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Bayern im Jahre 1794. Der Hofmarksherr Anselm von Deinharting lebt in Ruhe und Abgeschiedenheit auf dem Land nahe bei München, geschätzt und geachtet von den Bewohnern der Hofmark und umgeben von der Zuneigung seiner Familie. Seine Frau Elisabeth ist seinen vier Kindern aus erster Ehe eine liebevolle Mutter, den Tod ihres eigenen Kindes kann sie aber nicht überwinden. Obendrein schlägt die französische Revolution hohe Wellen, und als der Zufall Lucille Marquise de Beaujeux und deren Tochter Antoinette auf der Flucht von Paris nach Deinharting verschlägt, erfährt die Familie des Hofmarksherrn eine Erschütterung, die bleibende Spuren hinterlassen wird. Band 1 der Deinharting-Trilogie von Marie Louise Fischer.
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Seitenzahl: 740
Marie Louise Fischer
Roman
Zerfetzte Wolken, schiefergrau, jagten über den Frühlingshimmel, der dort, wo er aufgerissen war, ein leuchtendes Blau zeigte. Die Kette der Alpengipfel, noch weiß vom Schnee des vergangenen Winters, schien in diesem stürmischen, wechselvollen Licht sehr nahe gerückt.
Anselm von Deinharting musste gewaltsam der Versuchung widerstehen, den Schenkeldruck auf die Flanken von Bruna, seiner dreijährigen schwarzen Stute, zu verstärken. Ihm war nach einem wilden Galopp zumute, aber er verzichtete, weil er sich seiner Würde als Hofmarksherr auch noch in diesem Augenblick bewusst war.
Man schrieb das Jahr 1794. Die Zeiten waren unruhig, und wenn auch das Volk in Bayern nicht an Umsturz und Revolution dachte, so waren die Nachrichten vom großen Todesreigen in Frankreich doch schon bis ins letzte Dorf gedrungen. Der Kopf des französischen Königs war unter der Guillotine gefallen, und wenn Gott das zuließ, so mochten die Leute wohl denken, dann war nichts mehr sicher auf dieser Welt.
Die Bauern sahen mehr denn je auf ihn, ihren Herrn, und Anselm von Deinharting war sich dessen bewusst. Sie alle waren von ihm abhängig, als Pächter, Lehnsbauern, Leibeigene, die Unterschiede hatten sich verwischt, doch das ganze Land in weitem Umkreis gehörte ihm bis hin zum Kloster Wesenbronn, zu dessen Besitz auch einige Gründe und Häuser im Dorf gehörten. Zwar war es eine Abhängigkeit, die fast nur auf dem Papier bestand, denn er pflegte, anders als noch sein Vater, seine Rechte nur mit Zurückhaltung auszuüben. Doch sie wussten um ihre Unfreiheit und dass sie ihm, wenn er sie jetzt von der Bestellung ihrer Felder zum Scharwerken abberufen hätte, guten oder schlechten Willens hätten gehorchen müssen.
Sahen sie einen verständnisvollen Herren in ihm? Oder nur einen schwachen? Anselm von Deinharting war sich in dieser Frage nicht sicher, sowenig wie er sie für sich selber beantworten konnte. Er war ein stattlicher Mann, stark genug, mit eigener Hand ein Eisen zu schmieden. Aber er hätte es schwerlich ertragen, gehasst zu werden.
Jeder der Bauern löste die Hand vom Pflug und zog die Mütze, wenn er, der Hofmarksherr, vorbeiritt, begleitet von Hasso, der gescheckten Dogge, einem riesigen Tier, das ihm auf Schritt und Tritt zu folgen pflegte. Anselm von Deinharting fühlte, dass ihre Augen ihm folgten, während Bruna die schnurgerade Lindenallee, die vom Schloss zum Dorf führte, unter ihre Hufe nahm. Sie waren es gewohnt, ihn hier täglich fast um die gleiche Zeit zu beobachten, aber es hätte sie womöglich alarmiert, wenn er wie ein Jüngling galoppiert wäre. Es mochte sie ohnehin beunruhigen, dass es ihn jedes Mal zum Posthalter trieb, um das Neueste zu erfahren in der allzu oft enttäuschten Hoffnung auf einen Brief von Anselm, seinem ältesten Sohn, der in Straßburg studierte. Nur zögernd und ungern hatte er ihm die Erlaubnis gegeben, nach Frankreich zu ziehen, und wie die Dinge jetzt standen, wurde die Situation immer gefährlicher, anstatt sich zu entspannen.
Manchmal, wie auch heute an diesem stürmischen Vorfrühlingstag, kam Anselm von Deinharting zu der Überzeugung, dass es richtig wäre, ein Machtwort zu sprechen und seinen Sohn zurückzubeordern. Aber er wusste auch, dass er es nicht tun würde. Er erinnerte sich, wie schlecht er selber als junger Mann dergleichen Eingriffe in seine Freiheit vertragen hatte, auch wenn sie gut gemeint gewesen sein mochten. Nein, Anselm sollte sein Leben leben, seine Dummheiten und seine eigenen Erfahrungen machen, und er, der Vater, würde weiter um ihn zittern müssen.
Die Zwiebelkuppel der Kirche von Deinharting tauchte über den hellgrün schimmernden Lindenzweigen auf, wuchs höher und höher empor, bis das Kirchlein, dem heiligen Michael geweiht, sichtbar wurde. Daneben, fast angelehnt, lag das Pfarrhaus, ein schlichter Bau, dessen Dach Anselm von Deinharting im letzten Herbst auf das ständige Bitten und Drängen seiner Gattin hin hatte reparieren lassen, damit es dem Pfarrer wenigstens nicht mehr in die Schlafstube regnete. Der Hofmarksherr hatte das nicht gern getan und er ärgerte sich jedes Mal wieder, wenn er die leuchtendroten Ziegel sah. Er war der Meinung, dass die katholische Kirche, der mehr als der halbe Grundbesitz in Bayern gehörte, reich genug war, sich um ihre Diener zu kümmern. Allerdings war er gerecht genug einzuräumen, dass Pfarrer Reiter selbst keinen Anteil an diesem Reichtum hatte. Zu seiner Pfarrei gehörte kein Grund, den er hätte bearbeiten können, und er ernährte sich von dem Zehnten, den Anna, seine kräftige Magd, bei jeder Ernte, gleichgültig, ob es sich um Flachs, Getreide oder Äpfel handelte, jeweils auf dem Feld oder im Garten abwiegen und ihrem Herrn zumessen lassen musste. Diese Art der Entlohnung war, so dachte Anselm von Deinharting, demütigend für den Geistlichen und konnte nicht zu seiner Beliebtheit beitragen. Aber es war nicht an ihm, diese Zustände zu ändern.
Gegenüber der Kirche, durch einen weiträumigen, mit runden Flusssteinen gepflasterten Platz von ihr getrennt, lag der Gasthof »Zur Post« breit hingelagert, Kirche und Pfarrhaus durch sein bloßes Dasein erdrückend. Der Gasthof, dessen Wirt, der dicke Schwaiger, gleichzeitig die Posthalterei versah, war das bedeutendste Gebäude in Deinharting, und wie er sich da behäbig ausdehnte, drei Stockwerke hoch, die Brauerei unter dem gleichen ausladenden, breitgiebeligen Dach, mit Stallungen, in denen nie weniger als sechzehn Pferde standen, schien er sich dessen bewusst zu sein. Die Vordertür, zu der einige steile, steinerne Stufen emporführten, sodass die Reisenden beim Ein- und Aussteigen aus der Kutsche den oft schlammigen Grund nicht zu betreten brauchten, war aus schwerer, altersdunkler Eiche. In der weiß gekalkten Front gab es neben und über der Tür viele ungleich große, nach dem Gutdünken des Erbauers in die dicke Mauer eingelassene Fenster.
Aus diesem Gasthof, der samt der Brauerei auch zum Eigentum des Hofmarksherrn zählte, schöpfte er einen Teil seines Einkommens, auch wenn der dicke Schwaiger nicht ehrlich mit ihm abrechnete, was Anselm von Deinharting wohl ahnte. Jedoch verspürte er weder Talent noch Lust, ihm genauer auf die Finger zu sehen, es blieb auch so immer noch ein beträchtlicher Batzen.
Zwar waren die Zimmer nur selten von Sommerfrischlern aus dem fünf Meilen entfernten München bewohnt, dafür ging es in den Gasträumen oft lebhaft genug zu. Deinharting lag auf der Strecke nach Wien, und die durch die Fürsten Thurn und Taxis betriebene Post hatte hier ihren ersten Pferdewechsel. Während der Kutscher die ermüdeten Pferde ausspannte und der Wirtsknecht ihm die frischen zuführte, lieferte der begleitende Schaffner die Postsachen – wenig genug und ausschließlich für das Schloss und die Pfarrei bestimmt – an Marei, die kräftige, verlässliche Magd, ab. Der Posthalter selber war dann schon viel zu sehr mit dem Hineinkomplimentieren der Reisenden beschäftigt. Nur wenige begnügten sich damit, die Rast zu nutzen und sich die Beine zu vertreten. Fast niemand konnte der Versuchung widerstehen, von den duftenden, frisch gebrühten Schweinswürsten zu kosten und sich am dunklen, würzigen Deinhartinger Bier zu laben. Inzwischen war wieder angespannt, Kutscher und Schaffner ließen es sich aber nicht nehmen, ihren Krug Freibier bis zur Neige zu leeren. Der Pferdewechsel dauerte selten länger als eine halbe Stunde, aber in dieser Zeit hatte der Wirt sein Geschäft gemacht.
