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Der meistgelesene Krimiautor der Türkei!
»Blut war auf dem Stein, der Vollmond am Himmel, der Geruch von Erde im Garten...«. Die Recherche zu einem mysteriösen Hotelbrand führt die junge Versicherungsinspektorin Karen Kimya Greenwood geradewegs in die Heimatstadt ihres Vaters, die zentralanatolische Stadt Konya, Zentrum des berühmten Sufi-Ordens. Vom ersten Moment an gerät sie in einen Strudel aus Geheimnissen, Mystik und Intrigen, die sich über mehr als sieben Jahrhunderte erstrecken, bis zu dem über sieben Jahrhunderte zurückliegenden Mord an Shams-e Tabrizi, dem Lehrmeister des berühmten Sufi-Meisters und Poeten Rumi. Ein Meilenstein der türkischen Krimiliteratur.
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Seitenzahl: 689
»Blut war auf dem Stein, der Vollmond am Himmel, der Geruch von Erde im Garten …«
Zum Buch
Die Recherche zu einem mysteriösen Hotelbrand führt die junge Versicherungsinspektorin Karen Kimya Greenwood geradewegs in die Heimatstadt ihres Vaters, die zentralanatolische Stadt Konya, Zentrum des berühmten Sufi-Ordens. Vom ersten Moment an gerät sie in einen Strudel aus Geheimnissen, Mystik und Intrigen, die sich über mehr als sieben Jahrhunderte erstrecken, bis zu dem über siebenhundert Jahre zurückliegenden Mord an Shams-e Tabrizi, dem Lehrmeister des berühmten Sufi-Meisters und Poeten Rumi. Ein Meilenstein der türkischen Krimiliteratur.
Zum Autor
AHMET ÜMIT, geboren 1960 in Gaziantep, ist einer der meistgelesenen Autoren in der Türkei. Er war von 1974 bis 1989 aktives Mitglied der Türkischen Kommunistischen Partei und schrieb in den Achtzigerjahren nicht nur seine ersten literarischen Texte, sondern studierte auch an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Moskau, was zu jener Zeit nach türkischem Recht illegal war. Während der Militärdiktatur von 1980–1990 war er im Untergrund aktiv und musste zeitweise auch selbst untertauchen. Er zog sich schließlich aus der aktiven Politik zurück und konzentrierte sich aufs Schreiben. Einige seiner zahlreichen Bücher wurden erfolgreich verfilmt.
AHMET ÜMIT BEI BTB Die Gärten von Istanbul
Ahmet Ümit
DASDERWISCHTOR
Roman
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Bab-i Esrar« beim Verlag Everest Yayınları, Istanbul.
Alles in diesem Buch ist Fiktion. Namen, Figuren, Orte und Ereignisse entspringen entweder der Fantasie des Autors oder unterliegen einem fiktiven Gebrauch. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, realen Ereignissen oder Orten ist rein zufällig.
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Genehmigte Taschenbuchausgabe Februar 2020
by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright der Originalausgabe © 2012 by Ahmet Ümit, © by Kalem Agency
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: © mauritius images/Alamy; © Shutterstock/PHOTOCREO Michael Bednarek; donatas1205
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
JT · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-23030-2V001
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
Vorbemerkungen der Übersetzerin
Zur Aussprache des Türkischen:
c – dsch in »Dschungel«
ç – tsch in »tschechisch«
ğ – dehnt den vorangegangenen Vokal oder verbindet ihn mit dem nachstehenden Buchstaben
ı – dumpfes, kurzes i, wie in »bin«
j – wie das g in »Gelatine«
s – stimmloses (scharfes) s, wie »ß« oder »ss«
ş – sch
z – stimmhaftes (weiches) s wie in »Sonne«
Zur Anrede von Personen
Alle Anreden werden dem Vornamen nachgestellt, die Verwendung des Familiennamens ist im persönlichen Umgang unüblich. Abi/Abla/Amca werden oft ohne Namensnennung verwendet.
Abi – »älterer Bruder«, respektvoll-familiäre Anrede für einen Mann der eigenen Generation, der älter als man selbst ist
Abla – »ältere Schwester«, respektvoll-familiäre Anrede für eine Frau der eigenen Generation, die älter als man selbst ist
Amca – »Onkel«, respektvoll-familiäre Anrede für einen älteren Mann
Bey – »Herr«
Efendi – hier: »Herr« im Sinne einer Respektsperson
Hanım – »Frau«
Begrifflichkeiten aus dem Mevlevitum
Dergâh – Ordenshaus, Derwischkonvent
Mevlana – wörtlich: »Unser Herr«, übliche Anrede für Rumi, im Türkischen oft ohne den Namen gebraucht
Mevlevi – ein Anhänger des nach Mevlana Rumi so benannten Mevlevitums (türkisch/arabisch: Mevleviyye)
Semah – auch: Sema; ritueller Tanz der Derwische, auch bei den Aleviten üblich
Semazen – Semah-Tänzer
Sikke – Kopfbedeckung des Semazen
Tennure – Gewand des Semazen
Türbe – (von arabisch Turba) Grabbau, Grabmal, Mausoleum
Schreibweisen
Einige Personen- und Ortsnamen, Begriffe und Koransuren im Buch stammen aus dem Arabischen oder Persischen, der Lesbarkeit und internationalen Identifizierbarkeit halber wurden sie weitgehend in einer Populärumschrift wiedergegeben. So etwa Shams-e Tabrizi (türkisch: Şems-i Tebrizi). Bei Mevlana Celaleddin Rumi dagegen wurde die gängige türkische Schreibweise aus dem Original übernommen, ebenso sind weitere türkische Namen in der Schreibweise des Originaltextes belassen.
Maraj al-Bahrain (Zusammenfluss der beiden Meere; türkisch: Merec’el Bahreyn) ist in der internationalen Populärumschrift des arabischen Wortes übernommen.
Im Buch genannte arabische und persische Gelehrte wurden in der gängigen Populärumschrift wiedergegeben (z. B. al-Ghazāli), ihre Werke soweit möglich in deutscher Übersetzung.
Koransuren folgen weitgehend der Übertragung von Scheich Abdullah As-Samit (F. Bubenheim) und Dr. Nadeem Elyas auf der Website http://islam.de/13822.
Aufgrund der weltweit im Umlauf befindlichen Vielzahl an Versionen und Übersetzungen der Texte Rumis wurden die hier zitierten Verse von der Übersetzerin auf der Grundlage der vom Autor verwendeten türkischen Fassungen neu übersetzt.
Sabine Adatepe, September 2019
Meinen lieben Schwiegereltern Zeynep Başaran und Mehmet Ali Başaran in tiefster Verehrung
Die Welt ist ein Traum im Traum.
Indisches Sprichwort
Blut war auf dem Stein, am Himmel stand der Vollmond, der Garten roch nach Erde. In schauriger Kühle schwammen die Bäume. Es war die Zeit, da die Winterrosen austrieben, die Narzissen sprossen. Sieben Männer betraten den Garten. Sieben hitzige Herzen, sieben Köpfe voller Hass, sieben scharfe Messer. Sieben verfluchte Männer zerschnitten die Stille des Gartens in sieben Teile und huschten zu der hölzernen Tür, hinter der sich ihr Opfer befand.
Blut war auf dem Stein. Schaurige Kühle herrschte im Garten. Nur der Vollmond sah den Mord. Ohne Staunen, ohne Schaudern linste er furchtlos durch die toten Zweige der hohen Pappeln herunter. Der Jüngste der sieben hämmerte an die Tür. Der Älteste rief den Bewohner heraus. Der Mann trat heraus, da stachen die sieben zu.
Blut war auf dem Stein, Hass im Herzen der Menschen, der Vollmond schwieg still. In der Ferne weinte ein Baby, in einem Haus strampelte ein Säugling. In der Ferne schlummerte eine junge Frau, unter der Erde moderte der Leib eines jungen Mädchens. Als der Jüngste der sieben sein Messer in den Mann stieß, zuckte der zarte Körper des jungen Mädchens im Grab. Ein Lächeln legte sich auf ihr noch im Tod schönes Gesicht. Als der Jüngste der sieben zustach, löste sich mit einem Seufzer der letzte Hauch aus der Kehle des Mädchens.
