Das Land der verlorenen Götter - Ahmet Ümit - E-Book

Das Land der verlorenen Götter E-Book

Ahmet Ümit

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  • Herausgeber: btb Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Ein atemberaubender Krimi zwischen Berlin und Anatolien, der Archäologie und Mythologie verbindet.

Ahmet Ümit haucht mit seinem gefeierten neuen Roman den alten Mythen im Schatten des Zeusaltars und des Pergamontempels neues Leben ein und zeigt uns, dass die Natur des Verbrechens über Zeitalter und Kulturen hinweg beinahe unveränderlich zu sein scheint.

Yıldız Karasu, Hauptkommissarin der Berliner Polizei, und ihr Stellvertreter Tobias Becker müssen einen rätselhaften Serienmord im Berliner Pergamonmuseum aufklären und stoßen bei ihren Ermittlungen auf uralte Geheimnisse, die das Leben von zahlreichen Menschen zerstören können. Ein kriminologisches Abenteuer, das sich von den Straßen Berlins bis nach Bergama in Anatolien erstreckt. Als sich dann auch noch eine längst vergessen geglaubte Figur zu Wort meldet, steigt nicht nur bei den beiden Ermittlern die Spannung.

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Seitenzahl: 767

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Buch

Yıldız Karasu, Hauptkommissarin der Berliner Polizei, und ihr Stellvertreter Tobias Becker müssen einen rätselhaften Serienmord in Zusammenhang mit dem Berliner Pergamon-Museum aufklären und stoßen bei ihren Ermittlungen auf uralte Geheimnisse, die das Leben von zahlreichen Menschen zerstören können. Als dann noch Botschaften eines griechischen Gottes auftauchen, steigt nicht nur bei den beiden Ermittlern die Spannung. Ein kriminologisches Abenteuer, das sich von den Straßen Berlins, ins Pergamon-Museum bis nach Bergama in Anatolien erstreckt.

Autor

AHMETÜMIT, geboren 1960 in Gaziantep, ist einer der meistgelesenen Autoren in der Türkei. Er war von 1974 bis 1989 aktives Mitglied der Türkischen Kommunistischen Partei und schrieb in den Achtzigerjahren nicht nur seine ersten literarischen Texte, sondern studierte auch an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Moskau, was zu jener Zeit nach türkischem Recht illegal war. Während der Militärdiktatur von 1980–1990 war er im Untergrund aktiv und musste zeitweise auch selbst untertauchen. Er zog sich schließlich aus der aktiven Politik zurück und konzentrierte sich aufs Schreiben. Einige seiner zahlreichen Bücher wurden erfolgreich verfilmt. Für seine Nachforschungen zu »Das Land der verlorenen Götter« wurde er 2023 zum Korrespondierenden Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts Istanbul ernannt.

AHMETÜMITBEIBTB

Die Gärten von Istanbul

Das Derwischtor

Ahmet Ümit

DAS LAND DERVERLORENEN GÖTTER

Kriminalroman

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

Die türkische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Kayıp Tanrılar Ülkesi im Verlag Yapı Kredi Yayınları, Istanbul.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Dies ist eine Fiktion. Alle Verweise auf reale Begebenheiten, Institutionen, Orte oder Personen dienen lediglich dazu, ein fiktives Universum zu erschaffen.Zitat aus Carl Schuchardt, Theodor Wiegand: Der Entdecker von Pergamon Carl Humann. Ein Lebensbild, Berlin 1930, S. 11–13. Zitiert nach Jürgen Gottschlich, Dilek Zaptçıoğlu-Gottschlich: Die Schatzjäger des Kaisers. Deutsche Archäologen auf Beutezug im Orient, Berlin 2021, S. 25.

Originalausgabe Februar 2024

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2021

Ahmet Ümit, © Kalem Agency

Redaktion: Bernhild Mennenga

Covergestaltung: Semper Smile, München

Covermotiv: © Shutterstock/Boris Stroujko; OlegRi

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

JT · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-30753-0V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Vaterlose Kinder flüchten sich zu Gott, er aber wollte Gott sein.

Zum Gedenken an den Archäologen Halid Esad,der enthauptet wurde, weil er trotz schwerster Folter nicht verriet, wo sich die bedeutendsten Werke der antiken Stadt Palmyra befanden …

PROLOG

Sie liefen im Zwielicht über die Straße. Musik zerriss die nächtliche Stille und dröhnte ihnen in den Ohren, aus der offenen Tür fiel flackernd ein roter Lichtschein. Übler Blutgeruch stieg ihr in die Nase. Sie verzog das Gesicht und ahnte, was für ein Anblick sie erwartete. Dennoch folgte sie ohne zu zögern ihrem Assistenten Tobias, der in seinem weißen Kapuzenoverall, den beide vor dem Betreten des Tatorts übergestreift hatten, behäbig voranstapfte. Je näher sie kamen, desto unerträglicher wurde der Krach aus der Wohnung, erschütterte wie bei einem Erdbeben das ganze Gebäude, auch der Gestank nahm noch zu. Als Tobias jäh stehen blieb, spürte sie sein Entsetzen, auch ohne seine Miene zu sehen. Doch Hauptkommissarin Yıldız war keineswegs erschrocken, vielmehr war sie neugierig auf den Anblick, der ihren Assistenten zurückprallen ließ. Sie legte einen Schritt zu, war rasch bei der Tür und berührte Tobias an der Schulter. Er schrak zusammen, starrte Yıldız überrascht an, als sähe er sie zum ersten Mal.

»Puh … Hier … Hier sieht’s aus wie auf dem Schlachthof, Chef. Alles voller Blut …«

Sie hörte seine Worte gar nicht, ihr Blick blieb an dem gigantischen Gemälde an der Wand gegenüber dem Eingang hängen. Darauf saß im flackernden Schein des roten Lichts ein König auf seinem Thron, außerordentlich majestätisch, langes Haar, prachtvoller Bart, auf dem Kopf eine Krone. Bart und Haare waren goldfarben und wiesen ihn als alten Mann aus, sein athletischer Körper aber ließe jeden Spitzensportler vor Neid erblassen. Auf seiner rechten Hand saß eine geflügelte Elfe, in der linken hielt er ein Zepter. Der zornige Adler obenauf musterte sie mit drohenden Blicken. Auf der unteren Hälfte des Gemäldes in Gelb-, Orange- und Brauntönen prangten unten, zu Füßen des Throns, rote Flecken. Da erst erblickte sie das Opfer. Splitterfasernackt lag es rücklings auf dem Boden, die Hände an den Handgelenken gefesselt und nach oben geöffnet. Ihr stockte der Atem, als sie näher heranging, entdeckte sie das blutige Fleischstück in den Händen des Mannes. Noch ein paar Schritte … Sie hatte sich nicht getäuscht, der Mann hielt ein Herz in den Händen, ein Herz, das noch blutete. Und links in seiner Brust klaffte ein tiefes, schwarzes Loch. »Wie jetzt?«, murmelte Tobias und schaltete das Licht im Zimmer an. »Hat der Mann dem König etwa sein eigenes Herz geopfert?«

Statt zu antworten, richtete Yıldız den Blick auf die Quelle des Rotlichts, dessen Wirkung sich mit dem Aufflammen der Lampe verlor. Auf dem Tisch stand ein Computer, auf dem breiten Monitor lief dröhnend ein Musikvideo. Auf dem Schriftband unter dem Clip stand der Titel:

»Altar of Zeus.«

»Nicht dem König, Toby, dem Göttervater. Er hat sein Herz Zeus geopfert, dem obersten Gott.«

1

»Wer vergisst, wird dafür zahlen!«

Ich fange da an, wo euer Vergessen eingesetzt hat. Bei der letzten Stadt, aus der mein Name getilgt wurde, dem letzten Tempel, in dem die letzte Statue von mir zerschlagen wurde, beim letzten Wort der letzten Prophezeiung des letzten meiner Seher, beim letzten räuchernden Fleisch des letzten Opfers auf dem Altar, beim letzten Gebet meines letzten mich voller Liebe, Achtung und Ehrfurcht anrufenden Dieners.

Weder die gnadenlose Zeit noch der treulose Mensch, noch schrumpfender Stein, schmelzender Marmor, rottendes Holz, verzagtes Wort, noch die Unzulänglichkeit von Gebeten, nichts, rein gar nichts vermag meine kommende Herrschaft zu verhindern. Wieder werde ich mit Blitzen den Himmel spalten, Donner auf eure erleuchteten Städte schleudern, Fluten über eure verfluchten Lande schicken, werde euch mit Krankheit schlagen, eure törichten Könige verführen und Kriege anzetteln, werde eure Meere mit fetten Fischen füllen, eure Gärten mit süßen Früchten beschenken, euren Feldern goldenes Getreide spenden, eure Ställe mit fruchtbarem Vieh segnen. Wie früher werdet ihr zu mir flehen, werdet furchtsam vor mir auf die Knie fallen, ehrfürchtig Schlange stehen in meinen Tempeln und beim Gedanken an meinen Namen vom Scheitel bis zur Sohle zittern.

Ihr werdet euch entsinnen, wie sehr ich euch gehasst habe und wie sehr geliebt, wie sehr ich euch beargwöhnt habe und wie sehr vertraut. Auch werdet ihr euch an alles erinnern, was eure Vorfahren, eure Großväter und Väter vergaßen. Werdet euch erinnern, wie gnadenlos ich war, wie barmherzig aber auch. Meine zügellose Wut werdet ihr ebenso erinnern wie meine unendliche Güte. Werdet euch entsinnen, wie ich euch vor Unheil schützte und von Kummer und Sorgen fernhielt, aber auch der Katastrophen, mit denen ich euch überzog.