Doch nicht nur die Post, auch erfahrene Privatreisende pflegten im Deinhartinger Gasthof Station zu machen, und wenn, was zuweilen vorkam, mehrere Kutschen gleichzeitig frische Pferde verlangten, ging eine gute Weile lang alles drunter und drüber, und der Wirt und seine Knechte hätten vier Hände haben mögen. Dann nutzten weder Schreie noch Flüche, weder Bitten noch Befehle, sondern jeder musste sich gedulden, bis er zu seinem Recht kam – die Pferde zu Wasser und Futter, die Menschen zu Würsten und Bier.
Auch das Bezahlen dauerte seine Zeit, denn eine Reihe von Gulden aus Gold und Silber waren im Umlauf. Ihr jeweiliger Anteil an Edelmetall entschied ihren Wert, und da dieser Anteil nach dem Jahr ihrer Prägung schwankte, musste der Wirt schon höllisch aufpassen, um nicht zu kurz, sondern sogar besser wegzukommen als der zahlende Gast. In gutem Ruf wegen seines Silbergehaltes stand der in Joachimstal in Böhmen geprägte Gulden, Joachimstaler oder Taler genannt, der besonders hoch bewertet wurde. Daneben gab es noch kleine und große Kreuzer, Pfennige, den Viertelsgulden, »Ort« genannt, und den Drittelsgulden, den »Dicken«.
Anselm von Deinharting kannte all diese Unterschiede, aber er war sich klar darüber, dass er nicht die Gerissenheit des Wirtes besaß, sie auszunutzen. Es stand ihm auch gar nicht der Sinn danach. Er war es nicht gewohnt zu knausern und zu feilschen, sondern es entsprach seiner Art, aus dem Vollen zu leben.
Während er sich vor dem Gasthof vom Pferd schwang, ging es ihm sorgenvoll durch den Kopf, wie lange das noch möglich sein würde.
Eine neue Zeit brach an, daran bestand kein Zweifel. Er würde sich nicht dagegen stemmen, denn er war nicht blind für die bestehenden Ungerechtigkeiten, das Ausbeuten des Volkes durch eine kleine Gruppe Bevorrechtigter. Dennoch hoffte er, wenn er sich auch seiner Ichsucht insgeheim schämte, dass er selber seinen Lebensstil nie würde ändern müssen.
Der Wirt hatte ihn kommen sehen, wohl auch erwartet, und kam aus dem Haus, die grüne Schürze um den mächtigen Bauch gespannt, die Ärmel des groben Leinenhemdes aufgerollt, darüber die Lodenweste mit den Silberknöpfen, ein besticktes Käppchen auf dem kahlen Kopf.
Er gab sich unterwürfig. »Gott zum Gruß, gnädiger Herr … Dank für die Ehre des Besuches!«
Der mächtige Hund beschnupperte seine Stiefel, gleichgültig, fast geringschätzig, und legte sich dann auf den Boden, den Kopf zwischen den Pfoten, die dunklen Augen fest auf seinen Herrn gerichtet.
Anselm von Deinharting warf dem Wirt die Zügel seines schnaubenden Pferdes zu. »Mach Er keine Umstände! Er sieht mich hier oft genug!«
Schwaiger band Bruna an einen der in die Hausmauer eingelassenen schwarzen Eisenringe. »Die Ehr’ ist immer wieder neu!«, beteuerte er.
Der Hofmarksherr glaubte, eine gewisse Bedrücktheit im Wesen des Wirtes festzustellen, auch wirkte sein rundes Gesicht nicht rosig wie gewöhnlich, sondern um einen Schein blasser. »Schlechte Neuigkeiten?«, fragte er, die ledernen Reithandschuhe abstreifend.
»Der Aicher war da.«
Anselm von Deinharting wusste, dass die ständigen Kontrollen der staatlichen Aicher, auch Ungelter genannt, das eigentliche Kreuz des Wirtes waren, unter dem er mehr litt als unter seiner kränklichen, ständig jammernden Frau, die nichts zustande gebracht hatte, als ihm eine Tochter zu schenken. Die Beamten visitierten die Keller und prüften, ob Wein, Met und Bier wohlschmeckend und unverfälscht waren. Darüber hinaus kontrollierten sie die Bestände und rechneten auf Pfennig und Kreuzer die Höhe des Ungelts aus, der Getränkesteuer, die der Wirt abzuführen hatte. Auch setzten sie die Preise fest, die er verlangen durfte.
»Sind sie Ihm auf die Schliche gekommen?«, fragte Anselm von Deinharting scherzend; er war sehr erleichtert darüber, dass es keine Katastrophe in Paris oder gar in München gegeben hatte und dass sich Schwaiger nur mit seinem üblichen Problem herumschlug. »Haben sie herausgeschmeckt, dass Er den Hopfen mit Bilsensamen und Wermut versetzt hat?«
Der Wirt gab sich gekränkt. »Das täte ich nie, gnädiger Herr, und das wisst Ihr ganz genau!« Pfiffig fügte er hinzu: »Und wär’s so, wüsste ich schon Mittel …«
»Wie denn? Indem Er ihnen erst eine verpfefferte Wurst zu kosten gebt? Oder ihnen einen guten Gulden zusteckt?«
»Ich tät’s nie!«, beteuerte Schwaiger wieder, anstatt Auskunft zu geben.
»Das will ich Ihm auch nicht geraten haben«, drohte der Hofmarksherr, »denn wenn es um die Güte meines Biers geht, ist mit mir nicht zu spaßen!« Spielerisch ließ er die Reitgerte durch die Luft sausen.
Der Wirt zuckte zusammen, als erwartete er tatsächlich einen Schlag.
»Dummer Kerl!« Anselm von Deinharting fühlte sich, wie so oft, wenn er leutselig sein wollte, missverstanden.
Ungeduldig blickte er die Dorfstraße hinunter nach Norden hin, woher die Kutsche kommen musste. Aber noch war kein Staubwölkchen zu sehen. Der Wirt spähte in die gleiche Richtung; für ihn war es wichtig, die Kutsche so rechtzeitig zu entdecken, dass seine Würste, die er dann erst in den Bottich mit dem jetzt schon siedenden Wasser warf, bis zur Ankunft der Gäste gar waren.
Anselm von Deinharting hatte genug. Er wandte sich ab und stieg die steilen steinernen Stufen hinauf. Neben der Vordertür hing ein schwarzes Täfelchen, auf dem, wie es das Gesetz verlangte, die Preise für die Getränke aufgeschrieben waren. Gewohnheitsmäßig warf er einen Blick darauf. »Wie?«, rief er. »Das Bier ist wieder teurer geworden?«
»Der Aicher«, sagte der Wirt. »Man hat in München beschlossen, das Ungelt zu erhöhen.«
»Schon wieder?« Der Hofmarksherr war empört; zwar traf diese Maßnahme ihn nicht persönlich, denn die adligen Landstände wie auch die geistlichen Herren, die Dekane, Pfarrer und Kapläne und die fürstlichen Beamten, waren vom Ungelt befreit, aber er war der Meinung, dass man den schwer schaffenden Bauern doch wenigstens ihr Bier zu einem angemessenen Preis lassen sollte.
»Zwei Gulden kommen jetzt auf den Eimer«, sagte der Wirt, womit er ein Gefäß bezeichnete, das etwa vierundsechzig bayerische Maß enthielt. »Ja, ja, es ist nun mal so, wir müssen uns fügen. Kurfürst Karl Theodor braucht Geld.«
So aufgebracht Anselm von Deinharting über die willkürliche Maßnahme war, die in seinen Augen einer Halsabschneiderei glich, sowenig war er bereit, mit dem Wirt darüber zu diskutieren. Der dicke Schwaiger wäre imstande gewesen, sich eine Anspielung auf die illegitimen Kinder des Kurfürsten zu erlauben, deren Versorgung ihm, wie Anselm von Deinharting wusste, mehr als sein Land am Herzen lag.
Aber wusste es auch der Wirt? Schwaiger war schlau, aber er hatte nicht wie er Beziehungen zum Hof. Doch selbst wenn er es wusste, würde er sich hüten, es den Bauern unter die Nase zu reiben, die, fast alle noch des Lesens und Schreibens unkundig, nichts von den Vorgängen in der großen Welt verstanden. Ihre Unzufriedenheit war auch so schon groß genug, wenn sie sich auch gottergeben in ihr Schicksal fügten. Schwaiger war, und dieses Wissen beruhigte den Hofmarksherrn, alles andere als ein Aufwiegler. Ihm lag nichts an einem Umsturz, sondern nur daran, auch in diesen schlechten Zeiten gute Geschäfte zu machen.
Anselm von Deinharting stieß die Tür zum Hausflur auf. Hasso folgte ihm auf dem Fuß. Die Wirtsstube, niedrig und mit altersdunklem Holz getäfelt, lag noch verlassen da. Aber Marei kam sofort aus der Küche herbeigeeilt, sodass er nicht zu rufen brauchte. So alt sie war, errötete sie doch, als sie vor ihm knickste.
»Grüß dich, Dirn«, sagte er freundlich.
Wie immer, wenn er sie sah, erinnerte er sich daran, dass sie, drei Jahre älter als er, ihn in die Liebe eingeführt hatte. Damals war ihre Taille noch schmal und ihre Haut glatt gewesen, ihre schwarzen Augen hatten gefunkelt. Er wusste nicht mehr, wie es zu Ende gegangen war, aber die wilden, heißen Stunden in der mittäglichen Stille der Scheune waren ihm unvergesslich geblieben.
