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London 1889: Lady Gloria Wingfields Projekt eines Frauenbildungsvereins nimmt Formen an. Doch am Eröffnungsabend geschieht während der Feierlichkeiten ein Mord. Das sorgt einerseits für Aufmerksamkeit für den Verein, andererseits aber für jede Menge Ärger. Zusammen mit dem Journalisten Morris beginnt Gloria, Nachforschungen anzustellen. Was ihrem Freund Lord Lyndon gar nicht gefällt. Wie sich herausstellt, hat er seine Gründe.
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Seitenzahl: 334
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Gloria und die Londoner Liebschaften
Ein viktorianischer Krimi
Inhalt
Titel
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Nachwort
Sonstige Anmerkungen
Zur Baker Street Bibliothek
Impressum
Zum Weiterlesen: "Die Liebenden von Verona"
Kapitel 1
Morgen Abend würde es so weit sein!
Lady Gloria Wingfield war glücklich, sie hatte ihr Ziel erreicht: Morgen Abend würde der Frauenbildungsverein »Elizabeth« eröffnet werden!
Sie saß an dem großen Schreibtisch im Arbeitszimmer und sah noch einmal die Unterlagen durch, die sie für das Interview heute Nachmittag vorbereitet hatte. Durch die geöffnete Zimmertür drang geschäftiger Lärm herein. Endlich wurden die Stühle geliefert, leider verspätet und bedauerlicherweise zusammen mit den Buketts. Sie hörte den Hausmeister Atkinson Anweisungen geben und ihre Freundin Lilian den Blumenhändler dirigieren. Irgendwo schwirrten auch Mrs Fenwick Miller sowie Miss Morton herum, um die Lampions und Kerzenlichter auf den Veranden zu arrangieren und anderweitig nach dem Rechten zu sehen. Lilian, Mrs Fenwick Miller und Miss Morton waren wie Gloria im Vorstand des Frauenbildungsvereins. Den Namen »Elizabeth« hatte Gloria sowohl zu Ehren der Dichterin Elizabeth Barrett-Browning (deren Werke sie sehr schätzte) als auch von Englands einstiger Königin vorgeschlagen und er war von sämtlichen zehn Vorstandsfrauen für gut befunden und angenommen worden. Im vergangenen halben Jahr hatten sie alle sehr viel Engagement und Arbeit darauf verwandt, die Richtlinien des Vereins festzulegen, Kurse und Vorträge zusammenzustellen sowie Lehrerinnen und Referentinnen zu engagieren. Neben den abendlichen Fortbildungskursen würden künftig samstags Vorträge zu kulturellen Themen und freitags solche zu beruflichen, sozialen oder politischen stattfinden, zu denen nur weibliche Personen Zutritt hatten.
Glorias Großtante Lady Josephine Blythe war ebenfalls im Vorstand des Frauenbildungsvereins. Allerdings eher formell und um Gloria einen Gefallen zu tun. Sie hatte im Frühjahr einen nicht unerheblichen Teil der Korrespondenzen erledigt, hatte zahlreiche Damen der Gesellschaft über Glorias Vorhaben informiert und die Werbetrommel geschlagen. Über manche der Antworten hatte Gloria geschmunzelt (Lady Carmichel-Diamond hatte angeboten, einen Vortrag über das Rosenzüchten zu halten), über wenige sich geärgert (die Herzogin von York hielt ein solches Unterfangen für gänzlich unnötig und verbot sich weitere »korrespondäre Belästigung«). Nun, das war – nebst der lachhaften Wortschöpfung »korrespondär« – zu verkraften. Es gab genügend Frauen, die ein solches Unterfangen nicht für unnötig hielten. Aufgrund ihrer Werbeannoncen in diversen Zeitungen und Magazinen lagen bereits Anmeldungen für die Kurse Englisch und Französisch sowie Handelskunde vor.
Das Haus selbst hatte Glorias Anwalt Mr Brooks ausfindig gemacht. Er hatte den Mietvertrag mit den Eigentümern geschlossen und alles Rechtliche erledigt, das mit der Gründung einer solchen Einrichtung einherging. Er hatte Stellenannoncen aufgegeben und Gloria hatte gespannt auf die Antworten gewartet. Nun hatten sie nicht nur ausreichend Lehrerinnen für die unterschiedlichen Kurse, sondern auch einen zuverlässigen Stamm an Hauspersonal. Seit erstem April war Mr Atkinson als Hausmeister tätig. Er hatte die Neugestaltung und Renovierung überwacht und war für alle technischen Dinge zuständig. Er war, ebenso wie das Hausmädchen Sally, dauerhaft angestellt. Speziell für die Vorbereitungen zur Eröffnung wurde der Butler Pratt von einer Agentur engagiert. Er war bereits seit eineinhalb Wochen da und mit sämtlichen organisatorischen Aufgaben betraut. Unter anderem hatte er zwei Kellner verpflichtet, die beim morgigen Empfang servieren würden. Daneben gab es seit vorgestern die Köchin Mrs Neal und die Küchenhilfe Linda. Beide arbeiteten die gesamte Vorbereitungswoche bis zur Eröffnung, Mrs Neal künftig nur an den »kulturellen« Samstagen.
Gloria versuchte, sich trotz des Umtriebs draußen im Flur und der nebenan liegenden Großen Halle auf ihre Listen zu konzentrieren. Hier waren ihre Antworten für die Journalistin und den Journalisten, die sie am Nachmittag erwartete. Die nächste Liste enthielt eine Aufzählung der Speisen und Getränke für morgen Abend. Sie lächelte in sich hinein, denn sie hatte sie bereitgelegt, weil Gesellschaftsjournalisten immer wissen wollten, was es zu essen gab. Nun, sie würde es ihnen sagen können, falls sie danach fragten: kaltes Roastbeef, Steak-and-Kidney-Pies sowie mit Kalbsbries gefüllte Pastetchen. Dass sie Lord Lyndon zu Ehren bei Mrs Neal einen Melton Mowbray Pork Pie geordert hatte, der eine Spezialität aus Lord Lyndons Heimat Leicestershire war, würde sie unerwähnt lassen. Gloria heftete das Blatt mit der Speisenfolge an jenes mit den Antworten und wandte sich dem letzten Blatt zu: Anordnungen für Pratt, fein säuberlich untereinander geschrieben, damit man abhaken konnte, was erledigt war.
»Was machst du?«, fragte eine weibliche Stimme von der offenen Tür her.
