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Was meint Lukács genau, wenn er in seiner »Theorie des Romans« immer wieder vom Dämonischen spricht? Ohne ein Verständnis dieses zentralen, von Lukács nicht erläuterten Terminus kann weder das metaphysisch-geschichtsphilosophische Konzept der »Theorie des Romans« noch Lukács' Interpretation der paradigmatischen Romane mitsamt der Bedeutung der Ironie adäquat verstanden werden. Diese Arbeit zeigt, dass das Dämonische Lukács' Chiffre für ein philosophisches Gottesbild der Moderne ist: die Bezeichnung für ein Absolutes, das objektiv nicht mehr existiert, aber im Denken und Erleben des Subjekts nach wie vor seinen Ort hat. Dabei wird deutlich, dass Lukács' Romantheorie in ihren wichtigsten Elementen nicht von Hegel, sondern von Fichte, Solger und Kierkegaard geprägt ist. In einem Anwendungsversuch erweist sich das Dämonische als gewinnbringendes Kriterium einer Romaninterpretation, die das Verhältnis von Mensch und Absolutem in den Fokus nimmt.
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Seitenzahl: 567
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Inga Kalinowski
Das Dämonische in der »Theorie des Romans« von Georg Lukács
© 2015 Inga Kalinowski
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Hardcover
978-3-7323-1668-7
E-Book
978-3-7323-1669-4
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Vorwort
Dem folgenden Text ist der ‚Kampf um das Verstehen‘ noch anzumerken, den ich ausgehend von Lukács’ Romantheorie mit Blick auf das Dämonische geführt habe. Lange hatte ich vor, für die Veröffentlichung eine gekürzte Fassung zu erstellen. Als ich damit begann, wurde mir klar, dass ich das Buch heute, gut zwei Jahre nach Fertigstellung der Arbeit, ganz neu schreiben müsste, da mich die Thematik unter anderen Vorzeichen weiterhin beschäftigt hat. In einer so ausgerichteten Neufassung würde meine Doktorarbeit jedoch kaum wiederzuerkennen sein, daher habe ich mich für eine Veröffentlichung der unveränderten Fassung entschieden in dem Wissen, dass die Arbeit ausführlich ist: Der Leser möge mir die umfangreichen Fußnoten nachsehen, die ich in einer Zeit, in der äußerst öffentlichkeitswirksam Doktorarbeiten aberkannt wurden, für zwingend erforderlich hielt – daher habe ich meiner Liebe zum Detail freien Raum gelassen. Lediglich die meisten der ursprünglich enthaltenen Abbildungen habe ich entfernt, da sie der Komplexität des dargestellten Sachverhaltes nicht gerecht werden konnten. Eher intuitiv habe ich damals die Schnittfläche zweier Kreise gewählt, um die von Lukács angenommene Schnittmenge von Geist und Materie sowie die diesbezüglich von ihm postulierte Veränderung im Laufe der Zeit zu verdeutlichen. Beide Kreise waren zunächst deckungsgleich, Geist und Materie bilden für Lukács ursprünglich eine Einheit. Nach der Trennung der beiden Seinssphären versteht er die Philosophiegeschichte als Reihung verschiedenster Versuche, sie wieder zueinander in Beziehung zu setzen: Während Platon die beiden Sphären noch als objektive, ineinander verwobene Seinsebenen versteht, verortet Kant sie innerhalb des Subjekts. Ihre Schnittmenge entsteht dann ‚nur noch‘ aus dem Wirken der subjektiven Urteilskraft, die einen Zusammenhang von intelligibler und empirischer, geistiger und materieller Welt erahnen lässt. Diese Grundidee meiner Skizzen gefällt mir nach wie vor, besonders seitdem ich auf das Symbol der Mandorla gestoßen bin, das ich damals noch nicht kannte: Als mandelförmige Schnittfläche des Erd- und des Himmelskreises wird in ihr meist Jesus Christus als Gott-Mensch gezeigt, der beiden Welten zugehört. Mit dieser Bestätigung ihrer Symbolkraft habe ich die sich überlappenden Kreise als Titelbild gewählt, denn das Dämonische ist Lukács’ Chiffre für die Schnittmenge von Geist und Materie in der Moderne. Beide Sphären überschneiden sich für ihn nur noch im irrationalen Erleben des Subjekts.
Eine kleine Ergänzung habe ich im Austausch gegen die Skizzen vorgenommen: Um das knapp gehaltene Fazit der Dissertation auszugleichen, befindet sich im Anhang eine Zusammenfassung meiner Ergebnisse, die ich für die Disputation noch einmal neu formuliert habe. Sie kann dem Leser als zusätzliche Orientierungshilfe dienen.
Von ganzem Herzen danke ich meinen Eltern Hans-Jürgen und Veronika Kalinowski, die mich liebevoll und bedingungslos dabei unterstützt haben, meinen eigenen Weg zu gehen; meinem Doktorvater Professor Martin Rector für seine zuverlässige Begleitung und sein Vertrauen in meine Arbeit; der Konrad-Adenauer-Stiftung für ihre finanzielle Förderung und die bereichernden Seminare; meiner Schwester Lena und meinem Schwager Matthias Kier, Nadine Abadir, Christina Blume, Anne Katrin Buchholz, Luise Febo, Nina von Imhoff, Stephanie Ramuschkat, Doris Rodeck, meinen Großeltern und Baumgardts: Sie alle haben, jeder auf seine eigene Weise – mit Verständnis, Motivation, sorgfältigen Korrekturen und praktischer Hilfe im Alltag –, zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen; Professor Hans-Georg Bensch und Dr. Thomas Hanke für ihr fachliches Interesse und ihre Gesprächsbereitschaft; Mona Abdel Nour, die mich mit Geduld und Herzlichkeit bei den Übersetzungen aus dem Französischen unterstützt hat; Professor Heinz-Jürgen Görtz für seine Hilfe bei der Bewerbung um ein Stipendium und Frau Professor Ina Wunn für die Übernahme des Prüfungsvorsitzes in der Disputation.
Hemmingen, 2015
Inga Kalinowski
Inhalt
Siglenverzeichnis
1. Einleitung
2. Terminologische Grundlagen
3. Lukács’ geschichtsphilosophische Matrix: Fichtes »Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters«
4. Das Dämonische in Lukács’ geschichtsphilosophischem Denken
4.1 Erstes Zeitalter: Das Dämonische im griechischen Weltbild
4.1.1 Das Dämonische im Weltbild Homers
4.1.2 Das Dämonische im philosophischen Denken Platons
4.2 Zweites Zeitalter: Das Dämonische im christlichen Weltbild
4.3 Drittes Zeitalter: Das Dämonische in der Moderne
4.3.1 Der Dämon im abstrakten Idealismus
4.3.2 Das Dämonische in der Desillusionsromantik
4.3.3 Die dämonische Ironie des Dichters
4.4 Viertes Zeitalter: Die sinnerfüllte Dämonie
4.5 Zwischenfazit I: Das Dämonische als Chiffre für Lukács’ geschichtsphilosophisches Gottesbild der Moderne
5. Das Dämonische in Lukács’ Typologie des Romans
5.1 Aktive Dämonie und Ironie in den Romanen des abstrakten Idealismus
5.1.1 Die aktive Dämonie: Cervantes’ »Don Quijote«
5.1.2 Die reine Dämonie als anthropologische Konstante: Balzacs »Comédie humaine«
5.1.3 Die negative Dämonie: Pontoppidans »Hans im Glück«
5.2 Passive Dämonie und Ironie in den Romanen der Desillusionsromantik
5.2.1 Die passive Dämonie: Flauberts »Éducation sentimentale«
5.2.2 Die Dämonie der großen Augenblicke: Tolstois »Anna Karenina«
5.3 Versuch einer Synthese: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« von Goethe
5.4 Zwischenfazit II: Das Dämonische als Kriterium einer metaphysischen Romaninterpretation
6. Zusammenfassung
7. Literaturverzeichnis
8. Anhang: Thesenpapier für die Disputation
Siglenverzeichnis
für die häufig verwendeten Texte von Georg Lukács
Die Theorie des Romans – ThdR
Von der Armut am Geiste – AaG
Béla Balázs: Tödliche Jugend – BB
Briefwechsel 1902–1917 – BW
Dostojewski. Notizen und Entwürfe – DN
Heidelberger Philosophie der Kunst – HPdK
Die Rechtfertigung des Guten – RdG
Die Seele und die Formen – SuF
Zur Theorie der Literaturgeschichte – TdL
1. Einleitung
Die Chiffre des Dämonischen sticht bei einer Lektüre der »Theorie des Romans«1 von Georg Lukács (1885–1971) nicht nur wegen ihrer häufigen Verwendung2 als Schlüsselwort ins Auge, sondern auch wegen der zentralen Stellung des Abschnitts zum Dämonischen und der dämonischen Ironie des Dichters am Ende des ersten, geschichtsphilosophischen Teils, der zugleich zum zweiten, romantypologischen Teil überleitet. Für diesen zweiten Teil bildet das Dämonische, das für Lukács das prägende Merkmal der Psychologie des Romanhelden ist, die Grundlage, die allerdings zugunsten ästhetischer Detailbetrachtungen zu den einzelnen Romantypen – insbesondere zum Desillusions- und Erziehungsroman – in den Hintergrund tritt. Dabei drängt sich die Frage auf, was Lukács eigentlich genau meint, wenn er vom Dämonischen spricht. Warum wählt er ausgerechnet diese Chiffre, um sowohl die Psychologie der Romanhelden als auch die Ironie des Dichters zu beschreiben?3 Lukács selbst nimmt keine Definition oder Deduktion des Dämonischen vor, mit der sich diese Fragen beantworten ließen, weshalb das Dämonische auch nicht als fest umrissener ‚Begriff‘ bezeichnet werden kann. In seinen vorherigen Schriften finden sich keine Parallelstellen, die zu einem besseren Verständnis herangezogen werden könnten; das Dämonische wird von Lukács als eigenständiger Terminus ausschließlich in der ThdR verwendet. Die Forschungsliteratur hat sich dieser Chiffre trotz ihrer zentralen Bedeutung für die ThdR bisher nicht eingehend gewidmet.4 Anmerkungen zum Dämonischen beschränken sich auf Assoziationen und stark verkürzte Gleichsetzungen, die – ohne zwangsläufig falsch zu sein – nicht zu einem adäquaten Verständnis dieser Chiffre führen. Die Ursache dafür liegt in der Vernachlässigung der geschichtsphilosophisch-metaphysischen Dimension, die diese Chiffre bei Lukács hat.5 Ohne die Berücksichtigung des größeren philosophischen Horizonts der ThdR werden Aussagen zum Dämonischen dem Bedeutungsgehalt dieser Chiffre nicht gerecht.6 Aus diesem Grund tragen auch die beiden bisher ausführlichsten Einlassungen zum Dämonischen in der ThdR nicht zu einem tieferen Verständnis dieser Chiffre bei.7
