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»Einer der besten und krassesten Krimis, die ich in diesem Jahr gelesen habe.« Nicole Abraham, HR1 Buchtipp Eine verschwundene Tochter. Ein verzweifelter Vater. Und eine packende Verfolgungsjagd durch die dunkelsten Gassen Mallorcas. Nach Verschollen in Palma begibt sich Tim Blanck erneut auf die Suche nach seiner Tochter. Wird er sie endlich finden? Nur eins ist sicher: Niemand entkommt Mallorca unbeschadet. Nach allem, was auf Mallorca passiert ist, ist Tim Blanck nach Stockholm zurückgekehrt und versucht zusammen mit seiner Frau Rebecca und ihrer neugeborenen Tochter ein neues Leben aufzubauen. Doch die Erinnerung an Emme lässt ihn nicht los und bald häufen sich die Anzeichen, dass er sich getäuscht hat, dass sie noch am Leben ist. Tim entscheidet sich, fünf Jahre nach ihrem Verschwinden die Suche erneut aufzunehmen. So gerät er wieder in den Sog des finsteren Untergrunds des Urlaubsparadieses. Aber diesmal scheint es kein Zurück zu geben, denn gerade die Mafia bietet ihm neue Hinweise an und verlangt dafür eine Gegenleistung von Tim, die ihn zwischen die Fronten der organisierten Kriminalität geraten lässt. Eine atemlose Jagd beginnt, denn Tim muss nicht nur Emme finden, sondern auch brutalen Mafiabanden entkommen, die es auf ihn abgesehen haben.
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Seitenzahl: 427
Mons Kallentoft
Das dunkle Herz von Palma
Ein Mallorca-Krimi
Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt
Tropen
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe
Tropen
www.tropen.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Hör mig viska« im Verlag Bokförlaget Forum, Stockholm
© 2020 by Mons Kallentoft
Published by agreement with Ahlander Agency, Sweden
Für die deutsche Ausgabe
© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Zero-Media.net, München
Foto: Palma ©mauritius images/Hans Blossey
Himmel: © FinePic®, München
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-50461-3
E-Book: ISBN 978-3-608-12098-1
Eins
Zwei
Drei
Vier
Autoreninfo
¿Quién taladró mi sueño?Wer hat meinen Schlaf durchbohrt?
FEDERICO GARCÍA LORCA
Der Anruf erreichte die beiden in Stockholm. Er war wieder zurück, nachdem er der Polizei den Weg zu den Resten des Leichnams gezeigt und dafür gesorgt hatte, dass sich in angemessener Form um Emme gekümmert wurde, und er hatte beschlossen, jetzt in Stockholm zu bleiben, Rebecka wollte ihn wieder bei sich haben. Früher an diesem Tag hatten sie in einem abgedunkelten Behandlungsraum im Karolinska-Universitätskrankenhaus das kleine Wesen in ihr schwimmen sehen, der erste Ultraschall, war es nun ein Junge oder ein Mädchen, und jetzt saßen sie in der Küche mit gelieferter Pizza vor sich, der Teig, die Tomaten und der Käse wurden durch den Luftzug vom Fenster kalt, und Tim nahm das Gespräch an, er erkannte die Nummer der Policía Nacional, Juan Pedro Salgados Nummer.
»Es ist ein anderes Mädchen.«
»Aber die Jacke …«
»Es wurden Tausende dieser Jacken in dem Jahr verkauft. Und in dem Jahr davor.«
»Und die Haare?«
»Sie ist es nicht. Die DNA stimmt nicht überein. Das ist ein anderes Mädchen.«
»Wer?«
»Woher sollen wir das wissen?«
Und die Gewissheit, alles, was er sich eingeredet hatte, was zur Ruhe gekommen war nach der längsten aller schonungslosen Wanderungen, verschwand, und dafür war da wieder eine Hoffnung, diese verdammte, hoffnungslose Hoffnung, das Spiel des Universums mit ihnen, das Ende, das zu einem neuen Anfang geworden war, ein Kommazeichen statt eines Punkts.
Rebecka sah ihn an. Sie hörte seine Worte, verstand sie vielleicht nicht, aber sie wusste es, und als er aufgelegt hatte, flüsterte sie:
»Das war nicht Emme, die du gefunden hast.«
Er schüttelte den Kopf, und sie lächelte, und beide standen auf, umarmten sich. Lebendig, tot, vielleicht, vielleicht nicht. »Ich wusste es, ich habe es gewusst«, flüsterte sie, und er wünschte, er könnte das Gleiche murmeln, denn er schämte sich, er schämte sich so sehr, Emme, dass ich es zugelassen habe, mich in dem Gefühl, in der Gewissheit deines Todes, einzurichten, wie konnte ich das nur, bevor wir es ganz sicher wussten, was für ein Vater tut das?
