig wandte sich zum Tisch und hielt Frau Spahr stolz Stiefel und Bündel hin.

„Fein gearbeitet, da lassen sie sich nicht lumpen“, bemerkte die Köchin anerkennend. Sie deckte die Schale mit den Früchten und die Teller, auf denen sie Brot und Käse für das Nachtmahl der Familie gerichtet hatte, mit einem weißen Leinentuch ab. Während sie sich daranmachte, alles in einen großen Henkelkorb zu packen, sagte sie: „Ist ja heute wieder zugegangen wie im Taubenschlag. Was für ein Haus!“ Sie lachte, und das klang zufrieden. „Lieferung neuer Tuche, das Rumpeln der Fässer, die ausgefrorenen Fuhrleute, die auf einen Becher Würzwein in die Küche kommen. Ich sag dir, fehlte bloß noch unser Fürst höchstselbst.“

Frau Spahrs Stolz, zu einem solchen Haus zu gehören, sprach aus jedem ihrer Worte, und Hedwig, die ihr dies nachempfinden konnte, lächelte sie an. „Ja“, stimmte sie zu, „ein Umtrieb ist das stets.“

„Na, ich bin’s froh, meine müden Knochen bald aufs Lager strecken zu können. Nun spute dich, damit ich nach oben kann.“

Auch Velten wartete, sicher, dass sie käme, um hinter ihr abzuschließen. Sie band die lange weiße Schürze ab und hängte sie an den Haken an der Wand. Dann schälte sie Juli vorsichtig aus dem Körbchen, hüllte sie in das Wolltuch, das an einem weiteren Haken neben ihrem eigenen Mantel hing. Nachdem sie diesen angezogen hatte, hob sie Juli mit Frau Spahrs Hilfe in das Tragetuch und wickelte noch das Schaffell darum. Ihre Tochter auf dem Bauch, das Tuchbündel und die Stiefel in der Hand, verabschiedete sie sich von der Köchin.

„Bis morgen!“, rief diese und schloss die Küchentür hinter ihr.

Hedwig überquerte den großen, fast quadratischen Hof, an dessen östlicher Mauer zwei Fackeln in Halterungen flackerten. Sie bog nach links und betrat das lange, schmale Hofgelände, das zur Straße führte und an dessen Ende sich das Eingangsportal befand. Dort standen Velten und Timotheus und – wer noch? Kurz erschrak sie, ob es sich wohl um den seltsamen Unbekannten handelte. Knecht und Lehrling hatten die Fackeln, die diesen Teil des Hofes erhellten, aus den Halterungen genommen und hielten sie in der Hand. Beide wandten ihr den Rücken zu. Sie kam näher und sah im Fackelschein einen jungen Mann mit schmalem, blassem Gesicht. Er war barhäuptig, hatte kinnlanges schwarzes Haar und war gänzlich in Schwarz gewandet. Zu seinen Füßen lag ein schwarzer Ledersack. In einem seltsamen Singsang sprach er auf die beiden jungen Männer ein, dann bemerkte er Hedwig.

Velten und Timotheus drehten sich zu ihr um, und der Fremde hob den Arm, ein Lächeln huschte über seine hohlen Wangen. Er rief über die Köpfe der beiden vor ihm Stehenden hinweg: „Jungfer, seid gegrüßt! Sankt Martin ist ein harter Mann für den, der nicht bezahlen kann. Wollt Ihr so gütig sein und von einem Reisenden am Tag seines Schutzpatrons erwerben eine Heiltinktur? Geweihtes Öl vom Grab des heiligen Martin? Auch Räucherwerk und allerlei Würzereien ich habe anzubieten, die sorgen für gesunden Schlaf und gute Träume.“ Er lächelte gewinnend. „Hat Martini weißen Bart, wird der Winter lang und hart. Da solltet Ihr sein gewappnet und mein Wundermittel gegen Gelenkschmerzen im Haus haben, auch wenn Ihr – hold und jugendlich wie die aufgehende Sonne – von derlei Gebrechen sicher nicht heimgesucht werdet. Ich hoffe, Ihr habt mehr Einsehen als diese beiden Sturköpfe hier.“

Der Redeschwall war mit atemlosem Eifer auf sie niedergegangen. Die Stimme des Unbekannten hatte einen seltsamen Beiklang. Englisch?

