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Gibt man einen Sandhaufen auf einen anderen Sandhaufen, erhält man wiederum nur einen Haufen Sand. Dasselbe gilt, wenn man eine Farbe mit einer anderen mischt. Zuweilen bleibt 1+1 eben einfach 1 – und die skeptische Schülerin behält recht. Warum Mathe trotzdem (oder gerade deshalb) spannend ist und unendlich viel Spaß machen kann, erklärt dieses Buch, geschrieben für renitente Schüler*innen, verzweifelte Eltern, ratlose Lehrer*innen und alle, die es richtig wissen wollen. Anders als die meisten Schulfächer und Wissenschaften scheint die Mathematik eine Disziplin der vorgekauten Antworten zu sein. Musst Du glauben, lernen, pauken, lautet die probate Anweisung. Bis es sitzt. Spaßfaktor gleich null, Stressfaktor hoch zwei. Das muss nicht so sein, sagt die britische Mathematikerin Eugenia Cheng. Und es entspricht auch nicht dem echten Geist der Mathematik. Der beruht nämlich keineswegs auf starren, angsteinflößenden Regeln, sondern auf natürlicher Neugierde – und der Tatsache, dass die Menschen sich nicht mit vorgefassten Antworten zufriedengeben. Sondern immer weiterfragen. Deshalb hat Cheng dieses Mathe-Emotionen-Buch geschrieben: eine subversive, so voraussetzungslose wie spannende Einführung in die Mathematik.
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Eugenia Cheng
Das Buch, von dem du dir wünschst, dein Mathe-Lehrer hätte es gelesen
Aus dem Englischen von Jens Hagestedt
C.H.Beck
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
Motto
Einleitung
1: Wie Mathe entsteht
Grenzen in Frage stellen
Die Ursprünge der Mathematik
Abstraktion
Sind abstrakte Begriffe real?
Wie Mathe sich entwickelt
Erweiterung des Begriffs der Multiplikation
Weiter die Wendeltreppe hinauf
Beziehungen herstellen
Wann 1 + 1 nicht 2 ist
Pakete
Mathematische Pakete
Bausteine
Wann 1 + 1 gleich 2 ist
2: Wie Mathe funktioniert
Woher wissen wir, dass Mathe richtig ist?
Negativ
Die Null
Negative Zahlen
Wenn Mathematiker unsicher werden
Die Bedeutung der Fragen der Studierenden
Binäre Logik versus Differenzierungen
Begründungen, nicht richtige Antworten
Warum kann man nicht durch null dividieren?
Dividieren als Kehrwertbildung
Wo wir durch null dividieren können und wo nicht
3: Warum wir Mathe machen
Nutzlose Mathematik
Nach Grundbausteinen suchen
Primzahlen als Grundbausteine
Wozu dient der Matheunterricht?
Warum sollte man das Addieren in Spalten lernen?
Verallgemeinern
In Pfützen springen und Berge besteigen
Erste Prinzipien
Charakterisierung von Zahlen nach ihrem Verhalten
Unverhofft nützliche Mathematik
Die Nützlichkeit der platonischen Körper
Unendlichkeit
4: Was gute Mathematik ausmacht
Mathematische Werte
Was sind eigentlich wiederkehrende Dezimalziffern?
Die Anfänge der Infinitesimalrechnung
Ein Licht auf etwas werfen
Abstrakte Puzzles
Verallgemeinern und vergleichbar machen
Komplexe Zahlen
Komplexität herstellen
Fortschritt und Kolonialismus
Ramanujan und Hardy
5: Buchstaben
Beziehungen
Der zweidimensionale Raum
Wie eine Gleichung ein Bild beschreibt
Wenn Geraden nicht gerade aussehen
Fazit: Warum Buchstaben?
6: Formeln
Auswendiglernen versus Verinnerlichen
Kreisförmige versus quadratische Gitter
Sinus und Cosinus
Beziehungen und Formeln
Kreise und Quadrate
Der Begriff des Flächeninhalts
Was ist π?
Wenn Kreise nicht kreisförmig aussehen
Eselsbrücken
7: Bilder
«Alle Gleichungen sind Lügen»
Das Tiefsinnige am Zählen mit Rechenklötzen
Die Bedeutung von Bildern
Das Zeichnen von Graphen
Merkmale übersetzen
Florence Nightingale, Mathematikerin
Kommutativität mit Differenzierungen
Mathematische Zöpfe
Zöpfe in der Kategorientheorie
Zöpfe in höheren Dimensionen
Bildliche Darstellung abstrakter Strukturen
Mein Leben in Diagrammen
Mein Genuss beim Eisessen
Schlaf
Menschen
In welchem Maße mir Menschen am Herzen liegen
Liebeskummer
8: Geschichten
Wie viele Ecken hat ein Stern?
Wie viele Seiten hat ein Kreis?
Wie viele Löcher hat ein Strohhalm?
Nachwort: Ist Mathe real?
Danksagung
Zum Buch
Vita
Impressum
Für alle, die jemals geglaubt haben, schlecht in Mathe zu sein: Sie sind nicht an Mathe gescheitert, sondern Mathe ist an Ihnen gescheitert.
In einem meiner Lieblingsfächer in der Schule haben wir einmal Plüschtiere genäht – ich einen flauschigen Pudel und einen schlafenden Welpen mit weichen Samtohren. Ich mochte den ganzen Fertigungsprozess, vom Zuschneiden der Teile, die am Ende auf wundersame Weise ein Tier ergeben würden, über das Zusammennähen dieser Teile bis hin zu dem magischen Moment, in dem ich das Ganze umstülpte, um es anschließend auszustopfen, so dass es lebendig zu werden schien.
Warum ein Plüschtier nähen, wenn man auch eines kaufen könnte? Warum etwas selbst herstellen, wenn man es auch als Fertigprodukt bekommen kann?
Weil selbstgemacht manchmal besser ist. Mir schmeckt selbstgebackener Kuchen viel besser als gekaufter. Aber manchmal ist das, was wir selbst machen, nicht objektiv besser. Ich spiele gern Klavier, obwohl ich viel bessere Darbietungen hören kann, wenn ich CDs abspiele oder in Konzerte gehe. Manchmal macht es mir sogar Spaß, mir ein Kleidungsstück selbst zu nähen, obwohl das Ergebnis immer ziemlich schräg ist.
Manchmal ist es auch billiger, etwas selbst zu machen. Für mich ist es viel billiger, mir die Haare selbst zu schneiden, also tue ich’s. Obwohl ein professioneller Haarschnitt besser aussehen würde.
Aber oft ist es einfach befriedigend, etwas selbst zu machen – was mich betrifft, zum Beispiel Essen, Musik und Kleidung. Andere Leute finden ganz andere Dinge befriedigend: zum Beispiel, eine Felswand mit bloßen Händen zu erklimmen (nein danke), den Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff zu besteigen (auch nichts für mich) oder über den Atlantik zu rudern (das überlasse ich ebenfalls anderen). Vielleicht genügt auch eine Campingtour, bei der man alles auf dem Rücken trägt, einschließlich der Lebensmittel und des Zelts, so dass man sich in der Wildnis eine Zeit lang selbst versorgen kann.
Für mich geht es auch in Mathe darum, etwas selbst zu machen: Ich möchte Wahrheit selbst «machen». Möchte in der unerforschten Welt der Ideen Selbstversorgerin sein. Ich empfinde das als eine gleichzeitig ungeheuer aufregende und einschüchternde, aber letztlich freudvolle Erfahrung, und die möchte ich beschreiben.
Ich möchte beschreiben, wie Mathe sich anfühlt. Sie fühlt sich nämlich ganz anders an, als viele es sich vorstellen. Ich werde die kreative Seite der Mathematik beschreiben, die phantasievolle, die forschende, die auf Erkenntniszuwachs aus ist; die Erfahrung, dass wir auch in Mathe träumen, unserer Spürnase folgen, auf unser Bauchgefühl hören und die Freude haben, plötzlich zu verstehen, so als hätte sich mit einem Mal der Nebel gelichtet und die Sonne wäre zu sehen.
Dies ist kein Mathe-Lehrbuch und auch kein Buch über die Geschichte der Mathematik. Es ist ein Buch über Mathe-Gefühle.
Mathe löst bei verschiedenen Menschen ganz verschiedene Gefühle aus, und für manche steht sie vor allem für Angst und die Erinnerung daran, für dumm gehalten zu werden. Ich möchte Mathe in einem anderen emotionalen Licht zeigen.