Hört, ihr Menschen mit eurem schwachen Gedächtnis, eurem beschränkten Verstand und eurer niederen Moral, ich beginne bei jenem Tag, an dem ihr mich vergaßt. Ich werde wieder meinen goldenen Thron auf dem Olymp besteigen, damit ich alle von euch begangenen Sünden sehe. Ich werde mein Königreich wieder errichten, damit euer Plündern von Himmel und Erde ein Ende habe. Ich werde die Erde wieder segnen, die Meere weihen, die Luft reinigen. Ich werde mächtiger sein als früher, grausamer, gnadenloser. Und alles, was euch über mich entfallen ist, werde ich aufschreiben, Zeile für Zeile, Wort für Wort … Mit eurem Blut …

Von Neuem will ich von der unendlichen Finsternis erzählen, vom Chaos, von unserer Erdmutter Gaia, unserem Großvater Uranos, unserem Vater Kronos und von mir, Zeus. Ich will erzählen, wie ich die Titanen und Zyklopen besiegte, will von den blutigen Schlachten und ruhmreichen Kriegen berichten. Damit ihr es lest, euch daran erinnert und es nie wieder vergesst. Und lest ihr nicht, was ich aufschreibe, werde ich euren kümmerlichen Leibern die Worte mit Feuer einbrennen.

Pein wird euer weisester Lehrer sein, Qual euch die Türen zur Tugend öffnen, mein Zorn euren Verstand erhellen. Ihr werdet um Vergebung flehen. Damit ich euch vergebe, werdet ihr mir Tempel errichten, imposanter noch als früher, prächtigere Statuen aufstellen und mir auf gigantischen Altären von eurem eigenen Fleisch opfern. Leicht aber erlangt ihr keine Vergebung. Denn ihr seid Verräter, Heuchler, Lügner. Seid gleich dabei, wenn etwas leicht ist, entzieht euch aber, wenn es schwierig ist. Dabei sind es die schwierigen Pfade, die zu Gott führen. Denn Gott ist die Wahrheit, unveränderlich, unleugbar, unvergesslich.

Ihr aber vergaßt. Als hätte es Zeus nie gegeben, als hättet ihr ihn nie angebetet, nie angerufen, als wäret ihr nie für ihn gestorben, hättet nie für ihn getötet. Die Zeit wird Zeus’ Herrschaft stürzen, dachtet ihr. Meine Macht wird enden, dachtet ihr, wie die meines Großvaters Uranos und meines Vaters Kronos. Eure neuen Götter ersetzen mich, dachtet ihr. Eure neuen Götter sind mächtiger als ich, weiser, gnadenloser und barmherziger, dachtet ihr. Wenn meine Tempel zerstört sind, werde ich zu Staub, dachtet ihr, wenn meine Statuen zerschmettert sind, zerfällt mein unsterblicher Leib. Ihr dachtet, mir vergeht der Atem, wenn ihr nicht zu mir betet. Mein Geist bleibt ohne Nahrung, wenn ihr mir keine Opfer bringt, verschwindet wie ein erlöschender Stern in den Tiefen der Finsternis.

Leugnet es nicht, so wird es sein, dachtet ihr. Darum war es euch ein Leichtes, mich zu vergessen. Eure Könige, eure Helden, eure Edlen, eure Knechte, eure Frauen, eure Alten, eure Kinder. Ihr alle habt es getan. Tatet es mit Vergnügen, mit Lust und Laune, mit fröhlichem Lachen, indem ihr Wein trankt, tanztet, euch schamlos paartet. Ihr wolltet euren jahrtausendealten Gott aus euren armseligen Leben vertreiben. Zeus, für den ihr seinerzeit bereit wart, euer Leben zu geben, sperrtet ihr wie einen Verfluchten, an den man sich nicht erinnern will, in unterirdische Lager mit versiegelten Türen, in marmorne Sarkophage. Meine Liebesgeschichten verhöhntet, meine Siege verlachtet, meine Wunder verachtetet ihr, meinen Namen machtet ihr zum Gegenstand eurer geistlosen Scherze. Ihr wolltet euch meinen Namen, mein Antlitz, meine Worte aus dem schwachen Gedächtnis tilgen, dem feigen Herzen reißen, der sündigen Seele stoßen. Und ihr seid so dumm, dass ihr mit Blick auf die Zeit, die ihr ohne mich verbrachtet, dachtet, es wäre euch gelungen. Die Zeit der Götter gleicht aber nicht der Zeit der Menschen. Ein Leben, das für euch viele Jahre dauert, ist für uns kurz wie ein Atemzug. Und dieser kurze Augenblick ist nun vorüber. Jetzt beginnt die furchtbarste Zeit eures Schicksals.

Ebendarum fange ich da an, wo ihr sagt, ihr habt vergessen. Wer vergisst, wird dafür bezahlen. Wer sich mir gegenüber ungebührlich benimmt, wird mit der grausamsten aller Strafen belohnt, wer mich aus dem Herzen reißt, dem wird das Herz herausgerissen, wer sich von mir abkehrt, dem wird die Haut vom Gesicht abgezogen, wer mich leugnet, dem wird der Mund mit Erde gefüllt, wer meine Tempel nicht besucht, dem werden die Füße abgeschnitten, wer meinen Altären keine Gaben darbringt, dem werden die Arme abgerissen. Niemand, keiner von euch wird meinem Zorn entgehen.

Ich, Zeus, Herrscher über Himmel und Erde, oberster Gott über Titanen, Zyklopen, Menschen und sämtliche Geschöpfe, sage, ich schwöre bei unserer Erdmutter Gaia, bei meinem Großvater Uranos, meiner Mutter Rhea, meinem Vater Kronos, bei den Titanen, den Göttern und allen Geschöpfen: Wer mich betrügt, wird meine furchtbarste Rache kennenlernen, wer mir nicht gehorcht, wird verflucht sein, im Feuer verbrennen, sich in Schmerzen winden.

ERSTES KAPITEL

»Wer mich betrügt, wird meine furchtbarste Rache kennenlernen, wer mir nicht gehorcht, wird verflucht sein, im Feuer verbrennen, sich in Schmerzen winden.«

Tobias hatte die Zeilen in der Ecke rechts unten auf dem Zeus-Bild, die wie eine Signatur des Künstlers wirkten, laut vorgelesen.

»Wir haben uns getäuscht, Chef. Der Mann wurde nicht geopfert, er wurde bestraft, weil er Zeus nicht gehorcht hat. Und zwar vom Hauptgott persönlich.«

»Unsinn, wer glaubt denn heute noch an Zeus?« Yıldız war dabei, die Taschen der hellgrünen Sommerjacke an der Garderobe zu filzen.

»Keine Ahnung, aber das ergibt sich aus dem Text.« Tobias widmete sich erneut den Zeilen.

Yıldız blieb die Antwort schuldig, denn sie hatte in der Jackentasche einen Ausweis gefunden. Ausgestellt auf Cemal Ölmez, geboren in Berlin.

»Das Opfer ist türkischer Herkunft, merkwürdig …«

Ihren Assistenten beeindruckte der Hintergrund des Opfers wenig, aber für Yıldız schien dieses Detail von Bedeutung zu sein. Bei Kapitalverbrechen mit Beteiligung von Türken waren Inszenierungen dieser Art nicht üblich. Es ging dann eher um Schuldeneintreibung, Eifersuchtsdramen, Erbsachen, bei denen Täter und Opfer feststanden. Wirklich merkwürdig. Sie wandte sich dem Tisch mit dem Computer zu. Die Musik dröhnte immer noch in voller Lautstärke, wie an den Blutgeruch hatten sie sich auch an den Krach bereits gewöhnt. Neben der Tastatur lagen Zettel mit Bleistiftzeichnungen menschlicher Gesichter. Die Skizzen gehörten vermutlich dem Opfer, die Gesichter aber schienen nicht aus dieser Zeit zu sein.

»Wer mich betrügt, wird meine furchtbarste Rache kennenlernen«, wiederholte Tobias gleichgültig. »Der Obergott hat eine tolle Handschrift, schau mal, wie schön diese Buchstaben sind.«

Die Zeichnungen in der Hand, drehte Yıldız sich zu ihrem Assistenten um.

»Ist das mit der Hand geschrieben?«

Tobias stieß beinahe mit der Nase gegen die Wand, so nah beugte er sich zu dem Schriftzug heran.

»Sieht so aus.« Er war unschlüssig. »Oder doch nicht?«

Yıldız legte die Blätter auf den Tisch und trat ihrerseits an das Bild heran. Vom Overall behindert, beugte sie sich herunter und musterte die Buchstaben, die zwischen die vorderen Beine des Throns gequetscht waren.

»Nee, tut mir leid, Toby, Zeus hat das nicht geschrieben. Das ist ein Computerausdruck. Der Mörder hat es ausgeschnitten und sorgfältig unten auf das Gemälde geklebt.«

Als sie sich aufrichtete, fiel ihr Blick erneut auf das Opfer. Ein Mann in den Dreißigern, hübsches Gesicht, der Tod hatte ihm das gute Aussehen noch nicht genommen. Die großen schwarzen Augen starrten weiter an die Decke. »Viel zu ruhig«, befand Yıldız. »Kein Ausdruck von Angst oder Entsetzen. Die müssen ihn betäubt haben, bevor sie ihm das Herz rausschnitten. Er hat nichts gemerkt.« Sie freute sich für das Opfer, konnte aber das Grauen, das bei seinem Anblick in ihr aufstieg, nicht unterdrücken. Furchtbar! Zusehends wurde das Herz in den großen Händen des jungen Mannes dunkler, gleich einer welkenden roten Blüte, immer weniger Blut tropfte zwischen den Fingern auf seine Brust. Die Leiche erkaltete rasch.

Yıldız bückte sich, untersuchte die leere Fläche zwischen der Wand und dem leblosen Körper, checkte Kopf- und Fußende, fand aber nicht, wonach sie suchte.

