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Nominiert für den NDR Sachbuchpreis 2024
Ein Datum im Dienst der Politik
Zum 20. Juli 1944 scheint alles gesagt. Wir wissen, wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg die Bombe platzierte, warum der Anschlag misslang und dass es trotzdem aller Ehren wert ist. Dass aber in Wirklichkeit rund 200 Personen, ein breites Bündnis von Menschen aller sozialer Schichten und unterschiedlichster politischer Couleur am sogenannten »Stauffenberg-Attentat« beteiligt waren, ist nur wenigen bewusst. Noch heute gilt der 20. Juli 1944 als »Aufstand des Gewissens« einer kleinen Gruppe konservativer Militärs, noch heute verstellt diese legendenhafte Überhöhung unseren Blick auf die Ereignisse und die gesellschaftliche Vielfalt der Verschwörung. Die Journalistin Ruth Hoffmann unternimmt eine umfassende und längst überfällige Dekonstruktion des Mythos »Stauffenberg-Attentat« und zeichnet nach, wie der 20. Juli seit Gründung der Bundesrepublik politisch instrumentalisiert wird: mal um sich gegen die DDR abzusetzen und kommunistische Widerständler zu diffamieren; mal um Politikern, die mit dem NS-Regime kollaboriert hatten, eine Nähe zum Widerstand anzudichten; oder, wie neuerdings die AfD, um die eigene Demokratiefeindlichkeit mit einem angeblichen Widerstandsgeist in der Tradition Stauffenbergs zu kaschieren.
Das deutsche Alibi ist der profund recherchierte Beitrag zu einem schicksalhaften Datum, in dem sich bis heute das schwierige Verhältnis zu unserer eigenen Geschichte spiegelt. Nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis, den NDR Sachbuchpreis sowie den Sachbuchpreis der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS.
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Zum 20. Juli 1944 scheint alles gesagt. Wir wissen, wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg die Bombe platzierte, warum der Anschlag misslang, und dass er trotzdem aller Ehren wert ist. Dass in Wirklichkeit aber rund zweihundert Personen, ein breites Bündnis von Menschen aller sozialer Schichten und unterschiedlichster politischer Couleur am sogenannten »Stauffenberg-Attentat« beteiligt waren, ist nur wenigen bewusst. Noch heute gilt der 20. Juli 1944 als »Aufstand des Gewissens« einer kleinen Gruppe konservativer Militärs, noch heute verstellt diese legendenhafte Überhöhung unseren Blick auf die Ereignisse und die gesellschaftliche Breite der Verschwörung. Die Journalistin Ruth Hoffmann unternimmt eine umfassende und längst überfällige Dekonstruktion des Mythos »Stauffenberg-Attentat« und zeichnet nach, wie der 20. Juli seit Gründung der Bundesrepublik politisch instrumentalisiert wird: mal um sich gegen die DDR abzusetzen und kommunistische Widerständler zu diffamieren; mal um Politikern, die mit dem NS-Regime kollaboriert hatten, eine Nähe zum Widerstand anzudichten; oder, wie neuerdings die AfD, um die eigene Demokratiefeindlichkeit mit einem angeblichen Widerstandsgeist in der Tradition Stauffenbergs zu kaschieren.
Das deutsche Alibi ist der profund recherchierte Beitrag zu einem schicksalhaften Datum, in dem sich bis heute das schwierige Verhältnis zu unserer eigenen Geschichte spiegelt.
Ruth Hoffmann, geboren 1973, hat Ethnologie, Neuere Geschichte und Politik studiert und ist Absolventin der Henri-Nannen-Journalistenschule. Von 2004 bis 2006 war sie Redakteurin beim Stern, seitdem arbeitet sie als freie Journalistin u. a. für Geo, Stern, P. M. History und Spiegel Geschichte. Sie ist Mitbegründerin des Journalistenverbunds Plan 17 und von :Freischreiber, dem Berufsverband freier Journalistinnen und Journalisten. 2012 erschien ihr Buch Stasi-Kinder: Aufwachsen im Überwachungsstaat – über die Kinder hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
www.ruth-hoffmann.de
RUTH HOFFMANN
Mythos »Stauffenberg-Attentat« – wie der 20. Juli 1944 verklärt und politisch instrumentalisiert wird
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Originalausgabe Mai 2024
Copyright © 2024: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Eckard Schuster
Umschlag: Uno Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © CPA Media Pte Ltd / Alamy Stock Foto
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
EB ∙ CF
ISBN 978-3-641-30676-2V001
www.goldmann-verlag.de
Für alle, die nicht weggeschaut haben.
Ich möchte, dass man weiß, dass es keinen namenlosen Helden gegeben hat, dass es Menschen waren, die ihre Namen, ihr Gesicht, ihre Sehnsucht und ihre Hoffnungen hatten, und dass deshalb der Schmerz auch des letzten unter ihnen nicht geringer ist als der Schmerz des ersten, dessen Name erhalten bleibt.
Julius Fučík (1903–1943) Kommunistischer Widerstandskämpfer aus Prag, hingerichtet in Berlin Plötzensee am 8. September 1943
Einleitung
1. Friede mit den Tätern (1945–1952)1
Das große Verdrängen
2. Kalter Krieg um das Gedenken (1953–1959)
Die Grenze in den Köpfen
3. Vergessene Anfänge (1933–1938)
Die Nation im Taumel, die Gegner im KZ
4. Das gescheiterte Wunder (1939–1944)
Der lange Weg zum 20. Juli 1944
5. Erinnerungskampf (1960–1969)
Das Ende der Seelenruhe
6. Aufbruch (1969–1979)
Der Mut, Verantwortung zu übernehmen
7. Rolle rückwärts (1980–1989)
Die entsorgte Vergangenheit
8. Wiedervereint, wieder getrennt (1989–1993)
Die verpasste Chance
9. Kult der Gerechten (1994–1999)1
Der selbstgefällige Schlussstrich
10. Routiniertes Gedenken (2000 bis heute)
Der geplünderte Mythos
Dank
Anmerkungen
Empfehlungen zum Weiterlesen
Personenregister
Anfang Juli 1944 war alles verloren. Mehrere Anschläge auf Hitler waren gescheitert, die Rote Armee hatte bei Minsk die deutschen Stellungen durchbrochen, aus unzähligen deutschen Städten waren Trümmerwüsten geworden, und von Westen rollte der Vormarsch der Alliierten. Ob es jetzt überhaupt noch sinnvoll sei, das Risiko eines Staatsstreichs einzugehen, ließ Claus Schenk Graf von Stauffenberg seinen Mitstreiter Henning von Tresckow an der Ostfront fragen. Die Antwort kam postwendend: Das Attentat müsse erfolgen, koste es, was es wolle. »Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.«1
Das vielleicht berühmteste Zitat aus dem Umkreis des 20. Juli 1944 klingt so, als wäre es bereits an die Nachwelt gerichtet gewesen, und möglicherweise war es das sogar. Ob Tresckow es tatsächlich so gesagt hat, ist ungewiss, aber auch nicht wirklich relevant, denn fest steht, dass die Verschwörer danach gehandelt haben: Sie wussten, dass sich die Siegermächte auf keine Friedensbedingungen der Deutschen mehr einlassen würden, und waren sich darüber im Klaren, wie gering die Chancen standen, dass es ihnen überhaupt gelingen würde, das Regime zu stürzen. Trotzdem wagten sie es, setzten ihr Leben aufs Spiel und verloren.
Nach dem Krieg sollte es viele Jahre dauern, bis sie nicht mehr als »Landesverräter« galten. Schon daran lässt sich ablesen, wie gering ihr Rückhalt in der Bevölkerung gewesen war und was für eine einsame Entscheidung sie damals hatten treffen müssen. Neuesten Forschungen zufolge waren rund zweihundert Personen an der Planung des Umsturzversuchs beteiligt, zum weitverzweigten Netzwerk gehörten mehrere tausend2 – und doch waren die Widerstandskämpfer und -kämpferinnen unter den gut 65 Millionen Deutschen nur eine kleine Minderheit. Sie opferten sich für etwas, das die meisten ihrer Landsleute gar nicht wollten und selbst nach 1945 lange nicht zu schätzen wussten.
Wenn heute, als wäre es nie anders gewesen, am Jahrestag des gescheiterten Attentats Kränze niedergelegt und staatstragende Reden gehalten werden, täuscht diese Gedenkroutine über die Tatsache hinweg, dass das Bekenntnis hart erkämpft werden musste und auch unter Politikern lange alles andere als erwünscht gewesen ist. Denn der 20. Juli 1944 war immer ein schwieriges Datum und ein Stachel im Fleisch deutscher Selbstgewissheit – weil er das Märchen vom verführten Volk entlarvte, das von nichts gewusst habe, und weil er zeigte, dass es möglich gewesen wäre, sich anders zu verhalten. Das wollten sich nur die allerwenigsten eingestehen, als Alibi aber durften die Widerständler gern herhalten. Also machte man sie zu Kronzeugen für jenes »andere Deutschland« – dafür, dass nicht alle Deutschen Nazis gewesen waren. Das war nützlich für die Selbstdarstellung gegenüber dem Ausland und die Selbstvergewisserung nach innen.
Der 20. Juli 1944 eignete sich dafür besonders gut, weil er von Berufssoldaten, Politikern und hohen Verwaltungsbeamten getragen worden war. So konnten die alten Eliten rehabilitiert werden, die Hitlers Ernennung zum Reichskanzler erst ermöglicht und mehrheitlich begrüßt hatten. Dass der Widerstand gegen den Nationalsozialismus ursprünglich von Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten gekommen war, viele Jahre bevor die Bombe in der Wolfsschanze detonierte, geriet in der jungen Bundesrepublik weitgehend in Vergessenheit: Die konservativen Regierungen unter Bundeskanzler Konrad Adenauer, denen mehrere ehemalige NSDAP-Mitglieder angehörten, hatten eine andere Agenda.
Es galt, Millionen einstiger Parteigenossen, Staatsdiener und Mitläufer in die neue Demokratie zu integrieren. Mit dem 20. Juli 1944 als Ausweis deutscher Rechtschaffenheit konnte Adenauer die Wiederbewaffnung vorantreiben und die 1955 gegründete Bundeswehr später den Bruch mit der Wehrmacht reklamieren, obwohl sich ihr Personal bis ins Offizierskorps hinein aus der alten Hitler-Armee speiste. Auch die Hinwendung zum westlichen Staatenbündnis ließ sich damit ideologisch begründen, gerade in Abgrenzung zur DDR, wo das Gedenken an den kommunistischen Widerstand zur offiziellen Parteidoktrin gehörte.