„Nichts da, wir brauchen nichts!“, besann sich Velten auf seine Pflichten. „Raus hier!“ Unsanft stieß er den Fremden zum Portal. Der klaubte seinen Sack vom Boden und rief über die Schulter: „Möge der Herr Euch schenken einen friedvollen Schlaf!“

Dann verschlang ihn die Dunkelheit jenseits des Hofportals.

„Nichts für ungut, Hedwig, der schwatzte uns ganz dumm mit seinen Wundermittelchen.“

„Vielleicht wartet Ihr besser einen Augenblick, ehe Ihr geht, Frau Eichhorn“, zeigte Timotheus sich besorgt. „Soll ich nachschauen, ob er auch wirklich fort ist?“

Hedwig war der Fremde zwar harmlos erschienen – doch jener andere fiel ihr erneut ein, also machte sie eine zustimmende Geste, und der Lehrjunge, stolz, ihr behilflich sein zu können, wuselte durchs Tor.

Drei Herzschläge drauf war er wieder da, hob die Schultern und sagte: „Keine Spur mehr von ihm! Ihr seid sicher.“

Woraufhin sie den beiden eine gute Nacht wünschte und hinaus auf die Straße trat.

Zwei

Philipp sah nach rechts und links in die Obere Kalte Talgasse, während er darauf wartete, dass Sekretarius Kolb die Stufen hinabging. Kalte Luft wehte in den Vorraum der kurfürstlichen Kanzlei am Schlossberg. Glaslaternen hingen von der Decke und sorgten für Licht. Draußen dämmerte es, vor Kurzem hatte der Turmbläser vom Jakobstor zum Beginn der Nacht geblasen.

Die Dächer der beiden gegenüberliegenden Scheunen waren weiß bepudert, es schneite. Eine Schneeflocke ließ sich auf Philipps Nase nieder, er fuhr mit dem Handrücken drüber, um die Nässe wegzuwischen.

Kolb stapfte Richtung Kanzleigasse davon, und Philipp betrachtete dessen Fußspuren auf den drei Stufen vor sich. Ob es nötig wäre, die Treppe zu fegen, damit niemand stürzte? Er würde den Kollegen Hans darum bitten. Er selbst musste die Zollzeichen fertig machen.

Er war im Begriff, die Tür zu schließen, als ihm eine schwarz vermummte Gestalt auffiel, die ebenfalls Richtung Kanzleigasse ging, nicht mehr als ein Schatten, mit schneebedeckter Kapuze, die das Gesicht verhüllte. Der Schatten wirkte seltsam unförmig, als habe er einen Buckel oder verkrüppelte Schwingen wie ein Dämon. Auf der Höhe der Tür verlangsamte er seinen Schritt, wandte den Kopf kurz herüber, machte eine Bewegung, als wolle er sich entschließen, heranzukommen.

Das kam nun gar nicht infrage! Rasch schloss Philipp die Tür und drehte den Schlüssel im Schloss. Sicher ein Aussätziger. Doch für Almosen war die Kanzlei nicht der rechte Ort. Was wollte der im Oberen Kalten Tal? Dem Viertel, in dem lediglich Hofbedienstete wohnten? Man würde ihn davonjagen. Vielleicht will er auch nur zum „Blauen Hut“, dachte Philipp, während er in die Stube im Erdgeschoss zurückging. Durch den schiefergedeckten Turm am Ende des Kalten Tals in der östlichen Stadtmauer gelangte man ebenfalls hinaus in die Jakober Vorstadt, wo Pilgerquartiere und Spitäler lagen.

Philipp schloss die Tür der Schreibstube. Hier war es warm, ein Feuer brannte im Ofen, Kerzen in Wandhaltern und im Messingständer auf dem Schreibtisch erhellten den Raum, in dem es nach Papier und Kerzenwachs roch. Er setzte sich wieder an den Tisch, von dem er zuvor aufgestanden war, um Sekretarius Kolb hinauszulassen. Vor ihm lagen die Zollzeichen, die er fast fertig gestempelt hatte. Nur wenige waren noch übrig, er machte sich an die Arbeit. Das tintengetränkte Leintüchlein, in das er den kurpfälzischen Stempel drückte, roch eigen nach Kanzlei. Er mochte, wie es in der Schreibstube roch. Er mochte, wie es in der gesamten Kanzlei roch. Nach Holzkästen, Siegelwachs und Sackleinwand. Und wenn die fürstlichen Räte und Juristen an ihm vorbeieilten, wehte hinter ihren schwarzen Wämsern ein Dunst aus Tinte, Schweiß und Bratenfleisch vom Mittagsmahl her.