Die Aufgabe dieser Arbeit ist daher eine hermeneutische Annäherung an die Chiffre des Dämonischen unter Berücksichtigung ihrer geschichtsphilosophischmetaphysischen Voraussetzungen. Dabei besteht die Schwierigkeit, dass Lukács diese Voraussetzungen ebenfalls nicht expliziert. Vielmehr schafft er in der ThdR ein dichtes Geflecht aus philosophischen Begrifflichkeiten, die mit seinem subjektiven Vorverständnis aufgeladen und zu einem (Kon-)Text eigener ästhetischphilosophischer Qualität verwoben sind. Die Unschärfe seiner philosophischen Terminologie wurde in der Rezeptionsgeschichte immer wieder angemerkt.8Lukács hat auf ähnliche Kritik an seinen früheren Essays erwidert, dass philosophische Begriffe neblig und dem gewöhnlichen Denken widerstrebend sein müssen, um auf etwas Eindeutiges zielen zu können: „[E]in ergebnisreiches Verständnis kann nur zustande kommen, wenn der Leser den Kampf innerlich nachvollzieht.“9 Zwar haben bereits die ersten Leser und Rezensenten auf den metaphysischen Hintergrund der ThdR hingewiesen,10 ein Versuch, den Kampf um das Verstehen aufzunehmen und die Terminologie Lukács’ vor diesem metaphysischen Hintergrund zu verstehen, wurde bisher jedoch nicht unternommen.11
Die vorliegende Arbeit verfolgt daher zunächst zwei Stränge parallel: Zum einen vollzieht sie die philosophiegeschichtliche Entwicklung der Vorstellung des Absoluten bei denjenigen Philosophen nach, auf die Lukács sich implizit bezieht. Lukács’ eigenen Hinweisen folgend werden Platons Idee, der christliche Gott des Thomas von Aquin, Kants transzendentales Ideal, Bergsons ‚fundamentales Ich‘ und Fichtes absolutes Subjekt-Objekt als philosophische Gottesbilder aufeinander folgender Epochen dargestellt und im Sinne Lukács’ in einen geschichtsphilosophischen Zusammenhang gebracht. Parallel zu diesem Durchgang durch die Philosophiegeschichte wird die Begriffsgeschichte des Dämonischen von Homers ‚daimon‘ über Platons Dämonen, das christliche Dämonenverständnis und das Dämonische bei Solger, Kierkegaard und Goethe aufgerollt. Beide Stränge vereinigen sich in Lukács’ Aneignung und inhaltlicher Neubesetzung des Dämonischen als Chiffre für ein geschichtsphilosophisches Gottesbild der Moderne. Die sich aus Lukács’ philosophischen Vorannahmen ergebenden ästhetischen Folgen für die Form des Romans sind nicht Gegenstand dieser Arbeit.12
Bevor Lukács’ geschichtsphilosophische Metaphysik aus den textimmanenten Hinweisen in der ThdR und ergänzenden Texten des Frühwerks rekonstruiert werden kann, muss berücksichtigt werden, dass er auch eigene Gedanken aus früheren Arbeiten einbringt.13 Die Bedeutung derjenigen Termini früherer Arbeiten, auf die Lukács in der ThdR zurückgreift, wird daher im folgenden Kapitel umrissen, um den Stand seiner Begrifflichkeiten vor Entstehung der ThdR zu dokumentieren.14 Da Lukács die Werke der genannten Philosophen als Objektivationen verschiedener Stufen eines geschichtsphilosophischen Entwicklungsprozesses versteht, stellt sich die Frage, ob er dabei einem bestimmten Schema folgt. Lukács selbst gibt in der ThdR einen Hinweis auf »Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters«15 – ein spätes Werk Fichtes. Diesem Hinweis soll im dritten Kapitel erstmals ausführlich nachgegangen werden, da Fichtes Geschichtsphilosophie sich als das Muster erweist, an dem Lukács sich bei seiner eigenen geschichtsphilosophischen Konzeption orientiert. Im vierten Kapitel werden die beiden oben beschriebenen inhaltlichen Hauptstränge dieser Arbeit nach dem Muster Fichtes entrollt, um zu einer überzeugenden Interpretation von Lukács’ Chiffre des Dämonischen zu gelangen. Mit diesem tieferen Verständnis des Dämonischen wird im fünften Kapitel ein praktischer Anwendungsversuch auf die von Lukács genannten Beispielromane unternommen.16
Um die zeitliche Orientierung zu erleichtern, die der geschichtsphilosophische Kontext dieser Arbeit fordert, werden die Lebensdaten der Dichter und Denker, die Lukács als Kronzeugen der verschiedenen Epochen aufruft, im Text angegeben. Bei den beispielhaften philosophischen und literarischen Werken wird in eckigen Klammern das Jahr der Erstveröffentlichung der Originalausgabe/Uraufführung bzw. der Zeitraum der Entstehung genannt.17 Da es bei der Interpretation der Werke auf ein inhaltliches Gesamtverständnis im Sinne Lukács’ und weniger auf philologische Aspekte ankommt, konnte für fremdsprachige Literatur auf deutsche Übersetzungen zurückgegriffen werden. Zur strukturellen Orientierung sind die in den Text integrierten exkursartigen Ergänzungen mit einer kleineren Schriftgröße abgesetzt.
1 Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. [1920] Neuwied: Luchterhand, 1971. – Im Weiteren wird aus diesem Werk zitiert mit der Sigle ThdR und mit Angabe der Seitenzahlen direkt im Text. – Vom Aisthesis-Verlag wurde 2009 eine Neuedition der ThdR veröffentlicht, die den Text derselben Auflage (Berlin: Cassirer, 1920) unverändert wiedergibt wie die Luchterhand-Ausgabe und um wenige Fußnoten der Herausgeber und ein Nachwort ergänzt ist. Beide Ergänzungen wurden im Rahmen dieser Arbeit berücksichtigt. Da das Stellenregister zum Dämonischen und zu weiteren relevanten Schlagwörtern, das als Arbeitsgrundlage gedient hat, noch anhand der Luchterhand-Ausgabe erstellt wurde, wird in dieser Arbeit nach der Luchterhand-Ausgabe zitiert.
2 Insgesamt 47-mal verwendet Lukács das Wort Dämon oder eine Ableitung: 19-mal Dämon (vgl. 56, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 83, 86, 89, 91); 17-mal dämonisch (vgl. 81, 83, 85, 86, 87, 90, 91, 94, 95, 96, 97, 100, 116); sechsmal Dämonie (vgl. 83, 90, 93, 94, 97); fünfmal das Dämonische (vgl. 77, 79, 88, 97, 144); Vorwort von 1962 nicht mitgezählt.
3 Mit dieser Frage habe ich mich bereits in meiner Magisterarbeit aus dem Jahr 2008 (vorgelegt an der Leibniz Universität Hannover) beschäftigt, auf deren Ergebnissen diese Arbeit aufbaut.
4 Die Chiffre des Dämonischen wird meist unreflektiert aufgegriffen, u. a. bei Dammaschke, Mischka: Gemeinschaftlichkeit und Revolution. Zur Entwicklung der Ethik von Georg Lukács (1908–1919). Phil. Diss. masch. Berlin: 1982, S. 109; Glockner, Hermann: Georg Lukács. Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die großen Formen der Epik. [1923] Zitiert nach: Az ifjú Lukács a kritika tükrében. Der junge Lukács im Spiegel der Kritik. Hrsg. von Júlia Bendl u. Árpád Tímár. Budapest: o. V., S. 337; Hebing, Niklas: Unversöhnbarkeit. Hegels Ästhetik und Lukács’ Theorie des Romans. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr, 2009 (= Essener Schriften zur Sprach-, Kultur- und Literaturwissenschaft 2), S. 117; Hoeschen, Andreas: Das »Dostojewsky«-Projekt Lukács’ neukantianisches Frühwerk in seinem ideengeschichtlichen Kontext. Tübingen: Niemeyer, 1999, S. 242; Jung, Werner: Wandlungen einer ästhetischen Theorie – Georg Lukács’ Werke 1907 bis 1923. Beiträge zur deutschen Ideologiegeschichte. Köln: Pahl-Rugenstein, 1981, S. 77; ders.: Georg Lukács. Stuttgart: Metzler, 1989, S. 77; Kracauer, Siegfried: Georg von Lukács’ Romantheorie. In: Neue Blätter für Kunst und Literatur 4/1921, S. 3.
5 Der junge Lukács weist selbst vehement auf die Unerlässlichkeit des geschichtsphilosophischen Durchgangs durch alle Zeitalter hin, um seine Charakteristik der ‚Jetztzeit‘ – insbesondere das Dämonische und den Begriff der Zeit – verstehen zu können (vgl. Lukács an Max Weber, 30. Dezember 1915. In: Georg Lukács. Briefwechsel 1902–1917. Hrsg. von Éva Karádi und Éva Fekete. Stuttgart: Metzler, 1982, S. 365. – Im Weiteren wird aus diesem Werk zitiert mit der Sigle BW).