Gloria sah auf und lächelte ihre Freundin Lilian an. »Ich gehe die Antworten noch einmal durch.«
»Du weißt doch sicher alles auswendig.«
»Ich möchte nichts vergessen.«
Lilian zog eine Augenbraue in die Höhe, etwas, das sie gut konnte – Gloria konnte es nicht – und das ihrer lehrerinnenhaften Erscheinung den letzten Schliff Strenge verlieh. Sie trug wie immer ein schwarzes Seidenkleid, hochgeschlossen, mit winzigem weißem Spitzenkrägelchen am schlanken Hals, das dunkelbraune Haar mit dem akkuraten Mittelscheitel nach hinten gekämmt und im Nacken verknotet. Die flaumkleinen Kringel, die den Haaransatz an der Stirn bekränzten, widersprachen jedoch dem strengen Eindruck ebenso wie das freundliche, ovale Gesicht mit den leicht geröteten Wangen. Diese waren augenblicklich noch ein wenig mehr gerötet als sonst, erstens war es heiß und zweitens hatte Lilian einiges an Arbeit hinter sich. Mit leichtem Wiegeschritt näherte sie sich dem Schreibtisch. Ihr Kleid raschelte leise.
»Die Blumen sind arrangiert?«, fragte Gloria.
Lilian nickte. Sie hatte sich in den vergangenen Wochen meist um die Einrichtung gekümmert. Sie hatte Handtücher und sonstige Notwendigkeiten für die beiden Badezimmer ausgesucht und dort alles hübsch hergerichtet. Da sie gerne nähte, hatte sie die Vorhänge für die fünf kleinen Zimmer im Dachgeschoss angefertigt. Drei Stuben waren für Bedienstete gedacht, falls diese über Nacht im Haus bleiben mussten, zwei waren für Referentinnen reserviert, die von weiter weg anreisten und im Haus übernachten wollten.
»Kommt Robert dich abholen?«, fragte Gloria.
»Er müsste jeden Augenblick hier sein.« Lilian strich mit der Hand an der Schreibtischkante entlang, eine Geste, die absichtsvoll verträumt wirkte, so als sei Gloria nicht Gloria, sondern ein Galan, den sie zu becircen hoffte.
»Wie geht es deinem Lord Lyndon?«
»Er ist nicht mein Lord Lyndon.«
»Immerhin nennst du ihn Alexander.«
Gloria lächelte und sagte: »Es geht ihm gut, nehme ich an.«
»Pass bloß auf, sonst schnappt ihn dir deine Tante vor der Nase weg.«
»Du bist unmöglich!« Gloria suchte nach etwas, das sie nach Lilian werfen konnte, fand auf dem Schreibtisch aber nichts Geeignetes und beließ es bei der Geste.
Lilian beugte sich vor und raunte: »Sie ist verrückt nach ihm!«
»Na, ihr beiden Verschwörerinnen, wer ist verrückt nach wem?«
Lilians Ehemann Robert stand plötzlich in der Tür, ein großer, hagerer Mann mit einem Gesicht, dem man ansah, dass er gerne Zeit im Freien verbrachte. Er hatte schmale Lippen und einen krausen Backenbart bis fast zur Kinnspitze. Lilian hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und sagte: »Frauensache!«
Robert lachte und hielt Gloria die Hand zur Begrüßung hin.
»Hallo, Robert. Sei so gut und schaffe mir dieses Lästerweib vom Hals, ja?«
Hinter Roberts Rücken zog Lilian ihr eine Grimasse, verwandelte ihr Gesicht jedoch sofort wieder in die Miene des unschuldigsten Engels, als Robert sich zu ihr umdrehte.
»Sie nennt dich Lästerweib. Frau, was hast du gesagt?«
»Nichts, holder Gemahl. Lass uns essen gehen. Du willst wirklich nicht mitkommen, Belle?«
»Nein, ich habe Mrs Neal gebeten, mir ein Sandwich zu machen.«
Lilian warf Gloria eine Kusshand zu, hakte sich bei ihrem Mann unter und zog ihn aus dem Zimmer. »Bis später«, sagte sie.
»Wiedersehen, Gloria!«, rief Robert über die Schulter, dann machte er »Hoppla!« und einen Stolperschritt, denn in der Tür waren er und Lilian fast mit einer jungen Frau zusammengestoßen, die mit wehenden Hutbändern herangeflitzt kam und einen Ton ausstieß, der einem Quieken nicht unähnlich war. Auch sie hatte rosa erhitzte Wangen und einen Mann im Schlepptau. »Oh, hallo Mr und Mrs Fielding«, sagte sie.
»Lady Virginia«, erwiderte das Ehepaar den Gruß und Robert fragte: »So sind Sie wieder zurück?«
»Seit gestern Abend«, bestätigte der junge Mann.
»Und natürlich ist unser erster Weg heute hierher – nachdem Mutter uns aus ihren Klauen entließ, sie wollte uns zum Lunch dabehalten, aber wir sind entflohen!«, sagte Lady Virginia theatralisch. Sie war eine kleine, mollige Person mit braunem Haar, das wie bei Lilian im Nacken verknotet war. Lady Virginia rauschte auf Gloria zu, die hinter dem Schreibtisch hervorgekommen war, und streckte ihr beide Hände zur Begrüßung hin. Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Wir haben uns beeilt«, bekräftigte sie und ihre Stimme klang melodisch und erwachsen und gar nicht mehr quiekend.
Während der junge Mann noch ein paar Worte mit den Fieldings wechselte, flüsterte Lady Virginia Gloria zu: »Oh, Lady Wingfield, da hatte ich als junges Mädchen Angst vor der Ehe – und sehen Sie mich jetzt an! Das Eheleben ist wundervoll!« Sie warf einen raschen Blick über die Schulter auf ihren jungen Gatten und sagte: »Ich bete ihn an! Er besitzt die Eigenschaften, die ich mir bei einem Mann wünschte. Ich habe Aussicht auf ein großes Glück! Zum ersten Mal in meinem Leben.«
»Das freut mich sehr«, erwiderte Gloria.
Robert und Lilian verabschiedeten sich und der derart gerühmte junge Mann kam nun ebenfalls heran und begrüßte Gloria mit Handschlag. »Schön, Sie wiederzusehen, Lady Wingfield.« An ihm fielen zuerst die großen blauen Augen auf sowie eine wohlgeformte Nase. Trotzdem fand Gloria ihn nicht besonders gut aussehend.
»Ich freue mich ebenfalls, Mr von Sachsfeld«, sagte sie. »Wie war die Reise?«
Lady Virginia legte den Kopf in den Nacken und richtete die Augen zur Zimmerdecke. »Ein Traum!«, schwärmte die junge Frau. »Oh, ich muss Ihnen alles erzählen! Paris zum Auftakt an meinem Geburtstag – das war ganz wunderbar. Aber Italien – ah! Alfred war ja schon einmal dort, aber ich sah es zum ersten Mal und würde am liebsten sofort wieder losreisen! Venedig, Verona …«
»Liebes, Lady Wingfield kennt Italien ebenfalls«, unterbrach Mr von Sachsfeld seine Ehefrau nachsichtig lächelnd.