Manche Menschen lieben die Mathematik und manche hassen sie, und leider führt die Art und Weise, wie manche Mathe-Liebhaber über diese Wissenschaft sprechen, dazu, dass die anderen sie noch mehr hassen. Menschen lieben Mathe aber aus zwei ganz verschiedenen Gründen. Einige lieben sie, weil sie glauben, es gebe in ihr nur entweder richtige oder falsche Antworten. Es fällt ihnen leicht, die richtigen Antworten zu finden, und das gibt ihnen das Gefühl, schlau zu sein. Andere mögen Mathe aus mehr oder weniger demselben Grund nicht, aber andersherum: Sie glauben ebenfalls, es gebe in Mathe nur richtige oder falsche Antworten, aber es fällt ihnen schwer, die richtigen Antworten zu finden, und das gibt ihnen das Gefühl, dumm zu sein. Oder sehr wahrscheinlich werden sie von Leuten, die die richtigen Antworten leichter finden, dazu gebracht, sich dumm zu fühlen. Und sie mögen die Vorstellung, dass es eindeutig richtige oder falsche Antworten gibt, auch gar nicht. Sie sehen die feinen Nuancen des Lebens und glauben nicht, dass etwas, was nur Schwarz und Weiß kennt, das erfassen kann, was sie am Leben am interessantesten finden.
Diese Vorstellung von einer rigiden Welt mit eindeutig richtigen oder falschen Antworten ist jedoch nur sehr begrenzt richtig. In der abstrakten Mathematik gibt es in Wahrheit keine Antworten, die eindeutig richtig oder falsch sind, vor allem nicht auf der Ebene der Forschung. Aber nur wenige Menschen kommen so weit, dass sie erfahren, wie Mathe wirklich ist. Und ungewöhnlicherweise lieben Mathematiker Mathe oft aus denselben Gründen, aus denen Mathephobiker sie hassen: Es geht ihnen um Feinheiten und Nuancen, um auszudrücken und zu erkunden, was das Interessanteste ist am Leben. Letzten Endes geht es in Mathe nicht um eindeutig richtige oder falsche Antworten, sondern um Welten von zunehmender Differenziertheit, in denen verschiedene Dinge wahr sind.
Mathe-Forscher und Mathephobiker haben also seltsamerweise eine ähnliche Einstellung zur Mathematik. Doch leider erfahren die Angehörigen der zweiten Gruppe in der Regel nie, wie verwandt ihre Gedanken und Gefühle denen eines Mathe-Forschers sind.
Es klafft eine Lücke zwischen dem, was Mathe wirklich ist, und der Art und Weise, wie sie wahrgenommen wird. Ich möchte diese Lücke schließen. Zu viele Menschen werden von Mathe unnötigerweise abgeschreckt. Zu viele kommen sich dumm vor, weil sie Fragen stellen, die zwar einfältig klingen, aber in Wahrheit wichtig und tiefschürfend sind. Sie haben Fragen, die ihnen auf den Nägeln brennen, aber man sagt ihnen, es seien dumme Fragen oder solche Fragen stelle man nicht in der Mathematik, obwohl sie in Wahrheit von großem mathematischen Interesse sind. Ich möchte diese Fragen beantworten und darüber hinaus das Bedürfnis, mehr zu verstehen, statt Mathe als selbstverständlich zu betrachten, rechtfertigen. Das ist wichtig, geht es doch in Mathe gerade darum, Dinge nicht als selbstverständlich zu betrachten.
Ich habe nicht die Absicht zu missionieren, um jeden von Mathe zu überzeugen. Manche Menschen werden abgeschreckt von Dingen, die andere begeistern; deshalb ist es nicht möglich, alle Menschen für Mathe zu interessieren. Ich möchte nur ein wenig Licht ins Dunkel bringen und zeigen, wie Mathe wirklich ist, um Mythen zu zerstreuen und Missverständnisse auszuräumen, damit Menschen nicht länger aus falschen Gründen von ihr abgeschreckt werden. Wenn Sie wissen, wie Mathe wirklich ist, und sie dennoch nicht mögen, ist das Ihr gutes Recht – wir müssen nicht alle dieselben Dinge mögen. Ich finde es nur schade, dass so viele Leute glauben, Mathe nicht zu mögen, obwohl sie nur mit einer sehr limitierten, phantasielosen, autoritären Version davon bekannt gemacht wurden, einer Version, die keinen persönlichen Beitrag und keine Neugier zulässt.
Das Gefühl, einen persönlichen Beitrag leisten zu können, ist mir sehr wichtig. Manchmal, vor allem wenn ich den ganzen Tag unterrichtet habe, bin ich zu müde, um mir ein Abendessen zuzubereiten, auch wenn das meiste schon fertig ist und ich nur noch eine Packung Nudeln öffnen und den Inhalt in kochendes Wasser werfen müsste. Aber ich bin nie zu müde, um einen Kuchen zu backen. Mir ist klar geworden, dass das mit dem persönlichen Beitrag zu tun hat. Es kann sein, dass ich keine Energie habe, etwas Bestimmtes zu tun, wenn es keinen persönlichen Beitrag und keine Kreativität erfordert, während ich noch Energie für etwas habe, das mehr Mühe macht, aber einen persönlichen Beitrag und Kreativität eben zulässt und sich daher für mich lohnt.
Wenn Menschen von Mathe abgeschreckt werden, kann das mit diesem Aspekt zusammenhängen. Wer gern persönliche, kreative Beiträge leistet, für den ist Routinemathematik nach vorgegebenen Algorithmen uninteressant, und was uninteressant ist, ist oft zu mühsam. Lieber knetet man dann vielleicht ein zwölfteiliges, daumennagelgroßes Teeservice aus Plastilin, wie das ein Kunststudent in meinem Seminar tat, nachdem wir Plastilin für einen mathematischen Zweck verwendet hatten und zur Diskussion übergegangen waren.
Wenn wir an der Universität Mathe unterrichten, ist es nicht immer ganz leicht zu entscheiden, wie wir uns an die beiden Gruppen von Studierenden wenden sollen, die wir normalerweise vor uns haben: Wir möchten einerseits, dass einige Studierende in der Lage sein werden, alles «richtig» und genau zu machen, wenn sie in die Forschung gehen oder Berufe ergreifen, die diese Fähigkeit voraussetzen, wissen aber andererseits, dass die meisten Besucher normaler Lehrveranstaltungen in Mathe dies nicht tun werden. Der Versuch, alle dazu zu bringen, dass sie den Anforderungen mathematischer Berufe genügen, wäre so, als wollte man Kinder im Kochunterricht zu professionellen Köchen machen. Es ist besser (in beiden Fällen, vermute ich), stattdessen mit den Möglichkeiten bekannt zu machen, Freude und Neugier zu fördern und darauf zu vertrauen, dass, wer die fortgeschrittenen Fähigkeiten braucht und erwerben möchte, dies später tun kann.
Wenn ich so etwas sage, regen sich normalerweise einige Leute auf und entgegnen: «Aber es gibt doch mathematische Grundkenntnisse, die für das tägliche Leben wichtig sind!» Ich nehme auch an, dass es die gibt, aber ich glaube nicht, dass es wirklich so viele sind. Die meisten Szenarien, in denen sie angeblich wichtig sind, erscheinen mir sehr konstruiert. Wie dem auch sei, wir unterrichten viele Dinge, die überhaupt nicht wichtig sind, und bei Mathe müssen wir das gegen den Schaden abwägen, den wir anrichten, wenn wir dieses Fach so vielen Menschen durch einen phantasielosen und beschränkten Ansatz verleiden.
Mathe scheint allzu oft auf rigide festgelegten Regeln zu basieren und macht deshalb Angst. Aber in Wahrheit entsteht Mathe aus Neugier. Sie entspringt der instinktiven menschlichen Neugier und der Tatsache, dass Menschen sich mit Antworten nicht zufriedengeben und mehr verstehen wollen. Mathe entsteht aus Fragen.
Haben Sie schon mal eine Frage gestellt, die die Mathematik betraf, und man hat Ihnen gesagt, das sei eine dumme Frage? Es gibt viele die Mathematik betreffende Fragen, die sogar Kinder stellen, zum Beispiel: Ist Mathe real? Wie entsteht sie? Woher wissen wir, dass sie richtig ist? Leider werden zu viele Menschen davon abgehalten, diese Fragen zu stellen. Man sagt ihnen, diese Fragen seien dumm. Aber in Mathe gibt es keine dummen Fragen. Diese angeblich dummen Fragen sind vielmehr genau diejenigen, die Mathematiker stellen, die die mathematische Forschung vorantreiben und die Grenzen unseres mathematischen Verständnisses hinausschieben.