Derzeit ging es emsig zu. Kaum einer der Sekretäre und Schreiber konnte in diesen Tagen pünktlich um fünf Uhr Feierabend machen. Sie schwirrten umher, suchten Truhen und Kisten zusammen, packten Schriftstücke und Urkunden hinein, bearbeiteten Dringliches und Liegengebliebenes gleichermaßen eilfertig. Und die schwarzgelben Umhänge der Pfälzer Boten wehten in noch größerer Eile als sonst durch die Türen, wenn diese mit wichtigen Mienen nach jenen fragten, denen sie Botschaften zu überbringen hatten, oder jenen, die nach ihnen geschickt hatten. Denn Kurfürst Friedrich IV. verließ Heidelberg in wenigen Wochen, um in die Oberpfalz zu reisen. Man hatte im entfernten, zur Pfalz gehörenden Territorium nach ihm verlangt. Er sollte dort für eine längere Zeit seinen Aufenthalt nehmen und die Angelegenheiten ordnen. In der Oberpfalz schien der Aufstand der Einwohner gegen das calvinistische Pfälzer Regiment immer bedrohlicher zu werden. Die Anwesenheit des Fürsten war vonnöten. Und bis also Ihro Gnaden mit der Hälfte seines Hofstaates im Januar gen Amberg abreiste, mussten Unterlagen gesichtet, Schriftstücke vorbereitet, Bestände geprüft und der Reisezug gerüstet werden. Das setzte die Kanzlei noch mehr als sonst in Umtrieb.

Zu alledem war heute Martinstag. Das neue Wirtschaftsjahr begann. Zahltag für das abgelaufene Pachtjahr. Die Collectoren waren seit dem Nachmittag durch das Gebäude gehastet, um die eingenommene Pacht in der Rechenkammer abzuliefern. Die Rechenschreiber hatten nicht einmal Zeit für eine Pause gehabt und den Imbiss, den Philipp ihnen zu Mittag gebracht hatte, neben den Rechnungsbüchern eingenommen.

Er lehnte sich im Stuhl zurück und hob den Kopf. Im schwarzen Rechteck des Fensters gegenüber spiegelte sich sein Gesicht, bartlos derzeit, schmal. Draußen war es jetzt gänzlich dunkel. Philipp blähte seinem Spiegelbild die Backen auf, strich das ohrlange blonde Haar nach hinten. Er sah auf das Stundenglas. Fünf Uhr vorbei. Er hatte es geschafft. Er hatte die Zollzeichen fertig, musste sie nur noch in die Lade schließen. Er starrte in die Kerzenflammen auf dem Schreibtisch. Eigentlich sollte er nun durch die Stuben gehen und das Schreibzeug wieder einsammeln, doch zeitig morgen früh würde ohnehin alles wieder gebraucht werden. Es gehörte zu seinen Aufgaben als Kanzleiknecht, die Dinge, die in der Kanzlei verwendet wurden, zu verwahren. Er kümmerte sich um Truhen, Säcke, Taschen, Papier, Wachs und Tinte. Auch das Brennholz gab er aus. Er, Philipp Eichhorn, zwanzig Jahre alt, war der Hüter des Schreibzeugs, wie er zu Hedwig manchmal scherzhaft sagte. Beim Gedanken an Hedwig schmunzelte er. Sein Weib! Kämpfe hatten sie ausgefochten, bis sie endlich heiraten konnten. Weil sie so jung waren, war ihr Vater dagegen gewesen. Aber Hedwig war standhaft geblieben. Sie wollte ihm folgen. Sie hätten sich zu ihrem sechzehnten Geburtstag im vergangenen Februar ohnehin vermählt – dass Juli zu diesem Zeitpunkt bereits unterwegs war, erleichterte das Argumentieren gegenüber Hedwigs Vater. Vor Vorfreude auf sein Weib und seine Tochter wurde ihm warm ums Herz. Den Abend würden sie mit Freunden im Gasthaus „Schwert“ verbringen. Kilian kam natürlich mit, und dessen Kollege Georg Bock, der wie Kilian Hausknecht im Marstall war. Peter Manhum und Martin Bellersheim, zwei befreundete Einspännige, würden da sein, Torwächter und Trompeter, mit denen sie auch sonst gelegentlich im „Schwert“ oder dem nebenan gelegenen „Bären“ zechten. Und weil heute Martini war, das beliebteste Fest im Jahreslauf, das den Überfluss des Herbstes vielerorts mit Schlachtfesten feierte, zudem der Tag der ersten Weinprobe, würden zu dem Schmausen und Trinken am Abend auch die Weiber und Liebchen mitkommen, sodass die Schenken überquellen würden. Er freute sich darauf. Leider erinnerte es ihn aber auch daran, dass die Kanzleiknechte in ihren Stuben drüben im Ostflügel im Zwerchhaus unterm Dach ebenfalls ein Trinkgelage veranstalten würden. Er hoffte, Nickel würde ihm nicht den Abend verderben und ihm den Rundgang durch die Kanzlei aufbürden, weil er selbst saufen wollte. Es gehörte ebenfalls zu seinen Aufgaben, die Kanzleiverwandten abends hinauszulassen und sorgfältig hinter ihnen abzusperren. Doch da er verheiratet war und nicht wie die meisten Kanzleiknechte im Gebäude wohnte, musste er hernach nicht herumgehen, um nachzusehen, ob sich niemand in der Kanzlei verbarg. Nun, gewöhnlich tat Nickel dies ohnehin zu gerne selbst. Nicht nur, weil er oberer und Philipp unterer Kanzleiknecht war, sondern weil er sich gerne wichtig vorkam, wenn er, das Kurzschwert gegürtet und den stämmigen Michel Ley an seiner Seite, durch die leeren, dunklen Räume schritt, in denen tagsüber die Schreiber arbeiteten, die Notare protokollierten und der Oberrat tagte.