»Wie geht’s dir?«, fragte er und ließ sich an einem Tisch nahe dem Fenster nieder; Hasso machte neben ihm auf dem Boden Platz, drückte den warmen Leib fest gegen sein Bein und legte den Kopf schwer und vertrauensvoll auf sein Knie.
»Danke der Nachfrage, gnädiger Herr, wie soll’s schon gehen!«
Anselm von Deinharting hatte das Gefühl, der Höflichkeit Genüge getan zu haben; mehr sprachen sie nie miteinander. »Dann bring mir eine Maß«, befahl er.
Als sie sich flink neben ihm umdrehte, sodass ihr weiter, in der Taille gefälteter Rock ins Schwingen kam, hätte er ihr einen Klaps auf die kräftige Kehrseite geben können und hätte es, wenn es nicht gerade sie gewesen wäre, wohl auch getan. Vielleicht war es das, was sie sich erhoffte. Sie war immer noch eine ansehnliche Person und mochte manchem Mann gefallen. Aber die Erinnerung an das, was einmal gewesen war, hatte sich als unüberbrückbare Schranke zwischen ihnen aufgebaut.
Er sah ihr zu, wie sie den Zapfhahn aufdrehte und das schäumende Bier sorglich in den schräg gehaltenen Krug laufen ließ. Es gelang ihm nicht, seine ständig kreisenden Gedanken wenigstens in diesem Augenblick der Ruhe auszuschalten und sich ganz zu entspannen. Als Marei dann den gut gefüllten tönernen Krug vor ihn auf die dicke, zerschnitzte Holzplatte stellte, nickte er dankend und ergriff ihn sogleich, den Daumen durch den Henkel gesteckt, die Handfläche um die Kühle des Bauches gelegt.
Nur kurz blieb sie stehen, sah zu, wie er mit geschlossenen Augen den ersten Schluck nahm, und lief dann zur Tür. »Kommen’s noch net?«, rief sie hinaus.
Der Wirt gab ein langgezogenes »Naaa!« zurück.
Das würzige, frische, sorgsam gelagerte Bier übte wie immer eine beruhigende Wirkung auf Anselm von Deinharting aus. Im Schloss wurde, weil es in den gehobenen Kreisen so Sitte war, nur Wein getrunken. Aber jedes Mal, wenn er eine Maß leerte, wurde ihm bewusst, dass ihm das heimische Bier mehr zusagte als jedes andere Getränk.
Nun wurde es dem einfachen Volk wieder verteuert.
Hart setzte er den Krug auf den Tisch zurück.
Karl Theodor war ein Unglück für Bayern, daran bestand kein Zweifel. Mochte er ein kluger und gebildeter Mann sein, aber er hatte Bayern und seine Bevölkerung nie geliebt. Konnte man denn ein Land lieben, zu dem man keinerlei innere Beziehung hatte und das einem erst in reifem Mannesalter durch Erbschaft zugefallen war? Als er seinerzeit begriff, dass er seine Residenz von Mannheim nach München verlegen musste, sollte er, so munkelte man bei Hof, geäußert haben, seine guten Tage seien nun vorbei.
Anselm von Deinharting hatte in München gelebt, an der Schwelle des Jahres 1778, als Kurfürst Max III. Josef an den Blattern starb und Karl Theodor aus der Pfalz in der Hauptstadt einzog. Ihm war der kühle Empfang, den man dem neuen Kurfürsten bereitet hatte, unvergesslich geblieben, und er wusste, Karl Theodor hatte ihn den Münchnern nie verziehen. Aber wie konnte er Herzlichkeit erwarten, da schon nach dem Antritt seiner Herrschaft Gerüchte vorausgeeilt waren, nach denen er beabsichtigte, Bayern an Österreich zu verkaufen!
Und es waren, wie sich bald zeigen sollte, mehr als Gerüchte gewesen. Schon in den ersten Tagen des neuen Jahres war in Wien der schmähliche Vertrag unterzeichnet worden, wonach dem Lande Österreich aufgrund sehr zweifelhafter Ansprüche Niederbayern zugeschlagen werden sollte. Josef II. hatte darüber hinaus noch Oberbayern, die Landgrafschaft Leuchtenberg und die Herrschaft Mindelheim als Reichslehen, Teile der Oberpfalz als böhmische Lehen gefordert, und es war abzusehen, dass er, wenn der erste Vertrag erfüllt worden wäre, auch diese Ländereien erhalten hätte.
Dazu aber war es nicht gekommen. Jetzt hatte sich die Herzogin Clemens von Bayern eingeschaltet. Ihr war es um Bayern gegangen.
Anselm von Deinharting erinnerte sich noch gut, wie sie, gestützt auf Minister Hohenfels und die bayerischen Patrioten Lori, Obermayer, Kreittmayer und Baron Leyden, den Nacherben Karl Theodors, den Herzog Karl August von Zweibrücken, zum Protest veranlasst hatte. Kleinlaut gab Karl Theodor vor, dass der Wiener Hof ihn eingeschüchtert hätte. Die Zweibrücker hatten Preußen um Hilfe gebeten.
Es war gelungen, Friedrich II., dem nichts daran gelegen sein konnte, dass Österreich seine Macht ausdehnte, zum Eingreifen zu veranlassen. Der Preußenkönig unternahm einen kurzen Feldzug nach Böhmen, von der Bevölkerung abschätzend als Kartoffelkrieg bezeichnet, der ohne Schlachtentscheidung mit dem halbherzigen Frieden von Teschen geendet hatte. Damals hatte Österreich nur das Innviertel erhalten. Aber es war erwiesen, dass Österreich seine Pläne, Bayern einzunehmen und Karl Theodor mit den Niederlanden abzufinden, auch danach und bis zum heutigen Tage nicht aufgegeben hatte. Seit zwei Jahren saß jetzt Franz II. als König auf dem österreichischen Thron und er hatte die Verhandlungen mit Karl Theodor mit neuem Nachdruck betrieben.
Anselm von Deinharting seufzte schwer. Was für eine schändliche Geschichte! Was für eine Welt, in der man Länder und Menschen besitzen, erben, tauschen oder sogar an den Meistbietenden verschachern konnte!
Gleichzeitig tauchte, wie immer, wenn seine Gedanken bis zu diesem Punkt gelangt waren, die Frage in ihm auf, warum er sich so sehr gegen die Vorstellung sträubte, dass Bayern zu Österreich geschlagen werden sollte. Die Bayern waren den Österreichern doch benachbart, ja verwandt, sie sprachen die gleiche Sprache, waren sich kulturell und sogar im Mundartlichen nahe. Warum lag denn ihm und den anderen patriotischen Bayern – und das waren fast alle außer denjenigen der niederen Stände, die zu stumpf und gleichgültig waren, und jenen Reichen, die ihr Geld auf die Wiener Staatsbank geschafft hatten – warum lag ihnen so viel daran, selbstständig zu bleiben? Und worin bestand ihre Selbstständigkeit denn? Was hatten denn Bayern in Bayern noch zu bestimmen?
Er selber, Anselm von Deinharting, war Mitglied der Stände, zu denen Adelige, Geistliche und Vertreter der Städte gehörten, die die bayerischen Kurfürsten beraten sollten. Aber Karl Theodor hatte sie nicht ein einziges Mal während seiner Regentschaft einberufen.
»Wozu brauche ich die Stände?«, hatte er, als Minister Hohenfels es wagte ihm das vorzuwerfen, geantwortet. »Ich weiß, wie viel Geld ich brauche, und das muss ich haben.«
Die Stände hätten sich freilich auch ohne Weisung von oben zusammensetzen und über die Lage sprechen können. Aber darin hätte Karl Theodor gewiss eine offene Rebellion gesehen. Dies aber wagten die Stände nicht, wollten sie auch nicht, weil sie dadurch ihre eigene Existenz aufs Spiel gesetzt hätten. Die meisten konnten, wie auch Anselm von Deinharting, nicht auf ihre Einkünfte aus dieser Position verzichten. Daneben erhielt er zwar noch Geld aus einer Pflegschaft, einem juristischen Amt, das er selber allerdings nicht versah, sondern durch eine andere Person ausüben ließ, wie es üblich war. Er zog das Gehalt ein, sein Vertreter lebte von den sogenannten Sporteln, willkürlich festgelegten Abgaben, die Kläger und Beklagte ihm entrichten mussten. Auch das war, Anselm von Deinharting wusste es, eine Regelung, die jeder rechtlich denkende Mensch als unbefriedigend empfinden musste. Er selber dachte nicht anders darüber, aber er hatte nicht die Kraft, sich dagegen aufzubäumen.
Er brauchte Geld, viel Geld. Das Schloss war zu erhalten, seine Frau, seine Töchter, seine Söhne, seine Pferde – das alles kostete und er musste es irgendwo hernehmen.
Aber diese Überlegungen hatten ihn von seiner ursprünglichen Frage abgebracht und lenkten ihn auf Erinnerungen an seine Jugend, eine Zeit, in der er ehrlich geglaubt hatte, im Verein mit anderen idealistischen Männern die Welt und besonders die Zustände in Bayern verändern zu können. In München, wo er, gelernter Jurist, ein Hofamt anstrebte, hatte er zu den Illuminaten gehört, einer Geheimgesellschaft junger Aufklärer, deren Einfluss in die höchsten Ämter gereicht hatte. Aber schon 1785, zwei Jahre bevor die Illuminaten verboten und unnachsichtig verfolgt worden waren, hatte er durchschaut, dass er und seine Freunde, unter ihnen der hochbegabte Montgelas, vom Gründer und Leiter des Bundes, einem gewissenlosen Mann namens Weishaupt, für dessen eigene Ziele ausgenutzt worden waren. Weishaupt wollte Macht, heimliche und unumschränkte Macht für sich selber, nicht Wohlfahrt des Staates. Wegen seiner Tätigkeit als Illuminat war Anselm von Deinharting dem Kurfürsten verdächtig geblieben, wenn er auch durch seinen frühen Rückzug aus der Organisation seine Pflegschaft und seine Zugehörigkeit zu den Ständen hatte retten können.