»Es ist wunderschön dort«, bestätigte Gloria. »Und vielleicht finden wir heute Abend etwas Zeit, um über Ihre Hochzeitsreise zu plaudern.«
»Heute Abend!« Lady Virginia verrollte die Augen und zog einen Schmollmund. »Wenn ich an diesen grässlichen Ball denke, wird mir schlecht!«
»Du bist ungerecht, Liebes«, tadelte Mr von Sachsfeld. »Deine Mutter gibt diesen Ball zu Ehren unserer Rückkehr. Du mochtest Bälle doch sonst immer. Hast du vergessen, dass wir uns auf einem Ball kennenlernten?«
»Jaja«, maulte Lady Virginia. »Den meine Mutter seinerzeit zu deiner Ankunft in London gab. Nimm sie nur ja noch in Schutz!«
Mr von Sachsfeld rang sich ein steifes Lächeln ab. Gloria wusste, dass Lady Virginia nicht sonderlich gut mit ihrer Mutter auskam und nicht gerade das gehabt hatte, was man eine schöne Kindheit nennt. So steuerte sie das Gespräch taktvoll in eine andere Richtung. »Nun, sicher interessiert es Sie, was wir in Ihrer zweimonatigen Abwesenheit alles arrangiert haben.«
Schon verzauberte wieder glücklicher, junger Übermut Lady Virginias rundliches Gesicht. »Erzählen Sie! Wer wird morgen Abend kommen? Werde ich singen?«
»Werden Sie.«
Lady Virginia schlug begeistert die Hände zusammen. »Wird sie mich begleiten? Konnten Sie sie gewinnen?«
Gloria lächelte ihr junges Gegenüber vielsagend an. »Was glauben Sie?«
»Oh spannen Sie mich doch nicht so auf die Folter!«
»Susan Forsythe Beltà wird Sie am Flügel begleiten.«
»Hast du gehört, Alfred?! Die Patentochter der Königin wird mich am Flügel begleiten! Endlich werde ich sie kennenlernen, ich hatte so darauf gehofft!«, sagte Lady Virginia enthusiastisch.
Susan Forsythe Beltà, als afrikanische Prinzessin geboren, war eine Berühmtheit in der Londoner Gesellschaft, lange bevor sie Mr James Labulo Dickson geheiratet hatte. Mr Dickson, ein afrikanischer Geschäftsmann von ausgezeichnetem Ruf, war – ebenso wie Lady Virginia und ihr Ehemann – einer der Sponsoren des Frauenbildungsvereins. Er hielt viel von Bildung und hatte in Afrika Schulen bauen lassen. Seine Ehefrau war eine hervorragende Klavierspielerin, die gerne zugestimmt hatte, als Gloria sie fragte, ob sie den musikalischen Part am Eröffnungsabend übernehmen würde. Sie hatte Gloria einige Liedvorschläge übergeben, die diese nun Lady Virginia aushändigte.
Lady Virginia sah auf das Papier, nickte zustimmend und sagte: »Sehr schön.« Dann sah sie Gloria ins Gesicht und fragte: »Was noch?«
»Mrs Wilde wird mit ihrem Ehemann kommen.«
Mrs Constance Wilde, Herausgeberin der »Rational Dress Society Gazette«, war ebenfalls eine der Vorstandsfrauen, und Lady Virginia hatte vor ihrer Abreise spekuliert, ob sie zur Eröffnung zusammen mit ihrem berühmten Ehemann erscheinen würde.
»Hast du das gehört, Alfred? Mr Oscar Wilde wird morgen da sein!«
»Ich bin ja nicht taub«, gab Alfred leicht mürrisch zurück.
»Nun sei nicht so! Er ist die Kapazität in Sachen Ästhetik und Hauseinrichtung!«
»Und nebenbei ein prominenter Dichter und Schriftsteller«, merkte Gloria an.
»Und nebenbei ein Sozialist«, fügte Alfred mit skeptischer Miene hinzu. »Er posaunt seine Thesen im Travellers Club herum. Hält den Sozialismus für eine neue Triebfeder der Kunst. Lachhaft! Der Sozialismus zersetzt die Zivilisation, ich kann nur hoffen, dass die verblendeten Anhänger dieser Lehre dies bald einsehen.«
Gloria fand Mr Wildes Ansichten diesbezüglich zwar auch ein wenig überspannt, betrachtete Mr Wilde aber eher unter literarischen Gesichtspunkten. Und da gefiel ihr, was sie las. Seine Artikel in der »Pall Mall Gazette« und in »The Woman’s World«, für Letztere fungierte er als Herausgeber, waren spritzig. Er war ungewöhnlich und er hatte Stil.
»Ach, jetzt lass uns aber nicht über Politik reden«, murrte Lady Virginia und fügte an: »Bedwin jedenfalls wird an die Decke gehen, wenn er hört, dass er Oscar Wilde verpasst! Er verehrt ihn doch so! Lady Wingfield, Sie wissen, dass er nicht kommen kann?«
»Nein«, erwiderte Gloria und runzelte fragend die Stirn. Bedwin Sands war ein guter Freund Alfred von Sachsfelds. Sie hatte ihn bei der Hochzeit der beiden im Mai kennengelernt. Da das junge Ehepaar zu den Geldgebern des Frauenbildungsvereins gehörte, standen auch Freunde und Verwandte von ihnen auf der Gästeliste der Eröffnungsfeier.
»Die Segelpartie, zu der er eingeladen war, wird nun doch zustande kommen«, erklärte Alfred von Sachsfeld. »Er wird morgen Abend nach Brighton aufbrechen, früh am nächsten Morgen segeln sie los, die Atlantikküste hinunter bis Lissabon. Ihm wird sicher nicht nur furchtbar langweilig, sondern auch gehörig schlecht werden.«
Gloria bedauerte dies. Mr Sands war ihr trotz seines dandyhaften Auftretens sympathisch gewesen und sie hatte sich damals bei der Hochzeitsfeier mit ihm über Ägypten unterhalten, ein Land, das sie bereist hatte und das er gerne bereisen wollte. Er mochte den Orient und wäre sicher ein unterhaltsamer Gesprächspartner gewesen.
»Es wird auch ohne meinen Freund Bedwin eine gelungene Eröffnung werden, Lady Wingfield«, prophezeite Mr von Sachsfeld.
