Stasi-Kinder - Ruth Hoffmann - E-Book

Stasi-Kinder E-Book

Ruth Hoffmann

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Beschreibung

Dass der Staatssicherheitsdienst der DDR die Menschen in Ostdeutschland umfassend observierte, kontrollierte und schikanierte, ist bekannt. Weitgehend unbekannt ist, in welchem Maße das Klima aus Misstrauen, Angstund Kontrolle auch die eigenen Familien der Stasi-Mitarbeiter betraf. Die Journalistin Ruth Hoffmann zeigt auf der Grundlage zahlreicher Interviews und intensiver Recherchen erstmals, wie sich die beklemmende Atmosphäre der Totalüberwachung auf den Familienalltag der Stasi-»Hauptamtlichen«, vor allem auf die betroffenen Kinder ausgewirkt hat. Was wussten, was ahnten diese Kinder von der Tätigkeit ihrer Eltern? Welche Auswirkungen hatte deren geheime Mission auf das Familienleben? Wie gingen sie mit der Tatsache um, dass ihr Vater bei der Stasi war? Diesen Fragen geht Ruth Hoffmann in ihrem bewegenden Buch nach. Ausführlich kommen Betroffene zu Wort. Dabei wird deutlich, wie nachhaltig diese Kinder von der Stasi-Tätigkeit eines Elternteils oder Familienmitglieds geprägt wurden. Von Verdrängung über den Bruch mit den Eltern bis zu schweren psychischen Störungen reichen die Folgen. Es ist Ruth Hoffmanns Verdienst, dieses leidvolle Thema auf behutsame Weise öffentlich zu machen.

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Ruth Hoffmann

Stasi-Kinder

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie

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verfolgt werden.

Propyläen ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

www.propylaeen-verlag.de

ISBN 978-3-8437-0168-6

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012

Lektorat: Karin Schneider

Alle Rechte vorbehalten

Satz und eBook bei

Einleitung

Eigentlich sollte es eine Reportage werden. »Die Kinder der Frankfurter Allee« sollte sie heißen. Schauplatz: das Ostberlin der Siebziger- und Achtzigerjahre. Ich hatte Jörg Richert kennengelernt. Einen Sozialarbeiter, der in diesem Teil von Berlin-Lichtenberg aufgewachsen war. Er erzählte mir, dass in seiner Klasse fast ausnahmslos Kinder gesessen hatten, deren Eltern zur Nomenklatur der DDR gehörten – Parteifunktionäre, Diplomaten, Offiziere der Staatssicherheit. Sein eigener familiärer Hintergrund war ein ganz anderer. Weder Mutter noch Vater machten ein Geheimnis daraus, dass sie dem System ablehnend gegenüberstanden. Dass sie 1973 eine Wohnung in den schicken neuen Hochhäusern an der Frankfurter Allee bekamen, grenzte daher an ein Wunder: Das Viertel wurde gerade im Auftrag des MfS, des Ministeriums für Staatssicherheit, errichtet, weil hier, in unmittelbarer Nähe zur Zentrale, ein Großteil der Mitarbeiter angesiedelt werden sollte.

Mich interessierte das Nebeneinander dieser so gegensätzlichen Welten, und so fing ich an, einige von Jörgs ehemaligen Klassenkameraden zu interviewen. Schon die ersten vier – ein Mann und drei Frauen – kamen aus »Stasi-Familien«: Ihre Väter, bei zweien auch die Mütter, waren Mitarbeiter des MfS gewesen. Je mehr ich darüber erfuhr, was diese »Kinder« erlebt hatten, desto klarer wurde mir, dass hier mein eigentliches Thema lag. Also machte ich mich auf die Suche nach weiteren Gesprächspartnern.

Sie zu finden war schwierig. Das Brandmal Stasi tragen eben auch jene, die sich gar nicht selbst für diese Tätigkeit entschieden haben und nur durch ihre Eltern – meist die Väter – damit in Berührung gekommen sind. Sippenhaft. Auch 23 Jahre nach dem Mauerfall.

Doch während ehemalige MfSler auf Tagungen, Diskussionsveranstaltungen oder in Dokumentarfilmen längst selbstbewusst ihre Sicht der Vergangenheit schildern, schweigen ihre Töchter und Söhne. Entsprechend wenig Material gibt es über sie. Keine Bücher, keine soziologischen oder psychologischen Untersuchungen, nicht einmal ein Forum im Internet.

Trotz der vielen Filme, Bücher und Berichte, die im Laufe der Zeit über die Staatssicherheit entstanden sind, ist das Bild seltsam eindimensional: Die Stasi – das ist entweder der Apparat, monströs und letztlich immer noch undurchschaubar, durch den ein ganzes Volk überwacht und terrorisiert wurde, oder das Netz von Spitzeln, das sich durch alle Schichten der DDR-Gesellschaft zog. Diejenigen aber, die hinter alledem standen, die im Auftrag des MfS tagtäglich ihre Arbeit versahen – in der Berliner Zentrale oder einer der vielen Kreis- und Bezirksverwaltungen –, bleiben dahinter verborgen, genau wie ihr Privatleben.