Er hatte sich auf seine Hofmarksherrschaft zurückgezogen.
Damals war etwas in ihm zerbrochen. Nicht die äußeren Schwierigkeiten hatten ihm so zugesetzt, sondern das jähe Erwachen aus einem Traum, der ihm eine freie, vernünftige Welt zum Greifen nahe gezeigt hatte. Die Ernüchterung war zu jäh, das Erwachen zu böse gewesen. In einem Kampf geschlagen zu werden, hätte er ertragen. Aber feststellen zu müssen, dass die Partei, für die er seine ganze Tatkraft und Intelligenz eingesetzt, nicht besser gewesen war, als die, gegen die er gekämpft hatte, das machte ihn so unsicher, dass er nun von ständigen Zweifeln geplagt wurde.
Er wusste selber, dass er dem Hang erlag, niemals eindeutig Stellung zu nehmen, jedes Ding immer von zwei Seiten anzusehen – jenen zwei Seiten, von denen aus die Dinge sich ja immer betrachten ließen. Nur wurden von einem Mann in seiner Position eben Entscheidungen verlangt, die ihn oft überforderten.
Anselm von Deinharting war so ins Grübeln geraten, dass er nicht gleich bemerkte, dass sich nun doch etwas tat. Der dicke Schwaiger war durch den Hausflur zur Küche gelaufen und hatte Marei angewiesen, die Würste in den Kessel zu legen. Erst als die Dogge den schönen Kopf von seinem Knie nahm und die Ohren spitzte, wurde der Hofmarksherr aufmerksam.
»Bei Fuß, Hasso!«, befahl er, stand auf und trat durch den Flur vor die Haustür.
Die erwartete Kutsche, ein schwarzes Ungetüm mit ledernem Verdeck, näherte sich jetzt rumpelnd und schaukelnd, mit sechs Pferden bespannt, in einer Wolke von Staub, denn es war in den letzten Tagen trocken gewesen. Der jähe Frühlingswind trieb den Staub, den die Pferdehufe aufrührten, in Wirbeln weit über die Kutsche hinaus. Anselm von Deinharting schien es, als führe sie langsamer als gewöhnlich, was wohl der Grund sein mochte, dass sie so spät kam. Allerdings war auf die Zeit ihrer Ankunft nie Verlass. Unfälle waren an der Tagesordnung, sei es, dass die Deichsel brach, ein Rad sich löste oder der Kutscher die Herrschaft über seine Pferde verlor. Zu ernstlichem Schaden kam selten einer der Passagiere, aber so ein Unfall bedeutete immer Aufenthalt und Zeitverlust.
Der Postillion saß auf dem rechten Sattelpferd, das Horn an einem Lederriemen um Hals und Schulter gehängt. Mit einem gelinden Ruck brachte er alle sechs Pferde vor dem Gasthof »Zur Post« zum Stehen.
Fast gleichzeitig steckte der Schaffner den Kopf aus dem Seitenfenster und wandte sich, obwohl auch der Wirt inzwischen wieder auf die Straße getreten war, an Anselm von Deinharting. »Um Himmels willen, helfen Sie mir, gnädiger Herr!«
»Was gibt’s denn, Mann?«
»Eine Dame ist unterwegs schwer erkrankt … Sie hat hohes Fieber und ist schon gar nicht mehr bei sich!«
Anselm von Deinharting wandte sich an den Wirt. »Lass Er das große Zimmer zum Garten richten!«
Der war über diesen Auftrag gar nicht glücklich. »Und wenn sie nun die Pocken hat? Oder die Blattern? Vielleicht gar die Pest?«
Sekundenlang wurde Anselm von Deinharting unsicher, dann sagte er scharf: »Es gibt keine andere Lösung, also mach Er!«
Der Schaffner hatte die Tür von innen geöffnet und stieg aus, ein schmächtiger Mann mit hochgezwirbeltem Schnurrbart, der, nachdem ihm die Verantwortung abgenommen war, das Aufregende der Situation zu genießen begann.
»Es sind Französinnen«, berichtete er wichtigtuerisch, »Mutter und Tochter, man kann sich kaum mit ihnen verständigen!«
»Französinnen!«, wiederholte der Wirt mit dem Ausdruck des Abscheus. »Auch das noch! Als wäre nicht …«
Anselm von Deinharting brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Dabei verstand er ihn sehr gut. Ein großer Teil der französischen Adeligen, die vor der Guillotine geflohen waren, hatten sich in deutschen Landen selbst bei ihren Standesgenossen durch Prassen und Aufschneidereien, Sitten- und Zügellosigkeit sehr unbeliebt gemacht, besonders am rechten Rheinufer, wo sie sich geradezu in Kolonien niedergelassen hatten, bis nach Bayern und Österreich hinein. Unter normalen Umständen hätte auch er sich nicht mit französischen Emigranten eingelassen, aber dies war ein Notfall.
Entschlossen steckte er seinen Kopf in das Innere der Kutsche und wäre fast wieder zurückgefahren, denn die verbrauchte Luft war erfüllt von den Ausdünstungen der Passagiere, die hier stundenlang zusammengepfercht gewesen waren.
Zwei runde, tiefblaue Kinderaugen blickten ihn an. »Aidez-nous, monsieur«, sagte eine eindringliche, klare Kinderstimme, »pour l’amour de Dieu! Maman est très malade!«
»Wir werden deine Maman schon wieder gesund bekommen«, beruhigte Anselm von Deinharting das Kind in französischer Sprache.
Das kleine Mädchen lächelte nicht zurück, sondern blickte ihn sehr ernst, auf unkindliche Weise prüfend an.
Jetzt erst entdeckte er die Kranke, die schwer atmend in der Ecke neben dem Fenster in den Polstern lehnte: eine schmale Gestalt in einen schwarzen Seidenmantel gehüllt. Das Antlitz hochrot von Fieber, die schmalen Lippen ausgetrocknet und spröde, besaß doch einen gewissen Reiz; die Wimpern der geschlossenen schweren Lider waren lang und dicht, das volle Haar, das unter dem kleinen Hut hervorquoll, von einem auffallenden, tiefen Schwarz.
Anselm von Deinharting schob den rechten Arm unter die Knie der Kranken, den linken hinter ihren Rücken und hob sie behutsam heraus. Der Wirt hielt die Haustür geöffnet. Sein Gesicht war verzerrt von widerstrebenden Empfindungen, dem Ärger über die unerwünschte Einquartierung und dem Zwang, sich zu fügen, verbunden mit dem Wunsch, möglichst gefällig und einladend auf die anderen Reisenden zu wirken.
Die Last auf Anselm von Deinhartings Armen war leicht. Mühelos trug er sie die steinernen Stufen empor, behindert nur durch den großen Hund, der sich wie immer dicht an seiner Seite hielt. Das kleine Mädchen folgte ihnen, einen schwarzen seidenen Reisebeutel fest in beiden Händen.
»Votre nom?«, fragte er über die Schulter zurück, während sie die ausgetretenen Stufen der hölzernen Treppe im Gasthof hinaufstiegen.
»Antoinette, Comtesse de Beaujeux«, sagte das Mädchen, »et la malade est ma mère.«
Flüchtig wunderte Anselm von Deinharting sich darüber, dass Antoinette es für nötig hielt, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Kranke ihre Mutter sei, denn daran konnte gar kein Zweifel bestehen.
Jetzt waren sie im ersten Stock angelangt; die Tür zu dem großen, freundlichen Zimmer mit dem Blick auf den Obstgarten stand offen.
Die Magd hatte eines der beiden dicht nebeneinanderstehenden, bunt bemalten Betten schon bezogen; auch ihr passten die Gäste nicht. »Gleich zwei?«, fragte sie, von der Kranken auf das Mädchen blickend.
»Was kümmert’s dich?«, gab Anselm von Deinharting zurück. »Du kannst das andere Bett später beziehen.« Er legte die Kranke nieder. »Sorg dich um die Dame, hilf sie ausziehen.«
»Ich muss die Post annehmen!« Marei wollte zur Tür.
»Das kann der Wirt einmal selber besorgen, er ist der Posthalter. Bemüh du dich um die Kranke.« Er packte die Magd am Arm und hielt sie zurück. »Dirn, tu, was ich dir sage.«
Antoinette hatte das Gespräch mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, obwohl sie der deutschen Sprache nicht mächtig war, entnahm sie aus dem Ton, um was es ging, hatte wohl auch auf ihrer Reise quer durch Deutschland schon das eine oder andere Wort gelernt. Mit großer Würde lehnte sie die ungern gegebene Hilfe ab und erklärte, dass sie durchaus allein imstande sei, ihre Mutter zu pflegen.
Ihre Sicherheit überraschte Anselm von Deinharting. Sie war noch ein Kind, gewiss ein oder zwei Jahre jünger als Beata, seine eigene Tochter, und doch zeigte sie schon große Reife. Er mochte sich gar nicht vorstellen, wie sich die verwöhnte, launische Beata in einer ähnlichen Situation verhalten hätte.
»Bist du ganz sicher?«, fragte er.
»Wir haben wenig Geld«, erklärte Antoinette, ohne den Blick zu senken.