Es mag den Anschein haben, dass es in Mathe um das Beantworten von Fragen gehe, aber einer der wichtigsten Aspekte von Mathe ist das Stellen von Fragen. Ich werde zeigen, dass diese Fragen manchmal unscharf, naiv, einfältig oder konfus erscheinen mögen, dass sie aber die Fundamente der Mathematik betreffen können. Diese Fragen entspringen Eigenschaften, die wir mit Mathe oft nicht in Verbindung bringen: Kreativität, Phantasie, Bereitschaft zur Regelverletzung, Freude am Spiel.
Wir sollten diese Art von Fragen begrüßen, statt sie zu unterdrücken. Sonst vermitteln wir Schülern und Schülerinnen den Eindruck, Mathe sei rigide und autoritär und sollte nicht in Frage gestellt werden. Mathe ist aber das Gegenteil von rigide und autoritär. Sie ist auf soliden Grundlagen aufgebaut, damit sie tiefschürfenden Fragen standhalten kann. Allen Fragen. Und wenn wir Fragen nicht beantworten können, ist der mathematische Impuls nicht, diese Fragen zu unterdrücken, sondern mehr Mathe zu machen, um sie beantworten zu können.
Das ist der Grund, warum Fragen die Fundamente der Mathematik vertiefen können.
Wenn man sich mit einer Doktorarbeit an der Forschung beteiligen will, besteht eine der schwierigsten Aufgaben darin, herauszufinden, welche Fragestellung für die Arbeit geeignet ist, und nicht zuletzt ist dafür der richtige Betreuer wichtig. Auch in meinen Forschungen auf dem abstrakten Gebiet der Kategorientheorie gilt es vor allem, sich darüber klar zu werden, welche Frage wir überhaupt stellen wollen. In der Schulmathematik legen wir zu viel Wert auf das Beantworten von Fragen; das Stellen von Fragen sollte uns wichtiger sein, als es ist. Ich habe im Internet «tolle Fragen, die Kinder in Mathe stellen» gesucht, aber leider nur tolle mathematische Fragen gefunden, die man Kindern stellen kann. Alle da draußen scheinen zu denken, dass wir die Fragen stellen und die Kinder sie beantworten sollten. Das ist verkehrt herum gedacht.
Ich möchte Sie ermutigen, Fragen zu stellen, die Sie schon immer stellen wollten, die aber nie beantwortet wurden. Von denen Leute sagten, sie seien nicht wichtig – Sie sollten sich lieber reinknien und Ihre Hausaufgaben machen. Fragen, die Ihnen das Gefühl gaben, Sie seien kein «Mathe-Mensch», weil die Leute, die in Tests gut abschnitten, diese Fragen anscheinend nicht stellten. Fragen, die Sie gebremst haben, weil Sie sich nicht damit begnügen wollten, die Antworten hinzuschreiben, die Sie hinschreiben sollten. Um solche Fragen geht es in diesem Buch, denn sie betreffen die Grundlagen der Mathematik. Das ist nicht die Art von Mathe, bei der wir Zahlen addieren und multiplizieren, die Winkel in einem Dreieck oder den Flächeninhalt einer unregelmäßigen geometrischen Form berechnen oder eine bedeutungslose Gleichung nur darum zu lösen versuchen, weil wir bei einem Test eine gute Note bekommen wollen. Ich meine die Art von Mathe, die Forscher auf dem Gebiet der abstrakten Mathematik treiben. Die Art von Mathe, die zu begreifen ein halbes Leben beanspruchen kann oder vielleicht Hunderte oder Tausende von Jahren, und selbst dann verstehen wir sie noch nicht ganz. Die Art von Mathe, für die es anscheinend keine unmittelbare Verwendung im täglichen Leben gibt; die nicht sofort ein Problem löst oder den Bau einer neuen Maschine ermöglicht. Die Art von Mathe, die mehr oder minder nur in unseren Köpfen existiert.
Ist diese Art von Mathe real?
Waren die flauschigen Welpen, die ich in der Schule genäht habe, real? Sie waren keine realen Welpen, aber sie waren echte Plüschtiere.
Mathe ist nicht das «echte Leben», sie ist aber trotzdem real. Sie besteht aus echten Vorstellungen, echten Gedanken, und sie führt zu echtem Verstehen. Ich liebe die Klarheit, die sie mir verschafft, und bedaure, dass es manchmal so scheinen kann, als würde sie, statt Licht in Unklarheiten zu bringen, alles in ein rigides Schwarz-Weiß verwandeln. Aber ich fühle mit jedem, der diesen Eindruck hat, denn so kommt Mathe allzu oft rüber. In der Schulmathematik habe ich das auch so erlebt.
Hier ist eine graphische Darstellung der Entwicklung, die meine Liebe zur Mathematik – genauer, zum Matheunterricht – im Laufe der Zeit genommen hat:
Als ich fünf war, mochte ich Mathe ganz gern, soweit ich sie damals kannte. In der Grundschule ging es dann aber stetig bergab, und in den ersten Jahren auf der weiterführenden Schule kam ich an einen Punkt, an dem ich den Matheunterricht definitiv hasste, weil ich ihn langweilig und pedantisch fand. Schuld daran waren nicht meine Lehrer, sondern der Lehrplan und das Prüfungssystem. Die Situation besserte sich, als ich mit höherer Mathematik anfing, in der ich auch den Forschungsteil der Abschlussprüfung absolvierte, den einzigen Teil dieser Prüfung, der mir Spaß machte. Das waren Projekte mit offenem Ende, die wir über mehrere Wochen verfolgten. Sie begannen mit einer präzise gestellten Frage, eröffneten dann aber grenzenlose Möglichkeiten zur unabhängigen Untersuchung. Als ich schließlich meine Abschlussprüfung in höherer Mathematik machte, gefiel mir einiges an der reinen Mathematik wirklich: vor allem die abstrakte Algebra, das Beweisen durch Induktion und das Berechnen von Polarkoordinaten (darüber später mehr in diesem Buch). Steil aufwärts ging es aber erst an der Universität, und als ich mit meiner Promotion begann, stieg meine Liebe zur Mathematik wieder ins Unermessliche, obwohl wir keine Vorlesungen mehr hatten, sondern alles durch Lesen, Diskutieren und Seminarbesuche lernten.
Aber meine Liebe zur Mathematik ist eigentlich immer gleich groß geblieben. Ich könnte sie in der Graphik als horizontale Linie darstellen, hoch über der Schlangenlinie, die die Entwicklung meiner Gefühle gegenüber dem Matheunterricht veranschaulicht. Ich hatte das Glück, dass meine Mutter mir Dinge in Mathe zeigte, die Spaß machten; Dinge, die aufregend, rätselhaft und verblüffend waren und nichts mit dem zu tun hatten, was wir in der Schule lernen mussten. Deshalb glaubte ich, dass Mathe mehr sei als das, was auf dem Lehrplan stand, nämlich etwas, was Spaß macht, aufregend, rätselhaft und verblüffend ist. Meine Liebe dazu ist nie ins Wanken geraten. Ich weiß, dass die meisten Menschen keine Mutter haben, die ihnen diese Dinge zeigt und ihre scheinbar naiven Fragen beantwortet, so dass die Neugier auf Mathe, die sie vielleicht in der Kindheit haben, genauso abstürzt wie meine Liebe zum Matheunterricht, aber sich davon nie erholt. Ich hoffe, wir können letzteres verhindern.
Ich möchte Mathephobikern helfen, ihre Angst (oder gar ihr Trauma) zu überwinden und zu verstehen, warum Mathe-Forscher Mathe lieben, was etwas ganz anderes ist als «Zahlen zu lieben» oder Spaß daran zu haben, richtige Antworten zu finden. Ich möchte zeigen, dass die Gründe, die Menschen von Mathe abschrecken, nichts mit dem zu tun haben, was Mathe wirklich ist. Dass die vermeintlich naiven, vielleicht nicht immer gleich beantwortbaren, gar «dumm» klingenden Mathe-Fragen berechtigt sind; dass es gute Fragen sind und dass solche Fragen für die Mathematik von großer Bedeutung sind. Ich möchte Sie davon überzeugen, dass Sie, wenn Sie glauben, schlecht in Mathe zu sein, oder in der Schule als schlecht in Mathe abgestempelt wurden, vielleicht nur nach einem tieferen Verständnis gesucht haben und dass Ihnen niemand dazu verholfen hat. Und ich möchte eine Vorstellung davon vermitteln, wie es ist, in Mathe zu forschen, die Welt der Mathematik zu erkunden und, während wir immer weiter ins geheimnisvolle Unterholz vordringen, immer tiefere Wahrheiten zu entdecken.