Die zunehmende Heroisierung der »Männer des 20. Juli 1944« – Bundespräsident Theodor Heuss nannte sie 1954 den »christlichen Adel deutscher Nation« – ging darum mit der Abwertung des linken Widerstands und der Diffamierung von Emigranten wie Willy Brandt einher. Im Antikommunismus, der neben der Judenfeindschaft eine tragende Säule der NS-Ideologie gewesen war, fand die westdeutsche Gesellschaft auch nach dem Krieg eine einigende Klammer, auf die sich eine Mehrheit der Bevölkerung verständigen konnte. Und auch für diese Klammer lieferte der 20. Juli nach offizieller Lesart die nötige Legitimation.
Die CDU wusste diesen Umstand zu nutzen und beanspruchte schon in den 50er-Jahren das Erbe des Widerstands für sich. Aus Angst, wieder als »vaterlandslos« geschmäht zu werden, stimmten SPD-Politiker in die Hymnen über den »Aufstand des Gewissens« national-konservativer Militärs mit ein, anstatt an die mutigen Frauen und Männer aus ihren eigenen Reihen zu erinnern, die den Aufstieg der Nationalsozialisten von Anfang an bekämpft und deshalb zu deren ersten Opfern gezählt hatten.
Heute weiß darum kaum noch jemand, dass auch Sozialisten und Sozialdemokraten an der jahrelangen Vorbereitung des Staatsstreichversuchs beteiligt gewesen waren und die Verschwörer zuletzt sogar den Kontakt zum kommunistischen Untergrund gesucht hatten – Hitlers Lüge von der »ganz kleinen Clique« von Offizieren hat sich durchgesetzt. Das Bild des gut aussehenden Oberst Stauffenberg wurde zur Ikone, der 20. Juli 1944 zur Chiffre für den Widerstand schlechthin.
Selbst die Verwendung des Begriffes »Widerstand« unterlag über die Jahre der konservativen Deutungshoheit – sei es zur Diskreditierung der Studentenproteste 1968, als Ausdruck der Empörung über die Ostpolitik der sozialliberalen Regierung oder zur Abwehr jeglicher Kritik »von unten«. Helmut Kohl benutzte das Gedenken, um die von ihm postulierte »geistig-moralische Wende« auszuschmücken und die Abkehr von der Vergangenheitsbewältigung zu begründen. Neuerdings behaupten sogar die AfD und die Neue Rechte, in einer Traditionslinie mit der »Gruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg« zu stehen.
Ein ganzes Leben lang, schrieb Helmuth James von Moltke kurz vor seiner Hinrichtung, habe er »gegen den Geist der Enge und der Gewalt, der Unfreiheit, der Überheblichkeit, … der Intoleranz und des Absoluten, erbarmungslos Konsequenten angekämpft«, der in den Deutschen stecke und »seinen Ausdruck im nationalsozialistischen Staat gefunden hat«.3 Wie seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter starb er in der Hoffnung, dieser Geist werde eines Tages durch heilsamere Kräfte ersetzt oder zumindest gebannt. In den 80 Jahren, die seit dem Scheitern des versuchten Staatsstreichs vergangen sind, haben sich viele dieser guten Kräfte entwickelt. Eine geistige Revolution aber, wie sie der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in den fünfziger Jahren zu Recht gefordert hatte, blieb aus: Trotz fundamentaler Veränderungen im Außen war die »Stunde Null« kein radikaler Neuanfang im Innern. Die ersten Gesetze, die der eben konstituierte Deutsche Bundestag verabschiedete, waren bezeichnenderweise Amnestien für ehemalige Nationalsozialisten. Nicht die Täter waren in der Defensive, sondern die Opfer.
Indem Politiker aus dem 20. Juli 1944 eine Art Gründungsmythos der Bundesrepublik konstruierten, ließen sich viele unselige Kontinuitäten kaschieren. Und so mancher, der wegen seiner Vergangenheit allen Grund gehabt hätte, still zu sein, konnte sich ungeniert als großer Demokrat gerieren oder stellte sich gar in eine Reihe mit den ermordeten Widerstandskämpfern. Im Umgang mit dem 20. Juli spiegeln sich so über die Jahrzehnte die politischen Interessenlagen und gesellschaftlichen Bedingungen, aber auch das sich wandelnde Verhältnis zu unserer Vergangenheit. Die unterschiedlichen Phasen der Rezeption sind darum selbst Teil der deutschen Geschichte.
Wie wir das Ereignis »20. Juli« heute beurteilen, ist kein gesellschaftlicher Konsens, sondern das Produkt einer wechselvollen Entwicklung voller Widersprüche, empörender Vereinnahmungen und beschämender Versäumnisse. Dieses Buch zeichnet sie nach.
Das große Verdrängen
»Ob das Mittel, die Juden zu vergasen, das gegebene gewesen ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Vielleicht hätte es auch andere Wege gegeben, sich ihrer zu entledigen«2, erklärte der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Hedler (DP) bei einer Rede im November 1949. »Ich persönlich bezweifle, dass die Vergasung das Richtige war«, fügte er lächelnd hinzu, was bei seinen Zuhörern im Gasthof Deutsches Haus bei Neumünster für allgemeine Heiterkeit sorgte.3
Die Bundesrepublik Deutschland war damals noch nicht einmal ein halbes Jahr alt. Kanzler Konrad Adenauer (CDU) hatte eine Große Koalition mit der SPD abgelehnt und regierte stattdessen zusammen mit der FDP und der DP – der Deutschen Partei. Dass in beiden Fraktionen4 ehemalige Nationalsozialisten saßen, tat der Regierungsarbeit keinen Abbruch. Im Gegenteil: Bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung stießen rechtsnationale Ansichten damals nach wie vor auf Zustimmung: Allein 10 der 17 DP-Abgeordneten waren per Direktmandat in den Bundestag gewählt worden. Und mit Hans Globke hatte sich Adenauer sogar höchstpersönlich einen Mann als engsten Mitarbeiter ins Kanzleramt geholt, der maßgeblich an der Kommentierung der Nürnberger Rassegesetze beteiligt gewesen war – eine weitere Voraussetzung für die Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden. Die Verordnung, wonach jüdische Deutsche zur besseren Kenntlichmachung ab August 1938 die Vornamen Sara und Abraham führen mussten, entstammte ebenfalls Globkes Feder.5
Deutschland treffe »die geringste Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs«, tönte Hedler an jenem Novembertag, vier Jahre nach Kriegsende. »Schuld an unserem Elend tragen die Widerstandskämpfer.« An ihrem »Verrat« sei Deutschland zugrunde gegangen.6 Mit dieser Ansicht stand Hedler nicht allein da. Viele Deutsche sahen in den Akteuren des 20. Juli 1944 noch immer Verräter und machten sie mitverantwortlich für den verlorenen Krieg. Es war die zweite Dolchstoßlegende der deutschen Geschichte, und sie sollte sich noch bis weit in die 70er-Jahre halten.7
Im Januar 1950 musste sich Hedler für seine Äußerungen vor dem Landgericht Kiel verantworten. Die Staatsanwaltschaft legte ihm zur Last, das Andenken der Widerstandskämpfer mit Verleumdungen verunglimpft und »Angehörige der jüdischen Rasse« (sic!) beleidigt zu haben und forderte zehn Monate Haft. Die Liste der Nebenkläger las sich wie eine Aufzählung der größten Namen im deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus: Neben Überlebenden wie Gustav Dahrendorf und Hans Gisevius waren unter anderem die Angehörigen von Carl Goerdeler, Ernst von Harnack, Julius Leber, Henning von Tresckow, Adolf Reichwein, Friedrich Olbricht dabei.
Nach acht Verhandlungstagen sprachen die drei Richter, zwei davon ehemalige NSDAP-Parteigenossen, Hedler in allen Anklagepunkten frei. Eine jubelnde Menschenmenge erwartete den 50-Jährigen vor der Tür und geleitete ihn zu einer Gaststätte, wo er anschließend mit Parteikollegen und Gleichgesinnten seinen Sieg feierte.8 Der Freispruch war für Hedler auch deswegen ein Triumph, weil die Deutsche Partei ihn zuvor aus Angst um die Fortsetzung der Regierungsbeteiligung aus der Partei ausgeschlossen hatte. Ab sofort konnte es als juristisch legitimiert gelten, die Widerstandskämpfer des Verrats zu bezichtigen. Selbst unverhohlener Judenhass blieb ungesühnt.9
Die Empörung über das Urteil war groß, auch im Ausland. Jüdische Gemeinden äußerten ihr Entsetzen, Gewerkschafter versammelten sich zu Protestkundgebungen. In manchen Betrieben wurde gestreikt, etliche Ortsvereine der SPD forderten die Entlassung der Richter und eine Stellungnahme der Bundesregierung, weil das Urteil eine »nachträgliche Anerkennung der Verbrechen des Dritten Reiches« bedeute.10 Ein Großteil der Presse sah es ähnlich. Zugleich aber schlich sich eine Argumentationslinie in die vergangenheitspolitische Debatte, die für die nächsten Jahre typisch bleiben sollte: Man laufe Gefahr, im Eifer des Kampfes gegen den Nationalsozialismus »wieder mitten im Nationalsozialismus« zu landen, warnte etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der eigentliche »tiefe Grund der Beunruhigung« sei, dass von einem Gericht verlangt werde, einen Mann zu verurteilen, »nur weil er politisch gefährliche Ideen habe«.
Auch DieZeit verwies auf die Meinungsfreiheit und befand, die Justiz sei eben machtlos gegen einen Redner, der »erklärt, er könne keine Sympathie für die Juden empfinden« und »halte die Handlungsweise der Männer des 20. Juli für falsch«.11 Die Bundesregierung beließ es bei ein paar vagen Äußerungen. Justizminister Thomas Dehler (FDP) stellte sich sogar ausdrücklich vor die drei Richter, um die Unabhängigkeit der Justiz zu betonen.12
Am Tag der Urteilsverkündung brachte die SPD zwei Gesetzentwürfe ein: Das »Gesetz gegen die Feinde der Demokratie« sollte verhindern, dass im Namen der Meinungsfreiheit Verbrechen gerechtfertigt werden können, und sah unter anderem Haftstrafen für die Beleidigung von NS-Opfern und das Leugnen der »Verwerflichkeit des Völkermords oder der Rassenverfolgung« vor. Das »Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege« hätte sämtliche Urteile für nichtig erklärt, die auf politisch oder rassisch diskriminierenden NS-Gesetzen beruhten – also auch die Todesurteile des Volksgerichtshofs, denen Hunderte Frauen und Männer des Widerstands zum Opfer gefallen waren. Zugleich implizierte der Entwurf, dass der Widerstand gegen das »Dritte Reich« und den Krieg keinen Rechtsbruch darstellte.