Anselm von Deinharting war froh, dass sie französisch sprach, sodass die Magd sie nicht hatte verstehen können. Er ließ Marei los. »Sie sagt, sie wird allein fertig! Hol du wenigstens frisches Wasser. Und schick dich! Ich warte, bis du wieder da bist!«
Marei verschwand mit dem Krug.
Er wandte sich Antoinette zu. »Mach dir wegen des Geldes keine Sorgen!«
»Sie sind sehr gut zu uns!«
Der Hund ging auf sie zu und schnupperte an ihrer Hand. Sie ließ es geschehen ohne zurückzuzucken.
»Er tut dir nichts«, sagte Anselm von Deinharting.
»Das weiß ich«, erwiderte Antoinette ruhig, »warum sollte ein so großer Hund Angst vor mir haben?«
»Du meinst, Hunde beißen nur vor Angst?«
»Die meisten«, behauptete sie ernsthaft, »genau wie die Menschen. Die sind auch böse, weil sie Angst haben.«
Er hätte sich noch gerne weiter mit dem ungewöhnlichen Kind unterhalten, aber es gab zu tun. Nachdem er ihr geholfen hatte, die Kranke aus dem schweren Seidenmantel zu befreien, wandte er sich dem Fenster zu und sah in den Garten hinunter. Im Hof bewegte die Magd wütend den Pumpenschwengel auf und ab und er musste lächeln, denn sie bot, wie sie so im Schwunge war, mit ihrer kräftigen Statur, den drallen Armen und den geröteten Wangen einen durchaus nicht reizlosen Anblick. Jetzt schien der Eimer voll zu sein, sie ließ den Schwengel ruhen und schüttete das Wasser in den Krug.
»Du kommst zurecht, Tonette?«, fragte er.
»Warum sagen Sie das?!«
Ihr Ton klang so sonderbar, dass er sich nun doch, ungeachtet der Möglichkeit, die Kranke entkleidet zu sehen, umdrehte. Antoinette hatte sie gerade mit dem Federbett bedeckt, dessen Zipfel sie noch in den Händen hielt, ihre blauen Augen schwammen in Tränen.
»Was war falsch daran?«
»Nichts, gar nichts, nur …« Es war ihr anzumerken, wie viel Mühe es sie kostete, ihre Stimme zu beherrschen. »… Tonette, so hat mein Papa mich genannt.«
»Er ist … tot?«
»Ja. Sie haben ihn …« Antoinette verstummte.
Er verstand, dass auch der Graf Beaujeux zu den Mitgliedern des französischen Adels zählte, deren Leben unter der Guillotine geendet hatte. »Sicher hat er nicht leiden müssen«, sagte er, weil kein anderer Trost ihm einfiel.
»Ich weiß, das geht ganz schnell«, stimmte sie zu, »und ich weiß auch, dass er jetzt im Himmel ist. Es ist nur – manchmal schwer, allein zu sein.«
»Aber du hast doch deine Maman!«
»Ja, Maman!« Antoinette legte ihr mit einer fast mütterlich wirkenden Geste die Hand auf die Stirn. »Sie ist so zart!«
»Hab keine Angst, Tonette, sie wird nicht sterben. Ich schicke euch gleich den Bader, ja?«
Er warf einen besorgten Blick auf die Kranke, deren Gesicht ihm noch röter schien als vorhin, da er sie aus der Kutsche gehoben hatte. Ihre geschlossenen Lider zuckten. »Morgen komme ich wieder«, versprach er und ging zur Tür.
Hasso drängte sich neben ihm in den oberen Flur.
Marei kam mit dem gefüllten Krug in der Hand die Treppe herauf.
Er verstellte ihr den Weg. »Warum so mürrisch, Dirn?«, fragte er. »Was haben dir diese armen Menschen getan?«
»Arm? Bah! Gesindel!«
Um sie zu besänftigen, legte er ihr, ganz gegen seine Gewohnheit, den Arm um die starke Taille. »Die Damen sind Gräfinnen!«
»Das kann leicht eine sagen«, brummte sie, aber ihre Züge wurden doch weicher.
»Pfleg sie mir gut, ja?«, bat er und fischte mit zwei Fingern seiner freien Hand einen Viertelgulden aus der Tasche seiner braunen Weste. »Tu’s um meinetwillen!«
Sie nahm das Geldstück, besah es und ließ es in der Rocktasche unter der Schürze verschwinden. »Danke, gnädiger Herr!«
»Bist doch ein braves Ding!« Er ließ sie los und gab ihr einen leichten Klaps auf die stattliche Kehrseite.
Die Magd ließ noch nicht locker. »Möcht nur wissen, was Sie an dera finden!«
»Nichts. Es sind zwei unverschuldet in eine Notlage geratene Frauen und man muss ihnen helfen. Das ist alles.«
Marei brummte.
Ihm fiel ein Argument ein, mit dem er sie beeindrucken konnte. »Es ist Christenpflicht!«, sagte er und kam sich dabei recht heuchlerisch vor, denn für ihn war das Christentum genauso zweifelhaft wie die meisten anderen Dinge auf dieser Welt.
»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen«, maulte die Magd.
Hasso war ihm schon mit einigen Sprüngen vorausgeeilt, er folgte ihm die Treppe hinunter. Oben hörte er Marei kräftig an die Tür zum Gästezimmer klopfen und hoffte, dass er sie so weit gebracht hatte, die kleine Antoinette nicht weiter zu plagen.
An ihre Mutter dachte er gar nicht.
Als er auf den Dorfplatz trat, war der Wirtsknecht schon dabei, die frischen Pferde anzuschirren. Auf dem Pflaster neben der steinernen Außentreppe standen eine mit silbernen Schlössern versehene Kleidertruhe und ein großer Koffer. Beide waren mit neunzackigen Kronen und den Initialen L und B verziert.
»Horch her, Sepp«, sagte Anselm von Deinharting, »wenn du mit den Pferden fertig bist, bringst du die Sachen gleich zu den Damen hinauf!«
Der Wirt, der auf ihn gewartet hatte, war ihm nachgekommen.
»Was sonst noch?«, schrie er. »Ich brauch den Sepp im Stall und auf dem Acker!«
Anselm von Deinharting wandte sich um. »Er wird auch immer unverschämter! Soll ich die Koffer etwa selber schleppen? Oder will Er es tun?«
»Ich will, dass die Franzmänninnen so rasch wie möglich hier verschwinden … diese Zigeunerinnen!«
»Sie werden bleiben, bis die Gräfin wieder ganz gesund ist, hat Er mich verstanden?«
»Und wer sagt mir, dass sie zahlen können?«
Diese Wendung hatte Anselm von Deinharting erwartet. »Was für ein herzloser, harter Bursche Er doch ist! Ihm geht es ums Geld und immer nur ums Geld! Pfui Deifi!«
»Der gnädige Herr hat gut reden. Ihr habt genug davon. Aber für uns kleine Leute ist Geld etwas Leidiges!«
»Nun tut nicht so, als nagtet Ihr am Hungertuch!« Anselm von Deinharting band Bruna los.
Die schwere schwarze Norikerstute warf den Kopf zurück und wieherte, die Dogge umkreiste Herrn und Pferd und bellte vor Freude, dass sie nun endlich wieder loslaufen durfte.
»Es könnte leicht dahin kommen!« Der Wirt trat dicht heran. »Garantiert mir der gnädige Herr dafür …«
»Ich brauche Ihm gar nichts zu garantieren! Er scheint vergessen zu haben, dass Haus und Grund mir gehören!«
»Aber ich betreibe die Wirtschaft bis auf den Ausschank und die Brauerei in eigener Verantwortung! Also bin ich’s, dem der Schaden entsteht, wenn …«
Anselm von Deinharting verlor die Geduld. »Ach, Schwaiger, halt Er endlich sein Maul! Bis jetzt hat Er bei mir noch nie draufgezahlt. Das sollte Er wissen. Natürlich stehe ich für die Damen ein. Als wenn Er das nicht wüsste. Aber Er ist immer voller Misstrauen. Setzt mir in Gottes Namen alles auf die Rechnung. Ich zahle. Genügt Ihm das? Oder soll ich es Ihm schriftlich geben?«
Im runden Gesicht des Wirtes glätteten sich sämtliche Sorgenfalten und seine kleinen schlauen Augen blitzten auf. »Aber was denken Sie, gnädiger Herr! Als wenn ich dem gnädigen Herrn nicht glauben würde! Du hast’s gehört, Seppei! Der gnädige Herr wird die Rechnung für die französischen Damen, für die hochverehrten Gräfinnen, zahlen!«
Wider Willen war Anselm von Deinharting durch die Unverfrorenheit des Wirtes, der sich nicht einmal mit seinem Wort, dem Wort eines Edelmannes, begnügen mochte, sondern sich auch eines Zeugen versichern musste, erheitert. Auch dem Knecht steckte er einen Viertelgulden zu, bevor er sich in den Sattel schwang. »Tu, was ich dir gesagt habe, Sepp!«
Das Geld löste dem schweigsamen Menschen die Zunge. »Ich werd’s schon machen!«
»Gleich nachher holst du den Bader!«, befahl Anselm von Deinharting, und dem Protest des Wirtes zuvorkommend fügte er hinzu: »Je eher die Gräfin gesund wird, desto schneller ist Er sie los! Denk Er daran, Schwaiger!«
Der Wirt katzbuckelte so tief, dass sein Käppchen verrutschte und er es mit der Hand festhalten musste. »Da Ihr für sie einsteht, gnädiger Herr, soll es mir auf ein paar Tage mehr oder weniger nicht ankommen.«
Anselm von Deinharting wollte seine Stute, die vor Ungeduld tänzelte, schon laufen lassen, als ihm plötzlich einfiel, warum er eigentlich ins Dorf geritten war. »Die Post, Schwaiger!«, rief er. »Was ist mit der Post?«
Der Wirt holte einen großen, mit einem Petschaft rot versiegelten Umschlag aus der Tasche, und Anselm von Deinharting, dessen Herz bei der Bewegung des Wirtes eine Sekunde lang höher geschlagen hatte, wusste sofort, dass dieser Brief nicht von seinem Sohn aus Straßburg kam, sondern von seiner Schwester Sophie, die als Gräfin Hollberg in München gut verheiratet war. Dankend steckte er ihn in seine Satteltasche. Zwar brannte er auf Nachricht von Anselm, aber es war nicht so, dass er an den Briefen seiner Schwester nicht interessiert gewesen wäre. Wenn er auch seinen Entschluss, der Stadt und dem Hof den Rücken zu kehren, nie bereut hatte, so war es doch wichtig für ihn zu erfahren, was sich in München tat.