»Ist dir das Mordinstrument untergekommen?«, fragte sie ihren Assistenten. »Hier wurde ein regelrechter chirurgischer Eingriff vorgenommen.«

Tobias war immer noch mit dem Text an der Wand beschäftigt.

»Äh, was hast du gesagt, Chef? Nein, ich hab nichts gesehen.« Nun beäugte auch er die zerfetzte Brust des Opfers. »Ein Messer, oder?«

Yıldız blickte durch den Raum. »Ein Messer oder ein Skalpell, und da muss noch mehr sein«, vermutete sie. »Mit einem scharfen Werkzeug allein nimmst du niemandem das Herz raus. Erst müssen die Rippen geöffnet werden. Wahrscheinlich wurde er betäubt. Oder unter starke Drogen gesetzt. Liegt hier irgendetwas herum, das darauf hindeutet?«

Tobias scannte das Zimmer, konnte aber weder ein Messer entdecken, mit dem man einem Menschen die Brust von einer zur anderen Seite hätte aufschneiden können, noch Ampullen oder Infusionsbeutel. Dafür blieb sein Blick am Bücherregal hinter dem Tisch hängen. Er trat näher und schaute sich die Bücher an. Allesamt Bücher über Kunst. Er las die Namen Picasso, Dalí, van Gogh.

»Der Tote muss Maler gewesen sein, Chef. Und er hat wohl auch den Zeus gemalt.«

»Denke ich auch, Toby.« Yıldız musterte den Göttervater. »Ich verstehe nichts von Malerei, aber das ist nicht schlecht gemacht.«

Ihr Assistent riss übertrieben die Augen auf.

»Nicht schlecht gemacht? Was sagst du da, Chef, das ist fantastisch! Ich krieg nicht mal ein Strichmännchen hin.«

Yıldız lächelte in sich hinein, bevor auch sie sich dem Bücherregal zuwandte.

»Otto Dix, Rivera, Chagall, Monet, Gauguin, Cézanne«, las sie voller Bewunderung. »Alle großen Maler sind hier vertreten. Ja, Toby, das Opfer war zweifellos Maler.« Auf einem der Bücher auf dem untersten Regal stach ihr das Wort Computer ins Auge. »Hier sind auch Bücher über Computer. Alles technische Sachbücher, die nichts mit Kunst zu tun haben. Das Opfer hatte ein breites Interessengebiet.«

Da klingelte es. Offenbar war jemand an der Tür. Sie lauschten aufmerksam. Nein, es war ein Telefon. Doch weder Yıldız’ Handy noch das ihres Assistenten klingelte mit diesem Ton. Sie wechselten einen Blick und wandten sich dem Tisch zu. Ein Telefon lag nicht darauf. Tobias zog die oberste Schublade heraus, richtig, da lag es. Zwischen allerlei Krimskrams vibrierte ein Handy. Tobias griff zu. Auf dem Display stand Rafael.

»Hallo?«

»Hi, Cemo!«, antwortete eine Männerstimme, zögerte dann aber. »Cemo? Cemo, bist du das?«

»Nein, ich bin nicht Cemal«, erwiderte Tobias barsch. »Wer sind Sie?«

»Wo ist Cemal?« Die Stimme klang verändert.

»Kommissar Tobias Becker hier, sagen Sie mir bitte, wer Sie sind.«

Am anderen Ende entstand ein kurzes Schweigen.

»Kommissar? Ist etwas passiert?«

Tobias wurde lauter. »Sagen Sie mir bitte, wer Sie sind? In welcher Beziehung stehen Sie zu Cemal?«

»Rafael Moreno«, sagte die Stimme zögernd. »Ich bin ein Freund von Cemal.«

»Warum haben Sie Cemal angerufen?«

»Wir malen zusammen, Mauerbilder. An den Wänden der besetzten Häuser in der Köpenicker Straße. Da wollten wir heute Abend weitermachen, aber er ist nicht gekommen. Es ist doch nichts Schlimmes passiert, oder?«

Tobias reagierte mit einer Gegenfrage: »Warum fragen Sie das? Sollte Cemal etwas Schlimmes zustoßen?«

»Nein, nein, das wollte ich nicht sagen. Cemal ist absolut pünktlich. Wenn er nicht kommt, sagt er Bescheid. Ich hab mir Sorgen gemacht, weil er nicht Bescheid gesagt hat. Daher meine Frage. Es ist doch wirklich nichts, oder, Cemal geht’s gut, oder?«

Tobias überging die Besorgnis des Anrufers.

»Wann haben Sie Cemal zuletzt gesehen?«

Der Mann am anderen Ende überlegte kurz.

»Vor zwei Abenden. Er hat uns besucht, wir haben zusammen gegessen.« Wieder Schweigen. »Was ist mit Cemal passiert? Warum sagen Sie es mir nicht?« Er klang aufmüpfig.

»Es tut mir sehr leid, Herr Moreno«, erklärte Tobias endlich. »Cemal ist tot. Er wurde ermordet, heute Abend, den oder die Mörder kennen wir noch nicht.«

»Was? Was sagen Sie?« Jetzt klang die Stimme des Mannes, der sich als Rafael vorgestellt hatte, entsetzt. »Wie jetzt?«, fragte er kläglich. »Soll das heißen, Cemo ist tot?«

Er brach in Tränen aus und konnte nicht weitersprechen. Tobias hörte, wie der Mann heftig atmete und schniefte. Er wartete einen Moment, doch der Mann konnte sich nicht beruhigen.

»Hören Sie, Herr Moreno, ich muss auflegen. Aber wir müssen mit Ihnen reden, direkt. Wir brauchen Ihre Hilfe. Wir rufen Sie so schnell wie möglich zurück. Mein Beileid, tut mir wirklich leid.«

Er beendete das Gespräch.

»Der Mann ist völlig zusammengebrochen. Wahrscheinlich ein enger Freund. Ein Ausländer, noch nicht lange hier. Also hier geboren ist der nicht, sein Deutsch war ziemlich mies.«

Yıldız fixierte das Telefon.

»Ist das verschlüsselt?«

Mit seinen behandschuhten Fingern tippte Tobias auf das Display des Smartphones.

»Nein.«

»Dann guck doch mal, wen er zuletzt angerufen hat und wer ihn.«

Wieder tippte und wischte Tobias auf dem Display herum.

»Hier. Er hat einen Alex angerufen.« Er hielt der Chefin das Display unter die Nase. »Ein Familienname steht nicht dabei, nur Alex, siehst du? Den hat er um 21.47 Uhr angerufen. Fünf Stunden vorher hat ein Peter ihn angerufen. Die haben eine ganze Weile gesprochen. Keine weiteren Anrufer.«

Yıldız nickte. »Wir überprüfen beide.« Damit wandte sie sich erneut dem Bücherregal zu, betrachtete aber diesmal nicht die Bücher, sondern ein gerahmtes Bild an der Wand. Eine Schwarz-Weiß-Fotografie. Bei einer Grabung aufgenommen, vierzehn Arbeiter mit Schaufel und Spaten, daneben ein Mann mit einem Hut im Kolonialstil. Hinter ihnen Marmorstatuen, Säulentrümmer, riesige Steine. Wo das Foto aufgenommen worden war, konnte Yıldız nicht erkennen. Vielleicht in Troja oder einer anderen antiken Stätte.

»Das Opfer hat sich auch für Archäologie interessiert.«

Ihr Assistent reagierte befremdet: »Der Mann hat Zeus gemalt, Chef, logisch, dass er sich für Archäologie interessiert hat.«

»Das meine ich nicht, Toby.« Yıldız sah ihn schief an. »Der Mann hat sich nicht nur für Zeus, sondern auch für Grabungen interessiert. Hier, das Foto stammt von einer Ausgrabung. Wie du siehst, ist darauf weder Zeus noch eine andere Gottheit zu sehen, aber er hat sie in seinem Zimmer aufgehängt. Einer oder mehrere auf dem Foto könnten Bekannte oder Verwandte von ihm sein.«

Tobias beäugte den Mann mit dem Tropenhut. »Der hier? Vielleicht war das sein Großvater oder so?«

Die Chefin schüttelte betrübt den Kopf.

»Das glaube ich kaum, Toby. Das Opfer war Türke.« Mit dem Zeigefinger deutete sie auf die Männer in Pluderhosen und Turban, die Schaufel oder Spaten in den Händen hielten. »Wenn ein Angehöriger von Cemal dabei ist, dann einer von den Arbeitern hier.«

»Was für Arbeiter?« Auf die Frage hin drehten beide den Kopf zur Tür. Und trafen auf den Blick Kommissar Kurts von der Spurensicherung, feurig wie der des Hauptgottes an der Wand. Doch in seinem weißen Overall mit den Galoschen an den Füßen und Handschuhen an den Händen wirkte er wenig einschüchternd auf die Kollegen. Vermutlich sprach er so laut, weil er das wusste.

»Ihr habt meinen Tatort kontaminiert, ich werde mich bei Markus über euch beschweren.«

Yıldız grinste.

»Übertreib nicht, Kurti, siehst du nicht, wir haben uns genauso isoliert wie du. Hier, Handschuhe an den Händen und Galoschen an den Füßen. Keinen Fingerabdruck haben wir hier hinterlassen, keine Fußspur, kein einziges Haar. Und wir haben auch keinen Hinweis versteckt und keinen Beweis verschleiert.«

Die Instrumententasche in der Hand, stapfte Kurt herbei.