6 Benke setzt das Dämonische stark verkürzt mit Wahnsinn und Verbrechen gleich, die bei Lukács zwar eine Facette des Dämonischen ausmachen, jedoch als Wirkung des Dämonischen und nicht als das Dämonische selbst verstanden werden müssen (vgl. Benke, Stefanie: Lukács und die Frühromantik. In: Lukács 2001. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft, S. 61). Derwin konzentriert sich ebenfalls nur auf einen Aspekt des Dämonischen, wenn sie Lukács’ Chiffre des Dämonischen ausschließlich im Zusammenhang mit seinem Ironiebegriff zitiert. Sie erklärt es als undefinierbare, zersetzende Gewalt (vgl. Derwin, Susan: The Ambivalence of Form. Lukács, Freud, and the Novel. Baltimore: The Johns Hopkins University Press, 1992, S. 22–24, 29). Gluck weist zwar darauf hin, dass das Dämonische in der ThdR ein neues Motiv in Lukács’ Denken ist, versteht es aber als gesellschaftskritische und nicht als metaphysische Kategorie, obwohl sie damit die Abgeschnittenheit der modernen Gesellschaft vom Bereich des Göttlichen beschrieben sieht (vgl. Gluck, Mary: Georg Lukács and his Generation 1900–1918. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1985, S. 185 f.). Ansätze, das Dämonische zu Gott – und damit zu einem metaphysischen Absoluten – ins Verhältnis zu setzen, bleiben oberflächlich: Das Dämonische wird als Substitut für Gott (vgl. Althaus, Horst: Georg Lukács oder Bürgerlichkeit als Vorschule einer marxistischen Ästhetik. Bern: Francke, 1962, S. 17) oder als seiner Herrschaft beraubter, verwandelter Gott (vgl. Poszler, György: The Epic Genre in the Aesthetics of the Young Lukács. In: Acta litteraria Academiae Scientiarium Hungaricae 25/1983, S. 57) aufgefasst. Radnóti versteht Gott und Dämon in der ThdR als religiös-transzendente Elemente, die sich in den Text notwendigerweise hineingeschlichen‘ haben, lässt sich aber zu näheren Bestimmungen oder einer Unterscheidung der beiden Termini nicht weiter ein (vgl. Radnóti, Sándor: Bloch und Lukács: Zwei radikale Kritiker in der »gottverlassenen Welt«. In: Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukács. Hrsg. von Agnes Heller, Ferenc Fehér et al. o. O.: Suhrkamp, 1977, S. 179). Am besten hat es Goldmann getroffen, der das Dämonische kurz und knapp als degradierte, bloß indirekte Beziehung zum göttlichen Absoluten interpretiert (vgl. Goldmann, Lucien: Zu Georg Lukács: Die Theorie des Romans. In: ders.: Dialektische Untersuchungen. Hrsg. von Heinz Maus und Friedrich Fürstenberg. Neuwied: Luchterhand, 1966, S. 299).
7 Willy Michel überschreibt ein Kapitel seiner zweibändigen, didaktisch unbekümmerten Monografie zum Frühwerk Lukács’ mit dem Titel „Kritische Umkehrung des religiösen Ironie-Modells Solgers – Das Dämonische“ (vgl. Michel, Willy: Marxistische Ästhetik – ästhetischer Marxismus. Band II. Georg Lukács’ Realismus. Das Frühwerk. Zweiter Teil. Frankfurt a. M.: Athenäum, 1972, S. 170–188). Mit der Ironie stellt auch er nur einen Aspekt des Dämonischen in den Fokus. Sein inhaltliches Fazit bleibt vage. Über die Bestimmung des Dämonischen als „Zwischenreich [im metaphysischen Zerfall], das die ›von Gott verlassene Welt‹ doch nicht sich selbst überlässt“ (ebd., S. 183) und als „Ausdruck einer metaphysischen Negativität […, die] allein die Erinnerung an das [erhält], was mehr ist als das bloß Bestehende“ (ebd., S. 184) kommt er nicht hinaus. – Rochlitz, der das ganze Kapitel über die ThdR in seiner Monografie über den jungen Lukács mit dem Schlagwort des Dämonischen betitelt („Le démonisme, l’histoire et la forme épique“. In: Rochlitz, Rainer: Le jeune Lukács (1911–1916). Théorie de la forme et philosophie de l’histoire. Paris: Payot, 1983, S. 226–342), hebt unter Vernachlässigung des metaphysischen Aspekts auf eine Assoziation mit marxistischen Gedanken und ökonomischen Begriffen ab. Dabei kommt er zu einer Erklärung des Dämons (vgl. insbesondere ebd., S. 287–290), die stark verkürzt und nicht abschließend ist.
8 Bereits die Leser der ersten Stunde monieren die Undurchsichtigkeit der Terminologie Lukács’. Weber merkt an: „Ich vermag nicht ohne Weiteres Ihnen verstehend zu folgen, weil mir Ihre Voraussetzungen nicht geläufig und noch nicht einmal bekannt sind. Auch Worte, mit denen ich einen mir geläufigen begrifflichen Sinn verbinde (wie Leben, Wesen, transcendentallogisch usw.) erkenne ich bei Ihnen nicht ohne Weiteres wieder […].“ (Max Weber an Lukács, 23. August 1916. In: BW, S. 377.) Jaspers weist Lukács auf die subjektiven Voraussetzungen seiner Begriffsbildung hin, die ihm den Zugang zum Text erschweren, und schlägt vor, eine systematische Deduktion der Grundbegriffe als Lesehilfe zu erstellen (vgl. Karl Jaspers an Lukács, 20. Oktober 1916, ebd., S. 377 f.). Bloch bringt ebenfalls die Möglichkeit einer Begriffsdeduktion am Anfang des Textes ins Spiel – auch wenn er sie nicht zwingend für die bessere Lösung hält (vgl. Ernst Bloch an Lukács, 22. Oktober 1916, ebd., S. 379). Troeltsch sieht die Schwierigkeit in den vielen Abstraktionen, die sich der Leser selbst veranschaulichen müsse, ohne die Richtigkeit seiner Annahmen überprüfen zu können (vgl. Ernst Troeltsch an Lukács, 10. Januar 1917, ebd., S. 390). Dessoir, Herausgeber der Zeitschrift, in der die ThdR 1916 zum ersten Mal veröffentlicht wird, formuliert in seinem Brief an Weber, der sich für die Veröffentlichung des Textes eingesetzt hat, eher strukturelle Kritik: „Ich kann aus der Hypotrophie geistreicher Gedanken den Hauptgang und die baulichen Grundlinien nur schwer herausfinden. Mir scheint, daß die Betrachtungen hin u. her ziehen u. in Verschlingungen geraten. Man hat das Gefühl einer süßen, aber zu weichen Speise: die Zähne stoßen nirgends auf feste Teile.“ (Max Dessoir an Max Weber, 20. Dezember 1913 [sic!, aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass der Brief von 1915 sein muss, I. K.], ebd., S. 364.) Nach der selbstständigen Veröffentlichung 1920 setzen sich diese kritischen Anmerkungen in den Rezensionen fort: „Es bleibe dahingestellt, ob es nicht möglich gewesen wäre, die philosophischen Gedankengänge ohne die Unzahl von Begriffen der systematischen Philosophie zu geben, die dem Laien die Lektüre des Buches unmöglich machen.“ (M[?]., F[?].: Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. [1922] Zitiert nach: Az ifjü Lukács a kritika tükrében. Der junge Lukács im Spiegel der Kritik, a. a. O., S. 325.) Ein weiterer Rezensent findet die unzähligen, zum Teil überflüssigen Fremdwörter in der ThdR regelrecht abstoßend (Stern, Julius: Literaturforschung und Verwandtes. I. Literarkritisches. [1922], Zitiert nach ebd., S. 326). Auch für die jüngste Rezipientengeneration erweist sich das Begriffsgeflecht der ThdR nach wie vor als problematisch, da sich „aufgrund des essayistischen Stils der Theorie des Romans der theoretische Status der Begriffe nur schwer bestimmen [läßt]: oft bleibt unklar, ob es sich um metaphysische Sätze oder Sätze über Metaphysik handelt“ (Themann, Thorsten: Onto-Anthropolgie der Tätigkeit. Die Dialektik von Geltung und Genesis im Werk von Georg Lukács. Bonn: Bouvier, 1996, S. 77 f.).
9 Lukács, Georg: Vorwort: Über jene gewisse Nebligkeit. [1910] Übersetzt von Júlia Bendl aus dem Sammelband Esztétikai kultüra [1912], S. 3–11. Anmerkungen von Frank Benseler. In: Lukács 2002. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft, S. 16 f.
10 Ziegler sieht hinter der ThdR eine eigene Metaphysik vorausgesetzt, die Lukács zwar gegenwärtig sei, die er dem Leser aber nicht vermittele, wodurch „[e]ine gewisse Dunkelheit und Verquältheit mancher Stellen“ (Leopold Ziegler an Lukács, 10. November 1916. In: BW, S. 384) entstehe. Siegfried Kracauer hat in seiner Rezension von 1921 darauf hingewiesen, dass Lukács in der ThdR die Frage nach der Entstehungsmöglichkeit großer Romane „von einer Metaphysik aus [beantwortet], in der sich das inbrünstige Verlangen der Gegenwart nach dem Wiedererscheinen Gottes in der Welt zusammenballt. […] Und ist man erst einmal durch die äußere Schale in den Kern eingedrungen, so weitet sich der scheinbar enge Bezirk, in dem Lukács sich bewegt, bis ins Unabsehbare, und man erkennt, daß diese Romantheorie nur dazu dient, um einem philosophischen Gesamtaspekt der Welt zum Ausdruck zu verhelfen, und daß aus ihren ästhetischen Betrachtungen allenthalben das leiddurchfurchte Antlitz des metaphysischen Ethikers hervorleuchtet“ (Kracauer: Georg von Lukács’ Romantheorie, a. a. O., S. 2).
11 Eigenständige Arbeiten zur ThdR gibt es kaum. Bernstein liest in seiner Monografie zur ThdR den Text unter dem Vorzeichen von Lukács’ späterer marxistischer Theoriebildung. Da er das Dämonische dabei unbeachtet lässt, ist sein Werk im Rahmen dieser Arbeit nicht weiterführend (vgl. Bernstein, J. M.: The Philosophy of the Novel. Lukács, Marxism and the Dialectics of Form, Sussex: Harvester Press, 1984). Überwiegend wird die ThdR in Arbeiten zum Früh- oder Gesamtwerk mitbehandelt, die sich darstellungsbedingt auf ausgewählte Leitaspekte beschränken. Da sich die ThdR aufgrund ihres geschichtsphilosophischen Konzepts, ihres metaphysischen Hintergrunds und ihrer Fokussierung auf die Romanform deutlich vom restlichen Frühwerk abhebt, werden diese Darstellungen ihr nicht immer gerecht. Beispielsweise kommt sie in Lukács-Biografien häufig zu kurz: Raddatz’ Bezugnahme auf die ThdR besteht zum Großteil aus der Wiedergabe längerer Zitate, er nennt die Stichworte Totalität, Ethik und Messianismus (vgl. Raddatz, Fritz J.: Georg Lukács in Selbstzeugnissen und Bildern. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1972, S. 25–34). Lichtheims Akzent liegt auf dem Beitrag Lukács’ zur marxistischen Theorie, das Frühwerk hat für ihn nur insofern Bedeutung, als dass hier die geistigen Grundlagen für Späteres gelegt werden. Die ThdR wertet er als eklektizistisches Destillat der historischen Ereignisse und der damit verbundenen geistesgeschichtlichen Strömungen ab und geht auf das Werk selbst nicht weiter ein. Seine Zitate aus der ThdR stammen fast vollständig aus Lukács’ Vorwort zur Neuauflage von 1962 (vgl. Lichtheim, George: Georg Lukács. München, dtv, 1971, S. 15–18, 24–32). Jung konzentriert sich in seiner Arbeit zum Frühwerk für die ThdR neben dem Begriff der Totalität auf den des problematischen Individuums und erklärt beide Phänomene stark verkürzt als Resultat der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. in dieser Arbeit Fußnote 107). Explizit zur ThdR sind darüber hinaus nur noch wenige kürzere Arbeiten in Form von Aufsätzen, Rezensionen oder Lexikonartikeln verfügbar. Den Versuch einer Kategorisierung der Forschungsliteratur unternehmen nach verschiedenen Kriterien u. a. Bernstein und Simonis (vgl. Bernstein: The Philosophy of the Novel, a. a. O., S. Viii; Simonis, Linda: Genetisches Prinzip. Zur Struktur der Kulturgeschichte bei Jacob Burckhardt, Georg Lukács, Ernst Robert Curtius und Walter Benjamin. Tübingen: Niemeyer, 1998, S. 128–131).