Ich werde jedes Kapitel mit einer dieser vermeintlich naiven Fragen beginnen, die manche vielleicht für eine «dumme» Frage halten würden, und werde zeigen, dass es uns zu wichtigen mathematischen Erkenntnissen, ja zur Entdeckung ganz neuer Forschungsgebiete führen kann, wenn wir uns auf diese Frage wirklich einlassen. Das ist ein langsamer Prozess, bei dem wir nach und nach das Gestrüpp entfernen, um zu sehen, was sich dahinter verbirgt, wobei es manchmal sein kann, dass wir mehrere Schritte zurücktreten müssen, um zu erkennen, was wir da tun. Es kann auch so aussehen, als würden wir nur sehr kleine Schritte machen, die zu nichts führen, bis wir plötzlich hinter uns schauen und erkennen, dass wir einen riesigen Berg erklommen haben. All diese Dinge können beunruhigend sein, aber ein wenig (oder manchmal auch mehr als nur ein wenig) intellektuelle Unbequemlichkeit zu akzeptieren gehört dazu, wenn man in Mathe Fortschritte machen will. Unbequemlichkeit ist oft ein Ausgangspunkt für Entwicklung und Wachstum. Manchmal kann uns schwindlig werden, wenn wir eine Kluft zwischen dem bemerken, was unsere Intuition uns sagt, und dem, was sorgfältiges logisches Denken uns sagt, oder es kann uns erscheinen wie eine Diskrepanz zwischen zwei Bauchgefühlen, wie ich sie zum Beispiel empfand, als ich nach zwei Jahren Pandemie und Isolation zum ersten Mal Freunde wiedersah und das Gefühl hatte, es sei seit dem letzten Mal gar keine Zeit vergangen, aber gleichzeitig auch, es sei Ewigkeiten her.
Ich werde mit allgemeinen Fragen beginnen, die die Mathematik betreffen, und dann schrittweise näher herangehen: zunächst spezielle Themen behandeln und dann einige Geschichten erzählen. In den ersten vier Kapiteln geht es also um den allgemeinen Begriff der Mathematik: wie Mathe entsteht (Kapitel 1), wie sie funktioniert (Kapitel 2), warum wir Mathe machen (Kapitel 3) und was gute Mathematik ausmacht (Kapitel 4). Dann gehe ich zu speziellen Aspekten der Mathematik über: zur Verwendung von Buchstaben (Kapitel 5), Formeln (Kapitel 6) und Bildern (Kapitel 7).
Enden werde ich, in Kapitel 8, mit einigen Geschichten, die von naiven Fragen ausgehen und zeigen, wie Mathematiker solche Fragen mit bestehendem Wissen in Verbindung bringen und dadurch oft auf Antworten aus den Tiefen der mathematischen Forschung stoßen.
Ich werde versuchen zu beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn man, statt auf Kommando und unter Zeitdruck durch gewundene mathematische Gedankengänge hindurchzumarschieren, in Ruhe seinem Spürsinn folgt. Es ist ein Unterschied, ob man dorthin gebracht wird, was jenseits eines Waldes liegt, oder ob man lernt, wie man einen Wald durchquert, damit man weiß, wie man das macht, und außerdem das Unterholz und die Geschöpfe darin würdigen kann. Das erstere hat sein Recht, das letztere aber, wenn auch länger dauernd und schwieriger, kann viel befriedigender sein. Ich selbst finde das Erkunden einer solchen Landschaft jedenfalls befriedigender und auch aufschlussreicher. Es ist sogar, wie ich noch erklären werde, nützlich für mein tägliches Leben – nützlich in einem viel umfassenderen Sinne, als wenn ich etwa mit anderen eine Restaurantrechnung teile oder meine Steuererklärung mache: Es hilft mir, allgemein klarer zu denken.
Sicher besteht ein Unterschied zwischen den Formen klar definierter spezifischer Anwendbarkeit der Mathematik, die leicht zu beschreiben sind, und der allgemeineren, schwerer zu bestimmenden Anwendbarkeit dieser Wissenschaft. Aber dass diese allgemeinere Anwendbarkeit schwerer zu bestimmen ist, heißt nicht, dass wir ihr keine Bedeutung beimessen sollten, im Gegenteil: Vielleicht sind die Dinge, die schwer zu bestimmen sind, die wertvollsten. Am wertvollsten in der Mathematik sind ihre tiefen Wahrheiten, nicht die leicht zu behaltenden, leicht wiederzugebenden Fakten.
In diesem Buch geht es also um die tiefen Wahrheiten der Mathematik – genauer darum, wie wir sie erkennen. Es ist wie in dem alten Sprichwort, wonach man einem Menschen das Fischen beibringen soll, statt ihm einen Fisch zu geben: Wenn ich Ihnen tiefe Wahrheiten der Mathematik darstelle, gebe ich Ihnen nur diese Wahrheiten. Wenn ich Ihnen aber zeige, wie Sie Zugang zur Wahrheit der Mathematik bekommen, dann können Sie im Prinzip jede einzelne mathematische Wahrheit erkennen. Auf einer Ebene handelt dieses Buch von einigen spezifischen Fragen und Antworten, auf einer tieferen, wichtigeren Ebene aber handelt es davon, wie Fragen uns auf eine Reise schicken, wohin diese Reise führt, warum wir sie antreten sollten und was wir unterwegs zu sehen bekommen.
Es mag den Anschein haben, dass es in Mathe darum gehe, die richtigen Antworten zu finden, aber in Wahrheit geht es um das Forschen und Entdecken, um die Reise zur mathematischen Wahrheit und darum, zu erkennen, wann wir diese gefunden haben. Die Reise beginnt mit Neugier, und Neugier äußert sich in Fragen.
1
Warum ist 1 + 1 = 2?
Eine mögliche Antwort auf diese Frage lautet: «Es ist einfach so!» – eine Abwandlung von «Weil ich es sage!» und eine Antwort, die Kinder seit Generationen frustriert. «Weil ich es sage» bedeutet, es gibt eine Autoritätsperson, die die Regeln aufstellt, ohne sie rechtfertigen zu müssen; sie kann sich beliebige Regeln ausdenken, und alle anderen sind Lakaien, die diese Regeln zu befolgen haben.
Es ist vollkommen in Ordnung, wenn man von dieser Vorstellung frustriert ist. Es ist sogar ein starker mathematischer Impuls, alle Regeln brechen oder Szenarien finden zu wollen, in denen diese Regeln nicht gelten – nur um zu zeigen, dass die vermeintliche Autoritätsperson nicht so viel Autorität hat, wie sie glaubt.
Mathe kann wie eine Welt von Regeln erscheinen, die man einfach befolgen muss; sie erscheint dann rigide und langweilig. Im Unterschied dazu wird meine Liebe zur Mathematik von meiner Vorliebe für das Brechen von Regeln – oder zumindest das Anrennen gegen sie – befeuert. Es macht mich ein bisschen verlegen, weil ich damit wie eine Jugendliche klinge, die nie erwachsen geworden ist. Meine Liebe zur Mathematik wird auch davon befeuert, dass ich bei allem nach dem «Warum» fragen will – wie ein Kleinkind! Aber beide Impulse sind von großer Bedeutung für die Erweiterung unseres Wissens, insbesondere des mathematischen. Sie waren wichtig für die Entstehung der Mathematik und sind wichtig für deren Weiterentwicklung. Vor allem letzteres ist unser Thema in diesem Kapitel.
Ich möchte betonen, dass ich im Alltagsleben ein gesetzestreuer Mensch bin, denn ich verstehe Regeln, die den Zweck haben, eine Gemeinschaft zusammenzuhalten und für die Sicherheit der Menschen sorgen. Ich glaube an diese Regeln. Ich habe nichts dagegen, Regeln zu befolgen, die einen Sinn haben. Dagegen glaube ich nicht an willkürliche Regeln, die keine Berechtigung zu haben scheinen oder an deren Berechtigung ich nicht glaube: Regeln wie «Du musst jeden Tag dein Bett machen» (was wirklich nicht nach meinem Geschmack ist) oder «Bring Schokolade niemals in der Mikrowelle zum Schmelzen» (sicher kann man sie dadurch leicht ruinieren, aber wenn man sie alle 15 Sekunden umrührt, kann nichts passieren, habe ich festgestellt).