»Verschleierung hätte gerade noch gefehlt! Yıldız, wie kannst du nur!« Da erst entdeckte er das Opfer auf dem Boden und zuckte zurück. »Oh Scheiße, was ist das denn?«

»Willkommen in der Audienz beim obersten Gott, Kurti«, lästerte Yıldız schon auf dem Weg zur Tür. »Wir lassen dich mit dem großen Zeus allein. Frohes Schaffen!«

Nach ein paar Schritten hörte Yıldız, dass die Musik leiser wurde. Kurt mit seinem angegriffenen Nervenkostüm hatte den dröhnenden Krach nicht länger ertragen. Auf dem schummrigen Korridor fiel ihr ein Bild auf, das über die volle Wandlänge reichte. Nein, das war kein Bild, es war eine Collage aus etlichen nebeneinandergeklebten Schwarz-Weiß-Fotos. Darauf waren Reliefskulpturen zu sehen, aber Arme, Köpfe, Füße, Rümpfe waren unvollständig. Die Figuren stellten einen brutalen Krieg dar. Yıldız versank in Gedanken, hatte sie die Skulpturen nicht schon mal gesehen?

»Wieder Zeus-Statuen?« Tobias’ Stimme verscheuchte ihre Gedanken. »Als wären wir nicht an einem Tatort, sondern in einem Museum für Archäologie.«

Statt ihrem Assistenten zu antworten, ging Yıldız weiter. Mitten in Berlin ein Mord mit Hinweisen auf den Hauptgott der Antike. Ein Mann war tot. Ein junger Mann, der sich für Malerei, Archäologie und Informatik interessiert hatte. Und er war Türke. Merkwürdige Sache. Mit Gedanken, die sie nicht zuordnen konnte, erreichte sie das Ende des Korridors. Die Holztür dort brauchte sie nur anzustoßen. Vor ihren Augen öffnete sich ein großer Raum. Durch zwei breite Fenster linker Hand fiel Licht herein. Geradeaus erblickte sie eine große Bibliothek, gleich daneben entdeckte sie eine weitere Tür. Die Wand zur Rechten zierte von oben bis unten ein Gemälde, im Schummerlicht war aber nicht zu erkennen, worum es sich handelte. Neben ihr schlüpfte Tobias herein und drückte auf den Lichtschalter.

Vor ihr tauchte ein bekannter Anblick auf. Yıldız war beeindruckt gewesen, als sie das Original zum ersten Mal im Museum gesehen hatte. Ja, das war der Pergamon-Altar, einer der prachtvollsten Bauten der antiken Welt. Jetzt erinnerte sie sich, die Skulpturen auf den Fotos, die sie auf dem Korridor gesehen hatte, schmückten die Wände des Altars. Ein türkisches Opfer, Archäologie, der Pergamon-Altar … Zahllose Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf. Nach wenigen Schritten blieb sie stehen, fürchtete, wenn sie näher heranging, das Bild nicht mehr im Ganzen sehen zu können. Der Bau sah wie ein gigantischer Thron aus Marmor aus. Mittig führten Treppen hinauf. Über diese Treppen gelangte man auf die Plattform, wo einst die Feuer brannten. Die Mauern überzogen herrliche Reliefs. Und auf den verzierten Mauern reihte sich eine Säule an die andere. Oben auf dem von Säulen getragenen Altar standen kleinere Skulpturen. Sie hatte den einzigartigen Altar in all seiner Pracht vor sich.

»Hat das wieder was mit Zeus zu tun?«, fragte ihr Assistent. »Ist das ein Tempel?«

»Könnte man so sagen«, antwortete sie, ohne den Blick abzuwenden. »Ein Altar. Der Ort, wo man den Göttern Gaben bringt. Hierher kamen die Menschen, um den Göttern die besten Stücke ihres wohlgenährten Viehs zu opfern. Auf der zweiten Ebene des Altars wurden sie verbrannt. Stimmt also, Tobias, auch das hier hat mit Zeus zu tun. Es ist sogar ein Altar, der einzig und allein für den Hauptgott errichtet wurde. Heißt ja auch so: Zeus-Altar.«

Ihr Assistent beäugte das Wandbild zwar interessiert, war aber weit weniger beeindruckt als sie.

»Der wurde aus Anatolien hergebracht, aus Bergama«, fuhr sie fort. »Seit fast hundert Jahren ist er schon hier und wird in Berlin ausgestellt.«

»Im Pergamon-Museum?« Jetzt war Tobias doch fasziniert.

»Genau, das Museum ist nach dem Fundort benannt. Der Altar ist wahnsinnig wertvoll, und in echt ist er noch viel eindrucksvoller. Darauf können viele Leute gleichzeitig herumlaufen. Ich war oft da. Und bei jedem Besuch war ich beeindruckt. Ich war auch in Bergama und habe die Stelle gesehen, wo er ursprünglich stand. Dort ist heute nur noch das Podest zu sehen. Sieht irgendwie traurig aus. Aber im Museum ist er toll ausgestellt. Vor fünf Jahren ungefähr war ich zuletzt da.« Sie deutete auf die zwölfte Stufe. »Da saß ich auf der Treppe.«

In Tobias’ dunkelgrauen Augen tauchte ein Ausdruck von Bewunderung auf.

»Wie kannst du dich an die Stufe erinnern, auf der du gesessen hast, Chef?«

Yıldız zwinkerte schalkhaft.

»Weil mich die zwölfte Stufe an die zwölf Götter auf dem Olymp erinnerte. Deshalb hab ich das nicht vergessen. Der Altar hier wurde, glaube ich, als Zeus’ Residenz auf Erden bezeichnet. Also als die irdische Version des Palastes der Götter auf dem Olymp. Warst du denn noch nie in dem Museum? Vor der Wiedervereinigung gehörte es zu Ostberlin. Habt ihr keinen Schulausflug dorthin gemacht?«

»Doch«, gestand Tobias verlegen. »Ich wollte so gern mit, aber es sollte nicht sein. Meine Klasse reiste extra aus Leipzig an. Unser Rektor stand auf Mythologie, aber ich hatte eine schwere Erkältung und konnte nicht mit. Tagelang haben sie von dem Museum erzählt. Später hat es sich dann irgendwie nie ergeben.«

Yıldız war noch mit dem Bild beschäftigt.

»Richtig, eine wirklich fantastische Stätte. Die Einwohner von Pergamon haben den obersten Gott sehr verehrt. Wer weiß, was für Gaben sie dem Gott brachten, da sie ihm schon einen so herrlichen Altar errichtet haben.«

Bei diesen Worten der Chefin hatte Tobias gleich wieder den Leichnam mit der zerfetzten Brust vor Augen.

»Dann haben sie den Toten wirklich Zeus geopfert«, vermutete er aufgeregt. »Sie haben dem Pechvogel das Herz rausgerissen und dem Gott zum Opfer gebracht.«

Yıldız blieb gelassen. »Ich weiß nicht, Toby, ein Opfer für den obersten Gott hätte doch wohl in diesem Zimmer zerteilt werden müssen, oder? Hier ist der Zeus-Altar.«

»Ist doch beides Blödsinn«, grummelte ihr Assistent. »Schließlich ist das hier eine Wohnung und kein Tempel, das an den Wänden sind doch bloß Bilder. Male ein Bild vom Gott an die Wand und schlachte davor einen Mann ab. Was ist das denn für eine Opferzeremonie? Will man es richtig machen, muss man das Opfer auf dem Altar töten. Nach dem, was du erzählt hast, hätte es auch noch verbrannt werden müssen.« Entsetzt über den eigenen Gedanken zog er eine Grimasse, konnte aber doch nicht umhin, es auszusprechen: »Ist doch so, Chef, man hätte das Herz des Opfers ins Feuer werfen müssen.«

Yıldız warf ihrem Assistenten einen verstohlenen Blick zu.

»Stimmt absolut. Allerdings wäre eine solche Gräueltat im Museum unmöglich, also hat der Täter nach eigenem Gutdünken einen Tempel gebastelt. Offensichtlich haben die Zeichnungen des Opfers seiner Fantasie reichlich Nahrung gegeben. So oder so. Wir haben es mit einem fantasievollen Irren zu tun. Mit einem Psychopathen, der das, was wir als Bilder verstehen, für einen Altar hält. Schlimmer noch, mit einem Täter, der nicht davor zurückschreckt, einen Menschen zu töten. Darüber hinaus ist er äußerst geschickt und so pedantisch, eine dermaßen grausame Tat zu begehen, ohne ein Tohuwabohu zu hinterlassen. Diesmal haben wir es mit einem schwierigen Mörder zu tun, Toby.«

Ihr Assistent war nicht überzeugt.

»Dass hier alles sauber ist, hat mich irritiert. Und von Bedeutung ist, dass das Opfer sich anscheinend nicht gegen seinen Mörder gewehrt hat. Vielleicht sind beide Anhänger dieser antiken griechischen Religion und Cemal wurde freiwillig zum Opfer. Vielleicht hat der Tote den Sinn seines Lebens darin gesehen, dem Obergott geopfert zu werden. Und ist jemandem begegnet, der genauso denkt. Oder er hat selbst den Mörder überredet. War es nicht so, Chef? Die Miene des Opfers zeigt keine Spur von Angst. Es gab keinen Streit und keine Gegenwehr. Nicht mal der Stuhl vor dem Computertisch ist umgekippt. Gibt dir die Inszenierung nicht zu denken? Warum sollen Täter und Opfer den Mord nicht gemeinsam geplant haben? Die Menschheit ist auf Abwegen, statt normal zu leben und normal zu sterben, wollten sie womöglich eine schreckliche Fantasie ausprobieren.«

Das war zweifellos möglich. Hatte nicht vor einigen Jahren ein Perverser in Rotenburg annonciert, er suche jemanden zum Aufessen, und tatsächlich ein freiwilliges Opfer gefunden? Hatte sich das Opfer nicht gezielt mit seinem Mörder getroffen und ihm gern, womöglich gar lustvoll sein eigenes Fleisch dargeboten? Hatte nicht der Mörder Stück für Stück sein Opfer verspeist, es schließlich getötet und an einen Haken gehängt? Aus Erfahrung wusste Yıldız, dass Menschen über unendliche Kreativität verfügten, wenn es darum ging, Böses zu tun.