Philipp gähnte und betrachtete sich im Fenster, wie er das Maul aufriss. Just in dem Augenblick ging die Tür, und Sekretarius Dürr rauschte herein.

„Müde, Eichhorn?“, näselte er, während er herankam und mit gerunzelter Stirn auf Philipp niederschaute.

Philipp stand auf.

„Uns ist die rote Tinte ausgegangen, Eichhorn. Morgen früh ist mein zweites Horn wieder gefüllt, denk daran!“

Wie der das „uns“ betonte. Wichtigtuer.

„Du kannst mich nun hinauslassen. Kammersekretär Pelen ist schon gegangen.“

Kammersekretär Pelen ist schon gegangen, äffte Philipp in Gedanken das hochmütige Näseln des Sekretärs nach. Der bildete sich gewaltig was drauf ein, von Kammersekretär Pelen eingearbeitet zu werden. Dürr, Sekretär im Oberrat, genoss die Gunst des Kurfürsten und würde mit nach Amberg reisen, wo er die Aufgaben des alten Kammersekretärs übernehmen würde. Deshalb hing er mit Pelen derzeit meist droben im Schloss am Rockzipfel des Kurfürsten.

Philipp folgte dem schmalschultrigen Mann in den Flur. Dürr wartete, dass Philipp ihm die Tür aufhielt und stolzierte die drei Stufen hinunter, ohne einen Gruß auch nur zu murmeln.

Hässlicher Emporkömmling, dachte Philipp.

Er sah noch einmal die Gasse hinauf und hinunter. Keine dunkle Gestalt, kein Schatten. Philipp schloss die Tür und drehte den Schlüssel im Schloss.

„Wer war das?“

Philipp zuckte zusammen. Er hatte Nickel nicht herankommen hören.

Er drehte sich zu seinem Kollegen um. „Dürr“, antwortete er.

„Dann sind jetzt nur noch Hartung und Advokatus Schöner da. Und hinten in der Registratur Heberer.“ Nickel feixte.

Philipp ahnte, was nun kam.