Mr Morris war ein absolut gut aussehender Mann. Gloria stockte kurz der Atem, als er so schneidig den Flur herauf auf sie zukam. Sie kannte den Gesellschaftsreporter bisher nur aus der Ferne. Wie er nun mit diesem federnden Gang herankam, spürte sie, dass ihr noch ein klein wenig heißer wurde, als es ihr ohnehin schon war. Rasch streckte sie ihm die Hand hin und sagte: »Schön, Sie zu sehen, Mr Morris.«
Sie war in der Großen Halle gewesen, um ein paar Worte mit Atkinson zu wechseln, als sie sah, wie Pratt Mr Morris hereinließ. Also hatte sie kurz gewartet, bis Pratt ihn zu ihr geführt hatte.
»Ich bin erfreut, dass Sie Zeit haben, Lady Wingfield!«, bekundete Mr Morris. Sein Händedruck war fest, die Hände warm und trocken (ein Wunder bei dieser Hitze) und er sah ihr direkt in die Augen.
Und was für Augen! Havannabraun und dunkel wie ein fernes Abenteuer blickten sie unter geraden, wie mit dem Pinsel gezogenen Augenbrauen hervor, durchdringend, wachsam, versiert. Er hatte eine schöne, sehr gerade Nase und um seinen hübschen Mund lag der Hauch eines trotzig-belustigten Zuges. Seine dunklen Haare lagen locker um seinen Kopf, sie liefen vor den Ohren spitz in die Wangen aus, und von hier, wo bei anderen Männern der Backenbart begann, bis hinunter zum markanten Kinn lag ein dunkler Bartschatten. Er mochte in ihrem Alter sein, überlegte Gloria, während sie mit der Hand den Weg deutete und sagte: »Bitte, hier entlang.« Sie war froh um den kurzen Augenblick, in dem sie den Blick von ihm wenden konnte, und ging voraus zum Arbeitszimmer.
»Das hier ist wohl der Festsaal?«, hörte sie seine Stimme hinter sich.
Sie drehte sich um. Mr Morris war an der Tür zur Großen Halle stehen geblieben und schaute hinein. »Ja, hier wird morgen Abend der Empfang stattfinden.« Gloria trat zu ihm und schaute ebenfalls hinein. Atkinson ging gerade prüfend die Stuhlreihen entlang. »Und in Zukunft all jene Veranstaltungen, zu denen wir ein größeres Publikum erwarten dürfen.« Sie stand neben ihm, er war etwa einen halben Kopf größer, und bemerkte einen Duft an ihm, harzig, würzig, wie von frisch geschlagenen Bäumen. Benutzte er Parfüm? Es würde zu ihm passen, dessen Erscheinung etwas von einem Landedlen längst vergangener Tage hatte.
Sie gingen weiter, aber Mr Morris blieb nach wenigen Schritten erneut stehen, wandte sich nach links und spähte interessiert die Treppe hinauf. »Ein schönes Haus«, sagte er anerkennend.
»Wir werden Sie und Miss Bateson im Anschluss an das Interview gerne herumführen.« Sowohl Miss Bateson als auch Mr Morris hatten vorgeschlagen, anlässlich der Gründung des Frauenbildungsvereins ein Interview mit ihr zu führen. Das war bei Miss Bateson allerdings zu erwarten gewesen. Interviews waren die Spezialität der Journalistin, die für ihre Reihe »Gespräche mit berufstätigen Frauen« bekannt war, die sie für »The Queen« schrieb. Da diese neue Form der Berichterstattung immer populärer wurde, hatte Gloria gerne zugestimmt, zweifellos würde es für Publicity sorgen.
»Das wäre mir ein Vergnügen«, antwortete Mr Morris, die Hand am Riemen seiner Umhängetasche, den Blick freimütig auf sie gerichtet.
Gloria machte erneut eine richtungsweisende Geste, der Journalist erwiderte dies mit einem charmanten Lächeln und ließ ihr den Vortritt. Im Zimmer angekommen, stellte sie Mr Morris und Lilian einander vor. Lilian, die bereits hinter dem Schreibtisch saß, erhob sich, um ihm die Hand zu schütteln. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs Fielding«, sagte Mr Morris.
Lilian wies auf die beiden Stühle vor dem Schreibtisch und Mr Morris setzte sich. Er sah sich erneut interessiert um und nickte beifällig. »Schönes helles Zimmer, hier lässt es sich sicher hervorragend arbeiten.«
Ja, das tat es, deshalb hatten sie dieses Zimmer als Bureau ausgewählt. Durch das Fenster zu ihrer Rechten blickte man hinaus auf eine schmale Veranda, die fast die gesamte Rückseite des Hauses einnahm. Dahinter lag ein Hinterhof und man sah die Backsteinmauer des gegenüberliegenden Hauses. Das Fenster hinter dem Schreibtisch ging hinaus auf eine weitere Veranda an der Längsseite des Hauses, die man von der Großen Halle aus betrat. Gloria hatte auf beiden Veranden Blumenkübel mit Buchsbaum aufstellen lassen. Sie bestätigte Mr Morris’ Aussage und setzte sich neben Lilian. »Bitte bedienen Sie sich«, sagte sie und deutete auf das bereits gefüllte Glas Limonade auf dem Beistelltisch.
Mr Morris bedankte sich und griff nach dem Glas. Gloria bemerkte die Schweißperlchen auf seiner Oberlippe. Rasch sah sie weg und legte ihre vorbereiteten Unterlagen zurecht.
»Der Zeitpunkt der Eröffnung ist gut gewählt«, hörte sie ihn sagen und sah auf. Er stellte das Glas ab und sah sie an. Lächelte. »Mitten in der Saison sind auch viele Landeier in der Stadt. An Publikum dürfte es Ihnen nicht mangeln.«
Sie erwiderte sein Lächeln. »Sie haben recht. Jede Menge Töchter aus gutem Hause, jede Menge Leute aus der guten Gesellschaft.«
»Wie ich hörte, zählt auch Mr Dickson zu Ihren Geldgebern?«, fragte er und schloss mit einem Blick auch Lilian mit ein.
»Ja, kennen Sie ihn?«, fragte diese.
»Nein. Aber man kennt seinen Ruf.«
»Nun, lassen Sie uns darüber sprechen, wenn Miss Bateson da ist«, sagte Gloria.
»Sicher«, erwiderte Mr Morris freundlich.
«Sie werden das Interview in der ›Morning Post‹ veröffentlichen?«, fragte Lilian.
»Ich denke, ja«, antwortete Mr Morris.