Die Verabschiedung der beiden Gesetze wäre eine Chance gewesen, die erklärte antifaschistische Ausrichtung der Bundesrepublik festzuschreiben und sich unmissverständlich gegen nationalsozialistische Wiedergänger wie Hedler abzugrenzen. Eine Chance, das NS-Regime als Unrechtsstaat einzuordnen, die Urteile seiner Gerichtsbarkeit aufzuheben und den Widerstand zu legitimieren. Doch es kam nicht dazu: Nach mehreren hitzigen Debatten im Bundestag und anderthalb Jahren politischem Gezerre wurden die Entwürfe schließlich vom Rechtsausschuss begraben.13 Die politischen Schwerpunkte der jungen Republik lagen eben woanders, und das von Anfang an.
Schon in der konstituierenden Sitzung des ersten Bundestags am 7. September 1949 wurde offenbar, wie schwer es werden würde, bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, denn im Plenarsaal des Bundeshauses in Bonn waren die unterschiedlichsten Parteigänger versammelt: ehemalige Widerstandskämpfer, Soldaten und Nazis, Mitläufer, KZ-Häftlinge, Konservative und Kommunisten. Die einen wollten die Vergangenheit aufarbeiten, die anderen am liebsten vergessen, wieder andere sie in besserem Licht erscheinen lassen. Alterspräsident Paul Löbe (SPD) wurde mehrfach durch Zwischenrufe unterbrochen, als er in seiner Eröffnungsrede von einem »Riesenmaß von Schuld« sprach und daran erinnerte, dass die letzte frei gewählte Volksvertretung im März 1933 ihre eigene Abschaffung beschlossen und nur die Fraktion der Sozialdemokraten gegen das »Ermächtigungsgesetz« gestimmt hatte. »Auch von anderen Parteien sind Opfer gebracht worden; wir wollen keine Rechnungen aufmachen!«, lautete ein Einwurf von rechts.14
In einem zumindest war man sich einig und wusste sich dabei im Einklang mit den Wählerinnen und Wählern: Es sollte endlich Schluss sein mit der »Siegerjustiz« und dem als pauschal empfundenen Schuldvorwurf der Alliierten, Schluss mit der demütigenden Umerziehung und den politischen Säuberungen. Es war also nicht der demokratische Neuanfang, den sich viele ehemalige Regimegegner von der Gründung der Bundesrepublik erhofft hatten: Wichtiger als die Distanzierung von der Vergangenheit war die Integration ehemaliger Nationalsozialisten, insbesondere der 8,5 Millionen Parteimitglieder.15 Denn das Heer der ehemals Angepassten stellte die Mehrheit und verlangte den großen Schlussstrich. Keine Partei konnte es sich leisten, das zu ignorieren. Quer durch alle Fraktionen herrschte Einigkeit, dass mindestens die Entnazifizierungsmaßnahmen schnell ein Ende haben müssten.16
Adenauer schlug bei seiner Regierungserklärung zwei Wochen später denn auch ganz andere Töne an als Löbe und spendete Labsal für die geschundene deutsche Seele: Krieg und Nachkriegswirren hätten harte Prüfungen gebracht, weshalb man für manche Verfehlungen einfach Verständnis haben müsse. Die »wirklich Schuldigen« gehörten natürlich bestraft, die Unterscheidung zwischen »politisch Einwandfreien« und »Nichteinwandfreien« aber müsse »baldigst verschwinden«. Die Bundesregierung sei daher entschlossen, »Vergangenes vergangen sein zu lassen«. Zu den Opfern, namentlich den jüdischen, verlor er kein Wort.17
Das übernahm anschließend zwar Oppositionsführer Kurt Schumacher (SPD), bezeichnenderweise aber nahm auch er die Deutschen nicht direkt in Haftung: »Die Hitlerbarbarei hat das deutsche Volk durch Ausrottung von sechs Millionen Juden entehrt.« An den Folgen »werden wir unabsehbare Zeiten zu tragen haben«.18 Selbst ein entschiedener Nazigegner wie Schumacher, der von 1933 bis Kriegsende fast ununterbrochen in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen war, wagte es nicht, die Dinge beim Namen zu nennen. Selbst er entlastete die Deutschen mit der Deutung, sie seien Opfer einer dämonischen »Hitlerbarbarei« geworden.
In jenen ersten Reden im frisch gewählten Parlament zeigte sich also bereits, was die bundesdeutsche Politik in den kommenden Jahren leiten würde: nicht das Bemühen um die Überlebenden des NS-Terrors und die Hinterbliebenen der Millionen Ermordeten, sondern die Rehabilitierung ehemaliger Nazis, gleich ob Mitläufer oder Massenmörder. Kurz: der Friede mit den Tätern und die moralische Entlastung einer ganzen Gesellschaft.19
Schon in seiner siebten Sitzung20 beriet das Kabinett über ein umfangreiches Amnestiegesetz und brachte es gegen vehemente Einwände der Alliierten innerhalb weniger Wochen durchs Parlament. Es amnestierte Delikte, die vor der Wahl Adenauers zum Bundeskanzler am 15. September 1949 begangen worden waren und mit bis zu einem Jahr Gefängnis geahndet werden konnten. »Wir haben so verwirrte Zeitverhältnisse hinter uns, dass es sich empfiehlt, generell tabula rasa zu machen«, kommentierte Adenauer den Entwurf. Gedacht war das Gesetz vornehmlich für Bürgerinnen und Bürger, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit, meist aus der Not heraus, straffällig geworden waren. Weil bei der Formulierung aber auf jede Einschränkung verzichtet wurde,21 kam es auch NS-Tätern zugute – ein Umstand, der bis zuletzt von keinem Parlamentarier zur Sprache gebracht wurde.22
Am 31. Dezember 1949 verabschiedete der Bundestag einstimmig das »Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit« – nach dem drei Tage zuvor beschlossenen »Notopfer Berlin« das zweite Gesetz der jungen Bundesrepublik. Mehrere zehntausend NS-Täter – genaue Zahlen gibt es nicht – konnten sich nun als rehabilitiert betrachten. Einschließlich derer beispielsweise, die in der Pogromnacht vom 9. November 1938 gewütet hatten, denn die Amnestie galt auch für Fälle von Freiheitsberaubung, Amtsvergehen, Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge.23 Die sogenannten »Illegalen«, für die sich besonders die Deutsche Partei starkgemacht hatte, konnten sich ebenfalls freuen: ehemalige Nationalsozialisten, die sich der Strafverfolgung entzogen hatten, indem sie unter falschem Namen untergetaucht waren. Sie mussten nun nicht mehr fürchten, für ihr Versteckspiel belangt zu werden. Das Entnazifizierungsverfahren, das sie allenfalls noch erwartete, war zu diesem Zeitpunkt schon kaum noch mehr als eine Formalie.24
Über diese juristischen Kollateralschäden schwieg man in Bonn jedoch geflissentlich. Das »Straffreiheitsgesetz« sollte vor allem ein deutliches Signal sein, dass die Regierung im Umgang mit der Vergangenheit von nun an souverän handeln, die sogenannten »Kriegsfolgelasten« beseitigen und dem Volkswillen nach einem Ende der politischen Säuberungen nachkommen würde.25
Unter diesen »Kriegsfolgelasten« verstand man auch die von alliierten Gerichten Verurteilten, die in Spandau,26 Landsberg, Werl und Wittlich ihre Haftstrafen absaßen oder auf ihre Hinrichtung warteten: SS-Männer, Parteifunktionäre, KZ-Personal, Kommandeure von Einsatzgruppen, Industrielle, die Zwangsarbeiter eingesetzt hatten, und Wehrmachtsangehörige, die wegen Kriegsverbrechen im Sinne der Haager Konvention verurteilt worden waren.27 Obwohl die Westalliierten viel Mühe darauf verwandt hatten, die Verfahren zu einem Lehrstück in Rechtsstaatlichkeit zu machen, den Angeklagten ihre Taten dezidiert nachzuweisen und sie individuell zur Rechenschaft zu ziehen, hielt sich unter den Deutschen hartnäckig die Erzählung, die Besatzer gingen von einer Kollektivschuld aus und fällten ungerechte Pauschalurteile.28
Die Zahl der Inhaftierten war klein – erst recht im Verhältnis zu den 18 Millionen ehemaliger Soldaten – und nahm dank großzügiger Begnadigungen stetig ab, zu denen man die Amerikaner im Laufe der Zeit nötigte. Schon 1951 saßen nur noch knapp 1800 Personen in den Gefängnissen der Westalliierten. Trotzdem blieben sie wie die Spruchkammern Symbole vermeintlicher »Siegerjustiz«, während die Inhaftierten in den Augen der Deutschen zu Galionsfiguren des Widerstands gegen die Besatzer avancierten.29 So demonstrierten Anfang Januar 1951 Tausende Landsberger gegen die Todesstrafe für die 28 Kriegsverbrecher, die in der dortigen Justizvollzugsanstalt auf ihre Hinrichtung warteten. Selbst Stadtverordnete und Mitglieder des Landtags beteiligten sich an dem Protest. Der damalige CSU-Bundestagsabgeordnete und spätere Bundesjustizminister und Bundestagsvizepräsident Richard Jaeger nannte die Urteile bei seiner Ansprache auf dem Marktplatz »unchristlich«.30