„Du wartest, bis sie gegangen sind. Dann machst du den Rundgang. Worauf du hinaufkommst und dich bei mir abmeldest. Danach kannst du gehen. – Was? Passt dir nicht?“

„Nickel, du weißt …“

„Dass du zu deiner Holden willst?“ Er kam nah an ihn heran, so nah, dass Philipp riechen konnte, dass er bereits Bier getrunken hatte. Obwohl Nickel von kräftigerem Körperbau war als er selbst, der er zwar groß, aber dünn war, wich er nicht zurück. Nickel schob sein Gesicht dicht an seines. „Der untere Kanzleiknecht ist dem oberen zur Unterstützung beigeordnet“, spie er ihm ins Gesicht. „Und deshalb unterstützt du mich – und machst den Rundgang.“

Verachtung und Wut.

Warum nur? Weil Philipp ein Weib hatte und ihm deshalb erlaubt war, statt in der Kanzlei in einer Wohnung zu wohnen? Da war er nicht der Einzige, auch der ältere Knecht Conradt Hofman war verheiratet und verließ die Kanzlei am Abend. Er war Philipps Nachbar, hatte ihm die Wohnung bei Witwe Ringeler vermittelt. Neidete Nickel ihm dies? Oder lag es einfach an Nickels Wesen? Er war ein grobschlächtiger Prahlhans mit einer dicken, schiefen Nase, die ihm wohl einst einer gebrochen hatte.

„Du hast gedacht, weil Martini ist, lass ich dich früher laufen?“, zischte Nickel, dann lachte er einmal auf, falsch und widerwärtig, ein Stachel, den er Philipp ins Fleisch trieb.

Philipp starrte Nickel ins Gesicht und zischte: „Offenbar kennst du die Kanzleiordnung? Jeder Kanzleiverwandte muss sich eines gottesfürchtigen, ehrbaren und redlichen Wandels und Wesens befleißigen und sich der Laster …“

„Brauchst nicht so von oben herab zu tun, Eichhorn“, fiel Nickel ihm ins Wort. „Eines Tages polier ich dir die Fresse.“

Philipp schlug das Herz bis zum Hals. Dennoch bemühte er sich um einen schneidenden Ton. Kalt wie die Steinmauern, die sie umgaben, sagte er: „So? Und warum?“

„Um dir aufgeschossenem Unkraut eine zu verpassen, braucht’s keinen besonderen Grund.“ Noch einmal kam sein Gesicht nah heran. „Einfach – nur – weil – du – atmest.“

Philipp hielt der Nähe stand. Starrte Nickel in die Augen. „Dann wag’s doch!“, zischte er.

„Nimm’s Maul nicht zu voll!“

Philipp ballte die Hände zu Fäusten. „Du streitsüchtiges Schandmaul! Dir steigt doch zu Kopf, dass dein Pumphahn nur bei Schafen zum Zug kommt!“

Nickels Augen funkelten vor Zorn. Er streckte den Zeigefinger aus, hielt ihn Philipp drohend vors Gesicht.

Wenn er mich auch nur mit dem Nagel seines dummen Fingers berührt …

„Deine Nase soll im Arsch eines Hundes stecken!“, fauchte Nickel. „Ich hau dich zu Brei.“ Damit wandte er sich um und stapfte davon.

„Vorher hau ich dich zu Brei!“, schnaubte Philipp hinter ihm her. Er musste sich zusammennehmen, um die Tür zur Schreibstube nicht zuzuschlagen. Drinnen stapfte er wütend vor dem Schreibtisch auf und ab. Nickel war ein Widerling. Eine Eiterbeule. Eine Ausgeburt an Boshaftigkeit. Eines Tages würde eine Prügelei unvermeidlich sein. Nickel legte es darauf an. Herrgott noch mal! Er blieb stehen und starrte auf die fertigen Zollzeichen auf dem Tisch. Jeder Versuch seinerseits, mit Nickel auszukommen, scheiterte an dessen verbohrter Feindseligkeit. Sämtliche Kanzleiverwandte bis hinunter zu den Knechten waren durch die Kanzleiordnung dazu angehalten, keine Streitigkeiten zu beginnen, innerhalb der Kanzlei keine Gruppe um sich zu bilden, keine üble Nachrede zu führen und so zu vermeiden, Zwiespalt hervorzurufen. Traten doch Uneinigkeiten auf, sollte man versuchen, diese gütlich beizulegen. Half dies nicht, hatte man sich an den Großhofmeister oder Kanzler zu wenden. Hätte er dies also nicht längst tun sollen? Sich wehren und an Culmann wenden? Philipp wusste, sein Stolz ließ nicht zu, dass er wie ein kleiner Junge heulend zum Vater rannte. Und er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Keine solche Aufmerksamkeit. Er wollte nicht unangenehm auffallen, auch wenn er Culmann, der das Amt des Vizekanzlers innehatte und, da es keinen Kanzler gab, dessen Geschäfte führte, seiner sachlichen Art wegen angenehm fand. Er wollte, dass man merkte, wie gewissenhaft und vorbildlich er seine Pflichten erfüllte. Er wollte oberer Kanzleiknecht werden. Und dann, verwegen zu denken: Skribent, das Wort, das einen ganz eigenen Zauber besaß und ausmachte, dass sein Herz mit großem Klopfen in seiner Brust schlug. Warum nicht? Mit Fleiß und Gehorsam konnte er das schaffen. Auch wenn er als Knecht unter allen Schreibern stand. Man konnte aufsteigen. Ahnte Nickel dies? Fühlte er, dass ihn, Philipp, ein Ehrgeiz trieb, der ihm gänzlich fremd war? Wie auch immer – Nickel quälte ihn. Er musste einen Weg finden, dies zu unterbinden.