Ich möchte also untersuchen, woher sie kommen, die Regeln der Mathematik und die Mathematik selbst. Ich werde beschreiben, wie Mathe aus kleinen Keimen entsteht, auf organische Weise wächst und schließlich große Höhen erreicht. Die Keime sind scheinbar naive Fragen, die jeder von uns stellen könnte und die kleine Kinder oft stellen, statt sich einfach damit zufrieden zu geben, dass es so ist, wie ihnen gesagt wird: Fragen wie die, warum 1 + 1 gleich 2 ist. Wie alle Keime müssen auch diese auf die richtige Weise genährt werden, um zu wachsen. Sie benötigen einen fruchtbaren Boden, Platz für ihre Wurzeln und schließlich Nahrung. Leider werden unsere scheinbar naiven Fragen allzu oft nicht auf diese Weise genährt, sondern als «dumm» abgetan und beiseitegeschoben. Aber Fragen, die die Fundamente der Mathematik betreffen, unterscheiden sich von scheinbar naiven Fragen vielleicht nur darin, dass erstere gehegt und gepflegt werden. Das heißt, es gibt keinen Unterschied. Die Keime sind die gleichen.
Menschen, die Mathe nicht mögen, werden oft von der autoritären Feststellung abgeschreckt, dass etwas die richtige Antwort sei, ohne dass dies begründet würde. «Eins plus eins ist einfach zwei.» Aber wenn wir uns fragen, warum ein solcher Satz wahr ist, können wir uns dadurch eine solide Grundlage für die Mathematik schaffen, so dass wir klare und schlüssige Aussagen treffen können. Manche empfinden diese Klarheit und Schlüssigkeit als entspannend und befreiend, während andere sie als einschränkend und autoritär empfinden. Doch wenn wir einer Frage wie «Warum ist 1 + 1 = 2?» nachgehen, können wir den Gedanken prüfen, dass es in der Mathematik keine eindeutig richtigen Antworten gibt, sondern dass in verschiedenen Kontexten verschiedene Antworten richtig sind. Dies wird uns danach fragen lassen, woher die Zahlen und die Regeln der Arithmetik überhaupt kommen und wie wir diese Regeln in anderen mathematischen Kontexten verwenden können, etwa wenn wir über geometrische Formen nachdenken. Das berührt viele wichtige Themen in der Entwicklung der Mathematik, beginnend mit der Herstellung von Zusammenhängen, dem Ernstnehmen der Abstraktion und der Erweiterung unseres Denkens, um nach und nach mehr von der Welt um uns herum zu erfassen.
Aber fragen wir uns zunächst, statt darüber nachzudenken, warum eins plus eins gleich zwei ist, ob das überhaupt immer zutrifft.
Kinder scheinen von Natur aus immer auf der Suche nach Gegenbeispielen zu sein. Ein Gegenbeispiel ist ein Beispiel, das beweist, dass eine Behauptung nicht wahr ist. Zu behaupten, etwas sei immer wahr, ist wie das Ziehen einer Grenze um etwas herum, und Beispiele vorzubringen, die die Behauptung widerlegen sollen, ist wie ein In-Frage-Stellen dieser Grenze. Das ist ein Drang, der wichtig ist für die Mathematik.
Sie können versuchen, einem Kind die Antwort auf das «eins plus eins» beizubringen, indem Sie etwa fragen: «Wenn ich dir einen Muffin gebe und noch einen Muffin, wie viele Muffins hast du dann?» Das Kind könnte aber vergnügt erklären: «Keinen, weil ich sie schon gegessen habe!» Oder gar: «Keinen, weil ich keine Muffins mag.» Ich bin immer entzückt, wenn ich im Internet kecke Antworten von Kindern entdecke, die deren Eltern gepostet haben. Eine meiner absoluten Lieblingsantworten war die Antwort auf die Frage: «Joe hat sieben Äpfel und macht aus fünf davon einen Apfelkuchen – wie viele Äpfel hat er übrig?» Das Kind meiner Freundin hatte nämlich geschrieben: «HAT ER DEN KUCHEN SCHON GEGESSEN?» Ich freue mich über Antworten, die wohl richtig, aber definitiv nicht die Antworten sind, die als richtig gelten sollen. In der Denkweise der Kinder kommt ein wichtiger, aber zu wenig gewürdigter Aspekt des mathematischen Instinkts zum Ausdruck, nämlich das Bedürfnis, sich gegen ungerechtfertigte Autoritäten aufzulehnen.
Es kann sein, dass Kinder sich gegen Autoritäten auflehnen, um die Grenzen von Situationen auszuloten oder um ein Gefühl ihrer selbst in einer Welt zu erlangen, in der kaum etwas nach ihrem Willen geschieht. Ich erinnere mich noch genau an meine Kindheit und daran, wie frustrierend es war, immer tun zu müssen, was die Erwachsenen von mir forderten. Wenn ich merkte, dass ein Erwachsener mir eine Suggestivfrage stellte, machte es mir Spaß, ein bisschen das Thema zu wechseln und zum Beispiel zu sagen: «Ich mag keine Muffins.»
Das mag ein vorwitziges und obstruktives Bedürfnis sein, aber ich denke, es ist auch ein mathematisches Bedürfnis. Ja, vielleicht ist die Mathematik vorwitzig und obstruktiv, aber man kann es auch so ausdrücken, dass sie Grenzen ausloten will – genauso, wie Kinder es tun. Wir wollen uns im Klaren sein über die Grenzen, in denen etwas wahr ist, damit wir Gewissheit haben, dass wir uns in einem «sicheren» Bereich befinden; wir wollen aber auch außerhalb dieses Bereichs forschen können, wenn wir uns wagemutig fühlen oder neugierig sind. Es ist wie bei einem Kleinkind, das davonrennt, um zu sehen, wann ein Erwachsener ihm nachläuft. Das Nachdenken über Szenarien, in denen eins plus eins nicht zwei ist, ist ein Beispiel dafür.
Wenn ich sage: «Ich bin nicht nicht müde», dann bedeutet das, dass ich müde bin, und manche Kinder finden es lustig zu sagen: «Ich bin nicht nicht nicht nicht nicht nicht nicht nicht nicht nicht nicht müde!» Um dann in hysterisches Lachen auszubrechen, weil sie wissen, dass keiner mitgezählt hat, wie oft sie «nicht» gesagt haben. Worauf es hier ankommt, ist, dass ein «nicht» plus ein «nicht» dasselbe ist wie null «nicht». Das erinnert mich an das Korrigieren der Lösungen einer furchtbar schwierigen Prüfungsaufgabe, die eine lange und mühsame Berechnung mit vielen Gliedern enthielt, bei der die Studierenden leicht ein negatives Vorzeichen übersehen konnten. Dieses Korrigieren war besonders unangenehm, weil die Studierenden, wenn sie zwei oder gar vier solcher Fehler gemacht hatten, trotzdem vielleicht zur richtigen Antwort gekommen waren. Aber in Mathe zählt die Antwort nur dann als richtig, wenn sie richtig zustande gekommen ist (ein Punkt, auf den ich im nächsten Kapitel zurückkomme), und so musste ich ziemlich genau hinsehen, um zu erkennen, ob die Antwort zwar «richtig», der Weg dorthin aber fehlerhaft gewesen war.
Ein weiteres Szenario, in dem eins plus eins gleich null ist, ist das, in dem alles null ist, wie die Welt der Süßigkeiten, als ich klein war: Ich war allergisch gegen künstliche Lebensmittelfarben, und damals enthielten alle Süßigkeiten künstliche Lebensmittelfarben, so dass ich, egal, wie viele Süßigkeiten ich hatte, im Grunde keine hatte.
Manchmal kann eins plus eins auch mehr als zwei ergeben, weil Rundungsfehler auftreten. Wenn wir nur mit ganzen Zahlen arbeiten, zählt 1,4 als 1 (weil das die nächstliegende ganze Zahl ist). Aber 1,4 plus 1,4 ergibt 2,8, was (gerundet auf die nächstliegende ganze Zahl) als 3 zählt. In der Welt der gerundeten Zahlen sieht es also so aus, als ob eins plus eins drei ergäbe. In einem verwandten Szenario haben sowohl Sie als auch Ihr Freund jeweils genug Geld, um sich eine Tasse Kaffee zu kaufen, und zusammen haben Sie genug, um sich drei Tassen Kaffee zu kaufen. Aber auch wenn Sie selbst 1,5- oder gar 1,9-mal so viel Geld haben, wie eine Tasse Kaffee kostet, bekommen Sie selbst für Ihr Geld trotzdem nur eine Tasse Kaffee.