Blut war auf dem Stein, sieben Messer schlugen sieben Wunden. Sieben sprudelnde Wunden. Sieben Mal bäumte sich der Mann auf, sieben Mal erschauerten die sieben, als sie zustachen. Doch der zarte Leib des Mädchens unter der Erde regte sich nicht mehr. Dann war es auch über der Erde so still wie der Körper des Mädchens. Als wäre das Ende der Welt da, verstummte alle Kreatur und verharrte. Reglos das Blut auf dem Stein. Reglos der Vollmond, sein Widerschein im Blut auf dem Stein erlosch. Die Pappeln schlank und hoch, die treibenden Winterrosen, die sprießenden Narzissen, der nach Erde riechende Garten. Alle Kreatur, alle Natur war verstummt, gefangen im Blut auf dem Stein …
Noch eine halbe Stunde bis zur Landung, selbst diese Aussicht vermochte die Unruhe in mir nicht zu vertreiben. Auch am Boden würde die düstere Stimmung nicht weichen, das wusste ich genau. Hätte ich diesen Job bloß nie angenommen! Alles bloß wegen Simon, der sich für den besten Chef der Welt hielt, und seiner Überredungskunst: Aber du sprichst Türkisch, du kennst die Türken. Der Prozess sei außerordentlich wichtig, unmöglich, ihn sonst wem zu überlassen. Es ging um eine Police im Wert von drei Millionen Pfund. Hätte ich bloß die Türken nicht gekannt, wäre nie zuvor in dieser Stadt gewesen! Ich stöhnte gequält, doch was nützten noch alles Stöhnen und Seufzen, es war eben so, und letztlich war auch dies nur ein Job wie jeder andere. Welchen Unterschied gab es schon zu meinem Trip nach Rio vor sechs Monaten? Über die Brasilianer hatte ich rein gar nichts gewusst. Die Türkei war mir dagegen nicht ganz so fremd. Schalte endlich in den Arbeitsmodus! Ich richtete den Blick auf die Zahlen auf dem Monitor, der Laptop hockte mir auf den Knien. Fang endlich an, schienen sie mir zu sagen. Ich fing an, ich suchte die Summe der Police heraus und versuchte auszurechnen, wie viel Schadensersatz nach dem Brand im Hotel Yakut fällig war, doch schon beim zweiten Rechengang ging mir die Konzentration flöten. Unmöglich! Mir schwirrte der Kopf, ich war außerstande zu arbeiten. Ich klappte den Laptop zu und verstaute ihn in der Tasche. Als ich die Tasche unter den Sitz schob, beugte ich mich vor, da blitzte ein Gedanke auf: Schadet es dem Baby, wenn ich mich so beuge? Ach was, es war keine zwei Monate alt. Man konnte es noch gar nicht Baby nennen. Und zurück in London würde ich es auch gleich loswerden. Besorgt, ihm zu schaden, richtete ich mich dennoch rasch wieder auf. Neugierig linste die Frau neben mir herüber. Seit wir im Flugzeug saßen, suchte sie Kontakt. Woher ich käme, wohin ich wollte, wer ich sei? Ich war aber nicht zum Plaudern aufgelegt. Ohne auch nur zu lächeln, wandte ich den Kopf ab und schaute aus dem Fenster.
Es war klar, am Horizont ging knallrot die Sonne unter, zigtausend Meter unter einem dünnen Wolkenhaufen lag ein Flecken dunkelbraune Erde. Kein Baum, kein Fluss, weites flaches Land. Beim ersten Mal war ich im Bus dort entlanggefahren. Damals, vor fünfundzwanzig Jahren oder mehr, war ich mit meinem Vater hier. Es gab noch keine Flüge nach Konya, wir waren nach Ankara geflogen und anschließend vier Stunden Bus gefahren. Die Steppe nahm und nahm kein Ende. Und mitten in der braunen Ebene ein Wunder, ein schneeweißer See.
»Papa, leben Fische darin?«, hatte ich gefragt.
Er richtete seine dunklen Augen auf den schneeweißen See.
»Nein, Tochter, in diesem See gibt es kein Leben, aber es gibt darin etwas, das ungeheuer wichtig für das Leben ist: Salz.«
Ich muss neun gewesen sein damals, vielleicht jünger. Mum war nicht dabei, nur Papa und ich. Die platte Ebene zog sich endlos hin, ich fand sie öde.
»Wann sind wir da, Papa?«
Er lächelte, legte mir seine rechte Hand über die Augen.
»Zähl still bis zwölf«, forderte er mich auf. Ich zählte. Als Papa die Hand wegzog, war die Fahrt zu Ende, mitten in der Steppe stand eine Stadt vor mir. Unglaublich. Ich staunte ihn an.
»Bist du ein Zauberer, Papa?«
Er setzte mir einen Kuss auf die Stirn.
»Ich bin nur ein Mensch dieses Landes, Tochter.«
Damals beeindruckten mich diese Worte zutiefst, später aber … Nachdem Papa uns verlassen hatte … Die Gedanken an meinen Vater steigerten meine innere Unruhe enorm. Er war ein schmächtiger Mann von mittlerer Größe. Kurze dunkelblonde Haare, große traubenschwarze Augen unter den schön geschwungenen Brauen auf der schmalen Stirn, eine spitze Nase mit Höcker und ein grau melierter, kupfern schimmernder Bart rund um das längliche Gesicht. Darauf der Ausdruck chronischer kummervoller Melancholie. Den meisten Menschen steht eine Leidensmiene nicht, doch Vaters Gesicht verlieh sie eine sonderbare Schönheit. Mum stand darauf. »Ich kenne keinen anderen Mann, dem Kummer so gut zu Gesicht steht«, pflegte sie zu sagen und küsste ihn. Papa war das wahrscheinlich peinlich, ich erinnerte mich nicht recht. Doch sein blasses Gesicht und den Kummer in seinen Augen vergaß ich nie, so gern ich das gewollt hätte. Denn ohne jede Erklärung, obendrein mit einem Mann, machte Papa sich aus unserem Leben davon. Nein, ich wollte nicht an ihn denken. Um die Erinnerung an ihn zu verscheuchen, drehte ich den Kopf vom Fenster weg. Meine Sitznachbarin beäugte mich noch immer neugierig, das nervte. Statt erneut aus dem Fenster zu schauen, schloss ich die Augen. Nun hörte ich nur noch das Geräusch der Flugzeugmotoren. Wäre nur diese innere Unruhe nicht gewesen. Ich versuchte, die Gedanken zu verdrängen, an die Unruhe, an das in meinem Bauch heranwachsende Baby, an Papa, an seine Stadt, zu der ich jetzt gegen meinen Willen unterwegs war. Ich wollte mich lösen von der Vergangenheit, von Gegenwart und Zukunft. Wollte eine Weile im pechschwarzen, friedlichen weiten Garten des Schlafs versinken. Wollte meinen Körper, meinen Kopf, mein Herz dem Kommando des Nichts unterstellen …
Da hörte ich die Stimme. Eine Männerstimme. Sanft, warm, liebevoll. Zunächst verstand ich die Worte nicht, horchte genau hin. Es klang wie ein Wispern, ein freundlicher Tadel, ein liebevoller Vorwurf. Dann waren sie so klar, dass alle Zweifel schwanden.
»Kimya … Kimya … Kimya Hanım …«
Ich schrak hoch und schlug die Augen auf. Mein Blick fiel auf die Frau neben mir, sie interessierte sich nicht länger für mich, vielmehr studierte sie die elektronische Anzeige an der Decke, versuchte herauszufinden, wann wir landen würden. Neugierig drehte ich mich um. Die beiden Plätze hinter uns waren leer. Ich linste nach vorn, da saß ein junges Mädchen mit ihrem Freund. Niemand war da, der mich hätte »Kimya« nennen können. Ich musste geträumt haben. Aber wann hatte ich überhaupt geschlafen? Mir war, als hörte ich die Stimme erneut. Nein, diesmal war es bloß eine Erinnerung. »Kimya … Kimya Hanım!« Seit ewigen Zeiten hatte mich niemand mehr so genannt. Seit mein Vater uns verlassen hatte. Nur Papa rief mich »Kimya«. Und Shah Nesim. Papas Freund, sein Herzensfreund, der Mann, der ihn von uns losriss und mit sich nahm. Auch er nannte mich »Kimya Hanım«. Eine hohe schlaksige Gestalt mit schmalem Gesicht und langen Fingern. Hellbraun waren seine Augen, fast gelb, die stets liebevoll schauten. Zumindest kam es mir so vor. Es gab in meiner Erinnerung an ihn nichts Negatives, außer dass er uns Papa weggenommen hatte. Wenn Mum wütend war, nannte sie ihn »gelbäugiger Teufel«. Doch mit der Zeit, als ihr Schmerz abflaute, sprach sie nicht mehr böse von ihm. »Vielleicht sind sie glücklicher als wir«, meinte sie. »Ja, sie sind egoistisch, aber sie sind glücklicher, denn sie haben ein Ziel, für das sie sogar bereit sind, geliebte Menschen aufzugeben.« Worum es sich bei diesem Ziel handelte, verstand ich zwar nicht ganz, wusste aber, dass es um Religion ging. Ich hatte von Papa davon gehört, hatte die mystischen Bücher gelesen, die er mir gab, Gleichnisse, bunte Märchen, Gebete, die ich fast alle vergessen hatte. Ja, all das hatte mit Religion zu tun. Später, als Jugendliche, hatte ich versucht, Papa, dessen Gesicht in meiner Erinnerung nie verblasst war, und seinen gelbäugigen Scheich zu begreifen. Ich wollte wissen, warum. Wollte den Grund finden, der meinem mich abgöttisch liebenden Vater das Recht gab, von einem Tag auf den anderen fortzugehen. Doch vergebens. Selbst wenn Mama ihm vergeben hatte, ich konnte ihm nicht verzeihen. Darum benutzte ich auch nie wieder den Namen, den er mir gegeben hatte: Kimya. Er stand zwar in meinem Ausweis, doch ich versuchte, ihn ebenso zu vergessen wie Papa. Mum hatte sich von Anfang an nicht mit dem Namen »Kimya« anfreunden können. Selbst in den glücklichen Tagen mit meinem Vater, als sie sich noch für orientalische Kultur begeisterte, rief sie mich kein einziges Mal »Kimya«. Für sie war ich stets Karen. Es machte ihr aber nichts aus, wenn Papa mich »Kimya« nannte. Nur einmal hatte sie Shah Nesim deshalb widersprochen. Zwei Monate bevor Papa uns verließ. Wie so oft hatte er sich mit Shah Nesim stundenlang in sein Zimmer zurückgezogen. Einmal tauchte Shah Nesim an der Tür auf. »Kimya, Kimya Hanım!«, rief er mich. »Hol um Gotteslohn doch bitte ein Glas Wasser.«
Ich war mit Mum im Wohnzimmer. Sie explodierte nicht, weil er mich bat, ihm Wasser zu bringen, sondern weil er Stunden mit ihrem Mann hinter verschlossenen Türen verbrachte.