Aber nicht heute Abend! Heute war Martini. Hedwig, Juli, Kilian und die Freunde später im Wirtshaus. Er machte sich daran, die Zollzeichen in dem Kasten zu verwahren. Zollzeichenschreiber Wernig würde sie morgen beschriften, erst durch seine Schrift erhielten sie ihre Gültigkeit.

Philipp dachte, dass die Männer, die noch immer in der Kanzlei arbeiteten, dies gewiss nicht mehr allzu lange tun würden – auch sie wollten sicherlich den Martinsabend mit einem Umtrunk beschließen.

Drei

Im Dunkeln mussten die Menschen den Weg mit den Ohren finden. Oder mit der Nase.

Das gelang Hedwig inzwischen auch in Heidelberg. Wenn sie sich auch noch immer nicht so mühelos wie in ihrem Heimatdorf bewegte, wo sie sich vom Duft eines Geißblattbusches oder dem Gestank von Hübner Müllers Misthaufen hatte leiten lassen, so fand sie sich doch auch in Heidelberg am Kläffen der Hunde zurecht. Hatte zu Hause das Blöken der Schafe des Wersauer Schafshofs sie gelenkt, wenn sie nachts von einem heimlichen Treffen mit Philipp in ihr Elternhaus zurückkehrte, so wusste sie in der Stadt inzwischen um die Beschaffenheit des Straßenpflasters und wo sie Unebenheiten und Löchern ausweichen musste.

Dennoch blieb sie nun zögernd am Anfang der Unteren Gasse stehen, die vor ihr lag wie ein schwarzes Loch. Das unbehagliche Gefühl wich nicht. Sie sah zurück zum Marktplatz, den sie eben überquert hatte. Laternen und Fackeln tupften Lichtpunkte in die Dunkelheit, ein Schragentisch wurde umflackert von Rübengeistern, ausgehöhlten und von innen her erleuchteten Rübenköpfen, die schaurig grinsten. Es raschelte, als die Händler ihre groben, wachsgetränkten Leinwände über ihre Verkaufstische breiteten. Dahinter leuchtete das Gemäuer von Heiliggeist rotbraun im Fackelschein. Die Bäcker und Kammmacher, Töpfer und Goldschmiede harrten noch in ihren Verkaufsbuden zwischen den Außenstreben der Kirche aus, um späte Geschäfte zu machen. Bis hierher roch es nach Brezeln und Wellfleisch, und aus der Richtung des Fischmarkts drang ihr der Geruch heißer Maronen in die Nase. Sie war zuvor an der Kirche stehen geblieben, hatte sich vom Duft der kleinen Mandelkuchen verführen lassen und beim Zuckerbäcker zwei davon gekauft. Dabei hatte sie sich beobachtet gefühlt und sich umgeschaut. Doch da war nichts gewesen. Etwas war nicht da und doch da, wie ein gestaltloses Gespenst. Sie fühlte sich unbehaglich, weil ihr der Mann vor der Kirche wieder einfiel, den sie vom Fenster aus gesehen hatte. Warum hatte sie nicht Appel gefragt, ob der ihr ebenfalls aufgefallen war? Wenn nein, täuschte sie sich wohl. Doch wenn ja, wäre es leicht gewesen, Herrn Belier darauf hinzuweisen. Vielleicht hätte er ihr Velten zur Begleitung mitgegeben. Sie ärgerte sich über sich selbst. Sollte sie zurück?