Zu den Häftlingen, denen diese kollektive Nächstenliebe galt, gehörte der ehemalige Einsatzgruppenchef Otto Ohlendorf. Im September 1941 hatte er SS-Führer Heinrich Himmler aus der Ukraine gemeldet, das Arbeitsgebiet seines Kommandos sei »judenfrei gemacht« worden. Insgesamt habe man 17 315 Juden und Kommunisten exekutiert, zurzeit löse man nun die Judenfrage in Nikolajew und Cherson.31 Männer wie Ohlendorf verdankten ihr Leben nicht zuletzt dem Beharrungsvermögen beider Kirchen, deren Vertreter sich schon seit 1946 für die Freilassung solcher Häftlinge einsetzten.32 Im Schulterschluss mit den Verteidigern aus den Nürnberger Prozessen entstand mit der Zeit eine mächtige Lobbygruppe, der sich immer mehr Organisationen und Engagierte anschlossen, um die Regierung dazu zu bringen, die alliierten Strafverfolgungen zu stoppen.33 Mit Erfolg: Auf der politischen Agenda der Bundesrepublik stand die »Lösung des Kriegsverbrecherproblems« von Anfang ganz oben. Im von Altnazis durchsetzten Auswärtigen Amt sprach man passenderweise von »Endlösung«.34
Noch im Dezember 1949 beschloss der Bundestag die Einrichtung einer »Zentralen Rechtsschutzstelle« (ZRS) des Bundes, die sicherstellen sollte, dass jedem »bei den Westmächten einsitzenden Deutschen«35 die bestmögliche Verteidigung zuteilwurde. Zum Vergleich: Das erste bundeseinheitliche, gleichwohl völlig unzureichende Entschädigungsgesetz gab es erst 1953;36 die »Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« in Ludwigsburg wurde erst 1958 eingerichtet.37 Die ZRS hingegen nahm schon im März 1950 in Bonn ihre Arbeit auf. Leiter wurde der Jurist Hans Gawlik, ehemals NSDAP-Mitglied und bis 1945 als Staatsanwalt am Sondergericht Breslau mit der Verurteilung von Regimegegnern befasst. Für den Führungsjob in der Rechtsschutzstelle empfahl ihn sein Einsatz in Nürnberg, wo er unter anderem den Lagerarzt des KZ Buchenwald, Waldemar Hoven, verteidigt hatte.38
Die ZRS betreute schon Mitte 1950 fast 3000 inhaftierte Deutsche. Um die Kriegsgefangenen im Osten kümmerten sich weiterhin das Evangelische Hilfswerk und das Deutsche Rote Kreuz, die dafür ebenfalls üppig mit Bundesmitteln ausgestattet wurden.39 Angeblich galt das Bemühen den sogenannten Kriegsverurteilten, die, wie es hieß, für die Niederlage des Dritten Reiches büßen mussten. Tatsächlich aber entwickelte sich die ZRS unter Gawlik zu einer Rettungsorganisation für inhaftierte und gesuchte NS-Verbrecher, die mit ihrer Hilfe rehabilitiert oder vor einer drohenden Verhaftung gewarnt wurden.40 Wie die Historiker Manfred Görtemaker und Christoph Safferling in ihrer Studie zur NS-Belastung des Bundesjustizministeriums (BJM)41 nachwiesen, geschah das mit Wissen und Billigung Adenauers und des Bundesjustizministers, dem die Rechtsschutzstelle zuerst unterstellt war. 1953 wurde sie ins Auswärtige Amt überführt, wo sie ihre Arbeit ungehindert fortführen konnte.42
»Die Deutschen scheinen ganz einfach kein politisches Gewissen zu haben«, konstatierte ein Mitarbeiter der Abteilung »Psychologische Kriegsführung« der US-Armee kurz nach dem Krieg. Sein Stab hatte zusammen mit Hollywood-Regisseur Billy Wilder im Winter 1945/46 den Film Todesmühlen in die deutschen Kinos gebracht – eine 20-minütige Dokumentation über das System der Konzentrationslager, mit Aufnahmen der Leichenberge, der Krematorien und der fast verhungerten Überlebenden, wie sie die Amerikaner bei der Befreiung der Lager vorgefunden hatten. Die Deutschen sollten zum Nachdenken gezwungen und gegen das Wiedererstarken nazistischer Kräfte immunisiert werden.
Anders als befürchtet, zeigten die Reaktionen während der Vorführungen, dass die Besucher weder die Authentizität des Materials noch die dargestellten Fakten anzweifelten. Für die dokumentierten Verbrechen aber fühlten sie sich in keiner Weise verantwortlich.43 Diese Gräuel, so die einhellige Meinung, gingen allein auf das Konto der NS-Führung.44 Billy Wilder erzählte später die Episode, dass den Zuschauern bei Testvorführungen von Todesmühlen Papier und Bleistifte ausgeteilt wurden mit der Bitte, ihre Gedanken und Eindrücke festzuhalten. Als die US-Offiziere dann hinterher voller Erwartung zu den Sitzen stürzten, waren die Bleistifte weg und die Zettel leer.45
»Wenn man sie so hört, muss man glauben, dass der einzige Nazi in Deutschland Adolf Hitler gewesen ist«, bemerkte Kurt Schumacher über seine Landsleute bitter.46 Die amerikanischen Besatzungskräfte zogen ein ähnliches Fazit und mussten sich bald eingestehen, dass sich Deutschland durch eine aufgezwungene politische Säuberung nicht über Nacht in eine aufgeklärte und selbstkritische Demokratie verwandeln würde. General Eisenhower hatte die Zeit, die es brauchen würde, »die Nazis umzuerziehen« und die Entnazifizierung abzuschließen, 1945 auf mindestens 50 Jahre geschätzt. Schon ein Jahr später zeichnete sich ab, dass er damit nicht zu hoch gegriffen hatte:47 Allein die Auswertung der vielen Millionen Fragebogen war ein enormer administrativer Aufwand und ohne Unterstützung durch einheimisches Personal nicht zu schaffen. Hinzu kam die Mischung aus Trotz und Unverständnis, mit der die meisten Deutschen der Entnazifizierung begegneten. Von den Westalliierten hatte man sich die Wiederherstellung geordneter Verhältnisse erhofft, kein »moralisches Strafgewitter«.48
Besonders die Amerikaner gingen bei der politischen Säuberung streng vor, während Briten und Franzosen vor allem auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau setzten, um die Besatzungskosten zu reduzieren – ihre Länder waren ja selbst noch vom Krieg gezeichnet.49 Bei den Deutschen verstärkte die unterschiedlich strenge Entnazifizierungspraxis das Gefühl, Opfer willkürlicher Rechtsprechung zu sein. Die Empörung darüber, vermeintlich kollektiv der Mittäterschaft bezichtigt zu werden, schloss die Reihen und ließ die Säuberungsbemühungen schnell ins Leere laufen. Deren Glaubwürdigkeit hatte ohnehin früh infrage gestanden, weil die Besatzer die Bearbeitung der leichter zu entscheidenden Fälle vorzogen, um der schieren Flut Herr zu werden. Das hatte zur Folge, dass ausgerechnet Schwerbelastete zunächst unbehelligt blieben und am Ende meist gar nicht mehr belangt wurden.50 Hatte es für die Prozesse von Nürnberg anfangs noch Zustimmung gegeben, weil dort die »wirklich Schuldigen« auf der Anklagebank saßen, nahm sie im Laufe der Folgeprozesse stetig ab und verwandelte sich schließlich in Solidarität mit ausnahmslos allen »Opfern der Siegerjustiz«.51
Man hatte ohnehin andere Sorgen: Hunderttausende Männer waren gefallen oder in Kriegsgefangenschaft; aus dem Osten strömten Millionen Heimatvertriebene ins Land, obwohl schon für die ausgebombten Einheimischen nicht genug Wohnraum vorhanden war. Es fehlte an Lebensmitteln, Medikamenten, Kohle zum Heizen und Baumaterial, um die verwüsteten Städte wiederaufzubauen. Den Deutschen ging es um die Bewältigung der Gegenwart, nicht um Politik und schon gar nicht um den Blick zurück auf Schuld und Mitverantwortung. »Wenn einer glaubt …, das Malheur im eigenen Lande und der Anblick einer solchen Verwüstung würde die Menschen zum Denken bringen, … so kann er sich davon überzeugen, er hat sich geirrt«, schrieb Alfred Döblin. »Hier lebt unverändert ein arbeitsames, ein ordentliches Volk. Sie haben, wie immer, einer Regierung, so zuletzt dem Hitler, pariert und verstehen im Großen und Ganzen nicht, warum Gehorchen diesmal schlecht gewesen sein soll. Es wird viel leichter sein, ihre Städte wieder aufzubauen, als sie dahin zu bringen, zu erfahren, was sie erfahren haben, und zu verstehen, wie es kam.«52
Das wollte in der Tat niemand: Die Entnazifizierung galt als »Nürnberg des kleinen Mannes«53 und wurde fast durchgehend abgelehnt. Das von Hitler verführte und »von einer kleinen verbrecherischen Minderheit tyrannisierte« deutsche Volk werde nun in die »Tragödie des Fragebogens« gestürzt, hieß es etwa in einer warnenden Denkschrift aus Baden-Württemberg. Überall sei bereits zu hören, dass es jetzt »noch schlimmer sei als bei den Nazis«.54
Bis August 1945 hatten die Amerikaner jede dritte Führungskraft entlassen, weil sie der NSDAP oder ihren Massenorganisationen angehört oder im »Dritten Reich« öffentliche Funktionen ausgeübt hatte. In manchen Gegenden war der öffentliche Dienst dadurch praktisch nicht mehr arbeitsfähig: An den Schulen fehlten Lehrer, in den Ämtern Sachbearbeiter, in der Justiz Richter,55 und in den Betrieben machten sich die Lücken ebenfalls schnell bemerkbar. Fast die ganze »administrative und wirtschaftliche Intelligenz des Landes war in der Nazipartei«, beschrieb ein US-Offizier das Dilemma. Nur könne man nun einmal »nicht Eisenbahnen mit Ladengehilfen betreiben und Fabriken von Schuhputzern leiten lassen«.56 Entnazifizierung oder Wiederaufbau – mit einer Bevölkerung, die dem »Führer« bis zuletzt mehrheitlich die Treue gehalten hatte, war offenbar nur das eine oder das andere möglich.