»Sie heißt Karen, nicht Kimya!«
Anschließend brachte sie den beiden aber eigenhändig die bis obenhin gefüllte Karaffe. Shah Nesim nahm ihr den Ausbruch nicht übel, er dankte nur, als er das Wasser am Türspalt entgegennahm: »Gottes Gnade sei mit euch.«
Mama schäumte vor Wut, in ihrem eigenen Haus ließ der Mann sie nicht ins Zimmer ihres Ehemannes! Doch sie schluckte die Empörung hinunter, jedenfalls so lange, bis ich zur Schule kam. Später kam Shah Nesim nicht mehr zu uns. Ob das der Grund dafür war, dass Papa uns verließ? Darüber hatte ich nie mit Mum gesprochen. Denn es hatte keinerlei Bedeutung. Die Fakten lagen auf der Hand. Warum auch immer, Papa hatte uns wegen eines anderen Mannes verlassen. Nie wieder hatte mich jemand »Kimya« genannt, nicht einmal im Traum. Jetzt aber, als ich kurz die Augen schloss … Oder war es doch kein Traum? Saßen Vater und Shah Nesim womöglich im selben Flugzeug? Ein aberwitziger Gedanke, dennoch setzte ich mich unwillkürlich auf und spähte umher. Meine Sitznachbarin verstand zwar nicht, warum ich das tat, musterte aber ebenfalls argwöhnisch die umliegenden Sitze. Natürlich entdeckte ich weder Vater noch Shah Nesim.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte die Frau neben mir. »Es ist doch nichts passiert?«
Ich lächelte gezwungen.
»Alles gut, ich habe nur nach der Stewardess geschaut.«
Beruhige dich, dachte ich, als ich mich wieder in den Sitz schmiegte. Offenbar hatte ich geträumt. So etwas kommt vor, wenn man von London nach Istanbul und ohne Pause gleich weiter nach Konya fliegt. In der Nacht hatte ich kaum geschlafen. Obwohl Nigel da war, hatte mich die negative Stimmung auch gestern Abend nicht verschont. Dabei war es unter dem Strich nur ein kurzer Trip. Ein Job von wenigen Tagen. Am Wochenende wäre ich zurück in London. Ich dachte an Mum, an Nigel. Die Gedanken an London taten gut. Vielleicht sollte ich noch ein Nickerchen machen. Ich schloss die Augen. Eine Stimme ließ mich hochfahren. Ich schlug die Augen auf, nein, die Ansage galt keineswegs mir allein, die Flugbegleiterin sprach alle an:
»Liebe Fluggäste, bitte stellen Sie die Rückenlehnen auf und schnallen Sie sich an, wir sind kurz vor dem Landeanflug.«
Auf dem Flugplatz musterte ich die Abholer. Ich hielt Ausschau nach einem Pappschild mit meinem Namen, einem lächelnden Gesicht, einem Augenpaar, das nach mir suchte. Vergebens. Niemand war mich abholen gekommen. Meine neugierige Sitznachbarin nahm ihre beiden Töchter in den Arm, die Sehnsucht war offensichtlich groß, das junge Pärchen, das vor uns gesessen hatte, umarmte einen alten Mann, und ich stand mit dem Koffer in der Hand und dem Notebookcase über der Schulter verloren mittendrin. Was jetzt? Sich hilflos umzuschauen war sinnlos. Den Koffer hinter mir herziehend strebte ich zum Ausgang. Kaum verließ ich die im Wiedersehensglück taumelnde Menge, hörte ich leise eine Männerstimme: »Miss Karen … Miss Karen …« Ich drehte mich um, da stand ein korpulenter, nicht allzu großer Mann im grauen Anzug. Er war außer Atem, seine Stirn triefte vor Schweiß, offenbar war er gelaufen, um rechtzeitig zu kommen. In schlechtem Englisch fragte er zerknirscht:
»Pardon, sind Sie Miss Karen?«
Wie er sich schämte, seine Hast, sein fürchterlicher Akzent brachten mich auf die Palme.
»Ja«, entgegnete ich schroff. »Ja, ich bin Karen Greenwood.«
Statt erleichtert aufzuatmen, lief sein Gesicht hochrot an.
»Bitte entschuldigen Sie, ich bin zu spät«, sein Englisch wurde immer schlimmer. »Eigentlich sollte ein Kollege Sie abholen, der Ihre Sprache spricht, aber …«
Ich wollte das nicht wissen, wollte auch nicht, dass der Mann vor mir buckelte. Ich wollte nur ins Hotel, duschen und mich aufs Bett werfen. Ich seufzte gequält und switchte auf Türkisch um.
»Mühen Sie sich nicht weiter mit Englisch ab, ich beherrsche Ihre Sprache. Sie können Türkisch mit mir reden.«
Die Augen des Mannes strahlten auf. Als hätte er einen Verwandten getroffen, legte sich ein breites Lächeln auf seine schmalen Lippen.
»Sie können also Türkisch«, sagte er dankbar. »Wunderbar … Ich bin Mennan … Mennan Fidan. Ich leite die Agentur in Konya.«
Er merkte, dass mich nicht interessierte, was er sagte, und dachte, ich wäre ihm böse.
»Bitte vielmals um Entschuldigung, dass ich zu spät gekommen bin«, fing er an, doch ich fiel ihm ins Wort: »Ist schon gut, Mennan Bey, ist nicht weiter wichtig. Wo gehen wir raus?«
Gehetzt schaute er sich um und wies dann links auf eine Tür.
»Dort …«
Ich zog den Rollkoffer in die gewiesene Richtung. Mennan beeilte sich, nach dem Koffer zu greifen.
»Bitte, überlassen Sie mir das Gepäck.« Er schaute dermaßen jämmerlich flehend drein, dass ich nicht anders konnte, als ihm den Koffer zu geben. Er deutete auf das Notebookcase über meine Schulter.
»Bitte auch die Tasche.«
»Vielen Dank, es reicht, wenn Sie den Koffer nehmen.«
Als wir aus dem Flughafengebäude traten, verschwand plötzlich die Sonne, die unseren Flug begleitet hatte, als hätte sie ihren Job erledigt. Es war aber nicht dunkel, ringsum herrschte sonderbares Licht. Ein silbriger Schein, der sich wie melancholisch über die Steppe senkte.
Als ich vor Jahren zum ersten Mal in diese Stadt gekommen war, herrschte ein freundliches Licht. Es musste nachmittags gewesen sein, vielleicht früher Abend. Die Sonne war noch nicht untergegangen. Ringsum war alles in Honigfarben getaucht, die Straßen, die Mauern, die Fensterscheiben, die Blätter an den Bäumen, die Gesichter der Menschen. Das leicht ins Rötliche gehende goldgelbe Licht beleuchtete die Stadt nicht, vielmehr malte es mit seinem glänzenden Staub alles an, verpasste jedem Wesen, jedem Gegenstand seine Farbe. Ein unvergesslicher Moment für ein fremdes Mädchen wie mich, das, seit es sprechen konnte, mit Geschichten, Legenden, Märchen über diese geschichtsträchtige Stadt aufgewachsen war. Mir war damals, als schaute ich mit eigenen Augen ein Wunder. Wir stiegen in einem großen Haus aus Lehmziegeln ab. Es hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den Wohnhäusern in London, auch nicht mit den zweigeschossigen Häusern in den Arbeitervierteln bei uns. Es gab unzählige Räume, Holztüren mit zwei Flügeln und reicher Schnitzarbeit, Fenster mit hölzerner Vergitterung, einen großen Garten mit Bäumen, darin von Turbanen bekrönte Grabsteine mit arabischen Schriftzeichen. Zuerst hielt ich sie für Denkmäler. Doch Papa klärte mich auf. Ich verbarg mein Erschrecken. Gräber im Garten fand ich schaurig. Waren wir in einer Art Kirche? Papa lachte. »Könnte man so sagen, es ist eine Art Kloster …«
Seltsamerweise sah ich keine Nonnen. Es gab nur Männer dort. Irgendwann tauchte aber doch eine Frau auf, stämmig und mit Dauerlächeln. Sie sagte auch ihren Namen, aber ich vergaß ihn. Ungeniert umarmte und küsste mich die Frau auf beide Wangen. Sie roch leicht nach Vanille. Das mochte ich. Vielleicht weil ich Hunger hatte. Dass sie mich aber so mir nichts, dir nichts in den Arm nahm, befremdete mich. Sie war doch keine Verwandte oder Bekannte. Doch ich sah Papas ruhige Miene, den zufriedenen Ausdruck in seinen Augen, und schwieg. Offenbar lag nichts Ungewöhnliches im Verhalten der Frau.