Sie betrachtete die Lichtflecken auf dem Marktplatz, spähte nach Gestalten. Ein Mann hielt eine Laterne hoch, sah einem anderen ins Gesicht und lachte. Ein Bauer schrie einem Jungen eine Anweisung zu. Flocken taumelten sacht aus der Schwärze des Nachthimmels.

Sei nicht dumm, Hedwig, schalt sie sich. Hier gehen Leute in unterschiedlichsten Geschäften umher, Amtleute, Vasallen, Studenten. In einer Stadt wie Heidelberg ist doch stets etwas los. Kein Grund, sich Sorgen zu machen!

Sie legte den rechten Arm um die schlafende Juli und sah auf die Giebelhäuser vor sich in der dunklen Gasse. Hier begann das Vierte Quartier, in dem sie und Philipp wohnten. Es war das Viertel östlich des Rathauses, zu dem auch die Jakober Vorstadt jenseits der östlichen Stadtmauer sowie Schlierbach gehörten, das jenseits des Neckargemünder Tores lag. Sie musste die Gasse nur weitergehen, fast bis zum Ende an der Stadtmauer. Auf deren Wehrgang würden zwei bewaffnete Wachmänner mit Fackeln Aufsicht halten. Am Jakober Tor selbst würde eine Laterne hängen, ein Licht, auf das sie zuhielt – tagein, tagaus auf dem Heimweg. Doch irgendwie weigerten sich ihre Füße weiterzugehen, was sie an die Angst ihrer Anfangszeit in Heidelberg erinnerte. Sie hatte mit Philipp hier leben wollen und war doch nicht darauf gefasst gewesen, wie sehr die unzähligen Wege, Pforten, Steinhäuser, Ladengeschäfte und vor allem die vielen Menschen sie verunsicherten. Inzwischen hatte sie sich gewöhnt an Studenten, die in fremden Sprachen miteinander plauderten. An fremdländisch aussehende Gelehrte, an Amtleute und Wachen, und auch die Ordnung der Gassen begriff sie. Von der schnurgerade von Ost nach West verlaufenden Hauptstraße gingen einerseits zum Neckar, andererseits zum Berg hin nach Art der Fischgräten die Gassen ab. Sie kannte die Gerüche nach Sand, Wasser, Pferd und Holz am Ufergelände der Froschau, wo sie im Sommer unterhalb der Neckarschule mit ihrer Tochter gesessen und zugesehen hatte, wie an der Pferdeschwemme die Pferde getränkt und die Floße draußen auf dem Wasser flussaufwärts getreidelt wurden. Sie war vertraut mit allem, es gab keinen Grund, sich zu fürchten. Sie atmete durch und ging weiter. Philipp würde heute Abend etwas später kommen, da wegen der bevorstehenden Reise des Kurfürsten in die Oberpfalz viel zu tun war und die Kanzleiverwandten selbst auch länger blieben. Sie hatte also Zeit, Juli frisch zu wickeln und zu stillen und sich ein wenig hübsch zu machen. Ob sie die neuen Stiefel anziehen sollte? Vorfreude ließ sie schmunzeln, als sie sich vorstellte, wie sie die Stiefel überzog. Sie hatten ausgemacht, dass Philipp sie abholte. Sie würden Juli in der Obhut Wittib Ringelers, ihrer Vermieterin, lassen und zusammen mit Kilian, der zu ihrer Wohnung kommen sollte, ins „Schwert“ zum Umtrunk gehen. Kilian wohnte nicht weit von ihnen, draußen in der Jakober Vorstadt, einen Steinwurf weit weg, wenngleich durch die östliche Stadtmauer getrennt. Dabei fiel ihr ein, dass Kilian Philipp gebeten hatte, Hedwig zu sagen, sie solle doch Appel am heutigen Abend mitbringen. Die Augenbrauen hatte sie hochgezogen, Philipp hatte geschmunzelt, sie in die Arme genommen, und lachend wie ein Verschwörerpaar hatten sie den armen Kilian bedauert. Er würde es schwer haben unter all den Verehrern Appels.