»Was du sagst, ist nicht undenkbar. Auch das ist eine Hypothese. Allerdings nur eine Hypothese. Warten wir die Ergebnisse der Autopsie ab, lass uns die Personen vom Telefon überprüfen: Wer sind Alex und Peter? Vielleicht kommt dabei etwas heraus, das deiner Schilderung entspricht. Erst mal müssen wir aber davon ausgehen, dass das Opfer gegen seinen Willen getötet wurde. Ohne jeden Beweis, jede Spur sollten wir einen grausam getöteten Mann nicht verunglimpfen. Das wäre wirklich nicht recht.« Als von Tobias kein Widerspruch kam, wandte sie ihren Blick der Tür neben der Bibliothek zu. »Ich schau mir mal den Raum dahinter an. Kümmere du dich um die Bücher, möglicherweise finden wir etwas Verwertbares.« Nach ein paar Schritten ergänzte sie: »Vielleicht entdecken wir neben Archäologie, Malerei und Computern noch weitere Interessengebiete des Opfers.«

Tobias lachte müde.

»Würde mich nicht wundern, der Pechvogel drüben war vielseitig.«

Als Yıldız die Tür öffnete, schlug ihr ein herber Geruch von Farbe und Lösungsmittel entgegen. Im Vergleich zum Tatort war dieser Geruch erträglich, in geringerer Intensität hätte er ihr sogar gefallen. Sie tastete nach dem Lichtschalter, betätigte ihn. Vor ihr lag ein Atelier. Hier also arbeitete Cemal. Das Atelier glich dem großen Raum nebenan. Vor den Fenstern zum Garten hingen dicke schwarze Vorhänge. In der Mitte stand ein ausladender Tisch, eine hölzerne Staffelei an der Wand, auf dem Boden Kartonstapel, Farbeimer, Flaschen mit Lösungsmittel, Pinsel. An der Wand gegenüber fielen ihr Skizzen von drei Büsten auf, nebeneinandergeklebt. Drei bärtige Männer, die ihr nichts sagten. Sie ging näher heran und verengte die Augen. Nur den ganz rechts erkannte sie, das war Zeus. Cemal hatte dem obersten Gott auf seinem Thron genau das gleiche Gesicht gegeben. Haar und Bart auch der beiden anderen waren lang, das Kinn markant, die Stirn hoch, der Blick stolz. Wahrscheinlich waren es Götter wie Zeus, vielleicht Poseidon und Hades. Zeus’ mächtige ältere Brüder, schwierig, es mit Sicherheit zu sagen. Sie lenkte den Blick auf die Wand daneben. Sie war von Skizzen übersät. Sie trat näher und betrachtete sie genauer. Die Zeichnungen waren nach den Fotos im Korridor angefertigt worden. Tatsächlich, es waren detaillierte Skizzen der Reliefs am Zeus-Altar. Exzellent gezeichnet, aber noch nicht farbig. Es gab eine Geschichte zu den hier skizzierten Figuren. Yıldız grub in ihrem Gedächtnis. Sie erzählte von einem Krieg, was war das noch genau? Da kämpften wohl Götter gegen andere Götter. Oder Götter gegen Titanen? Sie war nicht sicher, ließ den Blick schweifen und entdeckte Fotografien auf dem Tisch. Es waren Vergrößerungen der Fotos, die sie kurz zuvor im Korridor gesehen hatte. Wie am Originalaltar waren Köpfe und Gliedmaßen der Figuren unvollständig. Sie richtete den Blick erneut auf die Zeichnungen an der Wand. Der Maler hatte auf seinen Bildern die fehlenden Teile vervollständigt. Yıldız empfand eine seltsame Genugtuung. Es waren zwar nur Skulpturen, doch die verstümmelten Körper hatten sie beunruhigt. So erging es ihr auch im Museum, statt unvollständige Originale von Statuen, Mosaiken oder Fresken betrachtete sie lieber makellose Reproduktionen. Deshalb machte sie sich jetzt gespannt daran, die Skizzen mit den Reliefs in ihrem ursprünglichen Zustand wie einen Fotoroman zu lesen.

Auf den Bildern waren Götter und Göttinnen sowie merkwürdige Kreaturen mit menschlichem Aussehen im Ganzen zu sehen. Ein furchtbarer Kampf fand statt. Eine Schlacht, bei der alle erdenklichen Waffen zum Einsatz kamen, Lanzen, Schwerter, Knüppel, Pfeile. Geschöpfe, die oben Mensch und unten Reptil waren, geflügelte Göttinnen, gewaltige Götter bekämpften einander auf Leben und Tod. Auch Adler, Schlangen, Hunde, Pferde, Löwen waren in dem Gemetzel dabei. Yıldız vergaß, dass sie einen Mord aufzuklären hatte, stattdessen interessierte sie die Schlacht. Sie fand Zeus, den sie kurz zuvor als Skizze gesehen hatte, mit vollständigem Körper. Unerbittlich schlug er sich mit jemandem. Aber das war es auch schon. Worum ging es in dieser Schlacht? Wer waren die Kämpfenden? Was wollten die Leute von Pergamon vermitteln, als sie vor über zweitausend Jahren diesen herrlichen Altar bauten? Sie musste davon gehört oder gelesen haben, konnte sich aber nicht entsinnen.

»Chef, kannst du kurz gucken?«, rief Tobias aus dem Zimmer nebenan. War er auf eine wichtige Spur gestoßen? Sie verscheuchte die Gedanken an die Schlacht auf den Reliefs am Zeus-Altar und eilte nach drüben.

»Ja, Tobias, was hast du gefunden?«

Eine Spur hatte ihr Assistent nicht gefunden, neben ihm stand eine zierliche schwangere Frau, totenbleich und zitternd vor Angst.

»Die Dame ist mit dem Opfer befreundet. Sie wohnt oben und möchte mit uns sprechen.«

Das kleine Wohnzimmer im ersten Stock wurde vom honigfarbenen Licht der Deckenlampe, eine Handarbeit aus Holz, erleuchtet. Die Schwangere war auf dem schäbigen Sessel, zu dem Hauptkommissarin Yıldız sie geführt hatte, zusammengesunken. Ihr zierlicher Körper zitterte noch immer ein wenig. Sie weinte leise, wischte die Tränen aber nicht mehr ab, ließ sie gleichgültig über die geröteten Wangen zum Kinn rinnen und auf den Hals tropfen.

»Ich dachte, er macht Party«, fing sie endlich an. »Cemo war ein fröhlicher Mensch, er lud alle im Haus ein, war gern unter Freunden. Als ich die Musik hörte, dachte ich, da steigt wieder eine Party. Aber es war immer derselbe Song. Und so laut! So unhöflich war Cemo nie.«

Die Frau hatte einen fürchterlichen Akzent. »Ich heiße Pilar«, hatte sie sich vorgestellt. Sie war jung, sehr jung. Sie trug ein Umstandskleid mit bunten Feldblumen, die wilden Locken hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Wie schafft sie es mit ihrer zierlichen Statur nur, das Baby im Bauch zu tragen, hatte Yıldız sich beim ersten Blick gefragt. Ja, Pilar war die Nachbarin, die die Polizei gerufen hatte.

»Irgendetwas stimmte nicht«, fuhr sie fort. »Ich ging zu seiner Tür, drinnen war nur Musik zu hören. Keine Gespräche, kein Rufen, keiner, der mitsang. Ich klingelte, niemand öffnete. Die Tür war offen. Als ich sie aufstieß …« Weiter kam sie nicht. Sie riss die Hände vors Gesicht und schluchzte laut auf.

Yıldız überließ die junge Frau sich selbst. Sie stand auf, öffnete das Balkonfenster, angenehmer Lindenduft strömte herein. Tief atmete sie die frische Luft ein. Sie hörte Flügel schlagen. Das war keine Fledermaus oder Eule, es musste ein Vogel mit kräftigen Schwingen sein. Kurz darauf stieg ein Schrei zum Himmel auf. Der Schrei eines Raubtiers. Yıldız spähte zu den Bäumen im Garten, doch in der Dunkelheit war nichts zu erkennen. Vermutlich ein Falke, der aus dem Wald in die Stadt gekommen war, oder ein ähnlicher Raubvogel. Sie drehte sich um, ging, ohne um Erlaubnis zu bitten, in die Küche, schenkte sich aus einer Flasche, auf der Pinocchio sie anlächelte, ein Glas Wasser ein, trank. Sie griff nach einem zweiten Glas, füllte es und trug es ins Wohnzimmer. Die frische Luft hatte offenbar dazu beigetragen, dass die schwangere Frau sich beruhigte. Yıldız reichte ihr das Glas.

»Trinken Sie, es wird Ihnen guttun.«

Die Frau trank einen Schluck, murmelte einen Dank und stellte das Glas auf den Beistelltisch. »Entschuldigung, plötzlich ging es mir nicht gut.«

Tobias, fiebernd vor Ungeduld, nahm die Vernehmung wieder auf.

»Kein Problem. Sie sagten Cemo, haben Sie den Toten so genannt?«

Arglos klimperte Pilar mit ihren langen Wimpern.

»Er hieß Cemal. Cemal Ölmez. Cemo nannten wir ihn, das war einfacher.«

Yıldız’ ockerfarbene Augen musterten die schwangere Frau. Es war nicht auszumachen, ob sie ihr leidtat oder sie sich um Verständnis bemühte.

»Trinken Sie noch etwas, Pilar.« Sie deutete auf das Glas, das auf dem Beistelltisch stand. »Oder möchten Sie etwas Warmes?«

Vor Verlegenheit färbte sich das Gesicht der Frau rosa.