»Dort steht unser Auto …«
Mennan deutete auf einen schwarzen Mercedes. Hatte ich das falsche Fahrzeug im Visier? Nein, er stand schon fast davor. Ein nagelneuer Wagen der E-Klasse. Ich kam nicht umhin, mich zu fragen, wo der Mann das Geld dafür verdiente. Meines Wissens hatten wir kein sonderlich ausgedehntes Klientenportfolio in Konya. Unser bester Kunde war Ikonion Tourism. Die Firma, deren Hotel abgebrannt war. Die Beträge ihrer Police waren beträchtlich, und sie hatten stets pünktlich gezahlt, dennoch war es unmöglich, damit einer kleinen Versicherungsagentur, wie Mennan sie betrieb, genug Geld für eine Luxuslimousine wie diesen Mercedes einzubringen. War der Argwohn unseres ambitionierten Direktors Simon doch berechtigt? Hatte Ikonion Tourism unseren Versicherungsagenten Mennan Fidan gekauft und versuchte, uns einen Drei-Millionen-Betrug unterzuschieben? Sei vorsichtig in seiner Gegenwart, nahm ich mir vor. Mennan, nichts von meinen Gedanken ahnend, wartete mit meinem Koffer hinten rechts am Wagen. Als ich bei ihm war, stellte er den Koffer ab und hielt mir höflich die Tür auf.
»Bitte schön, Miss Karen.«
Ich dankte ihm und stieg ein, traute seiner Höflichkeit aber nicht über den Weg. Wie oft hatte ich falsche Höflichkeit erlebt! Vor allem Klienten mit betrügerischen Absichten verhielten sich überaus aufmerksam und respektvoll. Sie wollten die Versicherungssachverständige beeindrucken, damit wir gewisse Details übersahen. Mich hätte nicht gewundert, wenn es sich hier um einen solchen Fall handelte. Auch Mum war dagegen gewesen, dass ich nach Konya reiste, obwohl sie die Menschen dieses Landes liebte. Vermutlich sorgte sie sich arg um mich. Wer weiß, wie oft sie schon versucht hatte, mich zu erreichen. Um sie nicht länger in Sorge zu lassen, schaltete ich das Handy ein. Ich wartete darauf, dass die eingehenden Nachrichten luden, Mennan verstaute unterdessen meinen Koffer im Gepäckfach und knallte die Klappe zu. Statt in den Wagen zu steigen, telefonierte er, dabei warf er mir hin und wieder argwöhnische Blicke zu. Informierte er jemanden über meine Ankunft? Ach was, hör auf, dich in Paranoia hineinzusteigern! Vielleicht rief er einfach nur seine Frau an. Ich sollte mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Ich schaute erneut aufs Handy, doch da waren keine neuen Nachrichten. Niemand hatte angerufen, während ich im Flugzeug saß. Weder Mum noch Nigel. Ich hatte mich getäuscht, Mum sorgte sich nicht um mich. Sie glaubte also, ich würde mit den Schwierigkeiten fertigwerden. Und Nigel? Seit drei Jahren waren wir zusammen, er war meine große Liebe, der Vater des Kindes in meinem Bauch. Ich war noch immer verliebt in ihn und er in mich. Aber er war so unendlich relaxed. Seine Gelassenheit machte mich rasend. Wie süß er war mit den funkelnden schwarzen Augen, den beiden Reihen weißer Zähne, die wie Perlen glänzten, wenn er die vollen Lippen zum Lächeln verzog, mit seiner stets warmen Haut. Schon bei dem Gedanken an Nigel wurde mir warm ums Herz. Er aber dachte offenbar gar nicht an mich. Sorgte man sich nicht um seine Liebste, wenn sie in ein fremdes Land reiste? Obendrein wusste er, wie nervös ich war. Ich hatte ihm erzählt, wie ungern ich nach Konya reiste, dazu kam die völlig ungeplante Schwangerschaft. Mein Blick fiel auf die Uhr. Kurz vor sechs. In London war es jetzt vier Uhr. Da fiel es mir ein, ich war erleichtert, na klar, er hatte gestern Abend gesagt, heute um diese Zeit hätte er eine Herz-OP. Deshalb hatte er nicht angerufen. Und Mum? Ach ja, auch sie hatte einen guten Grund: die Sitzung beim Aids-Hilfe-Verein. Jeden Montag ging sie dorthin.
Mennan stieg ein und riss mich aus den Gedanken.
»Verzeihen Sie, ich habe Sie warten lassen.« Er klang verlegen. »Ein Anruf aus dem Büro, es war dringend.«
Ich zeigte kein Interesse.
»Kein Problem.«
Mennan schloss die Tür und quetschte seinen Bauch mit Ächzen und Stöhnen hinter das Steuer, wieder stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Er zog ein Papiertaschentuch aus dem Kästchen neben der Gangschaltung und tupfte sich die Stirn ab. »So, wir können fahren.«
Bevor er den Zündschlüssel drehte, warf er mir im Rückspiegel einen besorgten Blick zu, als hätte er etwas Wichtiges vergessen. »Sie sitzen doch bequem?«
Zum ersten Mal nahm ich seine grünen Augen wahr, sie blickten herzlich aus dem fülligen Gesicht.
»Alles gut, ich sitze gut, danke, wir können losfahren.«
Mennan holte tief Luft, murmelte »Bismillahirrahmanirrahim« und ließ den Wagen an.
Wir fuhren durch eine platte Stadt. Von Bäumen gesäumte Alleen, idyllische Grünflächen, nicht allzu große Häuser in Gärten. Das passte gar nicht zu dem Konya meiner Erinnerung. Im Gedächtnis waren mir geheimnisvolle alte Häuser unter einem endlosen Himmel geblieben, ins Ungewisse führende enge Gassen, uralte Moscheen und auf Schritt und Tritt jene beturbanten Grabsteine, deren Anblick schaudern machte. Wo mochte das Lehmziegelhaus liegen, in dem ich damals mit Papa gewesen war? Durchs Autofenster hielt ich Ausschau danach, als hätte ich tatsächlich eine Chance, es zu entdecken. Die bunten Wagen einer vorbeiziehenden Straßenbahn versperrten mir die Aussicht. Sie waren so nah, dass ich Schüler in blauen Schuluniformen darin herumalbern sah. Als die Bahn vorüber war, sah ich auf dem Gehsteig eine ärmlich gekleidete junge Frau auf einer Bank sitzen. Sie hielt etwas unter der Wolldecke auf ihrem Schoß. Ein Baby, wie ich beim genaueren Hinschauen erkannte. Sie stillte ihr Kind. Einen Zipfel der ausgeblichenen Decke hatte sie über den Kopf des Babys gezogen, um ihre Brust zu verbergen. Jäh wurden mir die Augen feucht, ich spürte einen Kloß im Hals. Wie von selbst glitten meine Hände zu meinem Bauch, während ich die stillende junge Mutter beobachtete. Als sie den Kopf hob, trafen sich unsere Blicke. Sie lächelte. Ich erwiderte ihr Lächeln nicht, nicht weil ich es nicht gewollt hätte, ich konnte es nicht. Hastig wandte ich den Kopf ab. Ohne zu wissen, warum. Ich verachtete die Frau nicht. Vielleicht hatte ich Angst; nicht vor der jungen Mutter, vielmehr vor mir selbst, vor dem Kind, das in meinem Bauch heranwuchs. Davor, mich noch nicht entschieden zu haben. Dann reute es mich, so brüsk den Kopf abgewandt zu haben, erneut schaute ich hin, wollte die junge Frau anlächeln, ihr vielleicht zunicken, doch sie hatte mich längst vergessen und war mit ihrem Baby beschäftigt. Da klingelte mein Handy. Nigel? Aufgeregt fischte ich das Gerät aus der Tasche. Nein, es war Simon. Mein Chef. Ich unterdrückte die Enttäuschung und nahm den Anruf entgegen.
»Hallo?«
»Hallo, Karen. Wie war die Reise?« Simons Stimme klang schrill wie die einer Frau.
»Gut, sie war gut, bin gerade erst gelandet, Mennan Bey hat mich abgeholt, wir fahren ins Hotel …«
»Ah, Mennan war da, das ist gut. Aber hör mal, vertrau dem Mann nicht allzu sehr.« Er flüsterte, als könnte Mennan ihn hören. »Wir arbeiten seit zwei Jahren mit ihm zusammen und wissen kaum etwas über ihn. Sei wachsam. Warum ich dich anrufe: Wir haben ein Vertragsaddendum gefunden. Das sichert dem Klienten eine Menge Vorteile. Fünf von sieben Artikeln beziehen sich auf Brandschaden. Dieses Addendum bereitet mir heftige Bauchschmerzen. Ich erwarte, dass du extrem sorgfältig arbeitest, Karen. Sieh zu, dass dir kein Detail entgeht, der Chef von Ikonion Tourism ist ein gerissener Mann und hervorragend ausgebildet. Er kennt sich in solchen Dingen ebenso gut aus wie wir. Dem ist jede Finte zuzutrauen, um dich hinters Licht zu führen. Am Ende hat er sogar Mennan gekauft.«
Mein Blick glitt zum Rückspiegel, ich taxierte den Mann, der mit ernster Miene den Wagen lenkte. Er wirkte harmlos. Doch womöglich sprach er sehr gut Englisch und tat nur so, als beherrschte er es kaum. Ich hatte in meinem Beruf schon mit Betrügereien zu tun gehabt, die nicht einmal dem Teufel in den Sinn gekommen wären, mit Tricks, die sich die klügsten Leute nicht hätten ausdenken können. Mich versetzte nicht einmal mehr in Erstaunen, wenn Menschen, die ich für völlig unbedarft hielt, sich als die größten Nepper entpuppten. Um Mennan nichts merken zu lassen, sprach ich mit Simon durch die Blume.