Zum Erstaunen der Alliierten interessierten sich die Deutschen nicht einmal für die Verurteilung der NS-Größen und Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg, obwohl sie diesen doch die Schuld an allem gaben. Es scheine fast, als ginge sie das alles nichts an, schrieb die Journalistin und frühere Widerstandskämpferin Ruth Andreas-Friedrich. »Weder die Verbrechen noch die Verbrecher, weder die Schuld noch die Strafe.«57 Obwohl viele Zeitungen ausführlich über die Prozesse und die Anklagepunkte berichteten, blieb das Echo in der Bevölkerung gering – die erste große Ernüchterung für Remigranten wie Erika Mann oder Willy Brandt, die voller Hoffnung auf einen politischen Neuanfang nach Deutschland zurückgekehrt waren.58
Doch selbst bei vielen NS-Gegnerinnen und Gegnern, die in Deutschland überlebt hatten, war der Wunsch nach Abrechnung mit den Tätern von der Not des Alltags und den neuen Gewalttaten nach dem Zusammenbruch überdeckt worden. »Wie kann man mit vergangenen Sünden abrechnen, wenn jeder Augenblick randvoll ist mit neuen?«, heißt es bei Ruth Andreas-Friedrich. »So haben wir unsere Chance verpasst und die Stoßkraft unseres Zorns abgenutzt.«59
Schon im Frühjahr 1946 legten die Amerikaner die politischen Säuberungen mit dem »Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus« in die Hände der deutschen Lizenzpolitiker in den Ländern. Die allerdings bemühten sich nach Kräften, das »Befreiungsgesetz« so großzügig wie möglich auszulegen, um die betroffenen Bürgerinnen und Bürger schnell durch die Spruchkammerverfahren zu bringen und so aus dem Berufsverbot herauszuholen.60 Die Verfahren wurden dadurch mehr und mehr zur Farce: Um die eigene Vergangenheit in gutem Licht erscheinen zu lassen, war jeder bestrebt, sich als unpolitisch oder gar als Gegner des Nationalsozialismus darzustellen, und ließ sich das von Entlastungszeugen aus seinem Umfeld bestätigen. Für jeden Fall wurden im Schnitt zehn solcher Zeugnisse eingereicht, 90 Prozent davon aus privatem Umfeld – die Spruchkammern erstickten unter Papierlawinen. Allein in der US-Zone kamen insgesamt 2,5 Millionen »Persilscheine« zusammen, wie die Erklärungen bald hießen. Stramme Parteigenossen von einst, Gestapobeamte, SA- und SS-Männer bescheinigten sich mit ihnen gegenseitig ihre Unschuld.61
Auch die Kirchen stellten eifrig Entlastungsschreiben aus, machten öffentlich Front gegen die »neue Verfolgung« und riefen zum Boykott auf. In Bayern zirkulierte ein Handbuch für Geistliche, mit Hinweisen, wie man es anstellen musste, um vor den Spruchkammern zugunsten von Gemeindemitgliedern auszusagen.62 Das System, ursprünglich dafür gedacht, Schuldige haftbar zu machen, hatte sich in sein Gegenteil gekehrt und war zu einer gigantischen »Rehabilitierungsmaschine« geworden, wie es der Historiker Lutz Niethammer ausdrückt. Selbst in der amerikanischen Zone, wo die Behörden nach Sichtung der Fragebogen rund zwei Drittel der Bevölkerung als belastet eingestuft hatten, wurde schon in erster Instanz fast die Hälfte zu »Mitläufern« erklärt. Am Ende galt nicht einmal jeder Hundertste als schuldig oder belastet, und selbst diese Gruppe konnte in der Regel damit rechnen, von der »Mitläuferfabrik«63 (Niethammer) nach einiger Zeit entlastet zu werden.64
In diesem Großprojekt kollektiver Selbsttäuschung war kein Platz für die Würdigung des Widerstands. Schließlich hätte das bedeutet, sich einzugestehen, dass man zwischen 1933 und 1945 auch anders hätte handeln können. Dazu konnte sich die Mehrheit der Deutschen aber nicht durchringen. Vom »anderen Deutschland«, das ihnen zum Beispiel die Dichterin Ricarda Huch mit einer Sammlung von Porträts aus dem Widerstand nahezubringen versuchte, wollten sie nichts wissen. Zu sehr hätten die Lebensbilder von Dietrich Bonhoeffer, den Scholl-Geschwistern, oder Mildred und Arvid Harnack die wohlfeile Selbstdeutung vom verführten Volk infrage gestellt. Und einen »Schatz«, der sie »mitten im Elend noch reich macht«, wie Huch schrieb,65 sahen die Deutschen in diesen Menschen erst recht nicht.
Im Gegenteil: In einer von der Regierung in Auftrag gegebenen Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie verurteilten im Sommer 1951 noch immer 30 Prozent der Westdeutschen das Attentat auf Hitler. Noch einmal so viele hatten keine Meinung dazu oder wussten nichts darüber. Lediglich 40 Prozent äußerten sich positiv über »die Männer vom 20. Juli«. Beunruhigt schrieben die Meinungsforscher: »Beinahe die Hälfte aller Leute, die über den 20. Juli mitreden können, sagten über die Verschwörer nur Nachteiliges, vor allem, dass es sich um Verräter handele … Weiter wird ihnen Feigheit vorgeworfen, gelegentlich auch Egoismus.«66 Unter den ehemaligen Berufssoldaten war der Zorn auf die Widerstandskämpfer besonders groß: Ganze 59 Prozent beurteilten sie negativ.67 Es sei nicht von der Hand zu weisen, heißt es in der Studie, dass in dieser Gruppe »in höherem Maße Bindungen an den Nationalsozialismus« vorhanden seien, die nun »wieder zum Vorschein kommen«. Gerade der Umstand, »dass das negative Echo des Attentats auf Hitler im Kreise der Berufssoldaten ungewöhnlich stark ist«, zeige, »dass die ablehnende Version von einer aktiven Bevölkerungsschicht geteilt und gegebenenfalls auch verbreitet wird«.68
Das wurde sie in der Tat. Über Partei-, Alters- und Gesellschaftsschichten hinweg hielten die Forscher Äußerungen wie diese fest: »Landesverräter, die uns in höchster Gefahr in den Rücken fielen«, »feige Lumpen«, »durch eine feindliche Kriegspropaganda von außen bezahlte und verhetzte Elemente« oder »Das waren in Deutschlands schwerster Stunde die größten Verbrecher und müssten heute noch, soweit sie leben, bestraft werden.«69 Die Ergebnisse der Untersuchung sollten »zu ernsten politischen Überlegungen« führen, mahnten die Wissenschaftler.70
Das Wort »Entnazifizierung« werde eines Tages verschwinden, wenn »der Zustand, den es beenden sollte, nicht mehr vorhanden ist«, hatte der Romanist Victor Klemperer 1946 prophezeit. Bis dahin werde es aber noch »eine ganze Weile« dauern, denn dazu müssten auch »die nazistische Gesinnung, die nazistische Denkgewöhnung und ihr Nährboden: die Sprache des Nazismus« verschwinden.71 Dass alle drei noch sehr gegenwärtig waren, zeigte sich schon lange: Bei der Regionalwahl in Niedersachsen am 6. Mai 1951 war die Sozialistische Reichspartei (SRP), 1949 als Nachfolgerin der NSDAP gegründet, mit elf Prozent und vier Direktmandaten in den Landtag von Hannover eingezogen.72
Ihr populärstes Zugpferd, Otto Ernst Remer, füllte landauf, landab die Säle mit seiner eigenen Heldengeschichte vom 20. Juli 1944: Als Kommandeur des Wachbataillons »Großdeutschland« war er an der Niederschlagung des Umsturzversuchs beteiligt gewesen und dafür von Hitler persönlich zum Generalmajor befördert worden. Nun prahlte er unter donnerndem Beifall, es sei seinem beherzten Eingreifen zu verdanken, dass die »Eidbrecher« gestoppt werden konnten.73 Sie seien vom Ausland bezahlte Landesverräter gewesen und schuld am verlorenen Krieg. Sie hinzurichten, sei daher völlig richtig gewesen: »Ich hätte die Leute auch erschossen.«74 Viele von ihnen hätten die anderen verraten, als ihr Vorhaben schiefgegangen sei und bekämen heute »große Staatspensionen«.75 Eines Tages aber würden sie sich vor einem deutschen Gericht zu verantworten haben, tönte Remer bei einer Wahlkampfveranstaltung in Braunschweig. Die Zeit werde kommen, da man schamhaft verschweige, zum 20. Juli gehört zu haben.76
Diese Zeit war längst da: Sich als ehemaliger Widerstandskämpfer zu erkennen zu geben, war in weiten Kreisen der Gesellschaft alles andere als opportun. Auch die Witwen der Hingerichteten bekamen die Ablehnung zu spüren, ihre Kinder wurden in der Schule als »Verräterkinder« beschimpft. Von großen Staatspensionen konnte erst recht nicht die Rede sein: Weil Rentenansprüche oft nicht anerkannt und die ohnehin geringen Entschädigungszahlungen mit massiven bürokratischen Hürden versehen waren, herrschte in den meisten Familien bittere Not. Gleich nach dem Krieg hatte darum der Jurist Fabian von Schlabrendorff zusammen mit anderen Überlebenden das »Hilfswerk 20. Juli« gegründet, das die Familien der Ermordeten finanziell und juristisch unterstützen sollte, wobei das nötige Geld mühsam über private Spender zusammengekratzt werden musste.77
Von bundesdeutschen Behörden jedenfalls war keine Hilfe zu erwarten: »Ihr Mann, der ehem. Oberst Graf von Marogna-Redwitz, ist laut Urteil des Volksgerichtshofs vom 19.10.44 wegen Hoch- und Landesverrat zum Tode verurteilt worden«78, las dessen Witwe Anna in einem Schreiben der Oberfinanzdirektion München. Mit diesem Tage sei das Recht auf Fürsorge und Versorgung erloschen. Das vor anderthalb Jahren bewilligte Unterhaltsgeld von 160 Mark stünde ihr also nicht zu, die Zahlungen würden mit sofortiger Wirkung eingestellt.