Juli an ihrem Busen bewegte sich und gab einen kleinen schmatzenden Laut von sich. Hedwig hielt inne und schaute auf sie nieder. „Sind gleich daheim“, flüsterte sie.

Jemand mit einer Laterne erschien in einigen Schritt Entfernung vor ihr aus der Schneeflockennacht. Ihr Herz schlug schneller, wachsam sah sie der Gestalt entgegen, erkannte sie zuerst an der gebückten Haltung, dann an der Stimme, als sie einen Guten Abend wünschte. Es war Margret, die alte Tapeziererin, die mit ihren vier Kindern vorm Obertor wohnte. Hedwig war erleichtert. Sie blieb stehen. Nur Nachbarn aus dem Viertel, dachte sie. Kein Grund zur Besorgnis. „Wohin noch, Wittib Margret?“

Die Witwe bog den Kopf nach hinten und sah sie unter der Kapuze hervor an. Ein Brot wolle sie noch holen, vorne, beim Bäcker an der Kirche. Alsdann beklagte sie den früh einsetzenden Schneefall und was man da an Brennholz brauchen würde. Hedwig stimmte ihr zu und fragte anschließend: „Werdet Ihr übermorgen den Einzug dieses erstaunlichen Tieres anschauen, das man dem Kurfürsten zum Geschenk machte? Man sagt, es kommt mit einem Tataren, der einen Turban statt eines Baretts auf dem Kopf trägt!“

„Ich lass mir doch die Wecken nicht entgehen, die der Kurfürst deshalb verteilen lässt!“, schmunzelte Margret.

Hedwig lachte auch, rief einen Abschiedsgruß und ging weiter. Langsam, um auf dem schiefen Pflaster der Gasse nicht im feuchten Schnee auszurutschen.

Dann ging alles sehr schnell. Unversehens stürmte eine dunkle Gestalt aus der Ecke beim Handschuhsheimer Hof. Bevor Hedwig begriff, was geschah, wurde sie festgehalten, etwas Feuchtwarmes presste sich auf ihr Gesicht, sie bekam keine Luft mehr. Sie wollte schlucken, konnte es nicht, sie merkte, wie ihr das Bündel und die Stiefel aus der Hand fielen. Sie wollte Juli an sich drücken. Jemand umschlang sie, sie konnte den Arm nicht bewegen, verlor den Sinn, das Gleichgewicht und fiel in finsterste Schwärze.

Vier

Alle Kanzleiknechte dienten allen Behörden, die in der Landkanzlei unterhalb des Schlossbergs ihren Sitz hatten.

Heute Abend gab es nur einen, der allen diente.

Und der heißt Philipp Eichhorn, dachte Philipp grimmig. Der Rest hatte sich versteckt wie Schaben, die in Holzritzen huschen. Nickel, dieser Scheißhaufen, ließ ihn den Rundgang durch die drei Hauptgeschosse der Kanzlei allein machen. Eigentlich ein Unding, er sollte dies wirklich Vizekanzler Culmann melden. Was, wenn er auf einen Eindringling stieße? Gut, das war noch nie vorgekommen, aber dennoch, es war einfach besser, zu zweit zu sein. Zumal derzeit die unterschiedlichsten Gestalten in der Stadt unterwegs waren.

Was sollte es. Er war ohnehin fast durch. Und es war noch nicht sieben Uhr, da war er sicher. Halb sieben vielleicht.

Vor einer Weile hatte er Registrator Heberer hinausgelassen. Er war in die Registratur gegangen, um zu fragen, ob er Tinte und Schreibzeug wegräumen sollte. Heberer hatte gerade eine Kiste auf seinen Schreibtisch gewuchtet und, als er seiner ansichtig wurde, gerufen: „Briefe der Oberpfalz. Zu sichten für die bevorstehende Abreise. Was sagt man dazu?“

Philipp hatte Mitempfinden ausgedrückt angesichts der zu bewältigenden Arbeit. Aufarbeitung und Sichtung der alten Bestände des Archivums seien schon aufwändig genug. Nun noch diese zusätzlichen Bürden. Behutsam hatte er den Registrator auf die Bedeutung des heutigen Tages hingewiesen. Da hatte Heberer ausgerufen: „Potzteufel, ja! Ich werde Schluss machen.“

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