»Keine Sorge, mir ist das alles bewusst, ich werde tun, was nötig ist.«
»Gut, ich habe dir das Addendum gemailt. Schau es dir an, bevor du morgen in die Sitzung gehst. Dann die beiden Angestellten, die bei dem Brand umkamen. Es gibt Meldungen in der türkischen Presse darüber. Die Zeitungen behaupten, ihr Tod sei kein Unfall gewesen, sondern Mord. Journalisten übertreiben gern, aber es dürfte von Nutzen sein, wenn du dir die Meldungen anschaust.«
»Natürlich, das mache ich.«
»Okay, dann bis bald. Wenn etwas los ist, ruf sofort an. Egal wann. Ich bin rund um die Uhr erreichbar.«
»Alles klar, ich ruf an.«
Als ich das Handy in die Tasche schob, spürte ich einen Blick auf mir. Im Rückspiegel sah ich, wie Mennan mich mit verengten Augen musterte. Ich reagierte mit einem halben Lächeln, doch das reichte unserem Vertreter nicht.
»Ein Anruf aus London?«, fragte er neugierig.
Ich wusste, dass Türken mit Menschen rasch warm wurden, ohne sie gut zu kennen. Ohne Simons Warnung hätte ich Mennans Frage als Ausdruck dieser Eigenschaft interpretiert, aber es ging hier um eine Schadensersatzforderung in Höhe von drei Millionen Pfund.
»Ja, ein Freund aus London.« Damit wollte ich das Thema beenden, doch Mennan war beharrlich.
»Ich war letztes Jahr in London.« Er versuchte, die Unterhaltung zu vertiefen. »Mit einer größeren Gruppe Freunde, eine Pauschalreise für Touristen. Die Themse, Big Ben, Hydepark und das Museum mit den Wachsfiguren berühmter Leute …«
»Madame Tussauds«, half ich.
»Genau. Der Linksverkehr war bis zuletzt ungewohnt, aber London gefiel uns sehr. Eine grüne Stadt. Nicht wie hier. Nur zu wenig Sonne.«
Mich nervte sein Gerede, ich schaute aus dem Fenster. Fing wieder an, nach dem Haus mit den beturbanten Grabsteinen im Garten Ausschau zu halten. Es musste irgendwo im Zentrum liegen. Damals waren wir mit dem Taxi vom Busbahnhof hingefahren. Es ging durch eine schmale Gasse, ich erinnerte mich an eine Moschee, einen Steinbau mit einem sehr kurzen Minarett, davor ein Platz. Ein großer Platz, auf dem ein kleiner farbenfroher Obstmarkt mit hölzernen Ständen stattfand. Ganz in der Nähe lag das Haus. Wir hatten den Garten durch ein Tor mit nur einem Flügel betreten. Ein Mann begrüßte uns, ein alter Mann. Papa hatte ihm die Hand geküsst. Ein Verwandter, dachte ich damals. Papas Onkel. Mein Vater hatte nie von Verwandten gesprochen. Als er dem Alten die Hand küsste, hatte ich mir gesagt, er hat also einen Onkel, von dem er uns nie erzählt hat. Seltsam war nur, dass der Mann anschließend meinem Vater die Hand küsste. Ich wusste, dass man bei den Türken älteren Respektspersonen die Hand küsste, aber dass ein alter Mann einem jungen die Hand küsste, hatte ich noch nie gehört.
»Suchen Sie etwas, Miss Karen?«
Ich schrak zusammen, wieder lag Mennans grüner Blick auf mir.
»Ja, ich schaue nach einem Haus aus.« Ich zögerte, vielleicht war es falsch, von mir zu reden, fuhr dann aber fort. So wenig Info war noch kein Privatleben. »Ein altes Haus mit einem riesigen Garten, darin Grabsteine mit Turbanen …«
»Haben Sie das in einem Magazin gesehen? Das Haus, meine ich. In einem Tourismusmagazin?«
Ich mochte nicht schwindeln.
»Nein«, sagte ich. »Ich war schon mal in Konya …«
Eine neue Welle der Neugier schwappte durch Mennans Blick.
»Wirklich? Wann denn?«
»Das ist lange her, ich war noch ein Kind. Damals brachten sie uns zu einem alten Haus. Eigentlich war es kein Haus, eher ein religiöses Zentrum …«
»Eine Moschee?«
»Nein, keine Moschee, es lebten Menschen dort.«
»Dann war es ein Dergâh, ein Ordenshaus«, vermutete er. »Wer hat Sie denn dorthin gebracht?«
Mein Vater, wollte ich sagen, verschwieg es aber.
»Ein Bekannter. Ein Nachbar aus London.«
Im Rückspiegel sah ich, wie Mennan die Stirn furchte, als sähe er sich einem großen Problem gegenüber.
»Also, Miss Karen, solche Orte gibt es viele. Welcher könnte es gewesen sein?« Plötzlich leuchteten seine Augen auf, als hätte er die Lösung gefunden. »Fahren wir durch die Nebengassen. Die Stadt ist nicht besonders groß, vielleicht erkennen Sie es wieder.«
Er bog links ab, ohne mir eine Chance zum Widersprechen zu lassen. Kaum hatten wir einen hässlichen Wohnblock hinter uns gelassen, änderte sich die Bebauung der Gasse, die so schmal war, dass nur ein Auto zugleich hindurchpasste. Hier reihten sich hübsche zweigeschossige Ziegelhäuser aneinander. Mit der Bebauung schien auch die Zeit verwandelt, es war, als wären wir um Jahrhunderte in die Vergangenheit katapultiert. Konnte das die schmale Gasse sein, durch die ich damals mit Vater gefahren war? Hatte ich diese Ziegelbauten mit ihren handgeschnitzten Türen und den Holzgittern vor den Fenstern schon einmal gesehen? Gut möglich. Doch das Vertrauen in mein Gedächtnis schwand, je länger ich diese Gasse aus vergangenen Jahrhunderten musterte, ich war mir nicht mehr sicher, was ich schon gesehen hatte und was nicht. Kurz darauf, nur wenige Hundert Meter weiter, endeten die hübschen Häuser, der Wagen trug uns in eine kleine Straße mit Neubauten.
»Was meinen Sie, sieht das hier aus wie der Ort, an dem Sie damals waren?«, fragte Mennan, als wir das Gebiet verließen.
»Ich bin mir nicht sicher«, gestand ich und wischte mir mit dem Handrücken Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ich war ein Kind damals, hier hat sich sicher viel verändert.«
Jetzt passierten wir einen Park, mittendrin stand eine kleine Moschee. Nein, diesen Ort hatte ich noch nie gesehen. Weder den Park noch die Moschee. Dennoch musterte ich die Moschee interessiert. Alt sah sie aus. Als ich die Inschrift am Portal zu entziffern versuchte, trat Mennan unvermittelt auf die Bremse.
»Verfluchter Mist!« Mit einem Rütteln kam der Wagen zum Stehen, Mennan drehte sich frustriert zu mir um.
»Das tut mir wahnsinnig leid …«
Er deutete auf die rechte Seite des Wagens.
»Der Reifen, rechts, der Vorderreifen ist geplatzt!«
Auch das noch, dachte ich, Mennan aber fuhr schon fort: »Keine Sorge, ich lasse Sie gleich per Taxi ins Hotel bringen.«
Per Taxi? Das Gepäck aus dem Kofferraum hieven, ins Taxi umladen? Was für ein Umstand. Als er mich zögern sah, erläuterte er: »Der Reifenwechsel kann etwas dauern …«
»Kein Problem«, sagte ich bestimmt. »Ich warte.«
Er taxierte mich, um abzuschätzen, ob ich das ernst meinte.