Manchmal kann eins plus eins auch deshalb mehr als zwei ergeben, weil es um Fortpflanzung geht: Wenn man zum Beispiel ein Kaninchen und ein anderes Kaninchen zusammenbringt, kann es durchaus sein, dass man am Ende eine ganze Menge Kaninchen hat. Manchmal ergibt eins plus eins mehr als zwei aber auch deshalb, weil die Dinge, die man addiert, komplizierter sind: Wenn sich ein Tennisdoppel-Team mit einem anderen Tennisdoppel-Team zu einem Tennisnachmittag trifft, können am Ende mehr als zwei Doppel-Teams gespielt haben, weil die zwei mal zwei Tennisspieler in allen möglichen Kombinationen gegeneinander angetreten sind. Wenn das erste, gemischte Doppel-Team aus A und B besteht und das zweite aus C und D, sind folgende Paarbildungen möglich: AB, AC, AD, BC, BD, CD. Ein Tennisdoppel-Team plus ein anderes Tennisdoppel-Team kann also insgesamt sechs Tennisdoppel-Teams ergeben.
Manchmal ist eins plus eins auch einfach nur eins: Wenn man einen Sandhaufen auf einen anderen Sandhaufen schaufelt, hat man hinterher noch immer nur einen Sandhaufen. Oder, wie ein Kunststudent in einem meiner Seminare bemerkte: Wenn man eine Farbe mit einer anderen Farbe mischt, erhält man eine Farbe. Oder, wie ich in einem lustigen Meme gesehen habe: Wenn man eine Lasagne auf eine andere Lasagne legt, ist es immer noch nur eine Lasagne (wenn auch eine größere).
Ein etwas anderes Szenario, in dem eins plus eins gleich eins ist: Wenn man einen Gutschein für, sagen wir, einen Donut zum Kaffee hat, aber man kann maximal einen Gutschein pro Person einlösen, so ist es auch dann, wenn man einen weiteren Gutschein hat, so, als hätte man nur einen (es sei denn, man kann ihn jemand anderem geben). Oder wenn man im Zug die «Türen öffnen»-Taste mehr als einmal drückt, kommt es auf das Gleiche heraus, wie wenn man sie nur einmal drückt – jedenfalls, was den Effekt angeht, den das Drücken der Taste hat. Vielleicht aber nicht, was das Maß an Frustration betrifft, das man mit dem Drücken der Taste abreagieren kann; möglicherweise ist das der Grund, warum manche Leute die Taste mehrmals drücken.
Sie denken jetzt vielleicht, dass eins plus eins in den beschriebenen Szenarien nicht wirklich etwas anderes ergibt als zwei, weil darin nicht wirklich addiert wird, oder weil es nicht wirklich um Zahlen geht, oder aus einem anderen Grund. Das können Sie gern denken, aber das ist nicht das, was Mathe macht.
Mathe sagt vielmehr: Lasst uns herausfinden, was das für Kontexte sind und was sie bedeuten. Lasst uns herausfinden, welche Folgen es hat, wenn die Dinge so liegen, und sehen, welche anderen Kontexte es gibt, in denen die Dinge ähnlich liegen. Lasst uns genauer bestimmen, in welchem Kontext eins plus eins wirklich zwei ist und in welchen nicht. Dadurch werden wir einen Aspekt der Welt besser verstehen als bisher.
So ist Mathe entstanden, so entwickelt sie sich weiter. Und um Kontexte zu untersuchen, in denen eins plus eins zwei beziehungsweise nicht zwei ist, möchte ich nicht nur graben, um herauszufinden, wie diese Gleichung entstanden ist, sondern ich möchte so tief graben, dass klar wird, wie jede Form von Mathe entsteht.
Mathe entsteht aus dem Wunsch, Dinge besser zu verstehen. Und um Dinge besser zu verstehen, suchen wir einen Weg, über sie nachzudenken, der sie einfacher macht. Ein Weg, Dinge einfacher zu machen, ist, die schwierigen Aspekte zu ignorieren. Aber besser ist es, eine Sichtweise zu entwickeln, die es uns ermöglicht, uns auf den Aspekt zu konzentrieren, der für uns gerade wichtig ist, ohne zu vergessen, dass die anderen Aspekte existieren.
Es ist ein bisschen wie ein Filter auf der Kameralinse, der es uns ermöglicht, uns auf bestimmte Farben zu fokussieren, bevor wir ihn gegen einen anderen Filter austauschen, um andere Farben zu sehen. Oder wie bei der Zubereitung eines Eintopfs, wenn man die Flüssigkeit abseiht, um sie zu reduzieren und zu verdicken – man schüttet das andere nicht weg, sondern gibt es anschließend wieder hinein.
Der bekannteste Ausgangspunkt für Mathe sind die Zahlen. Die meisten Kinder werden mit ihnen in Mathe eingeführt und erhalten so den ersten Eindruck davon, was Mathe ist. Für viele Menschen bestimmen sie sogar den bleibenden Eindruck von Mathe. Aber in Mathe geht es um viel mehr als nur um Zahlen. Und selbst wenn es in Mathe scheinbar um Zahlen geht, geht es in Wahrheit oft um den Prozess, der uns von unserer Welt in die Welt der Zahlen gelangen lässt, und um die Erkenntnisse, die wir dabei gewinnen.
Das Bedauerliche an der starken Assoziation von Mathe mit Zahlen ist, dass Zahlen Menschen, die Mehrdeutigkeit, Kreativität, Phantasie und Forschen ohne Vorgaben mögen, langweilig erscheinen können – und dass ihnen deshalb zu Unrecht auch Mathe langweilig erscheinen kann. Ich behaupte nicht, dass Zahlen interessant sind, sondern ich behaupte das Gegenteil: dass sie in der Tat langweilig sind, dass genau das aber ihren Wert ausmacht. Sie müssen langweilig sein.
Bei der Arbeit mit Zahlen geht es darum, einen Aspekt der Welt um uns herum so auf den Punkt zu bringen, dass wir mit ihm so schnell wie möglich fertig sind und unser Gehirn sich mit den aufregenderen Aspekten der Welt befassen kann. Das ist, wie wenn wir einen Computer die uninteressantesten Aufgaben des Lebens erledigen lassen – für mich gehören dazu das Bezahlen von Rechnungen, das Bestellen von Lebensmitteln und das Skalieren von Rezepten –, so dass unser Gehirn für die interessanteren Dinge frei ist: Ich zum Beispiel möchte lieber mit Menschen interagieren, Musik machen und leckeres Essen kochen.
Zahlen entstehen aus unserem Wunsch, die Welt um uns herum zu vereinfachen. Kein Wunder, dass das Ergebnis einfach und damit potentiell langweilig ist. Aber wie wir Zahlen erfinden, das ist alles andere als langweilig. Zahlen entstehen, wenn wir verschiedene Gegebenheiten als analog auffassen und entscheiden, welchen Aspekt dieser Gegebenheiten wir vorübergehend ignorieren. Wir sehen etwa zwei Äpfel und zwei Bananen und erkennen eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden Paaren, die dazu führt, dass wir den Begriff «zwei» bilden. Aber um das zu tun, müssen wir das Apfel-Sein der Äpfel und das Banane-Sein der Bananen ignorieren und diese Dinge abstrakt als bloße Objekte ohne ihre besonderen Eigenschaften sehen.
Das ist ein Abstraktionssprung. Er ist schwierig, und es ist kein Wunder, dass Kinder eine Weile brauchen, um ihn zu machen. Wir können versuchen, ihnen dabei zu helfen, indem wir immer wieder vor ihren Augen Dinge zählen, aber letztlich müssen sie den Sprung selbst machen; wir können das nicht für sie tun.
Das Problem ist, dass es reduktionistisch erscheinen kann, wenn wir die wesentlichen Merkmale der betreffenden Objekte vergessen. Sehen wir nur den Aspekt, der die Dinge «langweiliger macht», dann erscheint uns alles langweilig, während wir unser Augenmerk doch darauf richten sollten, was der Sinn der Sache war, nämlich erstaunliche neue Wege des Verständnisses zu eröffnen.