»Nein, danke, eigentlich sollte ich Ihnen etwas anbieten, aber Cemos Tod hat mich total umgehauen. Ich kann es nicht fassen. Er war so voller Leben. Wer tut etwas so Grausames?«

Yıldız blickte sie vertrauenerweckend an.

»Wir werden ihn finden, Pilar, glauben Sie mir, wir finden ihn. Wenn Sie unsere Fragen beantworten, finden wir ihn umso schneller.«

Die junge Frau zwang sich, noch einen Schluck zu trinken.

»War Cemal Maler?« Yıldız hatte wieder Platz genommen. »In den Zimmern haben wir Bilder gesehen, und ein Atelier ist auch da.«

»Mythologische Bilder«, bestätigte Pilar. »Ja, die hat Cemal gemalt.«

Weiter kam sie nicht, Tobias wiederholte die Frage der Chefin:

»Der Tote war also Maler?«

»Ach so, nein, er war Softwareingenieur. Er arbeitete in einer Firma. Einem Energieunternehmen.«

Der Kommissar zog die schütteren Brauen hoch.

»Wozu hat er dann diese Bilder gemalt? Zeus, die Reliefs vom Altar und so, was hat ihn an der Mythologie interessiert?«

Pilar reckte die schmalen Schultern.

»Die ganze Familie interessiert sich dafür. Die haben in der Türkei an so einem Ort gelebt. In Pergamon …«

»Das soll wohl Bergama sein«, korrigierte Yıldız sanft.

»Ich weiß, aber früher hieß es Pergamon. Wie das Museum. Die Vorfahren haben da gearbeitet. Also früher. In Pergamon, meine ich. Eine Familientradition. Die haben auch die Reliefs gefunden …«

»Wie bitte, die Figuren am Altar?«

Yıldız’ Stimme klang spöttisch. Als Pilar merkte, dass die Hauptkommissarin ihr nicht glaubte, lenkte sie ein.

»Das hat Cemo erzählt.«

Tobias sah, dass sie so nicht weiterkamen, und lenkte die Vernehmung in eine andere Richtung.

»Wie haben Sie Cemal kennengelernt? Offenbar waren Sie eng befreundet?«

Wieder stiegen Pilar Tränen in die Augen.

»Ja, er war unser Freund.« Sie ließ den Blick durch die Wohnung schweifen. »Er hat uns auch diese Wohnung besorgt. Letztes Jahr wohnten wir in einem der besetzten Häuser. Cemo und Rafael malten Wandbilder für die Besetzer.«

Das war der Mann, den sie kurz zuvor am Telefon hatten. Um jedes Missverständnis auszuschließen, hakte Yıldız nach:

»Wer ist Rafael?«

»Mein Mann.« Auf das Gesicht der Schwangeren legte sich ein liebevoller Ausdruck. »Er und Cemal waren wie Brüder. Ich hab ihn noch nicht angerufen. Ich weiß ja nicht, wie ich es ihm sagen soll. Sie standen einander sehr nahe. Genau wie ich. Wir haben Cemo im besetzten Haus kennengelernt. Das waren schöne Tage. Aber vor sechs Monaten hat Cemo gesagt: Hier kannst du das Kind nicht zur Welt bringen, ihr braucht etwas Besseres. Keine Woche später hatte er diese Wohnung gefunden. Er war so ein guter Mensch …«

Yıldız hatte geschwiegen, nahm aber jetzt den Faden wieder auf.

»War Cemal ein guter Maler?«

Pilar zeigte auf das Bild auf einem kleinen Bücherregal.

»Das hat er gemalt.« Auf dem Bild schenkte ein hübscher junger Mann aus einer goldenen Karaffe ein Getränk in einen Becher mit Blumenmuster. »Der hübsche junge Mann soll Ganymedes sein.«

»Wer ist Ganymedes?«, fragte Tobias neugierig.

»Ganymedes war Mundschenk und Geliebter des Zeus. In Gestalt eines Adlers entführte ihn der Göttervater vom Berg Ida. Zurück zu Ihrer Frage, ja, Cemo war ein toller Maler. ›Ich bin Amateur‹, sagte er, aber meiner Meinung nach hatte er großartiges Talent.« Erneut wies sie auf das Bild. »Das hat er vor einigen Jahren gemalt. Schauen Sie, was für ein schönes Bild. Selbst Rafael, der sich in Sachen Kunst nichts vormachen lässt, wollte eine Gemeinschaftsausstellung mit ihm organisieren.«

Die Einzelheiten interessierten Tobias nicht, er wollte nur wissen, ob die Frau und ihr Mann die Wahrheit sagten.

»Wo ist Rafael jetzt?«, fragte er barscher als nötig.

Pilar erschrak. »Im besetzten Haus. Was ist denn passiert?«

Der pedantische Polizist zuckte mit den Schultern.

»Nichts ist passiert. Wo ist das besetzte Haus?«

Die junge Frau schluckte ein paar Mal.

»Die Köpi, in der Köpenicker Straße. Rafael malt da Mauerbilder.«

Tobias war nicht überzeugt.

»Mitten in der Nacht? Wieso arbeitet er nicht am Tag?«

Obschon es ihre eigene Wohnung war, versank Pilar regelrecht im Sessel.

»Er arbeitet da, wenn er Zeit hat. Je nach Gelegenheit.«

Die Sache lief aus dem Ruder.

»Okay. Lebte Cemal allein?« Yıldız wollte zum Thema zurück. »Hatte er keine Frau oder Freundin?«

Die junge Frau zögerte kurz, dann gab sie Auskunft.

»Er hat einen Freund, Alex. Der spielt Schlagzeug in einer Heavy-Metal-Band. Finanziell sind die nicht besonders erfolgreich. Alex arbeitet hier und da, je nachdem, wo er etwas findet, was soll er machen? Sie touren auch oft durchs Land.«

Die Person, die das Opfer zuletzt angerufen hatte, war also sein Partner Alex. Ob die im Handy eingetragene Nummer stimmte?

»Haben Sie seine Telefonnummer?«, fragte Yıldız.

Pilar griff nach dem Adressbuch, das auf dem unteren Regal des Beistelltischs lag.

»Hier ist seine Festnetznummer, er hat kein Handy, ein komischer Mann.« Sie blätterte das Heft auf. »Hier, ohne Brille kann ich nicht richtig sehen, wollen Sie sie aufschreiben?« Während Tobias die Nummer in sein Handy übertrug, fuhr die Hausherrin fort: »Heute Abend spielen sie im Tartaros. Im Musical Das Lächeln der Gorgonen.«

Yıldız kannte den Ort, hakte aber nach.

»Im Theater in der Oranienstraße? Die veranstalten Konzerte und so.«

»Genau, da in der Straße. Alex ist wirklich ein guter Musiker, aber …« Sie verzog das Gesicht.

»Ist er ein schlechter Mensch?«, fragte Yıldız freundlich.

»Jedenfalls kein guter … Cemo hat ihn wirklich geliebt, aber Alex … Wie soll ich sagen, egoistisch ist er und ein Rüpel. Zu Cemo war er manchmal ganz schön ruppig …«

Die Polizisten horchten auf.

»Was meinen Sie mit ruppig?«, fasste Yıldız nach. »Hat er ihn geschlagen?«

Pilar zog die Unterlippe zwischen die Zähne, schüttelte aber den Kopf.

»Schlagen konnte er ihn nicht, Cemo war jünger, sportlicher und ein echt guter Kämpfer. Aber Alex hat ständig Probleme gemacht. Vor zwei Tagen gab’s wieder Krach. Die haben sich vielleicht gefetzt! Dann hat er die Tür zugeknallt und ist gegangen.«

Tobias’ dunkelgraue Augen blitzten.

»Wissen Sie, worüber sie gestritten haben?«

Pilar zögerte.

»Wenn Sie nicht reden, können wir den Mörder Ihres Freundes nicht finden«, mahnte Yıldız. »Wir müssen alles wissen.«

Die junge Frau seufzte, warf erst Tobias, dann Yıldız einen Blick zu und erzählte:

»Der ewige Streit, Alex war eifersüchtig. Ich weiß nicht, wie Cemo jetzt aussieht, aber er war ein richtig gut aussehender Mann. Alex ist hässlich und dazu noch älter. Der hat Cemo das Leben zur Hölle gemacht.« Sie verstummte und riss die großen Augen weit auf. »Sollte er etwa …? Hat der Schuft etwa Cemo umgebracht?«

»Wir wissen es nicht«, sagte Yıldız. »Was meinen Sie denn, könnte Alex die Tat begangen haben?«

Pilars dunkle Augen zitterten nervös.

»Unmöglich, kann ich nicht sagen, er hat Cemo gedroht, ihn umzubringen. Vor unseren Augen. Vor zwei Tagen, hier am Tisch. Ich hatte die beiden zum Essen eingeladen. Als sie tranken, fing er wieder an zu streiten. ›Wenn du mich verlässt, wenn du mir das antust, lass ich dich nicht am Leben‹, sagte er wütend. Ja, genau das hat er gesagt.«

Endlich kamen sie voran, erwartungsvoll beugte Tobias sich vor.

»Warum hat Cemal sich die Rüpelei von diesem Mann gefallen lassen? Was heißt Rüpelei, das ist Gewalt. Warum hat er sich nicht getrennt?«

Die Frau lächelte sanft.

»Wie gesagt, er hat Alex geliebt. Er hat ihn wirklich sehr geliebt.«

Tobias griff die Hypothese wieder auf, die er kurz zuvor in der Wohnung des Opfers Yıldız gegenüber entwickelt hatte.

»Vielleicht gefiel es ihm ja auch, dass Alex gewalttätig wurde. Vielleicht hat er ihn gerade dafür geliebt. Vielleicht hätte er sogar sein Leben dafür gegeben, dass der Mann, den er liebt, glücklich ist.«

Der schwangeren Frau fiel alles aus dem Gesicht.