Gloria sah auf ihre Unterlagen hinunter. Griff nach einem Stift. Legte ihn wieder hin. Da erschien Pratt und meldete Miss Bateson. Er trat einen Schritt zurück und ließ die Journalistin eintreten. Gloria schätzte sie etwas älter als sich selbst. Sie trug ein Sommerkleid in lichtem Gelb, mit seinen aufgedruckten Vögelchen ein wenig zu verspielt für Glorias Geschmack, aber hübsch anzuschauen in der Kombination mit Sonnenschirm und dem passenden Hut (auch auf ihm saß keck ein Vöglein, einen Blütenzweig im Schnabel haltend). Die Tasche aus hellem Leder, die sie bei sich trug, stellte einen guten Kontrast zu ihrer Aufmachung dar und verdeutlichte, dass sie beruflich unterwegs war.
»Ich muss mich für meine Verspätung entschuldigen«, sagte Miss Bateson. »Ganz London scheint auf dem Weg zu Nachmittagsunternehmungen. Die Straßen sind völlig verstopft.«
»Machen Sie sich keine Gedanken, Miss Bateson«, erwiderte Gloria, während sie aufstand, um der Journalistin über den Tisch hinweg die Hand zu geben. Lilian machte es ebenso und auch Mr Morris begrüßte seine Kollegin mit Handschlag. Nachdem Gloria auch ihr die Limonade angeboten hatte, bedankte sie sich für das Interesse und händigte den beiden eine kleine Broschüre über den Frauenbildungsverein aus. Dann konnte es losgehen. Beide Journalisten zückten Stift und Papier, Mr Morris ließ Miss Bateson den Vortritt mit der ersten Frage.
»Nun, Sie haben es in Angriff genommen, etwas für die Frauenbildung zu tun. Wie muss man sich die Arbeit des Vereins vorstellen?«, begann Miss Bateson.
»Ziel ist es, Frauen ein breites Kursangebot zu geringen Kosten anzubieten«, antwortete Lilian. »Ein kleiner monatlicher Beitrag berechtigt zur Teilnahme an den Kursen sowie den Vorträgen. Wir wollen zu freudiger Berufstätigkeit ermuntern und dazu anregen, sich Wissen anzueignen. Vorträge und Kurse werden selbstverständlich sämtlich von Frauen gehalten.«
»Sie haben ja im Vorfeld in der Presse auf Ihr Vorhaben aufmerksam gemacht. Wie viele Mitglieder hat der Verein inzwischen?«, fuhr Miss Bateson fort.
»Wir haben fünfundzwanzig Mitglieder, zehn davon sind im Vorstand«, sagte Gloria.
»Das ist nicht viel«, warf Mr Morris ein.
»Es werden mehr werden«, gab Gloria zurück.
»Ein solch löbliches Unterfangen finanziert sich ja nun nicht von allein«, sagte Miss Bateson. »Wie man hört, haben Sie Sponsoren?«
»Ja«, antwortete Gloria, »es ist überaus erfreulich, dass namhafte Zeitgenossen den Verein unterstützen. Da sind Lady Virginia Heaton und ihr Ehemann Alfred von Sachsfeld und Thalburg zu nennen. Außerdem Mr Cecil Rigby von der Rigby Sparkasse, Mr und Mrs Oscar Wilde sowie Mr Dickson.«
»Etwa der Mr Dickson?«, hakte Miss Bateson nach. »Der Ehemann der Patentochter der Königin?«
»Ja. Mr Dickson hat Erfahrung im Gründen von Schulen und seine Ratschläge waren sehr wertvoll.«
Miss Bateson nickte anerkennend und notierte sich dies.
»Auch Mr Wildes Unterstützung ist finanzieller Natur?«, fragte Mr Morris, hielt mit Schreiben inne und sah Gloria an.
»Ja«, bestätigte sie. »Wenngleich seine Anregungen in Bezug auf die funktionale und trotzdem ästhetische Gestaltung der Räume einen ebenso hohen Stellenwert einnahmen.«
»Was genau werden Sie anbieten?«, wollte Miss Bateson wissen.
»Abendkurse in Deutsch, Englisch, Französisch, Geographie, Rechnen, Handelskunde, Zeichnen, Singen sowie Nähen. Es ist auch in der kleinen Broschüre aufgelistet.« Gloria schaute auf ihr Blatt hinunter, sah die beiden vor ihr sitzenden und erwartungsvoll dreinschauenden Journalisten an und fuhr fort: »Des Weiteren sind Informationsabende zu Berufen vorgesehen, etwa Journalistin und Krankenschwester oder zum neuen Beruf der Dekorateurin. Samstags wird es Vorträge zu kulturellen Themen geben. Bereits jetzt stehen Termine für drei Vorträge fest: einer über Königin Elizabeth, einer über Kleopatra und das alte Ägypten sowie einer über Marie Antoinette. Allerdings verzichten wir am Wochenende der königlichen Hochzeit auf Vorträge, da wir annehmen, dass das Interesse der Öffentlichkeit dann allein Prinzessin Louise und dem Earl of Fife gelten wird.«
»Insbesondere der weiblichen Öffentlichkeit«, warf Mr Morris mit diesem belustigten Zug um die Mundwinkel ein.
Miss Bateson drehte ihm den Kopf zu und erwiderte spitz: »Wir Frauen interessieren uns nicht nur für die Kleider bei der königlichen Trauung, Sir!«
»Um Vergebung, Miss Bateson!« Mr Morris neigte sacht den Kopf.
Gloria war sich bewusst, dass viele Männer der Idee eines Frauenbildungsvereins wohl eher skeptisch gegenüberstanden, hatte Mr Morris’ Bemerkung aber nicht als Angriff aufgefasst. Obwohl sie Miss Bateson im Stillen selbstverständlich recht gab, wollte sie den Verein in der Presse keinesfalls als kämpferische Vereinigung dargestellt sehen. Sie wollten Bildung fördern, nicht die Männer angreifen. Lilian sah das wohl ebenso, wie sie mit einem raschen Seitenblick auf ihre Freundin feststellte. Also lächelte sie, rückte ihre Unterlagen zurecht und fuhr unbeirrt fort: »Weitere Vorträge sind in Planung, zum Beispiel einer über Maria Stuart. Ergänzt wird das Angebot durch Referate über zeitgenössische Kunst, das Frauenwahlrecht oder die Zulassung von Frauen zum Studium. Wir sind mit Mona Caird einig, die, wie Sie wissen, dieses Frühjahr ihren Roman ›Der Flügel des Azrael‹ herausbrachte, der eheliche Gewalt zum Thema hat. Mrs Caird wird aus ihrem Buch lesen sowie über diesen Sachverhalt sprechen.«
Mr Morris nickte anerkennend. »Ein beachtenswertes Programm«, sagte er respektvoll.
Das freute Gloria natürlich. Sie spürte ein Kitzeln in der Magengegend.
»Für wen ist das Angebot des Frauenbildungsvereins gedacht?«, wollte Miss Bateson wissen.