Dabei waren diese Hauptamtlichen die eigentlichen Akteure – nicht die IM, die inoffiziellen Mitarbeiter, auf die sich noch immer das überwiegende Interesse der Öffentlichkeit richtet. Anders als jene standen sie in direktem Dienst- und Befehlsverhältnis zur Staatssicherheit, auf die sie einen lebenslang gültigen Eid abgelegt hatten. Sie genossen viele Privilegien und bezogen ein Gehalt, das deutlich über dem DDR-Durchschnitt lag, waren zugleich aber an einen ganzen Katalog von Regeln und Vorschriften gebunden, die auch die privatesten Bereiche ihres Lebens bestimmten – und ihr gesamtes Umfeld betrafen.

Es war nicht egal, in wen sich die Tochter verliebte, für welchen Fußballclub der Sohn schwärmte oder ob die Ehefrau Briefe an ihre Tante in München schrieb: Jede Abweichung von der sozialistischen Norm fand ihren Weg in die Akten. Schon kleinste Vergehen konnten zu unangenehmen Befragungen durch die Disziplinarabteilung führen; ein Sohn, der in den Westen wollte, eine Tochter, die sich in Kirchenkreisen bewegte, gar das Ende der Karriere bedeuten. Die zahllosen Dienstvorschriften, die regelmäßig verfassten Beurteilungen der hauptamtlichen Mitarbeiter und Zitate aus den Akten der Eltern, manchmal auch der Kinder, dokumentieren Härte und Unerbittlichkeit des »Apparats«, der auf familiäre Bindungen keine Rücksicht nahm.

Die in vielen und natürlich auch westdeutschen Familien üblichen Auseinandersetzungen um Benehmen, Kleidung, Freundeskreis oder Musik – im Kosmos Stasi standen sie immer unter existenziellen Vorzeichen und waren darum weit mehr als ein Konflikt zwischen den Generationen. Wer hauptamtlich beim MfS arbeitete, war gezwungen, die eigene Familie auf Linie zu halten – oder es zumindest so aussehen zu lassen. Der Druck, der dadurch auf allen Beteiligten lastete, muss gewaltig gewesen sein. In dem, was die heute erwachsenen Kinder erzählen, lässt er sich erahnen, in den Kaderakten der Eltern wird er offenbar.

Die Kinder und ihre Erlebnisse stehen im Mittelpunkt dieses Buches. Um aber auch die vom MfS bestimmte Lebenswelt der Eltern zu beleuchten, erklären kleine Exkurse, welchem Diktat sie sich mit ihrer eidesstattlichen Verpflichtung unterworfen hatten.

Ich habe über zwanzig ausführliche Interviews geführt. Die Geschichten von insgesamt dreizehn Kindern fanden Eingang in dieses Buch, fünf sind anonymisiert: Frank Dohrmann, Martin Kramer, Stefan Herbrich, Silke Ziegler und Anna Warnke sind nicht die richtigen Namen. Ihre Schilderungen werfen Schlaglichter auf eine Welt, die letztlich nur diejenigen wirklich beurteilen können, die sie selbst erlebt haben. Sie zeigen, dass es nicht die typische »Stasi-Familie« gab, nicht das typische »Stasi-Kind«: Es gab Väter, die sich nicht an das Kontaktverbot zu ihren »staatsfeindlichen« Töchtern gehalten haben und dafür dienstliche Nachteile in Kauf nahmen, aber auch Väter, die den Anweisungen folgten und sich mit allen Konsequenzen von ihnen lossagten. Es gab Söhne, die unter dem weitergegebenen Druck zerbrachen, und Töchter, die noch bis weit in ihr Erwachsenenleben hinein und lange nach dem Fall der Mauer im Sinne ihrer Eltern funktionierten. Es gab Kinder, die über Nacht mit der Agententätigkeit ihrer Väter konfrontiert wurden und deren Leben dadurch von heute auf morgen eine dramatische Wendung nahm. Und es gab Jugendliche, die sich in einem Kampf gegen das System und gegen Vater und Mutter erschöpften, den sie so nie gewollt hatten.

Die Kinder von damals sind längst erwachsen, haben teilweise selbst schon Kinder und Enkel. Der Apparat, dem ihre Eltern einst dienten, ist seit über zwanzig Jahren Geschichte. Die Folgen seiner Eingriffe in die innersten familiären Beziehungen aber wirken bis heute nach.