»Nein, so einer war Cemo nicht. Er war ein ehrbarer Mensch. Er hätte nie zugelassen, dass ihn jemand demütigt. Bei den Krächen mit Alex ließ er sich nicht unterbuttern. Wie gesagt, er war ein guter Kämpfer, ein wirklich guter.«

Tobias ruderte zurück.

»Das haben Sie falsch verstanden. Mit Ehre hat das nichts zu tun. Es gibt Menschen, die kennen in der Liebe keine Grenzen. Manche schließen in ihre Beziehung selbst den Tod mit ein. Wir hatten schon solche Fälle …«

Pilar wurde ärgerlich.

»Nein, so einer war Cemal nicht!« Ihre Stimme wurde schrill. »Ja, er war anders als andere, aber er liebte das Leben. Er wollte nicht sterben, er wollte leben. Er wollte niemanden umbringen und hätte auch nicht erlaubt, dass ihn jemand tötet.«

*

Die im Dunkeln leuchtende Flamme des Feuerzeugs erhellte Tobias’ nachdenkliche Miene. Tief inhalierte er zwei Züge, als wären es die letzten. Der herbe Tabakgeruch überlagerte den Duft der Linden, der der Nacht süße Mattigkeit verlieh. Der graue Passat stand neben dem Kleinbus der Spurensicherung. Vor dem Kofferraum stieg Yıldız aus dem Overall, den sie vor Betreten des Tatorts angezogen hatten.

»Ungeduld lässt grüßen, was?«, stichelte sie. »Musstest das Teufelszeug anstecken, noch bevor du dich umziehst. Sag nachher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, das geht nicht gut aus. In deiner Familie gibt es Krebsfälle. Was du da tust, ist unvernünftig.«

Tobias grinste abgebrüht.

»Glaubst du, wir sterben eines natürlichen Todes, Chef? Keine Sorge, irgendein Psychopath stößt uns irgendwann in einem finsteren Winkel ein Messer in den Rücken. Oder jemand schießt uns bei einem Handgemenge eine Kugel in den Kopf. Bis dahin krieg ich schon keinen Krebs.«

Yıldız verkniff sich das Lachen.

»Schon gut, paff sie zu Ende, sonst haben wir gleich den Gestank im Auto.«

In aller Ruhe nahm er wie zum Trotz noch zwei tiefe Züge.

»Sag mal, wann hast du eigentlich aufgehört, Chef?«, fragte er, während ihm Rauch aus Mund und Nase quoll. »Ist das schon fünf Jahre her?« In dem weißen Schutzanzug sah er im Dunkel der Nacht aus wie ein nach Berlin verirrter Eisbär.

»Fünf Jahre, drei Monate und siebzehn Tage«, erwiderte die Chefin und schüttelte den Kopf, als wunderte sie sich über sich selbst. »Ich ermahne dich, aber wie du siehst, zähle ich selbst immer noch die Tage. So sehr habe ich nicht mal meinen ersten Freund vermisst.« Sie verstaute den Overall im Kofferraum. »Aber das ist vorbei, da gibt es absolut kein Zurück mehr.«

In Lederjacke und schwarzen Jeans, die ihre langen Beine betonten, wirkte Yıldız jünger, als sie war. Mit ihren geschwungenen Brauen, der kleinen Nase, den vollen Lippen und dem Grübchen, das auf der rechten Wange erschien, wenn sie lachte, war sie eine attraktive Frau. Selbst im schummrigen Licht konnte Tobias das erkennen, sprach es aber natürlich nicht aus.

»Na, ich weiß nicht, ob Franz Abi wieder anfangen würde, selbst wenn du wolltest«, setzte er die Plauderei fort und verwendete dabei das türkische Wort »Abi«, großer Bruder. Franz Abi nannte er Yıldız’ Ex. »Du hast den Mann hochkant rausgeworfen.«

Yıldız sagte nur: »Den Abi hast du schön ausgesprochen. Dein Türkisch wird besser.« Sie trat auf ihn zu. »Aber ich meinte nicht Franz, sondern das Rauchen. Und mit erster Freund meinte ich Volker. Auf dem Gymnasium gingen wir in dieselbe Klasse. Ein netter Junge. Natürlich heiratet niemand seine erste Liebe, aber Franz war wirklich ein großer Fehler. Eine Jugendsünde. Jede Frau hat so eine dämliche Phase. Da lässt man dann solche Leute in sein Leben herein. Franz war einer von denen.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, nahm Tobias, der mindestens einen Kopf größer war, die Zigarette aus dem Mund, warf sie auf den Boden und trat sie aus.

Der stämmige Kommissar verzog kläglich das freundliche Gesicht.

»Schön und gut, aber was hab ich verbrochen? Wieso schmeißt du meine Fluppe weg?«

Ein älterer Mann hinderte sie daran, das Geplänkel fortzusetzen. »Gab es hier einen Mord?«, fragte er. Der Ärger in seinen stahlblauen Augen war sogar im Dämmerlicht zu erkennen. »Wieso ist hier so viel Polizei aufmarschiert?«

»Haben Sie das Absperrband nicht gesehen?«, unterbrach Tobias ihn. »Kein Zutritt!«

Mit zitternder Hand deutete der Mann nach rechts, auf den Bungalow im Garten.

»Ich will nach Hause, ist es verboten, abends spazieren zu gehen? Sie versperren mir den Weg, wie soll ich da durchkommen?«

Zwei uniformierte Polizisten hatten den Wortwechsel mitbekommen und näherten sich. Yıldız hob die Hand, um sie zu stoppen. Sie lächelte den Nachbarn an.

»Entschuldigen Sie, mein Herr, kommen Sie, hier können Sie durch.«

Doch der neugierige Mann rührte sich nicht. Er starrte auf das Haus, in dem der Mord begangen worden war.

»Haben die sich wieder gegenseitig umgebracht?«

Tobias brauste auf.

»Das geht Sie nichts an. Gehen Sie nach Hause, um diese Uhrzeit sollten Sie längst im Bett liegen.«

Der Groll in den Augen des Mannes schwoll an.

»Werden Sie nicht ungezogen, ich entscheide selbst, wann ich nach Hause gehe und wann ich schlafe.«

Der Kommissar grummelte, erneut ging Yıldız dazwischen.

»Komm, Tobias, geh und zieh den Overall aus.« Dann wandte sie sich dem Alten zu, zeigte auf das Haus im Garten: »Bitte, mein Herr, gehen Sie jetzt nach Hause.«

Tobias gehorchte seiner Vorgesetzten, doch der wütende Nachbar rührte sich nicht vom Fleck. Hager, mit krummem Rücken und Hass in den Augen stand er da und musterte sein Gegenüber mit Verachtung.

»Türken oder Araber? Oder die Junkies, die wie Hippies aussehen? Wer hat wen umgebracht, frage ich.«

Yıldız blieb höflich.

»Warum zerbrechen Sie sich den Kopf? Gehen Sie doch bitte nach Hause, und überlassen Sie solche Angelegenheiten der Polizei.«

Sacht berührte sie den Mann, doch der zog heftig den Arm zurück.

»Fass mich nicht an! Das ist Belästigung.«

Yıldız wich zurück.

»Pardon, Entschuldigung, das wollte ich nicht. Aber hier gibt es wirklich nichts, das Sie interessieren würde.«

Der Mann explodierte.

»Doch! Die haben unser Leben ruiniert. Kennen Sie die Gegend? Das hier ist Neukölln! Bevor die Ausländer kamen, war es hier friedlich. Hier verbringen wir ruhig unsere letzten Jahre, dachten wir. Von unseren Ersparnissen haben wir das Haus gekauft. Und dann? Dann nahmen Türken, Araber, Iraner und dazu noch Herumtreiber, die sich für Künstler halten, alles in Beschlag. Jeden Tag passiert was, jeden Tag Krach. Und da soll es nichts geben, das mich interessiert!«

Tobias vor dem Kofferraum hatte zugehört, es hielt ihn nicht länger, er schlüpfte aus dem Overall und stürmte herbei. Zum Glück sah Yıldız ihn und hielt ihn mit einem Handzeichen auf.

»Vielleicht haben Sie recht, aber das, worüber Sie sich ärgern, können wir nicht lösen. Würden Sie jetzt bitte endlich nach Hause gehen?«

»Greifen Sie mich etwa an?«, rief der Alte, der Tobias heranstürmen sah. »Ja? Statt sich für mich einzusetzen, beschützten Sie jetzt auch noch diese Ausländerin! Sie sollten sich was schämen, schämen Sie sich für sich selbst! Wegen Verrätern wie Ihnen verlieren wir.«

»Schämen Sie sich!«, platzte Tobias heraus. »Was heißt hier Ausländerin? Die Frau, die Sie beleidigen, ist eine deutsche Polizistin. Damit Sie in Frieden leben können, opfert sie sich auf und arbeitet zu dieser nächtlichen Stunde hier für Sie. Sie aber hindern sie daran! Woher wissen Sie überhaupt, dass es einen Mord gab? Haben Sie etwas damit zu tun?«

Der Mann zögerte.

»Was reden Sie da! Wie soll ich in meinem Zustand einen Mord begehen, da vorn am Imbiss wurde geredet, da habe ich es gehört.«

Tobias musterte den Mann von oben bis unten, als glaubte er ihm nicht.

»Sie haben also nichts damit zu tun?«

Zum ersten Mal schlich sich etwas wie Angst in die blauen Augen des Alten.

»Nein, sag ich doch, ich wollte nur nach Hause.«

Scharf wies Tobias ihm den Weg.