Durch das Erfinden von Zahlen haben wir etwas sehr Bedeutsames getan: Wir haben eine Abstraktion geschaffen. Abstrahieren heißt, einige Details einer Gegebenheit zu vergessen, um eine «idealisierte» Version von ihr zu betrachten, die nicht mit der konkreten (realen) Version identisch ist, aber die Merkmale erfasst, über die wir gerade nachdenken wollen. Damit entfernen wir uns von der realen Gegebenheit, aber wir tun es mit einem Ziel: Wir wollen Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Gegebenheiten entdecken, damit wir mehr Gegebenheiten auf einmal verstehen können, ohne viel Aufwand treiben zu müssen. Wir vereinfachen gewissermaßen unsere Bausteine, um kreativer bauen zu können. Es ist wie der Unterschied zwischen einem Puzzle, dessen Teile ein bestimmtes Bild ergeben sollen und nur auf eine Weise zusammenpassen, und einem Puzzle, dessen Teile weniger individuell sind und daher auf vielerlei Weise zusammenpassen; bei einem solchen Puzzle sollen die Teile nicht zu einem bestimmten Bild zusammengesetzt werden, sondern es geht darum, alle Gebilde kennenzulernen, zu denen man die Teile zusammensetzen kann. Das Tangram-Puzzle, bei dem es um letzteres geht, hat mir aus ebendiesem Grund immer viel Spaß gemacht; die Teile sind einfache geometrische Formen: ein Quadrat, einige Dreiecke verschiedener Größe und ein Parallelogramm. Man nimmt an, dass das Tangram aus dem China des 18. Jahrhunderts stammt; ähnliche Konstruktionen gehen aber auf chinesische Mathematiker viel früherer Zeiten zurück. Die Formen können zu einem Quadrat zusammengelegt werden, wie unten zu sehen ist, sie können aber auch dazu verwendet werden, unendlich viele andere Formen zu bilden, die auf stilisierte Weise Menschen, Tiere oder was immer darstellen. Zum Beispiel einen Hasen:
Auch Zahlen erschließen eine Welt unbegrenzter Möglichkeiten, nur eben auf weniger anschauliche Weise. (Auf die Verwendung von Bildern in Mathe komme ich in Kapitel 7 zurück.) Und abgesehen davon, dass Zahlen weniger reizvoll sind, können sie ziemlich abweisend wirken, wenn das Einzige, was man mit ihnen tut, darin besteht, auf bestimmte Fragen bestimmte Antworten zu geben, und man dann gesagt bekommt, dass man entweder richtig oder falsch lag.
Zahlen sind definitiv nicht das A und O der Mathematik, aber mit ihnen fangen wir an zu lernen, mit Abstraktionen logisch zu denken. Die wichtigen Schritte dieses Vorgangs sind etwa die folgenden.
Zunächst entscheiden wir, für welche Aspekte einer Gegebenheit wir uns interessieren. Vielleicht stellen wir Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Gegebenheiten fest und sind neugierig darauf, woher diese kommen. Dann abstrahieren wir: Wir fokussieren uns auf Aspekte der verschiedenen Gegebenheiten, die einander ähnlich sind. Handelt es sich um Quantitäten, lassen wir uns etwas einfallen wie Zahlen, die die «Essenz» dessen sind, worauf wir uns gerade fokussieren. Damit ist eine neue, abstrakte Welt erschaffen, die wir dann erkunden können, um herauszufinden, wie die Dinge dort funktionieren, was für Geschöpfe dort leben, was für seltsame und wunderbare Landschaften hinter der nächsten Ecke lauern.
Wenn wir uns eingeengt fühlen von dieser Welt, können wir einfach eine neue erschaffen und diese erkunden, und das tun wir auch oft. Wenn wir aber mehr darüber wissen wollen, wie diese Welt mit der Welt um uns herum zusammenhängt, können wir auch das in Erfahrung bringen. Und wenn wir eine andere Beziehung zwischen der Welt um uns herum und unserer abstrakten Welt herstellen wollen, können wir das ebenfalls tun; zum Beispiel können wir Quantitäten auf verschiedene Weise messen, Dinge auf andere Weise zählen oder Zahlen mit Dingen auf vielerlei Weise in Zusammenhang bringen – genauso, wie wir ein Restaurant nach verschiedenen Kriterien bewerten können. Wenn wir uns auf einen anderen Aspekt der Welt um uns herum fokussieren wollen, zum Beispiel auf geometrische Formen statt auf Quantitäten, können wir das tun.
Es ist ein bisschen so, wie wenn man einen neuen Tuschkasten bekommt und die Farben mischt, um zu sehen, was man mit ihnen machen kann. Das Wunderbare an den mathematischen Farben aber ist, dass sie nie ausgehen. Man riskiert nicht, sie für nichts und wieder nichts aufzubrauchen, wenn man sie auf eine Art und Weise mischt, die einem hinterher nicht gefällt, denn sie sind ja nur Vorstellungen, und es sind immer mehr da, mit denen man experimentieren kann. Wenn man mit Zahlen spielt, verbraucht man sie nicht, und so ist es mit allen abstrakten Begriffen. Für mich ist das einer der schönsten und befriedigendsten Aspekte der Mathematik. Aber es wirft auch die knifflige Frage auf, ob irgendetwas davon real ist.
Das Erste, was mir zu dieser Frage einfällt, ist: Was bedeutet überhaupt «real»? Ist irgendetwas real? Wenn ich zu viel darüber nachdenke, kann ich mir leicht einreden, dass ich nicht real bin und dass nichts real ist.
Wenn Sie sich schon mal gefragt haben, ob Mathe real ist, hat man Ihnen vielleicht gesagt: Das ist eine dumme Frage. Vielleicht haben Sie dann an Menschen gedacht, die «gut in Mathe» sind, und es ist Ihnen aufgefallen, dass diese Menschen sich keine Gedanken über solche Fragen machen, sondern einfach die richtigen Antworten finden.
Nun, ich versichere Ihnen, dass Mathematiker und vor allem Philosophen die Frage nach dem Status der Mathematik durchaus stellen. Gibt es Zahlen? Ich bin keine Philosophin, daher werde ich mich nicht zu der philosophischen Frage äußern, sondern nur sagen, was ich denke.
Um zu untersuchen, was es bedeutet, dass etwas «real» ist, könnte es uns helfen, an einige Dinge zu denken, die wir für real beziehungsweise für nicht real halten. Es gibt viele konkrete Dinge, die wir anfassen können und bei denen wir uns wahrscheinlich einig sind, dass sie real sind. Die Welt ist real, Menschen sind real, Essen ist real. Dann gibt es Dinge, die wir nicht anfassen können, die wir aber für real halten, wie zum Beispiel Hunger, Liebe und Armut. Es gibt aber auch Dinge, bei denen wir uns vielleicht einig sind, dass sie nicht real sind: Dazu gehören der Osterhase, die Zahnfee und der Weihnachtsmann. Und es gibt Dinge, bei denen die Menschen sich definitiv nicht einig sind, wie Gott, UFOs, Geister und leider auch COVID.
Aber warten Sie einen Moment: Ich glaube nämlich, der Weihnachtsmann und die Zahnfee sind real. Sie denken jetzt vielleicht, ich hätte den Verstand verloren, aber lassen Sie mich versuchen, meinen Gedanken zu erläutern.
In einigen Kulturen glauben kleine Kinder (weil es ihnen von den Erwachsenen gesagt wird), dass der Weihnachtsmann ein Mann mit einem flauschigen weißen Bart sei, dass er einen roten Mantel trage und in einem von Rentieren gezogenen Schlitten um die Welt fliege, um den Kindern Geschenke zu bringen. Irgendwann werden diese Kinder älter und stellen desillusioniert fest, dass sie ihre Weihnachtsgeschenke von ihren Eltern bekommen, die sie unter den Baum legen. Man sagt, diese Kinder erkennen dann, dass es den Weihnachtsmann «nicht gibt», dass er also «nicht real ist».
Ich behaupte jedoch, dass hier im Grunde etwas anderes zu erkennen wäre: nicht, dass der Weihnachtsmann nicht real ist, sondern dass die unrealistische traditionelle Beschreibung des Weihnachtsmanns nicht wörtlich genommen werden darf. Denn etwas ist real: etwas, das dazu führt, dass an Weihnachten Kinder auf der ganzen Welt Geschenke bekommen. Dieses Etwas ist ein abstrakter Begriff – die Vorstellung «Weihnachtsmann». Vielleicht kann man sagen, dass die Vorstellung «Weihnachtsmann» real ist, der Weihnachtsmann «selbst» aber nicht. Mathematische Begriffe sind jedoch so abstrakt, dass sie nichts als Vorstellungen sind. Die Vorstellung «zwei» ist die Zahl zwei. Und diese Vorstellung ist real. Da ich es gewohnt bin, abstrakte mathematische Vorstellungen als reale Objekte zu behandeln, betrachte ich auch den Weihnachtsmann gern als reale abstrakte Vorstellung. Vorstellungen ernst zu nehmen und sie als reale Dinge zu behandeln, ist ein wichtiger Bestandteil der Entwicklung der Mathematik.