»Natürlich wollen wir Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten ansprechen«, antwortete Lilian. »Aber da sich der Frauenbildungsverein in der Swinton Street eher an Arbeiterinnen wendet, gehen wir davon aus, dass unser Angebot wohl hauptsächlich von Frauen der unteren bis oberen Mittelschicht sowie von interessierten Töchtern aus der Gentry und Peerage wahrgenommen werden wird. Für diese jungen Frauen besteht ein enormer Bedarf an Informationen darüber, wie sie ihrem Leben einen sinnvollen Inhalt geben können.«
»Davon sind Sie überzeugt?«, fragte Mr Morris.
»Davon sind wir überzeugt!«, antwortete Gloria mit Nachdruck.
Er schaute nicht weg – um ihre Antwort zu notieren, zum Beispiel –, sondern sah sie unverwandt an und es lag eine Mischung aus Bewunderung und Skepsis in diesem Blick. Glorias Herzschlag beschleunigte sich. Sie räusperte sich und sagte: »Haben Sie noch weitere Fragen?«
Miss Bateson, die in der Broschüre geblättert hatte, sagte: »Vermutlich sind es die bedeutenden Namen der Vorstandsmitglieder, die die von Ihnen erwähnten jungen Frauen aus der Oberschicht anziehen. »Da sind zum einen Sie, Lady Wingfield. Dann Mrs Fielding, verheiratet mit dem Sohn eines Earl, oder Lady Greville, eine Tochter des vierten Duke of Montrose und eine Autorität in Sachen Frauensport und Freizeit. Dazu noch Mrs Wilde. Beachtenswert.«
»Nun, wenn diese Namen Interessentinnen ermutigen – umso besser«, erwiderte Lilian mit einem freundlichen Lächeln. »Wer auch immer sich angesprochen fühlt, ist willkommen, gleich welchen Standes.«
»Was erwartet uns morgen Abend?«, fragte Mr Morris. Er, Miss Bateson und weitere Journalistinnen und Journalisten waren zur Eröffnungsfeier ebenfalls eingeladen.
»Lady Virginia Heaton wird dem Festakt mit ihrer Sangeskunst ebenso den nötigen Glanz verleihen wie Mrs Dickson, bis vor Kurzem bekannt als Susan Forsythe Beltà, die sie am Klavier begleiten wird. Außerdem kann man natürlich die Räume besichtigen und sich für Kurse und Vorträge anmelden.«
»Was wird es zu essen geben?«
Da war sie ja, die Frage aller Fragen. Wieder lächelte Gloria. »Nun, in erster Linie das Übliche: kaltes Roastbeef, Steak-and-Kidney-Pies, wir haben einen Apple Pie und einen Trifle. Neben den üblichen Getränken werden wir Sloe Gin und Ingwerpunsch servieren.«
»Welch ein Glück, dass ich auch morgen eingeladen bin«, kommentierte Mr Morris diese Informationen.
Gloria wertete es als Zustimmung. »Dürfen wir Sie nun im Haus herumführen?«
»Mit Vergnügen«, sagte Mr Morris und grinste.
Kapitel 2
»Ich brauche dringend eine Tasse Tee – nein, bleib sitzen, Alexander.« Gloria ließ sich in Tante Jos Gesellschaftszimmer in den Sessel fallen und fächelte sich mit der Hand Luft zu. Es war stickig hier drinnen.
Alexander, der sich bei ihrem Eintreten zur Begrüßung schon halb erhoben hatte, setzte sich wieder. Sowohl er als auch Tante Jo sahen Gloria erwartungsvoll an. Diese goss sich Tee ein und nahm einen genussvollen Schluck. Sie schloss kurz die Augen und lehnte sich im Sessel zurück. Nachdem die Journalisten gegangen waren, hatte sie sich beeilt, um zu Tante Jo zu kommen. Miss Bateson hatte recht gehabt, die Straßen waren verstopft. Verstopft, staubig und heiß, mit einer Luft, zum Schneiden dick.
»Nun sag schon, wie ist es gelaufen?«, fragte Tante Jo.
»Gut.« Gloria griff nach einem Sandwich mit geräuchertem Lachs und legte es auf einen Teller, den sie vor sich hielt. »Das frisch vermählte Paar kam vorbei. Lady Virginia war vergnügt und verliebt und glücklich. Sie sprühte und funkelte nur so vor Enthusiasmus.«
»Das gute Kind«, sagte Tante Jo und wiegte leicht den Kopf, als meine sie eigentlich »das arme Kind«.
Gloria biss in ihr Sandwich.
»Und das Interview? Nun erzähle doch«, forderte ihre Tante.
»Sie stellten die Fragen, die zu erwarten waren, zeigten sich begeistert vom Programm ebenso wie vom Haus.«
»Du bist diesbezüglich recht wortkarg«, bemängelte Tante Jo.
Ja, war sie. Weil sie Mr Morris’ Blick und seinen Händedruck zum Abschied noch immer spürte. Genau genommen war sie nämlich ein bisschen durcheinander seinetwegen. Etwas, das sie vor allem Alexander nicht merken lassen wollte.
Alexander.
Ja, so nannte sie ihn seit Kurzem. Seit zweieinhalb Wochen, um genau zu sein, als sie zusammen die jährliche Sommerausstellung der Royal Academy Of Fine Arts besucht hatten. Es war ihnen beiden einfach … herausgerutscht, dieses Du. Eigentlich folgerichtig, so wie sich ihre Bekanntschaft seit ihrem Aufenthalt in Ägypten entwickelt hatte. Sie hatten in Alexandria einiges zusammen durchgemacht. Ihre Weiterreise durch Oberägypten war geprägt gewesen von Freundlichkeit und Zurückhaltung. Zu sehr hatten sie beide es gebraucht, das Geschehene zu verarbeiten, oft, indem sie einfach nur schwiegen und die Landschaft betrachteten. Schon da hatte Gloria eine besondere Art Einvernehmen gespürt, das sich auf der Rückreise vertieft hatte. Zaghaft hatten sie auf dem Dampfschiff begonnen, über das Erlebte sowie sich selbst zu sprechen. Warum er nach Alexandria gefahren war, den moralischen Zwiespalt, in den er dort geraten war. Auf dem Dampfschiff war es auch gewesen, dass sie erfahren hatte, dass er geschieden war. Bei einem Spaziergang an Deck war er darauf zu sprechen gekommen. Er war nicht ins Detail gegangen, hatte lediglich erwähnt, dass seine geschiedene Frau wieder verheiratet war und in Paris lebte. Gloria war überrascht gewesen. Dass er geschieden sein könnte, hatte sie nicht erwartet. Schon als sie ihn in Italien kennengelernt hatte, hatte sie sich gefragt, wo denn wohl Lady Lyndon sei, aber natürlich wäre es nie infrage gekommen, etwas Derartiges zur Sprache zu bringen. Seine Enthüllung hatte sie nicht schockiert, im Gegenteil, von Marseille nach Paris, von Paris zur Küste, über den Kanal und schließlich nach London – ganz allmählich verringerte sich die Distanz zwischen ihnen. Er war noch zwei Tage in London geblieben, bevor er nach Leicestershire aufgebrochen war, und als der Zug schließlich mit ihm aus dem Bahnhof gerollt war, hatte sie eine eigentümliche Leere gespürt.