Dieselbe Stelle belehrte Elisabeth Wagner, Witwe des Artilleriegenerals und Mitverschwörers Eduard Wagner, dass »eine Wiedergutmachung« für sie »überhaupt nicht in Frage« komme, da ihr Ehemann »überhaupt kein nationalsozialistisches Unrecht erlitten« habe, »er hat sich vielmehr selbst erschossen und ein evtl. nationalsozialistisches Unrecht nicht abgewartet«. Ihr Antrag auf Witwenrente, eingereicht im April 1948, wurde nach mehr als vier Jahren Bearbeitungszeit im Oktober 1952 ebenfalls abgelehnt: »Die Teilnahme an der Widerstandsbewegung« habe nicht militärischen, sondern »politischen Zwecken« gedient, hieß es in der Begründung, und könne darum »nicht als militärischer oder militärähnlicher Dienst angesehen werden«. Noch deutlicher wurde das Versorgungsamt München, als es den Antrag der Witwe auf Hinterbliebenenversorgung abwies: Diese könne nur Personen gewährt werden, die durch ihren Militärdienst oder durch »mittelbare Kriegseinwirkung zu Schaden gekommen sind«. Bei ihrem Mann sei »die Ursache des Todes« aber die »Teilnahme an der Widerstandsbewegung, die einen politischen Zweck, nämlich die Beseitigung des damaligen Regimes, verfolgte«.79
Wer dem »Dritten Reich« hingegen bis zuletzt gedient hatte, für den sorgte auch der demokratische Nachfolgestaat: Im April 1951 verabschiedete der Bundestag ohne Gegenstimme ein Gesetz, das allen Beamten, Angestellten und Berufssoldaten, die nach dem Krieg aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden waren, die Wiedereinstellung garantierte und ihnen und ihren Angehörigen Pensionsansprüche gewährte. Damit kam das Parlament dem Auftrag des Grundgesetzes nach, das den Gesetzgeber in § 131 GG verpflichtete, die »Rechtsverhältnisse« der Angestellten des öffentlichen Dienstes zu regeln, die noch nicht »ihrer früheren Stellung entsprechend« wiedereingestellt worden waren. Der Paragraf ging maßgeblich auf das Betreiben der Deutschen Partei zurück, die sich schon 1948 beim Parlamentarischen Rat dafür eingesetzt hatte, und kam allen Staatsbeschäftigten zugute, die 1945 ihre Posten verloren hatten – sei es, weil ihre Dienststellen in den besetzten Gebieten oder den Ostprovinzen aufgelöst wurden oder weil sie als ehemalige Nationalsozialisten aus ihren Ämtern entfernt worden waren.80
Dank konzertierter Lobbyarbeit von Deutscher Partei und Interessenverbänden wuchs die Zahl der zu dieser Gruppe Gehörigen im Laufe der Zeit auf rund 430 000 – einschließlich ihrer ebenfalls versorgungsberechtigten Angehörigen sogar auf etwa 1,3 Millionen Personen an. Da die Beamtenschaft des »Dritten Reiches« überwiegend aus Parteimitgliedern bestanden hatte, war ein Großteil der »131er« NS-belastet. Mindestens 53 000 hatten ihre Jobs im Zuge der Entnazifizierung verloren. Das Spektrum reichte vom Bahnschaffner bis zum Beamten des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA).81
Drei Aussprachen über den Gesetzentwurf verstrichen, ohne dass im Bundestag eine einzige kritische Stimme laut wurde oder auch nur ansatzweise die Mitschuld diensteifriger Bürokraten diskutiert worden wäre. Keine Partei äußerte Zweifel an der Notwendigkeit, die »131er« kollektiv zu reintegrieren; nicht einmal die KPD wollte es sich mit ihnen verscherzen.82 Stattdessen kreisten die Debattenbeiträge um »die Not, die in diesen Kreisen umgeht«, die »Verbitterung« der Betroffenen und die vermeintliche »Diffamierung« der ehemaligen Berufssoldaten. Bundeskanzler Adenauer nutzte die Gelegenheit für ein »Wort an die Angehörigen der früheren Wehrmacht«, das einer offiziellen Ehrenerklärung gleichkam: Niemand dürfe die Soldaten »wegen ihrer früheren Tätigkeit tadeln«. Der Anteil derer, die »wirklich schuldig« seien, sei »so außerordentlich gering«, dass damit »der Ehre der früheren deutschen Wehrmacht kein Abbruch geschieht«. Das »Kapitel der Kollektivschuld« müsse »ein für alle Mal beendet sein«.83
Zahlreiche Abgeordnete griffen seine Worte auf und überboten sich in Bekenntnissen und Lobeshymnen, wie etwa der CDU-Abgeordnete Franz-Josef Wuermeling im Namen seiner Fraktion: »Die Ehre des deutschen Soldaten war nie verloren und brauchte deshalb durch die … Erklärung unseres Bundeskanzlers nicht wiederhergestellt, sondern nur bestätigt zu werden.«84
Bis zur Verabschiedung wurde das Gesetz mehrfach erweitert. Am Ende beliefen sich die Kosten auf die enorme Summe von 750 Millionen DM jährlich,85 was selbst den größten Befürwortern nicht ganz geheuer war: Es werde vermutlich nicht einfach, »andere Volksschichten von der Richtigkeit« des Gesetzes »zu überzeugen«, befürchtete Wuermeling. Für die Begünstigten, schob er sicherheitshalber hinterher, ergebe sich daraus »die volle Verpflichtung« zum »Einsatz für den Wiederaufbau unserer Heimat« und zur »Mitarbeit mit allen demokratischen Kräften«.86 Geld und Sicherheit gegen demokratisches Wohlverhalten, lautete also der Deal. Unter den mehr als 300 000 »verdrängten Beamten« und ehemaligen Berufssoldaten, denen er zugutekam, waren allerdings etliche zehntausend mit strammer NS-Biografie. Dank einer großzügigen Ausnahmeregelung konnten jetzt sogar Gestapomänner Anspruch auf ihre alten Beamtenrechte und eine Stelle im öffentlichen Dienst erheben.87
Das Gesetz galt als notwendige Korrektur von Unrecht, der Historiker Norbert Frei nennt es einen »vergangenheitspolitischen Dammbruch«: Es entzog allen Bemühungen, politisch Belastete aus dem Verkehr zu ziehen, die argumentative Grundlage – die FDP forderte gar, auch den Hauptschuldigen ihre Strafe zu erlassen – und förderte, wie Frei es ausdrückt, »ein Klima der Kaltschnäuzigkeit«, in dem sich »praktisch alle hervorwagten«, die ihre Rehabilitierung für noch nicht ausreichend erachteten,88 darunter auch die Berufsoffiziere der Waffen-SS.89 Tatsächlich wirkten das Straffreiheitsgesetz von 1949 und die mehr als großzügige Versorgung der »131er« als deutliches Signal für den parteiübergreifenden Konsens, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Insbesondere die Wiedereingliederung der früheren Beamten hatte für den Aufbau des Staats- und Verwaltungsapparats der Bundesrepublik fatale Folgen, weil sie den durch die Alliierten begonnenen Austausch der NS-Funktionseliten praktisch rückgängig machte.90
Indirekt wurde so auch die strafrechtliche Verfolgung von NS-Tätern behindert oder gänzlich gestoppt, da die Juristen von damals wieder auf wichtige Posten gelangt waren und die treffend als »Krähenjustiz« beschriebene Praxis pflegten, sich gegenseitig kein Auge auszuhacken.91 So sprach im November 1952 das Landgericht München den NS-Juristen Walter Huppenkothen vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord frei. Er war SS-Einsatzgruppenleiter gewesen und hatte außerdem der »Sonderkommission 20. Juli« angehört, mit der die Gestapo Jagd auf alle an der Verschwörung Beteiligten machte. Noch Anfang April 1945 hatte Huppenkothen in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Flossenbürg als »Anklagevertreter« Hans Oster, Wilhelm Canaris, Hans von Dohnanyi, Dietrich Bonhoeffer und zwei weitere Verschwörer des 20. Juli zum Tode verurteilt. Zuvor waren die Männer schwer gefoltert worden – Dohnanyi musste auf einer Bahre vor die Richter getragen werden. Am Morgen des 9. April 1945 waren sie unbekleidet gehängt worden92 – eine angemessene Strafe, befand nun sechs Jahre später das Landgericht München, denn nach damaligem Recht hätten die Angeklagten den Tatbestand des Hoch- und Landesverrats erfüllt.93
Kurz darauf stellte die Staatsanwaltschaft Lüneburg die Ermittlungen gegen Manfred Roeder ein, der als »Generalrichter« für die Untersuchungen gegen Bonhoeffer und Dohnanyi zuständig gewesen war und Dutzende Todesurteile gegen Widerstandskämpfer und -kämpferinnen verhängt hatte. Roeder sei in »keinem Fall« eine Straftat nachzuweisen, hieß es in Lüneburg. Weder die Prozesse noch die Hinrichtungen seien Akte der NS-Repression gewesen. Vielmehr seien von »der Gruppe des 20. Juli in umfassendem Maße Landesverrat und Spionage betrieben worden«, weshalb es für das Standgericht im KZ Flossenbürg »keine andere Möglichkeit als das Todesurteil« gegeben habe.94 Die Frauen und Männer des Widerstands hätten sich »in einen maßlosen Hass gegen den nationalsozialistischen Staat hineingesteigert«, aus dem sie »auch heute noch nicht herausgefunden« hätten.95
Sechs Jahre nach Krieg und Holocaust standen mit wenigen Ausnahmen also nicht die Verfolger und Henker am Pranger, sondern ihre Opfer. Während für die einen Pensionen gezahlt, Rechtsbeistand geleistet und Ehrenerklärungen abgegeben wurden, waren die anderen weiterhin Verleumdungen ausgesetzt – und die Regierung ließ es geschehen. Nicht einmal Bundespräsident Theodor Heuss wagte sich aus der Deckung, obwohl – oder gerade weil – er selbst Kontakt zum Widerstand gehabt hatte. Der Witwe seines hingerichteten Freundes Julius Leber riet er eindringlich von juristischen Schritten ab: Für »Geschichtsurteile« sei die Justiz nicht zuständig.96
Das sah der seit 1950 als Bundesinnenminister amtierende Robert Lehr (CDU) ganz anders. Er hatte zum Kreis um Carl Goerdeler gehört, der im Schattenkabinett der Verschwörung als Reichskanzler vorgesehen war. Lehr versuchte schon länger vergeblich, Adenauer zu überzeugen, den immer lauter werdenden Hetzern entgegenzutreten. Im Juni 1951 erstattete er schließlich als Privatmann Anzeige gegen Otto Ernst Remer. Dessen Äußerungen seien Beleidigungen, die auch ihn als ehemaligen Widerstandskämpfer beträfen, hieß es in seinem Strafantrag.97 Doch der zuständige Oberstaatsanwalt am Landgericht Braunschweig, Erich Günther Topf, lehnte die Klage – zunächst – ab, weil sie »keine Aussicht auf einen sicheren Erfolg« habe: Remer könne nicht nachgewiesen werden, dass er den Minister beleidigen wollte. Im Übrigen sei zweifelhaft, ob dieser überhaupt dem Widerstand angehört habe.98
Oberstaatsanwalt Topf jedenfalls hatte es nicht: Er war Parteimitglied, Gerichtsassessor verschiedener Staatsanwaltschaften und Rottenführer der SA gewesen. Seine Entnazifizierung konnte er dennoch als »Entlasteter« abschließen und kam gegen die Bedenken der Briten und dank Fürsprache von ganz oben auf seinen jetzigen Posten99 – ein Skandal, aber einer unter so vielen, dass sich kaum jemand daran störte: In der britischen Besatzungszone, zu der Braunschweig gehörte, waren inzwischen so viele ehemalige NS-Juristen in den Dienst zurückgekehrt, dass selbst das zuständige Ministerium feststellen musste, »die personelle Besetzung der Gerichte« böte »im Wesentlichen genau das gleiche Bild … wie im Jahre 1945 vor dem Zusammenbruch«.100 In den anderen Zonen sah es nicht besser aus.