Es mag den Anschein haben, als ginge es in Mathe nur um Zahlen und Gleichungen. Aber wenn Sie an die frühe Schulmathematik zurückdenken, erinnern Sie sich vielleicht daran, dass es auch um andere Dinge ging, etwa um geometrische Formen und Muster und bildliche Darstellungen wie Balkendiagramme und Venn-Diagramme. Meine Forschungen (in dem hoch abstrakten Zweig der Mathematik, der als Kategorientheorie bezeichnet wird) haben überhaupt nichts mit Zahlen und Gleichungen zu tun. Wenn Mathe also nicht nur die Untersuchung von Zahlen und Gleichungen ist, was ist sie dann? Ich nenne sie gern «die Untersuchung der Funktionsweise von Dingen», aber ich meine damit nicht die Lehre von irgendwelchen lange bekannten Dingen und auch nicht irgendeine alte Lehre. Ich sage:
Mathematik ist die logische Untersuchung der Funktionsweise logischer Dinge.
Das erste Problem an dieser Definition ist, dass nichts wirklich logisch ist: Alles im Leben funktioniert durch eine Mischung aus Logik und anderen Dingen, wie Zufall, Chaos, Gefühlen. Oder es ist so, dass auch diese anderen Dinge logisch sind, nur zu komplex für uns, um sie mithilfe von logischem Denken zu verstehen. Das Wetter zum Beispiel ist eigentlich logisch, nur werden wir nie in der Lage sein, die Vorgänge in der Atmosphäre so genau zu messen, dass wir das Wetter mithilfe von logischem Denken verlässlich vorhersagen können. Das Wetter ist nicht unlogisch, es ist nur schwer zu verstehen.
Mathe bearbeitet dergleichen Dinge zumeist mit dem Prozess, den ich gerade beschrieben habe: Abstraktion. Wir vergessen bestimmte Details von Gegebenheiten, um uns aus der chaotischen «realen» Welt in die abstrakte Welt der Vorstellungen zu versetzen, in der sich die Dinge logisch verhalten, weil wir die Details, die das nicht tun, bequemerweise (vorübergehend) ignoriert haben. Ich vermeide es, die nicht-abstrakte Welt als «real» zu bezeichnen, da abstrakte Vorstellungen keineswegs irreal sind, und nenne die nicht-abstrakte Welt – die Welt, die wir anfassen können – lieber «konkret».
Ein faszinierender Aspekt von Mathe ist, dass sie nicht nur durch das definiert wird, was sie untersucht. Die meisten Fächer, wie Geschichte, Biologie, Psychologie, Wirtschaft, werden durch das definiert, was sie untersuchen, und sie entwickeln Methoden zur Untersuchung ihrer Gegenstände. Mathe dagegen schreitet zyklisch voran: Das, was wir untersuchen können, wird durch die Art und Weise definiert, wie wir es untersuchen, mit der Konsequenz, dass wir neue Dinge entdecken, die wir dann auch untersuchen können, und neue Methoden, diese Dinge zu untersuchen. Es ist in etwa so:
Aber jeder Pfeil bringt uns Neues; wir drehen uns also nicht im Kreis, sondern der Kreis ist eine Spirale, bei der es auch immer nach oben geht. Wir entdecken immer neue Dinge, die wir mit unseren Methoden untersuchen können, und finden neue Methoden, um diese Dinge zu untersuchen. Wir steigen gewissermaßen diese spiralförmige «Treppe» hinauf, die ganz unten mit den Zahlen beginnt:
Wir haben also eine Art Wendeltreppe, die immer weiter nach oben führt. Ich möchte zeigen, wie das funktionieren kann, indem ich einen kleinen Gang die Treppe hinauf mache, um zu sehen, wohin sie uns womöglich führt. Dieser Gang wird sich nicht direkt um die Frage nach eins plus eins drehen, sondern er soll den Hintergrund erkunden, damit wir die Frage schließlich auf sinnvolle Weise beantworten können.
Den ersten Schritt die «Treppe» hinauf haben wir getan, als wir herausfanden, wie wir von Dingen um uns herum abstrahieren können, um zu Zahlen zu gelangen. Zahlen verhalten sich logischer als Kekse, Kühe oder was immer wir zu zählen versuchten. Wir haben dann Möglichkeiten gefunden, Zahlen zu untersuchen, beispielsweise wie sie aufeinander bezogen werden, wenn wir addieren und subtrahieren, multiplizieren und dividieren.
Danach haben wir erkannt, dass es noch mehr Dinge gibt, die wir auf diese Weise untersuchen können, zum Beispiel geometrische Formen. Wir haben festgestellt, dass wir von den Dingen um uns herum abstrahieren können, um Gemeinsamkeiten zum Beispiel zwischen einem Fenster, einer Tür und einer Tischplatte zu finden, weil sie alle rechteckig sind. Und wir haben herausgefunden, dass wir einen Halbkreis zu einem Kegel für einen Hut zusammendrehen können, dass der Kegel auch eine geeignete Form zur vorübergehenden Markierung von Fahrbahnen im Straßenverkehr ist und dass er (wenn wir ihn aus Teig backen und umdrehen) einen praktischen essbaren Behälter für Eiscreme abgibt. Das meine ich übrigens, wenn ich sage, dass dieses Buch eher eine Darstellung von Mathe «fürs Gefühl» ist als eine Geschichte der Mathematik – denn natürlich wurden Kegel schon untersucht, lange bevor es Absperrkegel und Eis in der Waffel gab.
Wie können wir nun geometrische Formen mit den Methoden untersuchen, die wir für die Untersuchung von Zahlen entwickelt haben? Zum Beispiel, indem wir Formen addieren oder subtrahieren, das heißt sie zusammenkleben oder Teile von ihnen ausschneiden. Wir können auch Formen multiplizieren, aber das ist etwas schwieriger und setzt voraus, dass wir uns genauer klarmachen, was Multiplikation bedeutet.
Ganz gleich, ob wir mit dem Multiplizieren von Zahlen gut zurechtkommen oder ob uns davor graut, es ist etwas, das wir für selbstverständlich halten. Doch wenn wir, statt etwas für selbstverständlich zu halten, intensiv darüber nachdenken, was es bedeutet oder wie es funktioniert, können wir manchmal viel mehr daraus machen. Nicht immer. Manchmal lähmt es uns mental, etwa wenn wir zu intensiv darüber nachdenken, was der Sinn des Lebens ist. Aber wenn ich wirklich intensiv über, sagen wir: meine Komfortzone nachdenke, kann ich die Zahl der Dinge, die ich gern tue, vergrößern, statt das Gefühl zu haben, dass ich meine Komfortzone verlasse, wenn ich diese Dinge tue.
Wir werden jetzt intensiv über das Multiplizieren von Zahlen nachdenken. Das wird uns mit der Möglichkeit bekannt machen, andere Dinge zu multiplizieren, zum Beispiel geometrische Formen, und so den Begriff der Multiplikation für uns erweitern. Die Mathematiker haben das immer weiter vorangetrieben und nach und nach eine ganze Theorie entwickelt, wann es möglich ist, überhaupt etwas zu multiplizieren. Die «abstrakten» Mathematiker wollen das wahrscheinlich für alle mathematischen Begriffe zu tun, nicht nur für die der Arithmetik.
Wenn wir mit dem Multiplizieren von Zahlen beginnen, können wir uns 4 × 2 als «vier Mengen à zwei» vorstellen, also 2 + 2 + 2 + 2. Wir können zwei Zähler nehmen, und dann zwei weitere, und zwei weitere, und zwei weitere, und sie einfach zusammenzählen, um zu sehen, wie viele es insgesamt sind:
Das mag für das Multiplizieren von geometrischen Formen mit Zahlen sinnvoll sein, denn «4 × ein Kreis» würde einfach «vier Kreise» ergeben. Es ist aber nicht sinnvoll für das Multiplizieren von Formen mit Formen. Denn wenn wir ein Quadrat mit einem Kreis multiplizieren wollen, was um Himmels willen soll «Kreis Mengen à Quadrat» bedeuten? Nun, es kann etwas bedeuten, wenn wir beim Multiplizieren ein wenig phantasievoller vorgehen. Eine Möglichkeit ist, 4 × 2 neu zu denken, und zwar so, dass wir mit einer Spalte von 2 Zählern beginnen und sie entlang einer Linie von 4 Zählern «vervielfältigen», so dass ein 4 × 2-Gitter entsteht:
Mit etwas Phantasie können wir uns vorstellen, dies auch mit einem Kreis und einem Quadrat zu tun – wir bewegen ein Quadrat auf einer Kreisbahn und vervielfältigen es dadurch. Es ist ein bisschen schwierig, das auf einer Buchseite darzustellen, aber vielleicht können wir es mit anderen Formen machen, zum Beispiel mit einer Linie und einem Kreis. Wenn wir mit einem vertikalen Kreis beginnen und ihn in einer geraden Linie «vervielfältigen», entsteht diese Form: ein Zylinder.