Elisabeth, seine Frau, würde sich freuen.
Grüßend schwenkte er die Reitgerte und ließ seiner Stute die Zügel locker. Hasso schoss voraus. Im Schritt und mit klappernden Hufen ging es über das holprige Pflaster des Dorfplatzes, vorbei an Pfarrhof, Kirche und Friedhofsmauer, hinein in die schnurgerade Lindenallee.
Hier endlich durfte Bruna wieder traben.
Immer noch ging ein starker Wind und peitschte die Zweige, aber die Wolken waren vertrieben und der Himmel dehnte sich weit und blau im Glanz der hellen Sonne. Anselm von Deinharting nahm es als ein gutes Zeichen, er wusste selber nicht wofür.
Elisabeth von Deinharting saß im oberen Erkerzimmer des kleinen Schlossturmes. Hier hielt sie sich besonders gern auf. Sie liebte den prachtvollen blau-weißen Porzellanofen, den der erste Deinharting in das alte Schloss, das noch aus dem 13. Jahrhundert stammte, hatte einbauen lassen. Er bot nicht nur in seiner rundlichen Üppigkeit einen herzerfreuenden Anblick, sondern ließ sich auch besonders gut heizen, und das war wichtig für Elisabeth, eine zarte, weißhäutige, nach dem Tod ihres kleinen Sohnes und einer Fehlgeburt fast durchscheinend wirkende junge Frau, die viel Wärme brauchte, um sich wohlzufühlen.
Sie liebte auch das Stuckrelief an der Decke, das zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden war und die Muttergottes in einem Muschelwagen zeigte, der von einer Heilig-Geist-Taube gezogen wurde.
Entscheidend aber dafür, dass sie gerade dieses Zimmer heute zu ihrem Aufenthalt gewählt hatte, war das helle Licht, das durch die Erkerfenster fiel und ihren immer noch von Tränen brennenden Augen das Wählen der mannigfachen Farbtöne ihrer Stickgarne erleichterte. Elisabeth saß vor ihrem großen, rechteckigen, mit einem weitmaschigen Gewebe bespannten Rahmen und stickte an einem Gobelin, den sie selber entworfen hatte.
Mit dieser Arbeit hatte sie begonnen, noch bevor das Unfassbare geschehen war. Heute hatte sie sich zu dieser Arbeit gezwungen, um sich nicht ganz in dumpfes Grübeln zu verlieren. Das gleichmäßige Führen des Fadens, das langsame Entstehen des Musters übte eine beruhigende, wenn auch nicht tröstende Wirkung auf sie aus.
Obwohl seit dem Tod des kleinen Maximilian, den der Scharlach innerhalb weniger Tage dahingerafft hatte, kaum zwei Monate vergangen waren, kleidete sie sich hell, denn sie wollte ihre Stiefkinder nicht zu sehr an den schmerzlichen Verlust erinnern.
Elisabeth war die zweite Frau Anselm von Deinhartings und knappe zweiundzwanzig Jahre alt.
Zu ihren Füßen auf einem Schemelchen hockte die kleine Auguste, die Jüngste aus ihres Gatten erster Ehe, fünf Jahre alt, und hielt eine leichte, anspruchslose Stickerei in den kurzen, noch ungeschickten Fingern. »Oh, ist das schwer, Mama!«, jammerte sie.
Elisabeth warf einen Blick auf die Arbeit des Kindes. »Aber du machst es hübsch!«
Doch auch diese Ermunterung nutzte nichts, die Kleine hatte die Lust verloren. »Ich kann nicht mehr!«, rief sie. »Aua, jetzt habe ich mich auch noch in den Finger gestochen!« Sie sprang auf und zeigte Elisabeth die Kuppe ihres Zeigefingers, auf der ein winziger roter Punkt zu sehen war.
Mit einem sanften Lächeln küsste Elisabeth sie auf die Fingerspitze. »Schon geheilt!«
Auguste blieb, eng an sie gelehnt, stehen und blickte auf den entstehenden Gobelin. »Das wird unser Wappen, nicht wahr?«
»Ganz richtig. Es ist ein sogenanntes redendes Wappen.«
»Aber ein Wappen kann doch nicht reden!«, rief Auguste. »Jetzt schwindeln Sie!« – Wie alle Kinder ihres Standes siezte Auguste die Eltern.
»Manche Wappen können das schon … sie können etwas ausdrücken. Das Herz und der Amboss hier im Felde, was sollen die wohl bedeuten? Denk nach, du weißt es!« Noch während sie es sagte, spürte Elisabeth, dass ihr schon wieder Tränen in die Augen steigen wollten; plötzlich kam es ihr vor, als wenn dieses Herz auf dem Amboss ihr eigenes leidgeprüftes Herz wäre.
»Dass die Deinhartings tapfer sind!«
»Ganz richtig, Gustel.«
»Sie weinen doch nicht, Mama?«
»Nein, nein, mir tränen nur die Augen … die Stickerei tut den Augen weh.« Tapfer kämpfte Elisabeth gegen diese Anwandlung von Selbstmitleid, die Pfarrer Reiter ihr so streng verboten hatte.
»Und die Rauten da am Rand? Was ist mit denen?«
»Die dienen nur zum Schmuck, sie gehören nicht zum eigentlichen Wappen. Ich sticke ja nicht die Form des Schildes, sondern ein großes Rechteck, und so brauchte ich einen Abschluss.«
»Ach so.«
»Herz und Amboss bedeuten aber auch noch etwas anderes als Tapferkeit, Gustel!«
»Dass unser Urgroßvater Schmied war!«
»Richtig. Das hat der erste Deinharting nicht vergessen wollen und das finde ich gut so.«
»Warum?«
»Nun, er hätte sich ja auch seiner Herkunft schämen können.«
Augustes braune Augen wurden groß. »Ist es denn eine Schande, ein Schmied zu sein?«
»Nein, du Dummchen, natürlich nicht! Aber ein Edelmann ist doch mehr als ein Schmied, er steht höher, nicht wahr?«
»Ja, und deshalb sind die Schlösser und Burgen höher gebaut als die Häuser«, meinte Auguste altklug.
Elisabeth ließ es dabei bewenden, sie sah keinen Sinn darin, Auguste die Unterschiede zwischen den einzelnen Ständen klarzumachen; dafür würde später immer noch Zeit sein.
»Willst du nicht doch noch ein bisschen sticken?«, fragte sie.
»Nur, wenn Sie mir die Geschichte von Großvater erzählen, Mama … Sie wissen schon! Von dem, den der Kaiser geadelt hat!«
»Gut. Dann setz dich und sei brav. Aber es war nicht der Kaiser, sondern der bayerische Kurfürst Max Emanuel, der den Großvater deines Vaters geadelt hat. Dieser Großvater, dein Urgroßvater, war ein Arco-Kürassier …« Sie überlegte, wie sie das dem Kind besser erklären konnte. »… ein Soldat also, ein gepanzerter Soldat zu Pferd. Wir haben unten in der Halle ein Ölbild, das ihn mit Panzer und Helm zeigt.«
»Jetzt weiß ich schon!«
Elisabeth vernähte auf der Rückseite des Gobelins einen Faden, der zu kurz geworden war. »Damals wollten die Türken, ein fremdes, wildes Volk, das weit, weit weg am Goldenen Horn wohnt, die ganze Welt erobern. Von Osten her kamen sie bis nach Wien gezogen und belagerten die Stadt mit zweihundertfünfzigtausend Mann. Das war im Jahre sechzehnhundertdreiundachtzig …«
»Das ist aber lang, lang her …«
»Mehr als hundert Jahre«, bestätigte Elisabeth, die es in Wirklichkeit gar nicht lang fand, denn die Geschichte ihrer eigenen Familie, sie war eine geborene Kestlin, reichte bis in die Ritterzeit zurück. »Da erschien«, erzählte sie weiter, »der bayerische Kurfürst Max Emanuel als erster deutscher Fürst an der Donau und brach an der Spitze seiner Arco-Kürassiere in der Entscheidungsschlacht am Kahlenberg in das türkische Lager ein!«
»Mit meinem Urgroßvater!«, rief Auguste dazwischen.