12 Beispielhaft genannt seien das Problem der schlechten Unendlichkeit, das Verhältnis der Teile zum Ganzen und die Tendenz des Romans zur biografischen Form.
13 Innerhalb der Forschung gibt es verschiedene Einteilungen der Schaffensphasen Lukács’. Gängig ist eine Einteilung, die in Lukács’ Beitritt zur Kommunistischen Partei Ungarns (KPU) im Jahr 1918 einen Bruch in seiner geistigen Entwicklung sieht und alle davor entstandenen Schriften als Frühwerk bezeichnet (vgl. u. a. Simonis, Linda: Georg Lukács (1885–1971). In: Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler. Hrsg. von Matías Martínez und Michael Scheffel. München: Beck, 2010, S. 34). Ludz unterscheidet davon abweichend unter Berücksichtigung der jeweils vorherrschenden geistigen Einflüsse fünf Phasen innerhalb Lukács’ Werk, wobei das Jahr 1918 in die zweite Phase fällt (vgl. Ludz, Peter: Vorwort. In: Georg Lukács: Schriften zur Literatursoziologie. Mit einer Einführung von Peter Ludz. Frankfurt a. M.: Ullstein, 1985, S. 14–17). Rücker bezeichnet als Frühwerk die Schriften bis 1929, untergliedert diese Phase aber in zwei Teile, von denen der erste die vormarxistischen Schriften bis 1918 umfasst (vgl. Rücker, Silvie: Totalität bei Georg Lukács und in nachfolgenden Diskussionen. Phil. Diss. masch. Münster: 1973, S. 15–17). – Da die ThdR erst der vorletzte größere Text des Frühwerks im Sinne der gängigen Definition ist, wird die zwischen 1916–1918 verfasste »Heidelberger Ästhetik« als letzter umfangreicher Text dieser Schaffensphase in dieser Arbeit nicht mehr berücksichtigt, ebenso der Aufsatz »Die Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik« (1917/18). Lukács’ Rezension zu Paul Ernsts »Ariadne auf Naxos« wird wie die ThdR 1916 veröffentlicht, entsteht aber schon früher: 1912 bittet Paul Ernst Lukács um einen Beitrag zu einem Sonderheft über Ernst in den Neuen Blättern, das jedoch aufgrund von Differenzen zwischen Verleger und Autor nicht erscheint. Lukács’ Besprechung war bereits zum Druck gesetzt (vgl. Paul Ernst und Georg Lukács. Dokumente einer Freundschaft. Hrsg. von Karl August Kutzbach. Emsdetten: Lechte, 1974, S. XXI, 41 f., 220 f. Anmerkungen Nr. 55, 72). Eine Ausnahme von der zeitlichen Begrenzung soll aufgrund inhaltlicher Zusammenhänge bei Lukács’ zweiter Solovjeff-Rezension gemacht werden, die erst 1916/17 veröffentlicht wird, und bei dem Text »Béla Balázs: Tödliche Jugend« von 1918. – Die Herausgabe des ersten Doppelbands der Lukács-Werkausgabe „Frühschriften. Vormarxistische Schriften I + II“ wurde vom Aisthesis-Verlag immer wieder verschoben und findet sich aktuell (31.12.2012) gar nicht mehr in der Liste der Vorankündigungen. Laut Verlagsauskunft haben die Herausgeber bisher keinen verbindlichen Termin genannt. Alle in deutscher Sprache zugänglichen Schriften des Frühwerks wurden jedoch für diese Arbeit gesichtet. Für einige Aufsätze aus dem Sammelband »Esztétikai kultúra« (Ästhetische Kultur, 1912), für den keine Gesamtübersetzung vorliegt, konnte auf auszugsweise Übersetzungen zurückgegriffen werden, die die Internationale Georg-Lukács-Gesellschaft in ihren Jahrbüchern und darüber hinaus auf ihrer Homepage zugänglich gemacht hat.
14 Termini, die Lukács in einem eigenen Sinn verwendet, sind im Folgenden kursiv gesetzt.
15 Fichte, Johann Gottlieb: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. [1806] Hamburg: Meiner, 4., durchgesehene Auflage 1978.
16 Da das Dämonische nur für die Form des Romans normativ ist, erfolgen Anmerkungen zu den großen epischen Werken anderer Epochen – den Werken Homers und Dantes – bereits im Rahmen des geschichtsphilosophischen Durchgangs durch die Zeitalter. Anmerkungen zu anderen ästhetischen Formen erfolgen in Fußnoten im jeweiligen Zusammenhang.
17 Sofern in den verwendeten Ausgaben der jeweiligen Werke Angaben über die Datierung der Erstveröffentlichung oder Entstehung fehlten, wurden sie aus dem »Werklexikon der Philosophie« (Großes Werklexikon der Philosophie. Bd. 1 und 2. Hrsg. von Franco Volpi. Stuttgart: Kröner, 1999) und dem »Kulturführer« (Der große Kulturführer. Literatur, Musik, Theater und Kunst in fünf Bänden. Hamburg: Zeitverlag Bucerius, 2008) ergänzt.
2. Terminologische Grundlagen
Nur vordergründig gibt Lukács in der ThdR eine Antwort auf die Frage, warum zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geistesgeschichte der Roman entstanden ist. Denn die Hinweise, die er gibt, beschränken sich nicht auf eine innerästhetische oder literaturtheoretische Argumentation. Sein Erklärungsansatz ist ein tiefer zielender geschichtsphilosophischer, der ausgeht von prozesshaften Veränderungen im Verhältnis der beiden Seinsschichten Leben und Wesen, Empirie und Idee, Immanenz und Transzendenz, das unterschiedliche Konstellationen durchläuft. Das Verhältnis der beiden Seinsschichten zueinander prägt den Geistesstand eines Zeitalters, der – vermittelt über das Erleben der Dichter und Philosophen – in den Werken der Geistesgeschichte Form annimmt. Der für die ThdR grundlegende Zusammenhang vom Verhältnis der Seinssphären einerseits und dem Erleben und der Form andererseits ist daher zunächst zu klären. Der Fokus liegt dabei auf den Arbeiten, die vor der ThdR entstanden und ebenfalls von einem philosophisch-metaphysischen Ansatz geleitet sind.18
In der Essaysammlung »Die Seele und die Formen«19 benennt Lukács – noch ohne geschichtsphilosophische Vermittlungsversuche und mit dem Blick ausschließlich auf die Moderne – zwei Möglichkeiten des Seins mit seinem doppeldeutigen Begriff des Lebens.20
Das Leben ist eine Anarchie des Helldunkels: nichts erfüllt sich je in ihm ganz und nie kommt etwas zum Ende […]. Alles fließt und fließt ineinander, hemmungslos, in unreiner Mischung; alles wird zerstört und alles zerschlagen, nie blüht etwas bis zum wirklichen Leben. Leben: das ist, etwas ausleben können. Das Leben: nie wird etwas ganz und vollkommen ausgelebt. Das Leben ist das Unwirklichste und Unlebendigste alles denkbaren Seins […]. Das wahre Leben ist immer unwirklich, ja immer unmöglich für die Empirie des Lebens.21
Das empirische Leben, das sich durch seine chaotische, stoffliche Struktur auszeichnet und auch als Existenz oder ungeordnete Mannigfaltigkeit verstanden werden kann, wird in der ThdR ebenfalls als Leben bezeichnet. Ihm steht das Wesen unvereinbar gegenüber, das über keine empirische Existenz verfügt. Das wahre Leben kann nur im Zusammenfall von Leben und Wesen bestehen, unter empirischen Bedingungen ist es daher unmöglich. In der ThdR betrachtet Lukács diese Gegenüberstellung des empirischen und des wahren Lebens geschichtsphilosophisch: Der Dualismus von Leben und Wesen geht aus ihrer früheren, ursprünglichen Einheit hervor, die Lukács im Zeitalter Homers, und damit im archaischen Griechenland, verortet. Über das Zwischenstadium des Mittelalters, in dem beide Sphären schon getrennt, aber noch aufeinander bezogen sind, bricht die Einheit in der Moderne in ihre Gegensätze auseinander. Die von dem jeweiligen Seinsverhältnis bedingten Geistesstände des griechischen Zeitalters und der Moderne stellt Lukács einander kontrastierend gegenüber. Er hegt die Hoffnung auf ein neues Zeitalter, in dem aufgrund einer erneuten ontischen Verhältnisverschiebung die ursprüngliche Einheit auf einer höheren Ebene wiederhergestellt wird.