»Erledigen Sie das. Anschließend fahren wir ins Hotel, ob früher oder später, ist doch egal.«
»Na gut.« Mennan legte das Jackett ab. »Ich wechsele den Reifen, so schnell ich kann.«
Er stieg aus und trabte zum Kofferraum. Als er die Klappe öffnete, glitt mein Blick zum Park hinüber, der im Zwielicht der hereinbrechenden Dämmerung lag. Am Brunnen vor der Moschee führten zwei uniformierte Polizisten die rituelle Waschung zum Gebet durch. Mir fielen die großen Pistolen auf, die an ihrer Taille baumelten. Die Gesichter konnte ich nicht gut erkennen, wusste aber, dass sie gleich Gott bitten würden, ihnen ihre Sünden zu vergeben. Der Moment der Beichte und die Pistolen an ihren Gürteln würden im Widerspruch zueinander stehen. Mit der Waffe in den Frieden des Schöpfers eintreten! Mit dem todbringenden Instrument den Frieden Gottes suchen, der doch gerade gebietet: »Du sollst nicht töten!« Mir fiel ein, dass Papa und Shah Nesim darüber gesprochen hatten. Sie hatten sich an jenem Tag nicht in Papas Zimmer zurückgezogen, sondern saßen im Wohnzimmer und tranken Tee, ich saß dabei und malte. Ich weiß nicht mehr, wie sie darauf kamen, irgendwann sagte Papa: »Ich glaube nicht, dass Gott straft. Er ist voller Güte und Barmherzigkeit. Es gibt keine Gewalt bei ihm.« Nesim schaute ihn eine Weile stumm an, bevor er entgegnete: »Du irrst.« Er schüttelte sacht den Kopf. »Gott ist viel größer als Barmherzigkeit und Güte, auch als Gewalt und Strafe. Alles gibt es bei Ihm, bei Ihm ist alles eins. Eins sein heißt, das, was aussieht, als wäre es vieles Verschiedenes, in einer Erscheinung zu versammeln, ohne die Unterschiede zu verwischen, ohne gleichzumachen oder auch nur ähnlich. Denn alles, was da ist, hat seinen Sinn und seine Notwendigkeit. Meist ist Gott nicht das, was Er ist, sondern das, was wir in Ihm sehen. Wer voller Liebe ist, sieht Barmherzigkeit, wer grausam ist, sieht Gewalt. Wer klug ist, sieht Verstand, wer dumm ist, blinden Glauben. Gelehrte sehen die Wissenschaft, Ungebildete das Wunder.«
Der Ersatzreifen krachte zu Boden, als Mennan ihn aus dem Kofferraum hob, und verscheuchte meine Gedanken. Ich schaute mich um, mein Fahrer hatte den Reifen aufgestellt und rollte ihn nach vorn. Er schien wieder gut gelaunt, schenkte mir im Vorübergehen sogar ein Lächeln. Dann holte er den Wagenheber aus dem Kofferraum und machte sich an die Arbeit. Ich spürte, wie sich das Auto langsam hob. Zugleich schwebte eine Stimme über die sich senkende Abenddämmerung, ich hatte sie ewig nicht gehört. Von der Moschee erklang der Gebetsruf. Mein Vater sang ihn früher wunderschön. Als wären es nicht heilige Worte, sondern ein seelenvolles Liebeslied. Wie die pakistanischen Muslime um Shah Nesim betete er nicht fünfmal am Tag, vielmehr verschwand er von Zeit zu Zeit in sein Zimmer, um zu beten. Sein Gottesdienst beschränkte sich nicht auf die Verrichtung der Gebete, manchmal saß er reglos ganze Nächte lang da, bald flüsterte er wie zu sich selbst, bald blies er die Rohrflöte Ney. Kam er anschließend aus dem Zimmer, waren seine großen schwarzen Augen feucht, und seine Züge waren sonderbar friedlich. Ich hörte einmal, wie Shah Nesim zu Vater sagte: »Man muss sterben, bevor man stirbt.« Das erschreckte mich. Bei dem Gedanken, dass mein Vater sterben könnte, lief ich in mein Zimmer und weinte. Papa hörte mich und kam zu mir. Ich fiel ihm um den Hals.
»Papa, wirst du sterben?«
Die Frage schockierte ihn.
»Wie kommst du denn darauf?«
Als ich erzählte, was ich mitgehört hatte, lachte er laut.
»Ich werde nicht sterben, Schatz, Onkel Nesim hat auch nicht gesagt, dass ich sterben soll. Die Worte haben einen verborgenen Sinn. Das verstehst du, wenn du größer bist. Jetzt nur so viel: Mit dem Tod haben sie rein gar nichts zu tun.«
Wie froh war ich, dass Papa nicht sterben würde. Was die Worte »Sterbt, bevor ihr sterbt« bedeuteten, erschloss sich mir, bevor ich groß war. Der stille Frieden in Vaters Augen erklärte ihn mir. Für andere mochte der Spruch eine andere Bedeutung tragen, für mich aber sprachen sie von dem tiefen Frieden, den Vater trotz seiner chronisch melancholischen Miene stets in sich trug. Jedes Mal, wenn ich die Worte hörte, trat mir ein glatter, stiller, sich scheinbar endlos dehnender regloser Ozean vor die Augen. Gigantisch, gewaltig, außergewöhnlich und ebenso ruhig, weit und sanft. Auch bei meiner Mitschülerin Janet hatte ich diesen Ausdruck von Papas Miene einmal gesehen, das war nach einem Epilepsieanfall. Sie war launenhaft wie kein anderer in der Klasse, manchmal erwischte es sie mitten im Unterricht, dann zitterte sie wie ein vom Sturm erfasstes Blatt, doch war der Anfall vorüber, trat in Janets aschfarbene Augen ein ähnlich tiefer Frieden, wie er in Papas schwarzen Augen lag. Die Sanftheit, der Frieden, mit dem sich die Ruhe nach einer extremen Anspannung, nach dem Aufruhr des Herzens, dem furchtbaren inneren Orkan in der Miene widerspiegelte. Der Gemütszustand, den ich mir jetzt am meisten gewünscht hätte. Der mir allerdings gerade ferner lag als jeder andere. Wieder regte sich der Albdruck in mir, die tiefe Unruhe. Plötzlich bekam ich keine Luft mehr, ich riss die Tür auf und sprang aus dem Wagen.
Mennan warf mir einen besorgten Blick zu.
»Alles okay«, sagte ich, bevor er fragen konnte. »Machen Sie nur weiter.«
Er widmete sich erneut seiner Beschäftigung, ich ging um den Wagen herum und spähte zum Park hinüber, vielleicht würde mir das die Unruhe vertreiben. In der zunehmenden Dunkelheit war das Minarett nur noch als lange, schlanke Silhouette zu erkennen. Außer der Stimme des Muezzins war kein Laut auf dem Platz zu hören. Die Passanten, der Wind in den Bäumen, die pulsierende Stadt, alles schien in Schweigen versunken. Lag es am Gebetsruf, der durch den Park klang, an den Vögeln, die über unseren Köpfen zwitscherten, am hereinbrechenden Abend, auf einmal fühlte ich mich mutterseelenallein. Als hätten alle meine Lieben mich in dieser unbekannten Stadt allein gelassen. Erneut stieg die Depression in mir auf. Wäre ich bloß nicht ausgestiegen!
»Möchten Sie rauchen?«, rief Mennan. »Im Handschuhfach liegt eine Schachtel.«
Ich rauchte nicht, Tabak hatte ich nie gemocht, doch sein Angebot riss mich aus dem finsteren Strudel, in den ich gestürzt war.
»Vielen Dank, ich rauche nicht.«
Er reckte den Kopf. »Ich hab auch aufgehört. Die Schachtel stammt noch aus meiner Zeit als Raucher.«
Er senkte den Kopf und kümmerte sich weiter um den Reifen.
So ging das nicht weiter, ich musste mich zusammenreißen. Mir ist doch nichts passiert, dachte ich, es war nur ein Anfall von Einsamkeit in einem fremden Land, bei Einbruch der Nacht, nichts weiter. Ein Anflug von Melancholie. Nun musste es gut sein. Das negative Gefühl, das mich nicht verlassen hatte, seit ich in Heathrow den Flieger bestiegen hatte, die unselige Schwarzseherei musste ich endlich abschütteln. Vielleicht sollte ich zum Brunnen vor der Moschee gehen und mir das Gesicht erfrischen. Keine schlechte Idee. Ich drehte mich um. Da sah ich ihn. Ein Mann ganz in Schwarz, groß und schlank, struppiger Bart, wirres Haar. Regungslos stand er vor mir, fast hätte ich einen Schrei ausgestoßen, doch ich war so verblüfft, dass mir nur ein kurzes »Huch!« entfuhr.
»Fürchte dich nicht«, sagte er. Seine Stimme war ruhig wie Wasser, sanft wie Seide auf der Haut und strahlte friedliche Ruhe aus wie ein kühlender Hauch. »Fürchte dich nicht, ich führe nichts Böses im Schilde.«
Mein Blick fiel auf seine lang bewimperten schwarzen Augen, die wie von Natur aus geschminkt wirkten. Keinerlei Drohung lag darin, keine Gerissenheit, auch keine Furcht. Mir war, als bäte er mich um Hilfe. Was sollte ich sagen? Wie verzaubert stand ich da. Er kam näher, ohne einen Schritt gesetzt zu haben. Ich sah keine Bewegung an ihm, doch er näherte sich. Er ging nicht, er schien zu schweben, wie die Nacht, wie der Wind, wie die Stille. Er nahm meine rechte Hand, legte sie in seine linke. Seine Hände waren so warm wie Nigels. Wäre er ein anderer gewesen, hätte ich meine Hand sofort zurückgezogen, hätte diesen Mann, der wie ein Bettler aussah, längst energisch vertrieben. Doch das tat ich nicht, ich konnte es nicht. Betört blickte ich ihm in die Augen. Respektvoll öffnete er meine Hand und legte etwas hinein, dann schloss er meine Finger darum.
»Ich habe dir gebracht, was dir gehört.«
Mir war, als träumte ich, in der rechten Hand spürte ich einen harten Gegenstand. Ich öffnete die Finger, schaute neugierig nach. Es war fast dunkel, ich konnte es kaum erkennen, ich hob die Hand vor die Augen. Da lag auf meiner Handfläche ein Ring. Ein silberner Ring mit einem braunen Stein. Er gefiel mir auf Anhieb. Warum aber hatte mir der Mann diesen Ring gegeben? Wollte er ihn verkaufen? Dieser aus der Nacht aufgetauchte mysteriöse Mann war also nichts weiter als ein Händler? Ich hob den Kopf, um zu verstehen, zu fragen, zu reden. Doch der Mann war fort. Wie konnte das sein? Wohin konnte der Mann, der nur Sekunden zuvor noch vor mir gestanden hatte, verschwunden sein? Aufgeregt spähte ich umher, konnte aber nirgends einen großen Mann in Schwarz entdecken. Er war in die Nacht verschwunden, wie er gekommen war.
»Wo ist er?«, fragte ich. »Wo ist der Mann nur hin?«
»Bitte?« Mennan richtete sich auf. »Haben Sie etwas gesagt?«
Ich zeigte auf die leere Stelle, wo der Mann eben noch gestanden hatte.