Im Ausland und bei den Besatzern beobachtete man die Entwicklung in Deutschland bereits seit Langem mit Sorge, als sich die Lage im September 1951 noch einmal zuspitzte: Vor ausländischen Journalisten verteidigte der Vorsitzende des Verbands deutscher Soldaten (VdS), Generaloberst a. D. Johannes Frießner, den Angriff auf Polen und machte nebenbei klar, was er von den Männern des 20. Juli hielt: Als Soldat lehne man den politischen Mord ab, »insbesondere in einer Lage, wo ich an der Front stehe und es um Sein oder Nichtsein geht«. Ein Soldat habe »kein Verständnis dafür, dass sein oberster Kriegsherr ermordet werden soll«.
Wenige Tage später legte sein Kollege Oberst a. D. Ludwig Gümbel, VdS-Vorsitzender in Bayern, noch einmal nach und warnte die überlebenden Widerstandskämpfer, »jeden Versuch« zu unterlassen, »in dieses Soldatentum zurückzukehren und hier Einfluss zu nehmen«. Ihre Rückkehr werde unweigerlich zu »einer Gefährdung des soldatischen Geistes« führen, ohne den »jeder Wehrbeitrag undenkbar« sei.101
Über eben diesen »Wehrbeitrag« führte Adenauer schon seit 1950 Geheimgespräche mit den Alliierten. Er hoffte, mit der Wiederbewaffnung und der Beteiligung am westlichen Verteidigungsbündnis der Souveränität der Bundesrepublik ein Stück näher zu kommen.102 Bei seinem Amtsantritt 1949 hatte er erklärt, sich der Abwehr rechter Kräfte und Propaganda zu verschreiben.103 Nun geriet er durch den Wahlerfolg der SRP und die Äußerungen der VdS-Funktionäre in eine missliche Lage: Wandte er sich gegen den Soldatenverband, indem er Partei für die Männer des 20. Juli ergriff, riskierte er, ausgerechnet die Klientel zu vergraulen, die er für die Wiederbewaffnung brauchte. Tat er es nicht, bekam er Schwierigkeiten mit den Alliierten, gegenüber denen er ohnehin schon in Erklärungsnot war, weil der frisch gegründete VdS von der Bundesregierung gefördert wurde.
Eine neue deutsche Armee, deren potenzielles Führungspersonal den »soldatischen Geist« lieber im Nationalsozialismus als im Widerstand verankert sehen wollte, war eine beunruhigende Perspektive. Die Treffen mit dem Hohen Kommissar der US-Streitkräfte, John McCloy, und dessen britischen Amtskollegen wurden für Adenauer daher immer unangenehmer. Wochenlang drängten sie ihn, etwas zu unternehmen, wochenlang wich er aus. Am 1. Oktober riss beiden schließlich der Geduldsfaden. Das Gespräch sei »sehr unbefriedigend« verlaufen, bekannte der Kanzler am Tag darauf im Kabinett. Angesichts der politischen Lage werde er darum noch heute zwei Regierungserklärungen abgeben: eine zum Soldatenverband, die andere zum 20. Juli 1944. Wenige Tage zuvor hatte er es noch strikt abgelehnt, auch nur ein Wort über die Widerstandskämpfer zu verlieren.104
Es war dann allerdings nicht Adenauer, der nachmittags vor die Presse trat, sondern sein Minister für gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser (CDU). Der war 1944 selbst am Umsturzversuch beteiligt gewesen, nun sollte er das Porzellan kitten, das Radikale wie Remer und die VdS-Funktionäre zerschlagen hatten. Die Bundesregierung bedaure, dass »von verschiedenen Sprechern des Soldatenverbandes Äußerungen« getan wurden, »durch die der Kampf um das Ansehen des deutschen Volkes in der Welt ernstlich erschwert worden« sei, erklärte er105 und warb unter Berufung auf seine ermordeten Weggefährten um Vertrauen: »Die Welt empfing durch die Männer des 20. Juli noch einmal den Beweis, dass nicht die Gesamtheit des deutschen Volkes dem Nationalsozialismus verfallen war. Damit wurde eine entscheidende Grundlage dafür geschaffen, dass Deutschland in Zusammenarbeit mit der freien Welt wieder aufgebaut werden kann.«106
Schöne Worte. Nur deckten sie sich weder mit der Meinung der meisten Deutschen noch mit der Realität in Behörden, Gerichten und Politik. Noch immer wog das Wohlergehen der Täter und Mitläufer schwerer als das der Opfer. Und während sich die Verfolger und Henker von einst mit größter Selbstverständlichkeit auf die Regeln des Rechtsstaats beriefen, galten die Unrechtsurteile gegen die Frauen und Männer des Widerstands noch immer und wurden, wie im Prozess gegen Huppenkothen, sogar immer wieder aufs Neue bestätigt.
Dass dieses unselige Ungleichgewicht zumindest ins Rutschen geriet, war allein der zornigen Hartnäckigkeit eines Mannes zu verdanken, der als Jude und Sozialdemokrat selbst nur mit knapper Not den deutschen Todesmühlen entkommen war: Fritz Bauer. 1949 aus dem schwedischen Exil nach Deutschland zurückgekehrt, seit 1950 Generalstaatsanwalt in Braunschweig und damit Vorgesetzter von Oberstaatsanwalt Topf, der den Strafantrag von Innenminister Lehr gegen Otto Ernst Remer abgelehnt hatte.
Mit wachsender Bitterkeit hatte Bauer verfolgt, wie sich in Deutschland die restaurativen Kräfte durchsetzten, ehemalige Nationalsozialisten als Politiker Karriere machten und an ihre Posten in Behörden und Gerichten zurückkehrten. »Als ausgerechnet Remer durch die deutschen Lande zog und die Widerstandskämpfer Hoch- und Landesverräter schalt, galt es zuzugreifen«, erzählte Bauer später.
Mehrere Wochen diskutierte er den Fall mit Topf, dessen Rechtsauffassung Bauers Meinung nach »jeder niederträchtigen Verleumdung Tür und Tor«107 öffnete. Er wies ihn an, Klage zu erheben, und übernahm den Fall persönlich. Um Remer selbst ging es ihm dabei nicht: Sein Ziel war die Rehabilitierung der Widerstandskämpfer – Gegenstand des Verfahrens sollte die Legitimität ihres Handelns sein.108 Bauer erhob daher Klage wegen »übler Nachrede« nach § 186 StGB: Um ein Urteil über Remer sprechen zu können, musste das Gericht nun entscheiden, ob dessen Behauptungen korrekt waren oder nicht. Gelänge es Bauer, Remers Verurteilung zu erreichen, wäre damit der Beweis erbracht, dass die Verschwörer keine Landesverräter gewesen waren. Ein Schuldspruch für Remer wäre ein postumer Freispruch für sie.109 Vor Journalisten betonte Bauer darum, dass die Klage lediglich der »Anlass« sei, »die Geschichte und Problematik des 20. Juli 1944 zu klären« – und brachte damit noch vor dem ersten Verhandlungstag eine Debatte ins Rollen, die nicht mehr aufzuhalten war.110
Im Kern drehte sie sich um die Frage, wie der vermeintliche »Eidbruch« der Militäropposition zu bewerten sei: War es tatsächlich Verrat, wie eine Mehrheit es sah, oder war es nicht vielmehr Hitler selbst, der seine Soldaten verraten hatte, indem er sie zwang, ihm persönlich Gehorsam zu schwören? Bauer argumentierte, der Eid sei »unsittlich« gewesen, weil er die Soldaten, erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte, einem Menschen verpflichtet hatte statt einer übergeordneten Institution. Wie ein sittenwidriger Vertrag sei auch ein sittenwidriger Eid juristisch nicht bindend und könne folglich nicht gebrochen werden.111
Im Deutschland des Herbstes 1951 war diese Diskussion alles andere als theoretisch und bewegte die Gemüter weit über den Kreis ehemaliger Soldaten hinaus. Denn angesichts der geplanten Remilitarisierung, aus der Adenauer kein Geheimnis mehr machte, stellte sich die Frage, wie es eine zukünftige deutsche Armee mit soldatischem Gehorsam halten sollte und an welche Traditionen man anknüpfen konnte: Setzte man auf Kontinuität, von kaiserlich-preußischem Militär über die Reichswehr bis zur Wehrmacht? Oder wollte man einen von demokratischen Prinzipien getragenen Neuanfang wagen, der den radikalen Bruch mit der Vergangenheit erforderte? »Deutschland diskutiert die Eidfrage«, titelte die liberale Neue Zeitung, und die Süddeutsche Zeitung schrieb: »Ginge es nur nach der Anzahl der gewechselten Worte, so müsste man glauben, das deutsche Volk habe sich am vergangenen Wochenende für nichts anderes interessiert als für die Stellung des Soldaten in der Welt.«112 Tatsächlich ging es um viel mehr: um die Bewertung der Vergangenheit, um Verantwortung, Schuld und Pflicht. Um fundamentale Fragen, die Gegenwart und Zukunft der Bundesrepublik betrafen. Im Landgericht Braunschweig würde Geschichte geschrieben werden.