Der doppelte Lebensbegriff findet seinen Widerhall in zwei grundsätzlich verschiedenen Qualitäten des Erlebens,22 das die dem Menschen angeborene, unmittelbare und darum evidente Wahrnehmung vor aller begrifflich-rationalen Verarbeitung ist.23 „Es gibt also zwei Typen seelischer Wirklichkeiten: das Leben ist der eine und das Leben der andere; beide sind gleich wirklich, sie können aber nie gleichzeitig wirklich sein.“24 Lukács nennt die dem empirischen Leben entsprechende Erlebnisqualität das gewöhnliche Erleben, dem er eine höhere, dem wahren Leben entsprechende Erlebnisqualität entgegenstellt, in der Leben und Wesen als Einheit erlebt werden. Diesen qualitativen Unterschied im Erleben scheint Lukács zu meinen, wenn er in der ThdR Psyche und Seele voneinander unterscheidet (vgl. 77, 83).25
Anders als das kontinuierliche gewöhnliche Erleben ist das wahre Leben nur selten zugänglich. Lukács nennt diese besonderen Erlebnisse, die im gewöhnlichen Leben unmöglich scheinen, das Wunder. Bezogen auf das mystische Erlebnis unterscheidet Lukács explizit zwei Arten, das des Mystikers (das mystische Erlebnis i. e. S.) und das des Tragikers, was in Anbetracht der Tatsache, dass der Dichter für Lukács der Mystiker der Moderne ist, im Folgenden noch Bedeutung haben wird. Auf unterschiedliche Weise zeigen beiden Erlebnisarten ein „restloses Aufgehen des Ichs in einem höheren Wesen“26. Für den Mystiker „gibt es nicht jene Unterscheidungen, die wir zwischen dem Konkreten und dem Abstrakten, dem Subjektiven und dem Objektiven zu treffen pflegen“27, er verliert sich ganz in das Absolute im „Erleben eines metaphysischen Seins“28. Dabei wird „infolge der absoluten und richtungslosen Passivität der Seele ihre Vereinigung mit ihrem gesuchten Objekt, mit ihrem Gott, vollzogen“29. Der Tragiker erlebt dagegen „seine Idee und sein Zusammenfallen, sein Eins werden mit ihr“ als „das reine Erlebnis der Selbstheit“30. Diese „blutvoll unmittelbar erlebte Wahrheit der großen Augenblicke“31 entsteht aus dem Zusammenfallen von „Sein und Sinn, Wesenhaftigkeit und Leben, Gegenwart und Ewigkeit“32 im Erleben des Subjekts. Es ist aber nur „ein Augenblick; er bedeutet nicht das Leben, er ist das Leben, ein anderes, jenem gewöhnlichen ausschließend entgegengesetztes“33. Aus dem Augenblick fällt der Tragiker jedoch wieder ins gewöhnliche Leben zurück:
[E]s kann nicht dauern, man könnte es nicht ertragen, man könnte auf seinen Höhen – auf den Höhen des eigenen Lebens, der eigenen letzten Möglichkeiten – nicht leben. Man muß zurückfallen ins Dumpfe, man muß das Leben verleugnen, um leben zu können.34
Grundsätzlich gilt, dass die Erlebniswirklichkeit individuell ist: Qualität und Intensität des Erlebens sind für jedes Subjekt a priori durch seine Erlebnisfähigkeit festgelegt. Sie ist das Schema, auf das alle Ereignisse in der Außenwelt bezogen werden.
Freilich sind Breite und Intensitätsskala dieses Schemas bei den verschiedenen Persönlichkeiten total voneinander verschieden, aber jedes Schema umfaßt die ganze, für das betreffende Subjekt erlebbare Welt; es kann für das Subjekt nichts existent werden, was nicht durch das Schema umgearbeitet wäre. Darum bedeutet aber (für das erlebende Subjekt) die Breite seines Schemas die Weite der Welt und die Intensitätsskala die Grenze menschlicher Erlebnismöglichkeiten.35
Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, was Lukács in der ThdR mit der Verengung und Verbreiterung der Seele (vgl. 83, 97, 98) meint: Für die Romanform unterscheidet er den Typus des abstrakten Idealismus bei verengter und den Typus der Desillusionsromantik bei verbreiterter Erlebnisfähigkeit36
Mit der Annahme der Individualität der Erlebnisfähigkeit ergibt sich folgendes Problem: Für die Mitteilung eines Erlebnisses sind die zur Verfügung stehenden Ausdrucksmöglichkeiten immer unangemessen, denn der sprachliche Begriff abstrahiert vom Konkreten. Ob der verwendete Ausdruck tatsächlich das Erlebnis des Sprechenden ausdrückt und ob er im Zuhörer ein adäquates Erlebnis auslöst, lässt sich nicht feststellen, da das Gegenüber den gewählten Ausdruck seinerseits mit subjektivem Inhalt füllt und ihn mit einem eigenen Erlebnis verbindet. Da das Subjekt so lediglich den Ausdruck des Anderen in seine eigene Erlebniswirklichkeit integriert, begegnet er immer nur sich selbst und kann niemals das Erlebnis des Anderen erfassen: „[D]er Kerker der eigenen Individualität hat sich zu einer Welt geweitet – ein Kerker ist sie dennoch geblieben.“37 Was nicht in das eigene Erlebnisschema integriert werden kann, gilt als pathologisch.38 Solange die Integration jedoch gelingt, entsteht zumindest der Eindruck, sich verstanden zu haben. Er lässt sich aber niemals beweisen und ist für Lukács eine Illusion.39 Mitteilungen über die Erlebniswirklichkeit münden für ihn zwangsläufig im Missverständnis,40 das Lukács beiläufig auch in der ThdR als Merkmal des Romans erwähnt (vgl. 65, 84). Lukács verneint die Möglichkeit, unter dem Geistesstand der Moderne die individuelle Qualität eines Erlebnisses adäquat mitteilen zu können. Er erkennt in diesem „In-sich-eingesperrt-sein des bloß erlebenden Menschen“41 einen intuitiven Solipsismus.42 Dieser wird jedoch nur dann bewusst, wenn äußere Ereignisse nicht mehr in die eigene Erlebniswirklichkeit integriert werden können und so die Kontinuität des Erlebens aufsprengen. Als Beispiel nennt Lukács den Tod des Anderen.43 In der ThdR sieht Lukács in dem intuitiven Solipsismus ein Phänomen der Moderne: Erst nach der vollzogenen Weltentrennung ist „das Unterscheidende zwischen den Menschen zur unüberbrückbaren Kluft geworden“ (57). Hier hat die moderne Einsamkeit der Seele ihre Wurzeln. Eindeutig mitteilen kann das Subjekt sich nur noch in mittelbaren, normativen Sphären, in denen ihm allgemeingültige, von jedem individuellen Erlebnisinhalt abstrahierende Begriffe zur Verfügung stehen. „Mitteilbar ist eigentlich nur das Gemeinsame.“44 Es ist dem Menschen aber immer nur für kurze Zeit möglich, sich aus der Erlebniswirklichkeit loszureißen, um auf normativer Ebene eindeutig zu kommunizieren.45
Die mystischen Erlebnisse setzt Lukács ins Verhältnis zum Begriff der Form als Möglichkeit ihres Ausdrucks. Die Form ist eine seelische Realität, „eine Erlebnisnotwendigkeit, eine Kategorie des Erlebens“46. Mithilfe der Form setzt sich das erlebende Subjekt über den objektiven Gegensatz von Leben und Wesen hinweg: Sie ist „das Bindende und Bannende, das Lösende und Erlösende“, das „Prinzip der Wertschätzung, der Unterscheidung und des Ordnungschaffens“47. Für das Subjekt ist sie „wahrer, wirklicher und lebendiger als das Leben“ und „die letzte und stärkste Wirklichkeit des Seins“48. Lukács schreibt ihr eine praktische Funktion zu, sie ist „eine seelische Aktivität, die ein Teil des Seelenlebens der Menschen […] ist“49. Ihre wertende Tätigkeit hat etwas „Ethisches“50. Diese Definition der Form als innerlichem Prinzip legt Lukács in der ThdR zugrunde, wenn er über die ästhetischen, äußeren Formen sagt: „Jede Form ist die Auflösung einer Grunddissonanz des Daseins, eine Welt, in der das Widersinnige an seine richtige Stelle gerückt, als Träger, als notwendige Bedingung des Sinnes erscheint.“ (52)51
Für die Aufhebung der Gegensätze Leben und Wesen in der Einheit der Form gibt es jedoch keine objektive Rechtfertigung, sie ist nur im Erleben des Subjekts Wirklichkeit, das sich nach einem adäquaten Objekt in der empirischen Außenwelt sehnt. Die ästhetische Form ist Ausdruck dieser Sehnsucht und insofern ein empirisches Surrogat für die empirisch nicht existierende Einheit von Leben und Wesen.52 Sie kann den Gegensatz dieser beiden Prinzipien dabei aber nicht auf einer höheren Ebene aufheben:
Das Wesen der Form lag für mich immer in dem Formwerden (nicht Aufheben!) zweier einander absolut ausschließender Prinzipien; Form ist nach meiner Auffassung die leibgewordene Paradoxie, die Erlebniswirklichkeit, das lebendige Leben des Unmöglichen (unmöglich in dem Sinn, daß Komponenten einander absolut und ewig widerstreiten und eine Versöhnung unmöglich ist.) Form ist aber keine Versöhnung, sondern der zur Ewigkeit erlöste Krieg der streitenden Prinzipien.53
Damit ist sie beiden Qualitäten des Lebens inadäquat und aus objektiver Perspektive „die tiefste Bestätigung des Daseins der Dissonanz, die zu denken ist“ (62). Für das wahre Leben wäre kein bindendes Prinzip erforderlich, damit eine Einheit von Leben und Wesen Bestand hat, im empirischen Leben ist diese Einheit unmöglich: „Das lebendige Leben ist formlos, weil es jenseits der Form liegt, dieses aber, weil in ihm keine Form zur Klarheit und Reinheit kommen kann.“54 In der Form als einer Chimäre zwischen beiden Qualitäten des Lebens vermischen sich Teufel und Göttliches, empirisches Chaos und Absolutes.55 Lukács nennt diese (Selbst-)Erlösung in der Form, für die es keinen objektiven Grund gibt, luziferisch:56
Gyuri says art is Luciferous. It makes a better world than that made by God, it creates anticipatory perfection, harmony before salvation. […] The forms of art are complete and enclosed in themselves, but their material is not bronze or marble, but desire.57
In der ästhetischen Form erhebt sich das Subjekt über die empirischen Verhältnisse. Sie ist ein subjektives Prinzip, das nur für den Einzelnen die Möglichkeit der Erlösung bereithält.58 Von dieser Möglichkeit macht jedoch nur der Tragiker Gebrauch. Lukács unterscheidet für die Verhältnismäßigkeit des Erlebnisses zur Form erneut zwischen Mystiker und Tragiker:
Der Gipfel des Seins, den die mystischen Ekstasen erleben, verschwindet in dem Wolkenhimmel der All-Einheit; die Steigerung des Lebens, die sie bringen, verschmilzt den Erlebenden mit allen Dingen und alle Dinge untereinander. Erst wenn jegliches Unterscheidende für immer verschwunden ist, beginnt das wahre Dasein des Mystikers; das Wunder, das seine Welt erschaffen hat, muß alle Formen zerstören, denn nur hinter ihnen, von ihnen verdeckt und verborgen, lebt seine Wirklichkeit, das Wesen. Das Wunder der Tragödie ist ein Formschaffendes; Selbstheit ist sein Wesen so ausschließlich, wie es dort Selbstverlorenheit war. Ein Erleiden des Alls war jenes, dieses ist sein Erschaffen. Jenseits jeder Erklärung war dort, wie ein Ich all dies in sich aufnehmen konnte; wie es […] alles Unterscheidende seines Selbst und der ganzen Welt vernichten und dennoch eine Ichheit zum Erleben dieser eigenen Aufhebung bewahren konnte. Hier ist das Entgegengesetzte das ebenso Unerklärbare. Das Ich betont seine Selbstheit mit einer alles ausschließenden, alles vernichtenden Kraft, aber diese äußerste Selbstbejahung gibt stählerne Härte und selbstherrliches Leben allen Dingen, denen sie begegnet und hebt – beim endgültigen Höhepunkt der reinen Selbstheit angelangt – sich selber auf: die letzte Anspannung der Ichheit hat alles bloß Individuelle übersprungen.59
Vor diesem Hintergrund des inneren Prinzips der Form betrachtet Lukács in der ThdR unter geschichtsphilosophischem Vorzeichen die Entwicklung der großen epischen Formen.60
Man könnte dieses Buch weder in seinem Gesamtsinn noch in irgendeiner seiner Einzelheiten verstehen, wenn man nicht die Tiefenschicht erkennte, in der hier der Begriff der Form gefaßt ist, wenn man nicht die zentrale und fast religiöse Bedeutung festhielte, die dieser Begriff für Lukács besitzt. Form ist ihm die einzige menschliche Erlösung und Erschließung zugleich. In der Form kehren alle Dinge, alle verborgensten, unaussprechbarsten und unauflösbarsten Regungen der Seele heim zu ihrem ewigen Sinn. […] Nirgends vermögen wir Menschen Sinnhaftes, Wesenhaftes, Göttliches zu ergreifen wie zu gestalten als in der Form.61
Ganz deutlich betont Lukács auch in der ThdR, dass der Zustand der Weltentrennung nicht von der Form überwunden werden kann. Einen empirischen Zusammenfall der Gegensätze Leben und Wesen kann sie nicht herbeiführen: „[D]ie Formen […] werden niemals aus eigenem etwas ins Leben zaubern können, was nicht bereits in ihm angelegt ist.“ (38). Kunst kann niemals eine wahre Erlösung zustande bringen (vgl. 137), sie ist „– im Verhältnis zum Leben – immer ein Trotzdem“ (62).62
Mit Lukács’ Wende zur Geschichtsphilosophie wird in der ThdR die bis hierher erläuterte Problematik von Form und Erleben explizit auf die Moderne beschränkt: „Wir haben das Gestalten erfunden: darum fehlt allem, was unsere Hände müde und verzweifelt fahrenlassen, immer die letzte Vollendung.“ (25 f.) Für den Geistesstand des griechischen Zeitalters, in dem die Seinsschichten noch eine ursprüngliche Einheit bilden, ist eine subjektive Ordnung und Sinngebung der von sich aus mit Sinn erfüllten Wirklichkeit nicht erforderlich: „[D]er Grieche kennt nur Antworten, aber keine Fragen, nur Lösungen (wenn auch rätselvolle), aber keine Rätsel, nur Formen, aber kein Chaos“ (23). Das Erleben dieser sinnvollen Wirklichkeit kann unmittelbar – ohne einen bewussten Gestaltungsprozess – ausgedrückt werden:
Es gab Zeiten – wir glauben, daß es solche gab – wo das, was wir heute Form nennen und mit fieberhafter Bewußtheit suchen und als einzig Bleibendes aus dem Immerwechselnden in kalten Ekstasen herausreißen, es gab Zeiten, wo dies nur die natürliche Sprache der Offenbarung war, das Nichtgehindertsein ausbrechender Schreie, die unmittelbare Energie zuckender Bewegungen. Da man noch nicht fragte, was sie denn sei und sie noch nicht von der Materie und vom Leben trennte, da man gar nicht wußte, daß sie ein anderes sei, als diese, da sie nichts anderes war, als die einfachste Art, der kürzeste Weg der Verständigung zweier gleichartiger Seelen, des Dichters und des Publikums. Heute ist auch dies zum Problem geworden.63
Aufgrund der ontischen Einheit von Leben und Wesen ist in diesen Zeiten „alles schon homogen […], bevor es von den Formen umfaßt wird“ (26). Daher besteht ein selbstverständliches „Zugeordnetsein jeder aus dem tiefsten Innern quellenden Regung zu einer ihr unbekannten, ihr aber von Ewigkeit her zugemessenen, sie in erlösender Symbolik einhüllenden Form“ (21 f.), eine „Parallelität der transzendentalen Struktur im gestaltenden Subjekt und in der herausgesetzten Welt der geleisteten Formen“ (31). Die Formen liegen noch „diesseits der Paradoxie“ (23), denn sie spiegeln die Einheit von Leben und Wesen wider, die die Grundstruktur der Wirklichkeit ausmacht. „Die Griechen empfanden jede ihrer vorhandenen Formen als eine Wirklichkeit, als ein Lebendiges, nicht als Abstraktion.“64 Die Formen sind deshalb „noch kein Zwang […], sondern nur das Bewußtwerden, nur das Auf-die-Oberfläche-Treten von allem, was im Inneren des zu Formenden als unklare Sehnsucht geschlummert hat“ (26).65 Diese Formen ermöglichen adäquate Mitteilungen der Erlebniswirklichkeit, die für alle Menschen dieselbe Qualität hat: „Solange die Welt innerlich gleichartig ist, unterscheiden sich auch die Menschen nicht qualitativ voneinander: […D]ie würdevollen Worte der Weisesten werden selbst von den Törichten vernommen“ (57). Der Solipsismus der Erlebniswirklichkeit und das daraus entstehende Missverständnis spielen im griechischen Zeitalter noch keine Rolle.
Unter diesen homogenen Bedingungen entstehen die drei „zeitlos paradigmatischen Formen des Weltgestaltens“ (27) Epos, Tragödie und Philosophie. Sie lösen einander ab und entsprechen dabei dem jeweiligen Fortschritt im Trennungsprozess von Leben und Wesen, der sich sukzessiv vollzieht. „[D]ie Griechen durchlaufen in der Geschichte selbst alle Stadien, die den großen Formen a priori entsprechen; ihre Kunstgeschichte ist eine metaphysisch-genetische Ästhetik […].“ (26) Das Epos hat, indem es die empirische Wirklichkeit widerspiegelt, das der Empirie noch vollkommen inhärente Wesen in der Form schon miterfasst. Dadurch, dass alle Teile der Wirklichkeit von der Idee durchdrungen sind, braucht die Form nur das Wesen hervorzuheben, das den Gegenständen inhärent ist. Die Wahl des Helden kann beinahe willkürlich erfolgen: Aufgrund der Wesensverwandtheit aller Menschen ist er nur ein Erster unter Gleichen, dessen Schicksal stellvertretend für das der vielen steht, kein Individuum, das durch sein Erleben von allen anderen isoliert ist (vgl. 57 f.). Wenn bewusst geworden ist, dass das wesenhafte Leben, das im Epos gestaltet wird, nicht mehr gegeben ist, entsteht als neue Form die Tragödie,66 die das Wesen in „sinnlicher Unmittelbarkeit“67 lebendig werden lässt (vgl. 27). Sie gestaltet das Erleben des Tragikers, das „Wirklichwerden des intelligiblen Ichs“68 (vgl. 38), indem sie den mystisch-tragischen Augenblick in eine Handlung verwandelt und sich ganz in der Wesenssphäre abspielt (vgl. 54).69
Die Tragödie ist […]: das Leben. Ein Lebensmoment, in dem der Sinn des Lebens zur sinnfälligen Realität geworden ist. Dieser zum Sein erwachte Sinn ist in der gewöhnlichen Wirklichkeit, die sich den gewöhnlichen Menschen als Erlebnis darbietet, immer verborgen und bis zur absoluten Unkenntlichkeit von den kleinlichen „Realitäten“ verdeckt.70
Der tragische Held wird in der Form auf „der reinen Höhe der Wesenhaftigkeit“ (45) gehalten, was dem empirischen Menschen unmöglich ist.71 Indem so das intelligible Ich in der Tragödie lebendig wird, gestaltet sie „die intensive Totalität der Wesenhaftigkeit“ (37). Totalität ist für Lukács hier kein metaphysischer, sondern ein transzendentaler Begriff: Er entspringt bereits dem Zwang der Form und keiner naturhaft gegebenen Einheit der Seinssphären mehr (vgl. 40). Nur der griechischen Tragödie gelingt nach Lukács’ Ansicht jedoch die reine Umsetzung dieser Form, da für sie das hierarchische Verhältnis von Leben und Wesen a priori gegeben ist und nicht erst in der Form als Kampf zwischen Gegensätzen geklärt werden muss (vgl. 32 f., 34 f.). In der Form der griechischen Tragödie verdichtet sich ein letztes Mal „die synthetische Macht der Wesenssphäre“ (45), nur hier kann der Held auf anschauliche Weise „Träger der transzendentalen Synthesis“ (45) sein.
Im formenden Schicksal und im Helden, der sich schaffend sich findet, erwacht das reine Wesen zum Leben, das bloße Leben versinkt zum Nichtsein; es ist eine Seinshöhe jenseits des Lebens voll reich blühender Fülle erreicht worden, der gegenüber das gewöhnliche Leben nicht einmal als Gegensatz gebraucht werden kann. (27)
Die Einsamkeit des Helden ist in der griechischen Tragödie noch nicht dem Solipsismus der Erlebniswirklichkeit geschuldet, sondern den formalen Erfordernissen: Sie ist „der Rausch der vom Schicksal erfaßten, zum Gesang gewordenen Seele“ (36). Diese Seele kann noch „Sternenbrüder“ haben, wenn auch schon keine „Gefährten“ (36) mehr, denn es besteht „eine hohe Gemeinsamkeit der Einsamen“ (36), die einen Dialog ermöglicht.