»Hier war grad jemand …«
Mennan zog die Brauen zusammen, packte den Hebel und kam zu mir.
»Ein Mann? Hat er Sie belästigt?«
Verzweifelt, weil ich ihm nichts erklären konnte, schüttelte ich den Kopf.
»Nein, nein, er hat mich nicht belästigt. Aber er war plötzlich weg.«
»Weg?«, wiederholte er und schaute sich um. Als auch er niemanden entdecken konnte, maß er der Sache keine weitere Bedeutung bei. »Dann ist er wohl abgehauen. Ihre Tasche und Ihre Geldbörse haben Sie, ja?«
Das war mir gar nicht eingefallen. Natürlich, der Mann war womöglich ein Dieb. Vielleicht hatte er mich mit dem Ring hingehalten, während sein Kumpan sich meine Tasche geschnappt hatte. Rasch öffnete ich die Autotür und lugte hinein. Tasche, Portemonnaie, Laptop lagen auf dem Rücksitz.
»Nein«, murmelte ich froh. »Weggekommen ist nichts, aber er sah auch gar nicht wie ein Dieb aus. Außerdem hat er mir etwas gegeben.«
Ich zeigte Mennan den Ring. Er kümmerte sich nicht weiter darum, freute sich nur, dass ich über den Vorfall nicht verärgert war, und wollte die Sache abschließen.
»Ein Geschenk«, murmelte er. »Sieht hübsch aus, tragen Sie ihn an guten Tagen.«
Seine Worte beruhigten mich keineswegs.
»Aber ich kenne den Mann doch gar nicht. Er hatte überhaupt keine Veranlassung, mir diesen Ring zu geben.«
Er lächelte frohgemut.
»Die Menschen hier sind seltsam. Manchmal wollen sie einfach etwas Gutes tun. Er hat wohl gemerkt, dass Sie Ausländerin sind, da wollte er Ihnen etwas schenken.«
»Schön und gut, aber warum ist er dann fluchtartig verschwunden?«
Seine Antwort kam unverzüglich:
»Er war verlegen. Die Menschen bei uns sind Ausländern gegenüber scheu.«
Mennans Erklärungen überzeugten mich nicht. Erneut scannte ich die Gegend. Ich spähte in die finstersten Ecken des Parks wie auch zu den noch nicht vollständig von der Dunkelheit verschluckten Gassen hinüber. Weit und breit kein schwarz gekleideter großer Mann mit schönen Augen. Wer war dieser Mann? Wie als Reaktion auf meine Frage flammten plötzlich die Lichter vor der kleinen Moschee auf. Nun konnte ich lesen, was in Messingbuchstaben auf dem Schild über dem Eingang stand: Shams-e Tabrizi Camii ve Türbesi. Moschee und Grabmal des Shams-e Tabrizi.
Das Hotel war besser als erwartet. Keine der gewöhnlichen Touristenunterkünfte, es war schlicht, sauber und ruhig, obwohl es mitten in der Stadt lag. Die sanfte Beleuchtung in der Lobby ermüdete nicht. Eilfertig nahm Mennan meinen Pass und legte ihn an der Rezeption vor. Ich blieb ein paar Schritte hinter ihm stehen, um mich zu akklimatisieren. In den ausladenden Sesseln in der Ecke saßen zwei junge Männer, die mich neugierig musterten, als wir eintraten. Ob in London oder sonst wo auf der Welt, aufdringliche, gierige Männerblicke hasste ich überall. Ich drehte den Kopf zum Fenster und schaute in die dunstige Nacht hinaus. Weiter hinten in der Straße vor dem Hotel stand eine hell erleuchtete alte Moschee. Auf den zweiten Blick fiel mir der große Brunnen davor auf. Mit einer dünnen Platte aus Holz und Aluminium überdacht ragten an zahlreichen Stellen Wasserhähne heraus. Hatte ich diese historische Anlage damals gesehen? War ich mit Vater an diesem Brunnen gewesen? Wenn nicht, musste es ein sehr ähnliches Bauwerk gewesen sein. Um die Mittagszeit hatten wir vom Brunnenwasser getrunken. Ich entsann mich genau, neben den gelben Wasserhähnen baumelten Blechbecher. Allein der Gedanke, den Becher zu benutzen, den alle mit den Lippen berührten, hatte mir den Magen umgedreht. Ich hatte versucht, aus den Händen zu trinken. Papa aber stillte seinen Durst, ohne sich darum zu scheren, ob der Becher schmutzig war. War es dieser Brunnen gewesen? Ich sollte Mennan fragen, dachte ich, da hörte ich eine Stimme.
»Kimya … Kimya Hanım …«
Mein Blick lag noch auf dem nur spärlich erleuchteten Brunnen. Wieder empfand ich die sonderbare Erregung, die mich im Flugzeug überfallen hatte. Was ging da vor sich? Als ich den Kopf in die Richtung drehte, aus der die Stimme gekommen war, sah ich den Rezeptionisten, er lächelte mir zu.
»Kimya Hanım … Kimya Hanım, hören Sie?«
Er war es, der mich rief. Woher wusste er meinen zweiten Namen? Mennan sah mich konsterniert. »Miss Karen, Miss Karen!«, rief er.
»Sie müssen den Meldezettel unterschreiben.«
Erst da fiel der Groschen, mein Pass lag vor ihm, daher hatte der Rezeptionist meinen zweiten Namen. Ich ging zur Rezeption.
»Natürlich, wo muss ich unterschreiben?«
Der Angestellte legte mir den Meldezettel vor.
»Hier bitte.« Während ich unterschrieb, fuhr er fort. »Verzeihen Sie, aber das interessiert mich. Ihr Name ist Karen Kimya Greenwood …«
»Ja!« Ich schaute nicht auf.
Meine Antwort war wohl etwas schroff ausgefallen. Der Angestellte wirkte verlegen, bohrte aber weiter, wahrscheinlich trieb ihn die Neugierde.
»Also ich meine Ihren zweiten Namen, Kimya … Der ist bei Briten doch eher ungewöhnlich … Gibt es da etwas Türkisches bei Ihnen?«
Was geht dich das an, konnte ich schlecht sagen, also warf ich ihm hin:
»Nein, ich bin Engländerin.«
Als er merkte, dass ich vergrätzt war, schaute auch Mennan unwirsch. Doch der abgebrühte Angestellte nahm grinsend, als wäre nichts gewesen, den unterschriebenen Meldezettel entgegen.
»Vielen Dank, Miss Karen«, sagte er mit Betonung auf meinem Namen. Er reichte mir den Schlüssel. »Zimmer 131. Der Blick geht auf die Sultan-Selim-Moschee. Vom Balkon aus können Sie auch die Mevlana-Türbe sehen …« Das Rumi-Mausoleum! Natürlich hatte Papa mich auch dorthin gebracht. Ein Raum mit einer Kuppel, der an eine Kirche erinnerte, neben- und hintereinander aufgereiht lagen merkwürdige Gräber mit Inschriften in arabischen Buchstaben. Der Rezeptionist hätte mir sicher weitere Auskünfte erteilt, wenn ich ihn gefragt hätte, doch mir war nicht nach näherem Kontakt mit dem vorwitzigen jungen Mann. Ich wollte nur rasch aufs Zimmer und unter die warme Dusche. Mennan aber hatte nicht vor, mich in Ruhe zu lassen.
»Wie halten wir es mit dem Abendessen? Es gibt wunderbare Restaurants hier, die lokale Speisen bieten.«
Er wollte sich offenbar als guter Gastgeber erweisen. Es wäre ein Affront, sein Angebot abzulehnen, aber ich wollte auf keinen Fall in dieser Stadt, die ich kaum kannte, mit einem Mann, den ich noch weniger kannte, gemeinsam zu Abend essen.
»Ich könnte hier essen …«, sagte ich.
Das Strahlen auf Mennans mondrundem Gesicht erlosch, doch so schnell gab er nicht auf.
»Wenn Sie das wegen dem Dings sagen, also weil es keinen Alkohol gibt …«
Ich verstand nicht, was er meinte. Er sah die Fragezeichen auf meinem Gesicht und erklärte: »Ich meine, vielleicht hat man Ihnen gesagt, in Konya werde in Restaurants kein Alkohol ausgeschenkt. Das ist nicht überall so. Wo wir hingehen, können Sie in Ruhe trinken. Und niemand wird das befremdlich finden.«
Unwillkürlich musste ich lachen, plötzlich erschien Mennan mir richtig süß.
»Nein, es ist nicht wegen des Alkohols. Ich bin total erschöpft. Vielleicht esse ich auf dem Zimmer. Ich muss mich ausruhen. Morgen wird ein langer Tag, da muss ich mich ein wenig sammeln.«
»Verstehe.« Er nickte. »Ausruhen ist natürlich viel besser. Dann sind Sie morgen Abend unser Gast.«
»Morgen Abend … Einverstanden. Und jetzt gehe ich aufs Zimmer.« Ich reichte ihm die Hand. »Vielen Dank für alles, Mennan Bey.«
Er wich meinem Blick aus, als er mir die Hand drückte, lief erneut rot an wie ein junges Mädchen.