Doch diesmal hatten sie sich geschrieben.
Und zwar sehr regelmäßig.
Er berichtete ihr von der Forstwirtschaft und den Arbeiten auf seinem Gut, erwähnte Nachbarn oder seine Mutter. Gloria erzählte vom Fortgang der Pläne bezüglich des Frauenbildungsvereins. Sie berichtete von den Kontakten, die sie knüpfte, zählte die Kurse auf, die bereits fest geplant waren. Der Ton ihrer Korrespondenz wurde zunehmend offener, ja vertrauter, und sie äußerten Dinge, die schriftlich leichter zu sagen waren, als wenn man seinem Gesprächspartner gegenübersaß. Schließlich kündigte er an, in der letzten Juniwoche für den Rest der Saison nach London zu kommen – und lud sie und Tante Jo zu seinem Geburtstagsdinner Ende Juni ins Grand Hotel ein. Dort hatte sie denn auch seine Mutter kennengelernt, die für ein paar Tage mit ihm gekommen, inzwischen aber wieder abgereist war.
Seither war er also in der Stadt, und dann hatte er sie auf der Ausstellung der Royal Academy Of Fine Arts nach ihrer Meinung zu einem Gemälde fragen wollen und den Satz begonnen mit: »Was hältst du von … oh, entschuldigen Sie, Lady Gloria!«
»Das macht ganz und gar nichts, Lord Alexander«, hatte sie erwidert.
Später war es umgekehrt gewesen, sie war angerempelt worden und gegen ihn gestolpert, und da war ihr herausgerutscht: »Ach je, bin ich dir auf den Fuß getreten? Verzeih!« Dann hatte sie gelacht und gesagt: »Es hört sich richtig an. Wollen wir es nicht … beibehalten?«
Und er hatte gelächelt und geantwortet: »Wollen wir!«
So war das also mit Alexander. Und nun saß er hier und nahm mit Tante Jo den Tee, als gehöre er zum Inventar.
»Gloria?«, hakte Tante Jo nach.
»Entschuldige, ich bin ein wenig erschöpft. Aber du willst doch wohl nicht jede einzelne Frage wissen, die die Journalisten stellten. Das kann man schließlich alles in der ›Morning Post‹, dem ›Standard‹ und in ›The Queen‹ nachlesen.«
»So bist du mit allen sonstigen Vorbereitungen so weit fertig?«, lenkte Alexander das Gespräch in eine andere Richtung.
»Alles ist für den großen Tag bereit«, antwortete sie.
»Gut«, sagte er, lächelte und erhob sich. »Ich denke, ich sollte nun aufbrechen. Ich hole dich gegen neun Uhr ab. Danke für den Tee, Lady Blythe.«
»Jederzeit, Lord Alexander.«
Und bevor ihre Tante sie weiter mit Fragen löchern konnte, erhob sich auch Gloria und zog sich zurück, um noch ein wenig zu ruhen und sich dann für den Abend umzuziehen.
»Ein Velo?«, fragte Alexander verwundert.
Gloria saß neben ihm in seiner Kalesche, die sein Kutscher Finley durch Londons abendliche Straßen lenkte. Sie waren auf dem Weg zum Ball der Herzogin von Kent. Das Klappverdeck war zurückgeschlagen, dennoch war es alles andere als kühl. Cabs, Equipagen und Omnibusse drängten sich um sie her.
»Für eine Lady?«
Gloria spürte seinen Blick und konnte sich seinen überraschten Gesichtsausdruck richtig gut vorstellen. Sie sah weiter geradeaus und erwiderte: »Ich überlege das schon eine ganze Weile. Es könnte nützlich sein, ich wäre unabhängig.«
»Aber das bist du doch jetzt auch. Du fährst in Droschken.«
»Mietkutschen sind oft schmutzig und bei manchen guckt sogar das Stroh aus dem Sitz.« Sie sah ihn an, lächelte. »Es könnte Spaß machen, weißt du?«
»Es ist aber gefährlich. Was man so liest.«
»Und gesund. Was man so liest.«
»Ich fürchte, du hast es dir in den Kopf gesetzt und wirst so ein unsägliches Gefährt kaufen.«
»Wir möchten im Frauenbildungsverein einen Vortrag zu dem Thema anbieten. Da sollte ich so ein unsägliches Gefährt doch auch fahren, meinst du nicht?«
»Ihr werdet auch Vorträge über Krankenpflege anbieten und du legst nicht selber Verbände an.«
»Ich wollte dich bitten, mitzukommen.«
»Mitzukommen?«, echote er. »Wohin denn?«
»In ›Woman’s World« stand vor zwei Jahren ein Artikel zu diesem Thema. Ich las ihn damals nur flüchtig, weil …« Sie unterbrach sich, weil sie sich gerade selbst an Nicks Tod erinnert hatte. Seinerzeit, in grenzenloser Trauer über den Verlust des geliebten Mannes, war sie nicht imstande gewesen, über das Radfahren nachzudenken. Dennoch hatte sie den Artikel nicht vergessen, und noch weniger die Abbildung einer Lady, die selbstbewusst auf einem Dreirad fuhr. Grenzenlos war ihre Trauer inzwischen nicht mehr, wie sie in letzter Zeit schon öfter festgestellt hatte, wenn sie Nicks Vater, Cecil Rigby, getroffen hatte. In der Anfangszeit nach Nicks Tod hatte sie ihn nicht sehen können, ohne in Tränen auszubrechen, und auch er hatte feuchte Augen bei ihrem Anblick bekommen, jener Frau, die sein Sohn geliebt hatte. In den vergangenen Monaten nun hatte sie Nicks Vater häufiger gesehen, er war ihr mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Es war vorgekommen, dass sie bei einem geschäftlichen Treffen wegen etwas lachen mussten – und es beide genossen. Sie wusste, dass es inzwischen auch für ihn leichter war.
»Ja?«, hörte sie Alexander neben sich.
»Nun, in jenem Artikel war die Empfehlung zu lesen, man solle den Fahrradkauf unbedingt zusammen mit einem Fachkundigen tätigen. Jemand, der sich mit der Materie auskennt.«
Er zog die Augenbrauen hoch.