»Dann ab nach Hause. Wir haben zu tun. Stehlen Sie uns nicht unsere Zeit. Sonst muss ich Sie wegen Widerstand gegen die Polizei anzeigen.«

Einen Augenblick war der Mann verdattert, dann warf er stolz den Kopf zurück.

»Ich gehe ja schon, aber ich werde Sie alle anzeigen. Sie versperren den Weg zu meinem Haus …«

Er schlurfte von dannen, moserte aber weiter:

»Was hätte ich von einer Anzeige? Die sitzen ja inzwischen sogar in der Polizei. Bis in den Staat sind die vorgedrungen. Die bringen sich gegenseitig um, und dann ermitteln sie auch noch selbst. Wer ist der Verbrecher, wer die Polizei, alles durcheinander. Wenn ich die anzeige, werfen die noch mich ins Kittchen …«

Wütend starrte Tobias dem Alten hinterher.

»Dementer Opa, als hätte ich ihm geraten, ein Haus in Neukölln zu kaufen.«

Yıldız schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter.

»Ist schon gut, Toby, lass mal, übertreib nicht, der Mann ist alt. Aus seiner Sicht hat er berechtigte Gründe. In letzter Zeit ist es hier nicht mehr so nett.«

Trotz dieser Worte war auch Yıldız angespannt. Sie hatte mehr Erfahrungen mit dem Thema als Tobias. Rassismus war ihr schon begegnet, als sie früher mit den Nachbarskindern auf der Straße spielte. Zunächst war sie darüber sehr traurig gewesen, die Mitschüler hatten sie ausgegrenzt, sogar von ihrer Lieblingslehrerin hatte sie verdeckte Demütigung hinnehmen müssen. Ihr war zuerst gar nicht klar gewesen, warum ihr das angetan wurde. Wie traurig war sie gewesen, hatte stundenlang geweint, wollte nicht mehr zur Schule gehen, später dann entschied sie sich fürs Reden, diskutierte, beschwerte sich, vergaß sich sogar einmal und pflanzte ihrem Sitznachbarn die Faust ins Gesicht. Natürlich war sie dafür bestraft und von ihrem Vater heftig getadelt worden, und selbstverständlich änderte sich gar nichts, weder auf der Straße noch in der Schule. So erfuhr sie, dass es kein Mittel gegen Rassismus gibt. Ausländerfeindlichkeit glich einem Virus, das sich nicht ausrotten ließ. Bei der ersten Gelegenheit befiel es den Geist der Menschen. Aus diesem Grund war sie bei Deniz’ Geburt froh gewesen, dass ihr Sohn blonde Haare und dunkelblaue Augen hatte, ganz wie sein Papa. Als blonder Junge würde ihn niemand als Migranten diskriminieren. Deshalb nannten sie ihn auch Deniz, damit die Deutschen ihn problemlos Deniz nennen konnten. Das mit dem Namen funktionierte, aber keine drei Monate später waren seine Augen korinthenblau und ein Jahr später sein Haar dunkelblond. Schließlich verwandelte er sich in ein hübsches Kind mit heller Haut, dunkelblondem Haar und fast schwarzen Augen, ganz wie seine Oma. Insgeheim freute Yıldız sich, dass ihr Sohn ihrer Mutter ähnelte. Aber das hieß eben auch, dass Deniz sein Leben lang von Ausländerfeindlichkeit betroffen sein würde. Sie hoffte zwar, dass dieses soziale Krebsgeschwür überwunden war, wenn er groß war, doch die Realität sah anders aus. Von Tag zu Tag wurden die Rechten stärker. Das war erstaunlich. Dieses Land, das bedeutende Philosophen, Künstler und Wissenschaftler hervorgebracht und trotzdem selbst massiv unter Rassismus gelitten hatte, war nicht in der Lage, sich selbst zu schützen. Der Faschismus bedrohte die Gesellschaft weiterhin wie ein unaufhaltsames Virus. Wie gern hätte sie jetzt geraucht! Eine Zigarette anstecken, wie Tobias eben, in tiefen Zügen rauchen … Selbstverständlich tat sie es nicht. Sie spähte zur Wohnung von Cemal Ölmez hinüber. Hinter dem Fenster des Zimmers, in dem sie das Opfer gefunden hatten, bewegten sich Schatten.

»Kein leichter Job für die Spusi«, murmelte sie. »Der Mörder ist nach Plan vorgegangen. Offenbar ein Pedant. Wahrscheinlich hat er keine einzige Spur hinterlassen.«

Tobias lachte auf.

»Das hat Kurt auch gesagt, sie würden sich hier die Nacht um die Ohren schlagen und vom Zimmer des Opfers aus die Sonne aufgehen sehen …«

»Ich hab vollstes Vertrauen zu Kurt.« In Yıldız’ Miene spiegelte sich Respekt. »Er wird nach Kräften tun, was er kann. Komm, fahren wir und tun ebenfalls nach Kräften, was wir können.«

Yıldız wandte sich zur Fahrertür, ihr Assistent schaute ihr hinterher, als hätte er nicht verstanden. Doch er kam der Aufforderung nach und stieg ebenfalls ein. Flinker, als seine Statur erwarten ließ, saß er schon auf seinem Platz, als die Chefin einstieg.

»Wohin fahren wir?« Er lächelte seine Vorgesetzte an. »Zu Rafael?«

Yıldız ignorierte die Frage und rümpfte die Nase.

»Du stinkst immer noch verdammt nach Zigarette. Ich meine das ernst, Toby, hör auf zu rauchen oder rauch wenigstens nicht mehr in meiner Gegenwart.« Energisch wandte sie den Kopf ab und ließ den Wagen an. Von ihrem jungen Kollegen kam kein Ton. »Nein, mit Rafael reden wir morgen«, verkündete Yıldız und griff nach der Gangschaltung. »Jetzt schauen wir einmal in diesem Theater vorbei, dem Tartaros. Und sprechen mit Alex, dem Schlagzeuger und Liebsten des Opfers. Mal sehen, was er uns erzählt.«

»Na dann los«, erwiderte Tobias fröhlich, völlig unbeeindruckt von dem Rüffel, den er einstecken musste. »Ich war schon ewig nicht mehr im Theater.«

2

»Was du mir angetan hast, soll dir selbst geschehen.«

Ich fange da an, wo euer Vergessen eingesetzt hat. Ich fange ganz von vorne an, damit ihr es nie wieder vergesst, damit es euch nie wieder aus dem Kopf geht, damit ihr meine Existenz wie ein zweites Herz in eurem Körper spürt. Als es Titanen, Giganten, Götter, euch Menschen und die gesamte Schöpfung noch nicht gab, als die Erde noch nicht bereit für das Leben war, als das Licht noch nicht auf uns gefallen war … Von jener grandiosen Finsternis will ich euch erzählen, der fantastischen Unendlichkeit, dem phänomenalen Nichts.

Zu Beginn war die Finsternis, eine uferlose, endlose Dunkelheit ohne Anfang und ohne Ende, die alles und jeden umfing. In dieser Unendlichkeit schwamm das Leben. Uralt und ewiglich war die endlose Finsternis. Wolken schwebten, groß wie die Sonne, in Gelb, Blau, Rot und Grün; die Welten flossen ineinander, aus ihrem Zusammenprall entstanden Götter mit schönem Antlitz; es gab Explosionen, groß wie Sterne, ein wuterfüllter Aufschrei drang aus dem Herz der Finsternis. Mit Finsternis ist aber ein lebendiges Wesen gemeint, ein stöhnendes gigantisches Geschöpf, das in unerreichbaren Tiefen der Unterwelt lebte, und regte es sich, schimmerten die Schuppen auf seinem Rücken.

Diese Unendlichkeit war es, die Gaia gebar. Die Mutter meiner Mutter. Sie war es, die uns alle zur Welt brachte, die das im Unendlichen schwimmende Leben geschaffen hatte. Sie war der erkaltete Zustand des Feuers, der zu Fels wurde, vom zerschlagenen Fels zu Stein, vom zerkleinerten Stein zu fruchtbarer Erde. Heiß war Gaia, feucht und fruchtbar. Gebären war ihr Schicksal, unausweichlich. Sie schuf Uranos, den mächtigen, der sie befruchten würde. Den Herrn der leuchtenden Himmel, den Ursamen aller Samen, meines Vaters Vater, der kein Erbarmen kannte. Anschließend verwandelte Gaia die gesamte Erde in ein gigantisches Hochzeitslager. Denn für ein weibliches Wesen ist Begattung nicht bloß Begattung. Leidenschaft hat mit Schönheit, Zärtlichkeit und Güte zu tun. Darum schuf sie die Berge mit ihren verschneiten Gipfeln und lila Hängen, die von Ähren gefärbten fruchtbaren Ebenen, die von mächtigen Kiefern geschmückten tiefen Täler, die von Blumen gesäumten langen Flüsse, die munter glitzernden Meere. Und als das größte, das schönste, das bunteste, sauberste und herrlich duftende Lager in der Unendlichkeit bereitet war, rief sie Uranos. Und der unermessliche Himmel, der auf diesen Liebesruf gewartet hatte, senkte sich behutsam in Gaias Schoß und trieb voller Leidenschaft seine Zähne in den Hals des fruchtbarsten weiblichen Wesens aller Zeiten. Auf einmal lichtete sich die Finsternis, wandelte sich der Wind zu einem süßen Flüstern, schraubten sich mit zarten, doch zunehmend härteren Berührungen die Berge empor, begannen die Täler und Ebenen in nie gesehener Schönheit zu tanzen und verbreitete sich ein nie wahrgenommener wilder Duft. Und mein Großvater Uranos nahm all seine Kraft zusammen und regnete auf Gaia herunter. Auf diese Weise entstanden die zwölf Titanen, zu denen auch mein Vater gehörte, die Berge versetzenden einäugigen Zyklopen, die Giganten mit fünfzig Häuptern und einhundert Armen.