»Ich bitte Sie, Miss Karen, das ist mein Job. Einen schönen Abend noch …«
»Guten Abend.«
Ich ließ Mennan stehen und folgte dem Boy, der meinen Koffer zum Aufzug brachte. Unmittelbar vor dem Lift klingelte mein Handy. Als ich den Namen auf dem Display sah, machte mein Herz vor Freude einen Satz. Nigel! Ich vergaß die offene Tür des Aufzugs, den wartenden Boy mit meinem Koffer wie auch Mennan, der noch immer an der Rezeption stand, entschlossen, nicht eher das Hotel zu verlassen, bis ich oben wäre. Überglücklich nahm ich das Gespräch entgegen.
»Nigel! Hallo, Nigel, mein Schatz …«
Nigels Stimme klang fröhlich und selbstsicher wie immer.
»Hallo, meine Süße. Wie läuft dein Türkei-Abenteuer?«
Am liebsten hätte ich ihm auf der Stelle alles erzählt und von meinen Gefühlen und Gedanken berichtet. Doch ich schwieg, als mein Blick auf den Jungen wenige Schritte vor mir fiel, und auf Mennan, der noch immer zu mir herüberschaute.
»Gut, gut«, sagte ich hastig, »läuft gut, wartest du eine Sekunde?«
Ich wandte mich an den Boy. »Bringen Sie den Koffer hoch, ich nehme die Treppe.«
Der Junge verschwand im Aufzug, ich winkte Mennan zu und sprang zur Treppe. Endlich konnte ich mit meinem Liebsten reden.
»Nigel? Ah, Nigel … Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich über deinen Anruf bin …«
»Karen, geht es dir gut?« Der unbekümmerte Ton war aus Nigels Stimme gewichen.
Mir wurden die Augen feucht. Ich musste mich beherrschen, um nicht loszuheulen. Gefühle überschwemmten mich. Am liebsten hätte ich Nigel, der keinerlei Verantwortung für diese Reise trug, gefragt: Warum hast du mich nicht zurückgehalten? Doch was war eigentlich geschehen? Worüber sollte ich mich bei Nigel beklagen? War ich überfallen worden, hatte man mich beleidigt oder nicht abgeholt und in dieser großen Stadt allein gelassen? Nein, die Unruhe steckte in mir, in meinem Kopf, im Herzen, im Bauch. Und sie hatte keineswegs in dieser Stadt mitten in Anatolien eingesetzt, sondern viel früher, noch bevor ich in London das Flugzeug bestieg. Als Nigel keine Antwort bekam, hakte er besorgt nach:
»Karen? Karen, was ist los? Geht es dir gut?«
»Es ist nichts«, sagte ich schließlich und wischte mir dabei die Tränen von den Wangen. »Alles gut. Ich bin jetzt im Hotel. Sieht nett aus …«
Nigel war nicht überzeugt, mein schriller Ton verriet mich.
»Du klingst nervös.«
»Ich weiß nicht, Nigel …« Damit er mich nicht weinen hörte, legte ich die Hand über das Mikrofon und schniefte. »Ja, irgendwie bin ich nervös.«
»Warum? Ist etwas passiert?«
»Es ist nichts passiert. Im Grunde läuft alles nach Plan …«
»War die Reise so anstrengend?«
»Nee … Die Reise war okay …« Ich konnte es nicht länger verbergen. »Ich weiß auch nicht, irgendetwas quält mich.«
»Was ist es, das dich quält?«
Nun war ich erst recht frustriert, weil ich auch ihm die Laune verdarb.
»Nicht so wichtig, geht sicher vorbei. Du hast recht, es ist wohl die Anspannung von der Reise.«
Nigels Sorge aber war nicht ausgeräumt.
»Du wirst doch nicht krank oder so?«
Ich wusste, was er damit meinte. Er fürchtete Probleme wegen der Schwangerschaft. Vor zwei Tagen hatten wir die Sache im Jazzclub in Soho besprochen. Ich würde abtreiben, so lautete unser Beschluss. Das heißt, die Entscheidung hatte Nigel getroffen. Wir konnten doch unsere schönsten Jahre nicht für ein Kind vergeuden. Wir verdienten beide gut, waren gesund und jung und wahnsinnig verknallt ineinander. Und auf der Welt gab es noch so viel zu sehen. Da wäre ein Kind nur hinderlich. Vielleicht hatte er recht, aber ich war weit über dreißig. Die biologische Uhr tickte unbarmherzig. Womöglich war das meine letzte Chance auf ein Kind. Nigel merkte, wie unschlüssig ich war, doch es kümmerte ihn nicht, er war überzeugt davon, dass seine Entscheidung die richtige war. Ich beugte mich. »Okay. Wir lassen es abtreiben.« Nigel wollte die Sache unverzüglich angehen. »Ich besorge morgen einen Termin in der Klinik.« Das war aber unmöglich, denn in zwei Tagen stand meine Türkeireise an. Mein Schatz ärgerte sich, machte aber kein großes Ding daraus. Er zeigte seine weißen Zähne, die so unglaublich gut zu seiner fast schwarzen Haut passten, und lächelte. »Keine Sorge, eine Woche mehr oder weniger macht den Kohl nicht fett. Wir erledigen das, sobald du zurück bist.« Er schenkte uns von dem chilenischen Wein nach, den er so liebte. Wir hatten soeben beschlossen, ein keimendes Leben zu beenden, und er sagte: »Komm, trinken wir auf das Leben!« Auf ein Leben, in dem nur er glücklich sein würde. Als er am Wein nippte, wich die Anspannung aus seiner Miene, er war erleichtert.
Jetzt aber schwamm seine Stimme Tausende von Kilometern entfernt in Sorge.
»Karen, du verschweigst mir doch nichts, oder?«
Um ehrlich zu sein, mir gefiel, dass Nigel sich um mich sorgte, aber ich mochte ihn nicht weiter beunruhigen.
»Nein, alles in Ordnung. Ich bin gesund. Es ist nur gerade nicht so toll, allein in einem fremden Land zu sein. Aber das ist halt mein Job. Na, lassen wir das jetzt. Mir geht’s gut, wirklich. Wie war deine OP? Du meintest, sie könnte schwierig werden.«
Die Besorgnis schwand nicht sogleich aus seiner Stimme, doch er beantwortete meine Frage sofort.
»Sie war schwierig und viel länger als erwartet. Der Patient ist siebzig. Wir haben eine neue Herzklappe eingesetzt. Echt riskant, aber die OP verlief gut, ich denke, wir haben es geschafft. Natürlich heißt es jetzt abwarten, bis wir das Ergebnis sehen.«
Respektvoll hörte ich zu, er machte einen wichtigen Job, redete aber so bescheiden davon.
»Weißt du«, sagte ich bewundernd, »manchmal beneide ich dich.«
Er verstand nicht.
»Wie? Was meinst du?«
»Deine Arbeit ist fantastisch, du rettest Menschen das Leben.«
Nigel war wieder obenauf und gab sich nonchalant.
»Ich mache nur meinen Job, genau wie du.«
Ich schüttelte den Kopf, als stünde er vor mir.
»Ach nein, ich arbeite für anderer Leute Geld, aber du arbeitest, damit Menschen weiterleben können.«
Nigels Lachen dröhnte durch die Leitung.
»Übertreib mal nicht, ich bin kein Heiliger. Schlussendlich arbeite ich wie jeder andere auch, um Geld zu verdienen.« Mit scherzhaftem Unterton fuhr er fort: »Mein einziges Privileg ist es, das Herz der Menschen mit den Händen zu berühren. Aber ehrlich, statt das blutige Herz von Leuten, die ich gar nicht kenne, würde ich viel lieber deinen herrlichen Körper berühren.«
Ich spürte, wie ich rot anlief. Das war nur bei Nigel so, anderen Partnern vor ihm gegenüber war ich viel ungenierter gewesen, doch bei diesem großen schwarzen Mann war alles anders.
»Das tust du doch«, brachte ich endlich heraus.
Es entstand ein Moment der Stille, weder Nigel noch ich konnten etwas sagen. Ich lehnte am Geländer und starrte auf die Tapete in verschossenem Rosa mit gleichmäßig darauf verteilten violetten Tulpen, doch was ich sehen wollte, war das Gesicht des Mannes, den ich liebte. Ich wollte bei ihm sein. Mich an seine Brust schmiegen und friedlich wie ein Kätzchen schlummern. Bekümmert, als hätte er meinen Wunsch erraten, murmelte Nigel: »Wärst du doch hier bei mir … Ich vermisse dich jetzt schon.«
»Ich dich auch.« Heiser und traurig klang meine Stimme. Fast hätte ich wieder geweint, doch Nigel wollte noch reden.
»Und, hast du schon etwas Spannendes zu sehen bekommen in der Türkei? Ist noch kein Scheich aufgetaucht, der dich in seinen Harem entführen will?«
Ich lachte gequält und entgegnete in demselben ironischen Ton: »Dummer Kerl, das ist doch hier nicht Arabien, hier gibt’s weder Harems noch Scheiche …«
Plötzlich stand mir der Mann in Schwarz mit seinem langen Bart vor Augen. Nein, ich versuchte nicht, ihn zu verscheuchen, ich tat etwas viel Besseres, ich bezog ihn in unser Gespräch mit ein.
»Aber irgend so ein Mann hat mir einen tollen Ring geschenkt.«
»Als Bestechung?«
»Nein, keiner von der Firma, ein Unbekannter. Ein mysteriöser Mann …«
»Mysteriös! Du scheinst ja schwer beeindruckt.«
Er klang ernst, als wäre er eifersüchtig. Beinahe hätte ich es geglaubt, doch er lachte.
»Du verlässt mich doch nicht etwa wegen dieses mysteriösen Mannes?«