Gehorchen

Berlin, 1972. Ein Spielplatz in einer Bombenlücke, umgeben von braungrauen Wänden. Wenn man den Kopf weit in den Nacken legt, kann man von der Sandkiste aus ein Stück Himmel sehen, doch auch der ist in Frank Dohrmanns frühesten Erinnerungen grau und trist. Genau wie die Straßen ringsum, die durch die hohen Häuser wie bedrohliche Schluchten wirken. Jeden Morgen bringt ihn seine Mutter in die Krippe unendlich weit weg von zu Hause und allem Vertrauten, das Schutz geben könnte, so kommt es dem Dreijährigen vor. Wenn sie ihn abends abholt, im eleganten Kostüm, die Haare hochgesteckt, ist er erschöpft vom vielen Weinen.

Es ist schwer, mit ihr Schritt zu halten. Sie geht schnell und entschlossen, tak, tak, tak machen die Absätze ihrer hohen Schuhe auf dem Gehweg. Schön ist sie, findet Frank. Und wünscht sich nichts mehr, als dass sie sich zu ihm runterbeugt, ihn anlächelt, ihm mit der Hand über Kopf oder Wange streicht. Doch sie bleibt abweisend und stumm.

Familie Dohrmann lebt in einem Hinterhaus in Friedrichshain. Es fällt kaum Tageslicht in die enge Einzimmerwohnung, so nah stehen die Nachbarhäuser. Die Wohnung ist feucht und wird trotz der Ofenheizung nie richtig warm. Zum Glück wohnen die Großeltern nur ein paar Straßen weiter. Frank freut sich, wenn sie dorthin gehen. Er mag die Heimeligkeit des wuchtigen Sofas, die Anrichte mit den blank geputzten Scheiben, die Häkeldeckchen auf den Lehnen, durch deren sternförmige Maschen man den Finger bohren kann. Und er liebt seinen Opa Heinrich, der als Lehrmeister in einer Metallfabrik arbeitet ein kleiner, stiller Mann, dessen Händen man das lebenslange Schuften ansieht. Zärtlichkeiten sind nicht seine Sache, aber von ihm gehen Wärme und Zuneigung aus, die Frank von seinen Eltern nicht kennt.

Bei Mama und Papa fühlt es sich immer irgendwie anders an. Was dieses »andere« ist, wird Frank erst als Erwachsener beim Namen nennen können. Jahrzehnte später. Die Angst vor den Eltern aber wird schon bald sein Leben bestimmen. Noch spürt er nur ihre Kühle. Und irgendwo ganz tief im Bauch: ein leise keimendes Misstrauen.

Franks Vater Ernst Dohrmann arbeitet beim Ministerium für Staatssicherheit der DDR, Hauptabteilung VI: Grenzkontrolle und Tourismus. Am Flughafen Berlin-Schönefeld kontrolliert er die Pässe der Ein- und Ausreisenden. Anfangs fiel es ihm schwer, sich auf die strengen Verhaltensregeln des neuen Dienstherrn einzustellen: Schon in den ersten Monaten wurde er mehrfach zu »Aussprachen« gebeten. Nach gerade mal zwei Jahren Dienst stand sogar seine Entlassung im Raum: Genosse Dohrmann, warnte der Leiter der Grenzübergangsstelle, sei ein »Unsicherheitsfaktor«. Seine »gesamte Einstellung« lasse daran zweifeln, dass er »zu einem wertvollen Mitarbeiter unseres Organs« werden könne. »Leichtgläubig« habe er auf dem Flughafen »persönliche Verbindungen zu einem bulgarischen Bürger« aufgenommen, der »ständig Westberliner Reisegruppen begleitet«, heißt es in seiner Akte. Zudem habe er bei DDR-Bürgern »zwar Westkontakte festgestellt, bezeichnet diese aber als allgemein üblich« und habe dazu »keine informationswürdigen Ergebnisse für unser Organ« erarbeitet.

Besonders bedenklich aus Sicht der Stasi aber war die mittlerweile »gefestigte Verbindung« zu seiner Freundin: In der Wohnung ihrer Eltern »ist es bereits vorgekommen,… dass das Westfernsehen lief bzw. Westsender gehört wurden. Genosse D. nahm dagegen, da er der Meinung ist, in dieser Wohnung nur Gast zu sein, nicht Stellung.… Dadurch lässt er sich ständig mit den Einflüssen des Westfernsehens konfrontieren. Abgesehen davon, dass dieses schon Anlass genug ist, das Verhältnis… seinerseits zu überprüfen, findet er sich auch mit einer Reihe weiterer Westkontakte, die in der Familie bestehen, ab.« Obwohl ihm »bekannt ist, dass er die Kaderabteilung von seinen Verbindungen unterrichten muss, ist er der Meinung, dass er dies selbst einschätzen kann, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist«. Hieraus werde ersichtlich, »dass er die Sicherheitsfragen in arroganter Weise missachtet«.

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