Als der Prozess am 7. März 1952 eröffnet wurde, war das Interesse gewaltig: An jedem der vier Verhandlungstage bildete sich schon Stunden vor Beginn eine lange Menschenschlange vor dem Gebäude. Das Gericht musste Einlasskarten drucken, um des Andrangs Herr zu werden.113 Im Schwurgerichtssaal saßen die Zuschauer dicht an dicht, auch der letzte Stehplatz war besetzt. Remers SRP war samt Bundesvorstand mit gut zwei Dutzend Mann vertreten, darunter die gesamte niedersächsische Landtagsfraktion.114 Über 70 Journalisten aus dem In- und Ausland waren angereist, die Zeitungen berichteten täglich. Remer erschien mit selbstbewusstem Lächeln, posierte von der Anklagebank aus für die Fotografen115 und hielt bei jeder sich bietenden Gelegenheit kurze Ansprachen, die er mit zackigen Gesten untermalte.116 Wie erwartet stützten sich seine Anwälte bei der Verteidigung auf den Vorwurf des Eidbruchs.117 Nicht zu Unrecht gingen sie davon aus, damit das Gros der Bevölkerung hinter sich zu haben. Den Widerstand als unrechtmäßig und schädlich zu sanktionieren, wäre nicht nur für die »eidtreuen« Soldaten eine entlastende Ehrenrettung gewesen. Das kriegszerstörte Gerichtsgebäude war noch nicht vollständig wiederaufgebaut, während der Verhandlung drang von draußen das Dröhnen von Hammerschlägen ein, den Sitzungssaal beleuchteten auf Baugerüsten montierte Scheinwerfer.118
Bauers Prozessstrategie zielte darauf ab, das »Dritte Reich« mit juristischen Mitteln als Unrechtsstaat zu entlarven, gegen den Widerstand legitim und geboten gewesen war. Dafür hatte er namhafte Sachverständige nach Braunschweig geladen, die das Thema aus historischer, militärischer und moraltheologischer Perspektive beleuchten sollten. Als Nebenkläger traten prominente Überlebende und Hinterbliebene des 20. Juli auf, die als Zeugen über die Motive der Verschwörer berichten sollten.119
Gleich am ersten Tag bestätigte der katholische Theologe Rupert Angermair, dass der Eid auf Hitler unsittlich gewesen sei, da er nicht an das Gemeinwohl geknüpft war, sondern die Soldaten der Autorität eines einzelnen Menschen unterstellte und sie so zu »willenlosen Maschinen« degradiert habe.120 Anschließend nahmen ein evangelischer Theologe und ein Kirchenhistoriker zum Bibelabschnitt Brief an die Römer, Kapitel 13, Stellung, der Widerstand gegen staatliche Gewalt als Auflehnung gegen die göttliche Ordnung bezeichnet. Dieses Bibelwort sei nicht als Aufforderung zu blinder Unterwerfung zu verstehen, stellten die Sachverständigen klar. Im Wissen um Gottes Willen müsse sich jeder Christ einer Regierung widersetzen, die ihre Pflicht umkehre, »die Guten zu schützen und die Bösen zu strafen«.121 Der 20. Juli 1944 sei daher ein Zeichen »für echte, christliche und politische Verantwortung« gewesen.122
Remers Verteidiger reagierten, indem sie die Vorladung eigener Sachverständiger beantragten: Zur »Bedeutung und Tragweite des Soldateneides« sollten die ehemaligen Wehrmachtsgeneräle Erich von Manstein und Albert Kesselring aussagen. Beide waren von britischen Militärgerichten wegen Beteiligung am Völkermord verurteilt worden und seitdem in Werl inhaftiert, was ihrem Ansehen keinen Abbruch tat. Erst wenige Wochen zuvor hatte sich Adenauer bei seiner ersten Reise nach Großbritannien dafür eingesetzt, ihre Strafen zu reduzieren. Ihr Wort hatte Gewicht.123
Um zu beweisen, dass die Widerstandskämpfer Landesverräter gewesen seien, sollten außerdem Generalrichter a. D. Manfred Roeder und Oberreichsanwalt a. D. Ernst Lautz gehört werden124 – zwei NS-Richter also, die acht Jahre zuvor dafür gesorgt hatten, dass die Männer, gemäß Hitlers Wunsch, »wie Schlachtvieh gehängt« wurden. Ausgestattet mit üppigen Pensionen, führten beide inzwischen ein beschauliches Leben. Das Verfahren gegen Roeder war im zurückliegenden Jahr eingestellt, Lautz im Frühjahr vorzeitig aus der Landberger Haft entlassen worden.125
Lautz sei für die Ermordung seines Vaters verantwortlich und der »übelste Halunke, der jemals auf einem deutschen Richterstuhl gesessen hat«, rief Nebenkläger Alexander von Hase empört in den Saal, als Remers Anwälte ihren Antrag verlasen. Überraschend reagierte der Vorsitzende Richter Joachim Heppe darauf nicht mit einer Rüge, sondern sagte, indem er sich dem Sohn des hingerichteten Stadtkommandanten von Berlin, Paul von Hase, zuwandte: »Ich glaube, dann kann ich Ihnen nur beipflichten« – und lehnte die Zeugen ab. »Still war es im Saal, und selbst die Verteidigung schwieg«, beschrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Szene am nächsten Tag.126
Bauer hingegen gelang ein wichtiger Schachzug mit der Ladung von Helmut Friebe, dessen Glaubwürdigkeit als Generalleutnant a. D. und zeitweiliger Vorsitzender des Soldatenverbands selbst für die Gegenseite schwerlich in Zweifel zu ziehen war: Friebe nannte den Hitler-Eid ein »moralisches Gerippe«, weil jeder Eid die »Verpflichtung gegenüber Volk und Vaterland« einschließen müsse. 1944 hätten die meisten Frontoffiziere dem Attentat noch »verständnislos und ablehnend« gegenübergestanden, inzwischen aber hätten ihnen »Prozesse, Dokumente und Veröffentlichungen« die Augen geöffnet. Das »ehemalige Offizierskorps«, sagte er mit einer Verbeugung zu den im Saal sitzenden Hinterbliebenen, würdige dankbar »den Opfergang seiner Kameraden, den diese für Volk und Vaterland aus freiem Entschluss« gegangen seien und »aus hohem sittlichem Verantwortungsgefühl gehen mussten«.127 Das von Remers Verteidigern postulierte und in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild einer geschlossenen Front der Eidtreuen bekam erste Risse.128
Die Presse berichtete ausführlich über Friebes Aussage und die Reaktionen im Gerichtssaal.129 »Man spürt, dass das hier das Publikum anspringt«, schrieb ein Reporter. Die Frage, ob es »Sabotage« gegeben habe, wirke »elektrisierend«. Die Zuhörer diskutierten, ob die Verschwörer Divisionen für ihren Staatsstreich zurückgehalten hätten, »während die Front aus Mangel an Soldaten verblutete«.130 Dieser Sicht widersprach der von Bauer in den Zeugenstand gerufene Historiker Percy Ernst Schramm, der ab dem Frühjahr 1943 im Führungsstab der Wehrmacht das Kriegstagebuch geführt hatte: Die militärische Lage sei am 20. Juli 1944 bereits »ausweglos« gewesen. »Der Krieg war verloren.« Die deutsche Niederlage könne darum »weder durch Sabotage noch durch Verrat erklärt werden«.131
Dass sich der Vorwurf des Landesverrats selbst nach damals geltendem Recht nicht halten ließ, demonstrierte Bauer mit der Aussage von Hans-Günther Seraphim, Professor für Geschichte am Institut für Völkerrecht in Göttingen. Er hatte im Auftrag der Staatsanwaltschaft ein Gutachten zu den Motiven der Widerständler erarbeitet und belegte mit Zitaten aus ihren schriftlichen Nachlässen, dass sie zum Wohle Deutschlands und aus »höchster Verantwortung vor dem gesamten Volk« gehandelt hätten. Als Landesverräter galt jedoch auch 1944 nur, wer mit dem Vorsatz handelte, »das Wohl des Reiches zu gefährden«, oder in der Absicht, »schwere Nachteile für das Reich herbeizuführen, zu einer ausländischen Regierung in Beziehung« trat.132
Nichts davon habe in der Absicht der Verschwörer gelegen, bestätigten mehrere Angehörige und prominente Überlebende, die zum Teil als Nebenkläger auftraten: Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Otto John, der am Umsturzversuch beteiligt gewesen war, sagte aus, es sei sein Auftrag gewesen, im Ausland die Möglichkeiten für einen Friedensschluss auszuloten für den Fall, dass es gelänge, das NS-Regime zu beseitigen. »Unser Ziel war zu verhüten, dass Deutschland durch eine sinnlose Weiterführung des Krieges völlig zerstört würde.«133 Hans Lukaschek, Bundesminister für Vertriebene, berichtete vom »Kreisauer Kreis«, der ebenfalls mit der Gruppe um Stauffenberg in Verbindung gestanden hatte: Dort hätten sich Menschen zusammengefunden, die bereit gewesen seien, »sich gegen Hitler für die Rettung Deutschlands einzusetzen«. Landesverrat sei »von vornherein ausgeschlossen worden«.134 Spürbar bewegt beschrieb ein Berichterstatter der Zeit Lukascheks Auftritt – wie er von »den Grafen Yorck und Moltke« und »den sozialistischen Freunden« Julius Leber, Carlo Mierendorff und Theodor Haubach sprach, die Begegnung mit Stauffenberg schilderte und dessen Worte zitierte: »Es gibt keine Rettung … Hier bleibt nur der Tyrannen-Mord … aus christlicher Verantwortung.« Und »wie er selbst verhaftet und eine Woche hindurch – an den Erdboden angeschmiedet – gefoltert wurde«.135
Auch die anderen Zeugen beeindruckten die Prozessbeobachter: Annedore Leber, Marion Gräfin Yorck von Wartenburg, Fabian von Schlabrendorff – sie alle bezeugten, dass die Verschwörer des 20. Juli Deutschland retten und den Krieg beenden wollten. »Mein Bruder sah Hitler als Antichristen an und hoffte auf das Scheitern aller seiner Pläne«, sagte Karl-Friedrich Bonhoeffer, dessen Bruder Dietrich von »Generalrichter« Roeder zum Tode verurteilt worden war. »An Deutschland hing er mit allen Fasern seines Herzens.«136
Fritz Bauer war es gewohnt, regelmäßig Droh- und Schmähbriefe zu bekommen. Während des Prozesses schwoll die Post aber zu einer wahren »Sturmflut« an, wie er der Witwe Paul von Hases anvertraute. Neben den empörten Schreiben von Angehörigen gefallener Soldaten, die ihre Söhne und Ehemänner durch Bauers Prozessführung beleidigt sahen, landeten antisemitische Beschimpfungen und Morddrohungen auf seinem Schreibtisch.137