»Ja, mit deinem Urgroßvater! Und weil er so tapfer gewesen war, durfte er sich ein ›von‹ vor den Namen setzen!«
»Und die Türken? Was war mit denen? Gingen sie alle tot?«
»Nein, aber sie mussten sich zurückziehen. Doch schon ein Jahr darauf kamen sie wieder. Der Kurfürst von Bayern, der ›blaue König‹ wurde er genannt, half immer wieder, sie zurückzuschlagen, und dein Urgroßvater war auch dabei … bei der Eroberung von Ofen, das ist eine Stadt in Ungarn, der Schlacht am Berg Harsan und bei der Einnahme Belgrads. Einmal wurde das Pferd unter dem Kurfürsten weggeschossen und dein Urgroßvater rettete ihn. Dafür kriegte er die Hofmarkschaft Deinharting, änderte seinen Namen nach seinem Besitz und wurde hier ansässig. Er konnte auch nicht mehr kämpfen, weil er den rechten Arm verloren hatte.«
»Wie schade!«
Elisabeth wusste nicht, was Auguste so bedauerte, dass der Ahn einen Arm verloren hatte, oder, was ihr eher der Fall zu sein schien, dass er nicht mehr kämpfen konnte, aber sie verzichtete darauf nachzufragen.
»Und Vater?«, fragte Auguste, deren Bäckchen sich vor Begeisterung gerötet hatten. »War Vater auch Soldat?«
»Nein«, sagte Elisabeth und strich der Kleinen über das braun gelockte Haar. »Sei froh darüber, denn sonst hätte er am Ende heute auch nur noch einen Arm oder wäre gar nicht mehr am Leben!«
Sie fuhren beide herum, als die schön geschnitzte Tür aufgerissen wurde und Beata hereinstürmte. »Mama, ich muss Sie etwas fragen!« Sie merkte selber, dass sie zu laut gewesen war und änderte Stimme und Tonlage. »Kann ich bitte mit Ihnen reden, Mama!« Sie war ein recht molliges Mädchen mit hellen, blass bewimperten Augen, einem vollen, hübsch geschwungenen Mund und dickem, weizenblondem Haar.
»Doch nicht jetzt!«, protestierte Auguste. »Wo es gerade so gemütlich ist!« – »Die Geschichte ist ja ohnehin zu Ende«, versuchte Elisabeth sie zu trösten.
»Sie wollen nicht mehr erzählen? So, dann sticke ich auch nicht mehr.« Auguste ließ achtlos ihre Stickerei zu Boden fallen und verschränkte ihre runden Ärmchen.
Elisabeth streckte die Hand nach der Großen aus und zog sie an sich. »Also, Beata, um was geht es?«
»Mademoiselle Henriette hat mir erzählt, Sie fahren nach Karlsbad!«
»Mademoiselle Henriette ist eine Plaudertasche!«
»Fahren Sie nun oder fahren Sie nicht?«
»Dein Vater möchte mich nach Karlsbad schicken, damit ich mich erhole.«
»Also doch!« Mit überraschender Heftigkeit warf sich Beata vor Elisabeth auf die Knie. »Nehmen Sie mich mit, Mama! Bitte, nehmen Sie mich mit!«
»Liegt dir so viel daran?«
»Alles! Es ist so langweilig hier … nichts geschieht, niemand kümmert sich um mich!«
»Aber, aber … jetzt übertreibst du!«
»In München wär’s bestimmt viel lustiger, aber da will Papa ja nicht mit uns leben! Nehmen Sie mich doch wenigstens mit nach Karlsbad!«
»Das kann ich nicht entscheiden.«
»Wenn Sie Papa darum bitten, erlaubt er es Ihnen bestimmt!«
»Mag sein. Er ist sehr gut zu mir. Aber man darf keine Bitten vorbringen, mit denen man den anderen zu sehr belasten könnte.«
Beata hob das Gesicht zu ihr empor. »Was heißt belasten, Mama? Sie meinen, er würde mich vermissen?«
Eigentlich hatte Elisabeth an das viele Geld gedacht, das eine Reise nach Karlsbad kostete, denn ohnehin konnte sie nicht ohne Henriette Striegel, ihre Zofe, reisen und nicht ohne den Kutscher. Die Fahrt würde sich sehr verteuern, wenn Beata mitkam, die bestimmt auch neue Garderobe brauchen würde. Aber sie war mit dem Grundsatz erzogen worden, dass eine Dame nicht über Geld sprach, und sie hatte es bis heute nicht gelernt.
»Ja, er würde dich vermissen, Liebling, denk dir nur, so ganz allein im Haus, nur mit Emanuel und Auguste.«
»Wenn Beata mitfährt, komme ich auch mit!«, verlangte Auguste.
»Hast du vergessen, dass es eine Erholungsreise für Mama sein soll?«, fragte Beata, sprang auf und schüttelte ihre Röcke. »Wer kann sich schon erholen, wenn du dabei bist.«
»Ich störe gar nicht, höchstens du!«
»Bitte, ihr Lieben, streitet doch nicht!«, bat Elisabeth. Ihre sanfte Stimme beschämte die Schwestern, denen man, wenn sie die Krankheit der Stiefmutter auch noch nicht verstanden, den Tod des Brüderchens doch nicht hatte verschweigen können. Sie wurden still und senkten die Blicke auf ihre Fußspitzen.
»Ich verspreche euch etwas, wenn auch ihr mir etwas versprecht!?«
»Was denn?«, fragte Beata.
»Ich werde mit eurem Vater reden und ihr werdet keine Gesichter ziehen, wenn seine Entscheidung nicht so ausfällt, wie ihr erwartet habt. Das gilt für euch beide. Einverstanden?«
Die Schwestern nickten.
Schon von Weitem sah Anselm von Deinharting das feste, kleine Turmschloss mit dem hohen geschindelten Dach über den Kronen der Bäume vor sich auftauchen. Aber erst als er den Fuß des Hügels erreichte, auf dem es inmitten von Blumen, Obstbäumen, Ulmen, Eichen und einem verschilften See lag, erlaubte er Bruna vom Trab ins Schritttempo überzugehen. Es galt, den steilen Aufstieg bis zum Schlosstor zu erklimmen, und dies musste, sollte die Stute nicht in Schweiß geraten, mit Bedacht geschehen. Hasso hechelte schon.
Er brauchte Zeit und Gelegenheit, sich die richtigen Worte für seine Frau zurechtzulegen. Das hatte nichts damit zu tun, dass diese beiden Französinnen heute im Dorf eingetroffen waren, sondern es war immer so. Mit Elisabeth konnte er nicht reden, wie ihm ums Herz war, sondern er musste zart und behutsam mit ihr umgehen, denn sie war allzu leicht zu verletzen.
Anselm von Deinharting liebte seine Frau und dennoch war er sich bewusst, dass es mit seiner Ehe nicht stimmte. Bevor er Elisabeth heiratete, hatte er Erfahrungen genug gesammelt. Dreizehn Jahre war er mit einer anderen verheiratet gewesen, der lebenslustigen, energischen Caroline, die ihm sieben Kinder geboren hatte, von denen vier noch lebten. Dazwischen hatte es zahlreiche Fehlgeburten gegeben, die auf die Umstände und auch auf ihr eigenes Verschulden zurückzuführen waren; sie hatte sich während ihrer Schwangerschaften nie geschont, kein Fest vorübergehen lassen und jeden Spaß mitgemacht. Aber wenn es dann geschehen war, hatte sie auch nicht gejammert. Für Caroline hatten Kinderkriegen und Kinderverlieren zum normalen Leben einer Frau gehört.
Obwohl er sie nie geliebt hatte, darüber machte er sich nichts vor, hatte er sie sehr geschätzt und tat es jetzt, nach ihrem Tode, noch mehr als zu ihren Lebzeiten. Als Fünfundzwanzigjähriger hatte er sie geheiratet, um ihres Geldes willen. Damals hatte er noch in München gelebt, auf großem Fuß, versteht sich, hatte das Geld mit dem ganzen Leichtsinn der Jugend ausgegeben, obwohl er nur das besaß, was sein Vater ihm zukommen ließ, und das war wenig genug gewesen. Das Hofamt, das er als gelernter Jurist versah, hatte ihm so gut wie nichts eingebracht. Immer wieder hatte er von den Juden, die auch heute noch Karl Theodor und damit den bayerischen Staat finanzierten – in München gab es noch keine Banken –, Geld aufgenommen, bis er völlig verschuldet war.
Aus der Not heraus hatte er Caroline geheiratet – und sie? Warum hatte sie ihn genommen? Weil sie ihn liebte? Immerhin war er ein ansehnlicher und angesehener, intelligenter und manierlicher junger Mann gewesen. Nein, er machte sich nichts vor. Sie hatte ihn genommen, weil sie verheiratet sein wollte, aus keinem anderen Grund.
Sie hatten sich nicht geliebt, aber auch nicht gehasst, sie hatten sich gestritten und wieder versöhnt und waren, so schien es ihm nachträglich, gut miteinander ausgekommen.
Caroline war bei der Geburt der kleinen Auguste gestorben. Aber es war ihm vorgekommen, als hätte sie es so gewollt. Sie hatte es nicht verwunden und nie ganz verstanden, warum er sich nach dem Tod seines Vaters in seine Hofmark zurückgezogen hatte. Lange hatte sie sich an den Gedanken geklammert, dass dieser Entschluss nur eine Marotte von ihm wäre, die er bald überwunden haben würde. Das Verbot der Illuminaten, die Verfolgung der Mitglieder des Geheimordens hatten alle ihre Hoffnungen zerstört. Sie musste begreifen, dass es für ihn und somit auch für sie kein Zurück in das lebenslustige München mehr geben konnte. Diese Erkenntnis hatte ihr die Lust am Leben genommen.
So reimte sich jedenfalls Anselm von Deinharting die Ursachen ihres Todes zusammen. Die Hebamme, die ihr in ihrer letzten Stunde zur Seite gestanden hatte, hätte etwas anderes zu berichten gewusst: von einer Nachgeburt, die sich nicht lösen wollte, von Blutungen, die nicht zu stillen waren.