Für die Griechen hat das Versinken des Lebens als Sinnesträger die Nähe und die Verwandtschaft der Menschen untereinander nur in eine andere Atmosphäre übertragen, aber nicht vernichtet: jede Gestalt, die hier vorkommt, ist dennoch in gleicher Entfernung vom Allerhalter, vom Wesen, ist also jeder anderen in ihren tiefsten Wurzeln verwandt; alle verstehen einander, denn alle sprechen die gleiche Sprache, […] alle streben in gleicher Weise dem gleichen Zentrum zu und bewegen sich auf der gleichen Höhe einer innerlich wesensgleichen Existenz. (35)
Platons Philosophie ist die Form, in der das letzte Stadium des griechischen Geistesstandes seinen Niederschlag findet. Erst hier wird die Trennung von Leben und Wesen, der „problematische Untergrund der Tragödie […] sichtbar und zum Problem“ (27). Auch die philosophische Form entspringt für Lukács einem mystischen Erlebnis, dieses wird jedoch nicht ästhetisch, sondern begrifflich ausgedrückt: „Die Philosophie ist nur in ihren Ausdrucksmitteln rein intellektuell. Ihr Wesen ist das Erlebnis, die Vision.“72 In SuF beschreibt Lukács das Erleben Platons als Erlebnis des Essayisten/Intellektuellen, das er als dritte Erlebnisweise neben dem gewöhnlichen und dem mystischen Erleben definiert. In AaG beschreibt Lukács diese drei Erlebnisweisen als Kasten. Die Angehörigen der dritten Kaste mit der Fähigkeit zu mystischem Erleben nennt er hier die Armen am Geiste, die von der Empirie unberührt ihre auf das Wesen gerichtete Seele als einzige Wirklichkeit – als Seelenwirklichkeit (vgl. 136) – erleben.73 Die Form ist die einzige Erlebniswirklichkeit des Intellektuellen, der weder das gewöhnliche Leben noch die Seelenwirklichkeit erleben kann.
Das Schicksalsmoment des Kritikers ist also jenes, wo die Dinge zu Formen werden; der Augenblick, wenn alle Gefühle und Erlebnisse, die diesseits und jenseits der Form waren, eine Form bekommen, sich zur Form verschmelzen und verdichten. Es ist der mystische Augenblick der Vereinigung des Außen und des Innen, der Seele und der Form.74
Anders als der Mystiker, der die ursprüngliche Einheit von Leben und Wesen erlebt, erlebt der Intellektuelle ihre Einheit nur mittels der Form. Während der Tragiker aus dem Leben Formen schafft, geht der Kritiker von den Formen aus: Er greift hinter das geschaffene Bild zurück auf das Urbild, indem er bewusst von der konkreten, einzelnen Form ausgehend zum Begriff gelangt.
Nur das Einzelne, nur das bis zu den äußersten Grenze getriebene Einzelne ist seiner Idee angemessen, ist wirklich seiend. Das farblos und formlos alles einschließende Allgemeine ist in seiner Alldeutigkeit zu kraftlos, in seiner Einheit zu leer, um wirklich werden zu können. Es ist zu seiend, um ein wirkliches Sein haben zu können […].75
Die als Wirklichkeit erlebte Form wird für ihn zum „Sprungbrett“76 ins Allgemeine. Seinen Ausdruck findet dieses Erleben in der Form des Essays, die daher auch als Meta-Form bezeichnet werden kann.77 Im Essay kann der Intellektuelle die Welt begrifflich neu ordnen.78 Für Platon wird das von Sokrates ethisch geformte Leben als Wirklichkeit erlebt. Dieses Erlebnis gestaltet er in seinen Dialogen, die für Lukács die größten Essays sind, die je geschrieben wurden.79 Der Begriff, zu dem Platon dabei gelangt, ist die Idee des Guten. Über die Teilhabe des Einzelnen an der Idee sieht Lukács in der HPdK noch die Möglichkeit einer adäquaten Mitteilung gegeben.80
Nachdem die Philosophie entstanden und die Weltentrennung abgeschlossen ist, erwachsen die Gattungen nicht mehr dem jeweiligen Weltzustand (vgl. 32), sondern stehen fortan als Ausdrucksmöglichkeiten des erlebenden Subjekts „in unentwirrbarer Verschlungenheit“ (32) nebeneinander.81 Nun gilt, was für das griechische Zeitalter noch nicht gegolten hat: „[E]insam steht der Mensch, als alleiniger Träger der Substantialität, inmitten reflexiver Formungen“ (25). Die Formen müssen nun „alles selbst hervorbringen, was sonst einfach hingenommene Gegebenheit war“ (30). Sie unterliegen dabei „einer geschichtsphilosophischen Dialektik, die aber je nach der apriorischen Heimat der einzelnen Gattungen für jede Form anders ausfallen muß“ (31). Lukács meint damit lediglich, dass die Formen sich infolge der Weltentrennung verändern. Das Ausmaß dieser Veränderungen hängt davon ab, an welches der beiden zum Gegensatz gewordenen Seinsprinzipien die jeweilige Form gebunden ist.
Lukács wendet den Begriff ‚Dialektik‘ hier offensichtlich nicht im Sinne Hegels auf die Gattungen an: Als dritte der „großen, […] zeitlos paradigmatischen Formen des Weltgestaltens“ (27) betrachtet Lukács neben Epos und Tragödie die Philosophie, nicht wie Hegel die Lyrik, die für Lukács bloß ein Kollateralschaden der Moderne ist.82 Nach der Weltentrennung existieren für Lukács alle Gattungen parallel und ergänzen sich dabei komplementär (vgl.114). Sie sind keine dialektischen Entwicklungsstufen, die im Sinne Hegels auseinander hervorgehen, sondern jede für sich der geschichtsphilosophischen Dialektik unterworfen.
Gipfelte noch die Hegelsche Ästhetik in einer Triade der Gattungen, welche sich thetisch von der Epik, antithetisch von der Lyrik, synthetisch zur dramatischen Poesie fortentwickeln (worin beide früheren Momente des Geistes in der neuen Totalität aufgehoben sind), so bricht Lukács durch seinen negativen, am Verlust historischer Totalität orientierten gattungsgeschichtlichen Formansatz die Hegelsche Ästhetik genau an dieser Stelle […] auf.83
Auch Parkinson weist darauf hin, dass die ThdR in diesem wesentlichen Aspekt nicht von Hegel geprägt ist: Die Entwicklung der literarischen Formen verlaufe nicht nur nicht dem hegelschen Triadenschema entsprechend, der gezeigte Prozess entspreche auch nicht einer stetigen rationalen Höherentwicklung.84 Im Zusammenhang mit diesem Stichwort bietet sich daher eine Anmerkung zum Einfluss der Philosophie Hegels auf den jungen Lukács an, die zugleich rechtfertigen soll, warum diese Arbeit zugunsten der Geschichtsphilosophie Fichtes auf die Berücksichtigung Hegels verzichtet: Lukács selbst behauptet in seinem Vorwort von 1962, dass er sich bei seiner Arbeit an der ThdR „im Prozeß des Übergangs von Kant zu Hegel“ (6) befunden habe. Lukács nennt „die Gegenüberstellung der Art der Totalität in Epik und Dramatik, […] die geschichtsphilosophische Auffassung der Zusammengehörigkeit und Gegensätzlichkeit von Epopöe und Roman usw.“, „das Historisieren der ästhetischen Kategorien“ (9), das aus der „dialektischen Evolution des Weltgeistes“ (10) folgt, und „die ästhetische Problematik der Gegenwart: daß geschichtsphilosophisch die Entwicklung in einer Art von Aufhebung jener ästhetischen Prinzipien mündet, die den bisherigen Gang der Kunst bestimmten“ (11) als von Hegel übernommene Elemente. Gleichzeitig grenzt er seinen Ansatz aber auch von Hegel ab: „[Der Verfasser der ThdR, I. K.] suchte eine im Wesen der ästhetischen Kategorien, im Wesen der literarischen Formen begründete, historisch fundierte allgemeine Dialektik der Genres, die eine innigere Verknüpfung von Kategorie und Geschichte anstrebt, als er sie bei Hegel selbst vorfand“ (10). Lukács teilt darüber hinaus Hegels Ansicht nicht, dass die Kunst (aufgrund der Unvereinbarkeit von Individualität und Allgemeinheit) problematisch werde, weil die Wirklichkeit unproblematisch (im Sinne Hegels: sittlicher und freiheitlicher) geworden sei. Die problematisch gewordene Kunst spiegelt für Lukács eine problematische Wirklichkeit wider (vgl. 11).