»Ich dachte, du könntest mich vielleicht begleiten.«
»Es ehrt mich, dass du denkst, ich sei fachkundig.«
»Hast du nicht damals in Italien erwähnt, du besäßest ein Hochrad?«
»Habe ich das? Tatsächlich besaß ich einmal eines. Mein Bruder Thomas meinte, das sei en vogue und ich müsse so ein Ding haben. Ich hatte es nur kurz.«
»Dann hast du mir das in Italien erzählt, um anzugeben?« Sie lachte. »Das hörte sich nämlich ganz anders an als diese Aussage jetzt.«
Nun war es an ihm, den Blick von ihr abzuwenden und geradeaus zu sehen. »Tatsächlich erinnere ich mich nicht mehr daran, was ich sagte.«
»Ich schließe daraus, dass du nicht sehr viel Ahnung von Fahrrädern hast?«
»Habe ich nicht, nein.«
»Kommst du trotzdem mit?«
Er sah sie an. »Ich nehme an, ich kann dich nicht umstimmen?«
Sie grinste und schüttelte den Kopf.
Er seufzte vernehmlich. »Es dient wohl der Schicklichkeit, dass ich dich begleite.«
»Lady Greville würde ja mit mir gehen, du weißt, sie ist die Autorität, wenn es um Frauensport geht. Aber sie ist immer sehr beschäftigt und ich will sie nicht überstrapazieren, sie kommt schon mit, wenn ich die entsprechende Kleidung kaufe. Außerdem ist es die traurige Wahrheit, dass man als Frau, sobald man in männlicher Begleitung ist, ernster genommen wird. Selbst wenn die männliche Begleitung keine Ahnung von der Materie hat.«
»So ist nun einmal unsere Welt.«
»Aber so muss sie nicht bleiben.«
Sämtliche Fenster im Haus der Herzogin von Kent erstrahlten in sattgelbem Licht, warfen es heraus auf die Straße in die graublaue Dämmerung des Sommerabends und kündeten vom festlichen Ereignis. In rascher Folge hielten Kutschen vor der Freitreppe, entließen ihre herausgeputzten Insassen und fuhren weiter, um Platz zu machen für die nächsten. Auch Finley konnte nun vorfahren. Alexander stieg aus und war Gloria behilflich. Sie hatte kaum den Fuß auf den Boden gesetzt, als eine angenehme Stimme neben ihr sagte: »Sie sehen hinreißend aus, Lady Wingfield!«
Gloria wandte sich dem Mann zu – es war Mr Morris.
»Oh – danke sehr!«, erwiderte sie überrascht.
»Lord Lyndon, dies ist Mr Morris, der mich heute Nachmittag interviewte. Mr Morris – Lord Lyndon«, stellte Gloria die beiden vor. Alexander nickte zur Begrüßung und der Journalist erwiderte die knappe Geste. »Ein großes gesellschaftliches Ereignis«, sagte er und deutete mit dem Kinn hinauf zur Eingangstür, die nicht nur von zwei dorischen Säulen, sondern auch von zwei Dienern in rotweißer Livree flankiert wurde. »Können Sie etwas zu den Gästen sagen?«, fragte Mr Morris, und noch ehe Gloria eine Antwort geben konnte, sagte Alexander: »Ich denke, Sie sehen sie ja ankommen und können sich Ihr eigenes Bild machen. Wir müssen nun.« Er fasste Gloria am Ellbogen und machte Anstalten, sie zur Treppe zu führen. »Guten Abend, Mr Morris.«
Gloria hielt jedoch inne, weil Alexanders distinguierte Haltung sie störte, und sagte: »Alles, was Rang und Namen hat, wird sich heute Abend hier versammeln. Weit mehr Prominenz als morgen bei unserer Veranstaltung. Man wird Ihnen den Artikel aus der Hand reißen.«
»Seien Sie nicht derart bescheiden, Lady Wingfield. Die Hälfte der Anwesenden wird doch auch morgen zu Ihnen kommen.«
Sie lächelte und sagte: »Guten Abend, Mr Morris.«
Sie wandten sich ab und stiegen die Treppe empor.
»Das war sehr unhöflich von dir«, rügte Gloria Alexander und warf ihm einen kurzen Seitenblick zu.
»Ich hatte dir ebenfalls noch sagen wollen, dass du überaus bezaubernd aussiehst. Aber mit deinem Gerede über Velos und dergleichen kam ich ja nicht dazu.«
Gloria hielt überrascht inne und starrte ihn an. »Du meinst das ernst«, sagte sie.
Er drehte ihr das Gesicht zu, umfasste noch immer ihren Ellbogen. »Natürlich«, sagte er gelassen, als würde er sagen: »Selbstverständlich ist der Himmel blau.« Aber die Narbe unter seinem rechten Auge zuckte.
»Nun, du hättest es bereits in Tante Jos Flur sagen können, als ich die Treppe herunterkam.«
»Da war mir die Luft weggeblieben.«
Das machte sie für einen Augenblick sprachlos. Er deutete an, weiterzugehen, und so murmelte sie »Danke« und ließ sich hinaufführen.
Sie betraten das Haus, und augenblicklich vergaß man, was man eben gesagt oder gedacht hatte. Eine Maid, herzallerliebst herausgeputzt als Schäferin, überreichte jeder eintretenden Dame ein Bouquet pinkfarbener Rosen mit langen blauen Seidenbändern. Entsprechend war die Dekoration in der Eingangshalle. Überall Blumen in den Farben Rosa, Rosé und Mauve. Als Gloria die Herzogin von Kent am Eingang zum Ballsaal stehen sah, wo sie an den weit geöffneten Flügeltüren die Gäste empfing, wusste sie auch, warum. Das Abendkleid der Herzogin aus mauvefarbenem und gelbem Chiffon passte hervorragend zu der Blumenpracht. Gloria selbst trug ein ärmelloses goldfarbenes Ballkleid mit perlenbestickter Schärpe und überlegte, ob sich das mit dem vielen Rosa um sie her biss. Aber … nun, Alexander gefiel ihre Aufmachung …
»Meine liebe Lady Wingfield!«, flötete die Herzogin und streckte Gloria beide Hände zur Begrüßung hin. »Wie schön, Sie zu sehen!«
»Das Vergnügen ist ganz meinerseits«, schmeichelte Gloria. Eigentlich fand sie die Herzogin etwas anstrengend. Sie war eine noch immer schöne Frau, mit dunkelbraunem Haar, kräftigen Augenbrauen und großen braunen Augen. Aber sie hatte etwas Einnehmendes, auch Forderndes, das einem das Gefühl gab, als klammere sie sich mit jeder Silbe an einem fest.
»Darf ich Sie mit Lord Lyndon bekannt machen?«