Auch das hatte Anselm von Deinharting erfahren. Aber wie jedes Geschehnis hatte auch das Ableben seiner Frau für ihn zwei, wenn nicht noch mehr Seiten.
Er wusste keine Antwort auf die Frage, ob das Schicksal eines Menschen Zufall oder Fügung war, ob er es selbst bestimmen oder nur erleiden durfte.
Er konnte sie sich als zänkische, verbitterte, verblühte Frau vorstellen, und jedes Mal, wenn er es tat, war er herzlich froh, dass es sie nicht mehr gab. In der Stadt, inmitten einer Fülle von gesellschaftlichen Verpflichtungen und Abwechslungen, war das Leben an ihrer Seite erträglich, zuweilen sogar vergnüglich gewesen. Hier draußen auf dem Lande war es zu unüberwindlichen Spannungen gekommen. Enttäuscht und unzufrieden hatte sie nicht nur sich selber gequält, sondern auch Genugtuung darin gefunden, ihn mit tausend feinen Nadelstichen zu verletzen, ja sogar die Kinder mit Tränen, Rügen, Ironie und Bosheit zu plagen. Arme, unglückliche Caroline! Es war ihr zu wünschen, dass es ihr dort, wo sie jetzt war, besser ging als zu Lebzeiten – falls diese andere Welt überhaupt existierte.
Bruna hatte jetzt den halben Schlossberg erklommen und Anselm von Deinharting zwang sie, noch langsamer zu gehen. Je näher er seinem Zuhause kam, desto unausweichlicher wurde der Gedanke an Elisabeth.
Er konnte sie noch vor sich sehen, wie sie ihm das erste Mal begegnet war, so zart und schön mit dem hellen Haar, den hellen Augen und der weißen Haut, ganz anders als die derbe, gierige Caroline. Es war auf einem Ball in Schloss Amerang gewesen. Beim ersten Blick hatte er sich in sie verliebt. Sein Gefühl für sie war so stark, wie er es nicht einmal in seiner Jünglingszeit empfunden hatte.
Er hatte sie umworben mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen. Elisabeth stammte aus edlem, aber verarmtem Geschlecht. Ihre Mutter lebte nicht mehr, ihr Vater hatte für sieben Töchter zu sorgen, zwei älter als Elisabeth, von denen noch keine einen Mann gefunden hatte.
So fiel es ihm nicht schwer, trotz des Altersunterschiedes von über zwanzig Jahren ihr Jawort zu erringen, und er hielt sich für den glücklichsten Mann der Welt. Es störte ihn nicht, dass Elisabeth an der körperlichen Liebe keine Freude empfand, und es trübte seine eigene Leidenschaft nicht. Für ihn, wie für die meisten Männer seiner Zeit, war es ganz normal, dass die Frauen, soweit sie Damen waren, in der geschlechtlichen Liebe kühl und zurückhaltend waren. Ihm schien es zu viel verlangt, dass ein Wild Freude an der Jagd finden sollte.
Erst ganz allmählich begriff er, dass seine eigene große Liebe nicht imstande war, Elisabeth zu erwärmen. Als er um sie warb, hatte er es als selbstverständlich vorausgesetzt, dass sie für eine Ehe mit ihm bereit sein würde. Monate nach der Hochzeit wurde ihm klar, dass sie nichts für ihn empfand und ihn nur auf Anraten ihres Vaters und Drängen ihrer Schwestern zum Mann genommen hatte.
Jede Magd wäre ihm eine bessere Frau gewesen als die zarte Elisabeth. Dennoch liebte er sie immer noch. Er wusste um ihre Güte, ihre Sanftmut und ihren hohen Anstand und gestand sich ein, dass es sein Fehler gewesen war, sie in eine Ehe zu zwingen.
Während ihrer Schwangerschaft hatte er sie geschont und sie war ihm für sein Zartgefühl dankbar gewesen – dankbar! Mit welchen Almosen er sich in seiner Ehe zufriedengab, keine andere Frau hätte ihm so kommen dürfen!
Die Freude an dem gemeinsamen kleinen Sohn hatte sie einander dann doch sehr nahe gebracht. Er hatte gespürt, dass Elisabeth ihn wegen seiner Liebe zu Maximilian zu lieben begann – ein in seinen Augen merkwürdiger Grund, denn es war so leicht, den Kleinen zu lieben, der strahlender, feingliedriger gewesen war als alle seine Geschwister und schon früh Beweise seiner überragenden Intelligenz gegeben hatte.
Seine kurze, heftige Krankheit und sein rascher Tod waren ein Schock gewesen, den er überwunden hatte wie alle Schicksalsschläge seines Lebens. Er musste und wollte stark sein, um Elisabeths willen. Aber er hatte jetzt, da es zu spät war, den Eindruck, dass sie ihm auch die jämmerlichste Schwäche verziehen haben würde, während sie seine Beherrschung für Kälte nahm.
»Du hast ihn nicht geliebt wie ich!«, hatte sie, die Sanfte, ihm einmal vorgeworfen, als er sie zu trösten versucht hatte. »Du kannst ihn nicht wie ich geliebt haben!«
Vielleicht hatte sie sogar recht. Er hatte Maximilian geliebt, aber immer mit einem schlechten Gewissen seinen anderen Kindern gegenüber, denen er kein so zärtlicher und bewundernder Vater gewesen war und die er doch auch zu ihrem Recht kommen lassen musste. Wie man es auch immer drehte, Maximilian war nur eines seiner Kinder gewesen, und nicht einmal das einzige, das ihm gestorben war, und in jedem Augenblick hatte Elisabeth ihm mehr bedeutet.
Für sie aber war Maximilian ihr ein und alles gewesen. Von ihrer Familie, von der sie sich verraten fühlte, hatte sie sich innerlich gelöst, für ihre Stiefkinder empfand sie Mitleid, für ihn, Anselm, vielleicht Sympathie – Maximilian aber hatte ihr ganzes Herz besessen, war ihr Stolz und ihr Glück gewesen.
Als sie merkte, dass sie zum zweiten Mal guter Hoffnung war, hatte sie zu ihm gesagt, und er würde das nie vergessen können: »Ich weiß nicht, ob ich ein anderes Kind genauso sehr werde lieben können!«
Er hatte es damals nicht ernst genommen, hatte erwidert: »Rede dir das nicht ein. Wenn es erst auf der Welt ist, wird es dir genauso viel bedeuten.«
»Hoffentlich wird es ein Mädchen«, hatte sie gesagt, »damit ich es nicht zu sehr mit Maximilian vergleichen muss.«
Und nun hatte sie beide verloren, das Lebende und das Ungeborene. Anselm von Deinharting begriff, dass es ein großer Schmerz für sie sein musste. Nur konnte er nicht verstehen, dass dieser Schmerz, statt ihn ihr näherzubringen, sie wie eine Kluft voneinander trennte.
Er ritt in den Schlosshof, der wie der Dorfplatz mit Flusssteinen gepflastert war, und pfiff auf zwei Fingern, um seine Ankunft anzukündigen.
Die Meute der Deinhartinger Hunde kam um die Ecke gesaust, um ihren Herrn mit stürmischer Begeisterung zu begrüßen. Bruna war diesen Empfang zwar gewöhnt, doch sprach Anselm von Deinharting beruhigend auf sie ein, damit sie nicht scheute.
Er war schon abgestiegen, als Peter, der Pferdeknecht, von den Stallungen her angerannt kam, ein braungebrannter, stämmiger Bursche mit ständig zerzaustem Haar. Da er schon seit seinem zehnten Lebensjahr auf dem Schloss diente, hatte er sich über seinen Stand hinaus entwickelt. Er war das ledige Kind einer Magd und die Leute munkelten, dass der alte Deinharting sein Vater gewesen war.
Anselm von Deinharting glaubte nicht daran, weil er sicher war, dass sein Vater, der nach einem Sturz vom Pferd und qualvollem Siechtum gestorben war, für den Jungen dann in irgendeiner Form gesorgt haben würde, und sei es durch einen Beutel Goldstücke.
Peter aber war bettelarm, und das, was ihn von dem gewöhnlichen Landvolk unterschied, ein Mehr an Manieren und Bildung, hatte er sich selbst gelehrt, anderen abgeguckt, oder es war ihm beigebracht worden. Da der Gutshof eine halbe Meile vom Schloss entfernt lag, hatte er nie mit Kühen oder Schweinen zu tun gehabt. Ihm oblag es, die Pferde und Hunde zu versorgen, und bei besonderen Gelegenheiten schlüpfte er in seine schmucke gelbe Livree, glättete sich das wirbelige Haar mit Schmalz, zog weiße Handschuhe über und half beim Servieren.
Anselm von Deinharting musste die Hunde abwehren, die immer noch mit freudigem Gebell an ihm hochsprangen. Er nahm den Brief seiner Schwester aus der Satteltasche.
Mit einem kurzen Befehl brachte Peter sie zur Ruhe, dann übernahm er die Zügel der Norikerstute und betrachtete sie wohlgefällig. »Kein Tropfen Schweiß!« Er klopfte ihr den Hals.
»Brav, Bruna, brav!«
»Schon gut!«, Anselm von Deinharting wusste, dass dieses Lob auch für ihn bestimmt war. »Wie heißt doch das Sprichwort? Dein Weib treib an, aber schone dein Pferd!«
Peters Lachen klang nicht ganz natürlich. »Gnädiger Herr, da Sie davon sprechen …«
»Wovon?«
»Vom Heiraten!«
»Wie kommst du darauf? Kein Wort habe ich davon gesagt!«
»Ich möchte mit Ihnen darüber sprechen … bitte, gnädiger Herr!«