Eine erste ausführliche Prüfung dieser retrospektiven Selbstdeutung Lukács’ hat Hebing vorgelegt.85 Darin setzt er zunächst aus den verstreuten Anmerkungen Hegels zum Roman in den »Vorlesungen über die Ästhetik« ein einheitliches Bild zusammen: Hegel sieht den Roman als geschichtsphilosophische Analogie zum Epos, beide sind Entsprechungen eines bestimmten Weltzustandes. Das Epos entspricht dem poetischen, organischen, der Roman dem prosaischen, unorganischen Weltzustand. Lukács übernehme von Hegel diese „geschichtsphilosophische Ausgangskonstellation“86, die Gegenüberstellung von poetischem und prosaischem Weltzustand mit den jeweils zugeordneten Kunstformen Epos und Roman und der Totalität als formalem und inhaltlichem Maßstab. Schon für diese erste Gemeinsamkeit weist Hebing aber auch auf die Grenze der Übereinstimmung hin: Wo Hegel eine Höherentwicklung sieht, sieht Lukács aufgrund der historischen Situation einen Verfall – er wende Hegel unter umgekehrtem Vorzeichen an, behalte aber das Grundprinzip eines „Umschlags von Ganzheit in Entzweiung, Geschlossenheit in Offenheit, Poesie in Prosa“87 bei. Auch den Zeitpunkt des Bruchs zwischen poetischem und prosaischem Zustand terminiert Hegel wesentlich später als Lukács, nämlich im Mittelalter.88 Der Roman gestaltet für Hegel nur noch formal eine Totalität, inhaltlich zeigt er die Problematik des Subjekts, sich in die Allgemeinheit des Sittlichkeit und Freiheit garantierenden Staates einzufinden. Hegel unterscheidet dabei drei Lösungsmöglichkeiten, die der Roman für dieses Problem anbietet: die komische, die tragische und die versöhnende Variante. Diese Varianten sieht Hebing als Vorbilder für die drei Romantypen des abstrakten Idealismus, der Desillusionsromantik und des Erziehungsromans, die Lukács in Anknüpfung an Hegel eigenständig ergänze und ausarbeite.89 Die Romantypen sieht Hebing in einem dialektischen Prozess auseinander hervorgehen, in dem wie bei Hegel eine historische Position notwendig als Negation aus der vorherigen folgt.90 Für den Romantyp tolstoischer Prägung findet er bei Hegel kein Vorbild, hier gehe Lukács am weitesten über Hegel hinaus. Hebing weist neben den Gemeinsamkeiten, für die sich bereits deutliche Abweichungen auftun, erneut auf „partiell[e]“91 Unterschiede zwischen Hegel und Lukács hin: Mit seiner utopischen Aussicht auf Dostojewski sprenge Lukács Hegels Konzept endgültig. Wo Hegel die Versöhnung des Individuums mit der Wirklichkeit für möglich hält, schließt Lukács eine Versöhnung aus. Anders als bei Hegel ist für Lukács in der Wirklichkeit keine objektive Ordnung gegeben, in die das Subjekt sich einfinden könnte. Hebing weist explizit auf Lukács’ Einschätzung Hegels in den »Dostojewski-Notizen«92 hin, in der deutlich wird, dass Lukács Hegels Apotheose des Staates zum Garanten von Sittlichkeit und Freiheit nicht teilt.93 Trotz dieser gravierenden Unterschiede sieht Hebing Lukács sowohl inhaltlich als auch methodisch von Hegel beeinflusst, wenn auch nicht dominiert: „Hegels Kunstsoziophilosophie wird zwar grundsätzlich wertgeschätzt und als Grundlage der gesamten Theorie erwählt – und auch das Vermittlungsmodell von Kunst und Geschichte wird uneingeschränkt anerkannt –, die Geschichtsphilosophie in ihrer teleologischen Ausrichtung dreht Lukács jedoch um und transformiert sie in eine Verfallsgeschichte, die in einer säkularisierten eschatologischen Perspektive gipfelt.“94 Die Frage, wie und aufgrund welcher metaphysischen Ursachen sich bei Hegel und Lukács die Entwicklung vom Epos zum Roman vollzieht, stellt Hebing in seiner Arbeit nicht. Ihre Beantwortung hätte ihm den grundlegenden Unterschied zwischen beiden Ansätzen offenbart.
Dass Lukács Hegels „Randnotizen über den Roman“95 aufgreift, lässt sich allerdings nicht bestreiten. Die Widersprüche zwischen Übereinstimmungen und Unterschieden lassen sich auflösen, indem Hegel eine Vorbildfunktion für die Charakterisierung des ästhetischen Aspekts der Epochen zugestanden wird, für Lukács’ geschichtsphilosophische Dialektik jedoch nach anderen Quellen gesucht wird. Diese Lösung zeichnet sich im Ansatz schon bei Keller ab, für den Hegels „Dreischritt von Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Vernunft“ in der »Phänomenologie des Geistes« kaum mit dem geschichtsphilosophischen Konzept der ThdR vereinbar ist,96 obwohl Lukács in Hegels Ästhetik durchaus Anleihen nehme.97 Auch Hoeschen sieht Parallelen zu Hegels Kunstsoziologie, aber keine Nähe zu dessen Geschichtsphilosophie. Provokativ fragt er, was nach Lukács’ Einschränkungen im Vorwort noch von Hegels Methode übrig bleibe und lehnt die These von Einflüssen methodischer Art – nach einem kurzen Überblick über die diesbezüglichen Forschungspositionen – als „Legende“ ab.98 Arbeiten, die in Anknüpfung an Lukács’ retrospektives Vorwort zur ThdR von 1962 die Nähe des in der ThdR aufgezeigten historischen Prozesses zu Hegels Philosophie behaupten, müssen unter diesem Aspekt als Überinterpretation des Vorworts gewertet werden. Hohendahl formuliert es ganz deutlich: „[Es wäre] verfehlt, Lukács [sic!] Theorie die Phänomenologie des Geistes zugrunde zu legen. Dafür liegt der Nachdruck der Darstellung zu sehr auf dem Verlust organischer Totalität und der Sehnsucht nach einem neuen Zeitalter ohne Entfremdung.“99 Althaus, der die ThdR explizit als Produkt der hegelschen Dialektik interpretiert, missversteht dementsprechend die Zeitalter als „rhythmische[…] Perioden, die ausgelöst sind von in der Geschichte selbst angelegten und sie gestaltenden Wirkursachen“100. Féher sieht mit Blick auf die DN eindeutig Hegel als Quelle für Lukács’ frühe Geschichtsphilosophie, dem Lukács aber zugleich die Erhebung des Staates und anderer Gebilde (z. B. der Kirche) zu metaphysischen Instanzen anlaste. Den objektiven Geist Hegels verstehe Lukács als depravierendes Prinzip, dessen Ausweitung als ‚Sieg des Jehovaischen‘ bezeichnet wird. (Mit dem Jehovaischen scheint Lukács in den DN die Übertragung des Erlösungsgedankens auf gesellschaftliche Gebilde wie Staat und Kirche zu meinen. Es stellt eine Art Steigerung bzw. Objektivierung des Luziferischen dar.) Mit der Annahme einer wesentlichen, dem objektiven Geist entgegengesetzten Wirklichkeit spiele Lukács den objektiven gegen den absoluten Geist aus. Féher selbst weist über diesen Widerspruch hinaus auf weitere gravierende Abweichungen zwischen Hegels und Lukács’ Schilderung des historischen Verlaufs hin und erklärt sie wenig überzeugend damit, dass Lukács sein Vorbild ‚recht freizügig handhabe‘.101 Miles sieht Lukács’ idealisiertes Griechenland-Bild und seinen Begriff der Totalität den »Vorlesungen über die Ästhetik« Hegels entnommen. Ohne das geschichtsphilosophische Gesamtkonzept zu betrachten, wundert Miles sich zwangsläufig, dass Lukács den Begriff der Totalität auch auf die griechische Gesellschaft anwendet [und diese dadurch, im Gegensatz zu Hegel, der aktuellen Wirklichkeit vorzieht, I. K.].102
Nach der Weltentrennung vollzieht sich ein Wandel der ästhetischen Formen, der davon abhängt, was das Leben dem gestaltenden Subjekt als Stoff für sein inneres Formprinzip, mit dem es die Wirklichkeit erlebt, zur Verfügung stellt.103 Für die Tragödie, die das wahre Leben gestaltet, vollzieht sich der Wandel innerhalb der Form, da sich die Qualität des Stoffes, auf den sie sich bezieht, nicht grundlegend verändert hat. Für die Epik, die eine extensive Totalität gestalten will, vollzieht sich dieser Wandel jedoch als Bruch mit dem bisherigen Formprinzip (vgl. 31). Denn der für die Epik zugrunde liegende Begriff der Totalität ist „ein empirisch-metaphysischer, der Transzendenz und Immanenz untrennbar in sich vereinigt“ (40). Das konkrete „Dasein und das Sosein der Wirklichkeit“ (38) ist daher wesentlicher Bestandteil der epischen Form. In ihren Grenzen kann nichts gestaltet werden, was im empirischen Leben nicht gegeben ist (vgl. 37 ff.). Während im griechischen Zeitalter, wo Leben und Wesen eine empirische Einheit bilden, das Epos lediglich die empirische Wirklichkeit abbilden muss, um eine Totalität zu gestalten, muss die epische Form nach der Weltentrennung einen unmöglich scheinenden Spagat leisten. Sie soll die Einheit von Leben und Wesen gestalten, ohne den Bereich des Empirischen zu verlassen, der jedoch einen unversöhnlichen Widerspruch zum Wesen darstellt. Eine einfache Abbildung der Wirklichkeit ist nicht mehr ausreichend: Die prosaisch gewordene Wirklichkeit104 ist für die Form des Epos ungeeignet. Eine extensive Totalität kann nach der Weltentrennung nur in der „problematische[n] Form“ (128) des Romans gestaltet werden, die ihre Abrundung zur Totalität nicht mehr der Wirklichkeit, sondern dem mystischen Erlebnis des gestaltenden Subjekts verdankt.105
Was Lukács in der ThdR nicht explizit sagt, worauf aber seine Anspielungen auf die Philosophiegeschichte deutliche Hinweise geben: Auch die begriffliche Form der Philosophie trägt Spuren des ontischen Wandels davon. Diesen Wandel zeichnet Lukács parallel zum Wandel der ästhetischen Formen mit Bezügen auf Platon, Thomas, Kant, Bergson und Fichte nach. Die Werke dieser Denker können als paradigmatische Parallelobjektivationen zu den literarischen Werken verstanden werden, in denen sich der Geistesstand des jeweiligen Zeitalters ebenfalls niederschlägt: Jeder ihrer Definitionsversuche für das Verhältnis von Leben und Wesen mit den daraus resultierenden epistemologischen und ethischen Konsequenzen repräsentiert ein notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg zu dem von Lukács erhofften neuen Zeitalter.
Für Lukács, der sich wie Platon der zweiten Kaste der Erlebnisfähigkeit – dem Intellektuellen – zuordnet,106 sind es die ästhetischen und philosophischenFormen – die Werke der Literatur- und Philosophiegeschichte – die er als Wirklichkeit erlebt. An ihnen spürt er die Verhältnisverschiebungen der beiden Seinsschichten wie ein Seismograf nach und interpretiert sie als Anzeichen einer erneuten Erschütterung, die zu einer Wiedervereinigung der beiden Seinsschichten führt. Lukács’ geschichtsphilosophischer Erklärungsversuch für die Form des Romans ist damit eine seinem Erleben entsprungene Literatur- und Philosophiegeschichtsphilosophie unter ontologisch-metaphysischem Vorzeichen: Nicht historische Ereignisse, soziologische, ökonomische oder politische Entwicklungen werden von Lukács in der ThdR auf einen inneren Sinnzusammenhang hin gedeutet, sondern die von ihm als Wirklichkeit erlebten Formen der Literatur- und Philosophiegeschichte.107 Sie bilden den konkreten Ausgangspunkt, von dem aus Lukács über die „letzten Fragen des Lebens“108 spricht. Wie Platon wählt er dafür die (Meta-)Form des Essays. Wo Platon jedoch ausgehend vom Empirischen zur intuitiven Schau der Idee gelangt, führt Lukács’ Erleben ihn zur Chiffre des Dämonischen.
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