Sie hätten zusammen jubeln sollen, das warst nicht du, aber ihre Blicke flackerten, versuchten Halt an verschiedenen Punkten in der Küche zu finden, an einer Leiste, einem Daumenabdruck auf der Dunstabzugshaube aus Edelstahl, an einem fleckigen Blatt der Korianderpflanze, gekauft für sechzehn Kronen und siebzig Öre bei Hemköp.
Emme.
WhatsApp.
Zuletzt online.
»Aber du bleibst doch hier?« Rebecka machte sich aus seiner Umarmung los. »Du fährst doch nicht wieder dorthin?«
Sie ließ den Blick auf ihm ruhen, er fummelte an einem Stück Pizzarand herum, das nicht einmal mehr lauwarm war, und sagte:
»Ich weiß nichts, Rebecka.«
Wie verhält man sich?
»Sag es mir«, forderte sie ihn auf.
»Was soll ich sagen?«
»Wie es nun weitergehen soll. Das ist das Einzige, was ich wissen will.«
Palma und Stockholm, 7. August
Ein Vermissen, das niemals zu einer Trauer werden darf. Eine Erleichterung, die eigentlich Verzweiflung ist, und Scham.
Vielleicht wäre es schön gewesen, weitergehen zu dürfen, das sagte jemand, der es nicht besser wusste.
Rebeckas Gesicht verblasst vor Tims Augen, ist gleichzeitig deutlicher als jemals zuvor. Was sollen wir tun? Du musst bleiben, du musst fahren.
Ich fahre, ich komme zurück.
In der Tiefe der Nacht flüstert Rebecka, ihr Gesicht, nur Schatten und Licht in dem kleinen Fenster auf dem Computerbildschirm. Er hat die Lampe auf der Kommode neben dem Küchentisch eingeschaltet, Rebecka hat sie gekauft, als sie hier war, als ihr so schwer ums Herz war, und der Lampenschein zerschneidet die Dunkelheit, verleiht seinem Gesicht eine Kontur, und er versucht, in das Kameraauge des Displays zu schauen. Damals regnete es, der Frühlingsregen zerriss den Himmel über der Bucht von Palma und zeigte sie in wechselnden Grautönen, massiv und mächtig, und sie gingen schweigend durch den Regen, versuchten, einander wiederzufinden, sich in das einzufinden, was kommen sollte, und jetzt dringen ihre Worte in ihn ein, vorsichtig, aber nicht zögernd, und sie zieht ihn zu sich, wobei er weiß, dass sie das gleichzeitig will und doch nicht will.
Ambivalenz.
Das Wort beschreibt die beiden.
Unerfülltes Warten. Alles unerfüllt.
Liebe mich. Liebe uns.
Aber das ist doch das Einzige, was ich tue.
»Du solltest sie sehen, sie schläft jetzt, du solltest sie sehen, Tim!«
Und er will sie sehen, aber er erträgt Rebeckas Stimme nicht, es genügt, dass er die dunklen Kreise erahnt, ihre Augen, die so viel in sich bergen, das er weder sehen will noch sehen kann, selbst wenn sie hier wäre, in der Wohnung in der Calle Reina Constanza.
Sie nimmt das Telefon vom Wohnzimmertisch in der Wohnung am Tegnérlunden hoch, vorsichtig hebt sie es von dem kleinen Kaktus, an den es angelehnt stand, und er stellt den Ton aus, hört nur seine eigenen Atemzüge, als sie durch den Flur geht, das kurze Stück bis zum Schlafzimmer. Rebecka filmt mit eingeschalteter Handylampe den Weg vor sich, vielleicht damit er sie nicht sehen muss, und er überlegt, was sie wohl sagt, will den Ton wieder einschalten und sie den Namen des kleinen Mädchens flüstern hören, aber sie nähert sich lautlos dem großen weißen Bett. Das Handylicht mischt sich mit dem Schein in dem Zimmer, in dem er selbst sitzt, und dann sieht er die Konturen unter der Decke, sie geht jetzt langsam, um das schlafende Kind nicht zu wecken, und sie setzt sich auf die Bettkante, ändert den Winkel des Handys, das blonde Haar, wie Flaum auf dem hellgrauen Kissen, das kleine Mädchen, das auf dem Rücken liegt, die Arme über dem Kopf ausgestreckt, und würde er jetzt den Ton einschalten, was könnte er hören, was flüstert Rebecka jetzt wohl?
All das, was er hören will und doch nicht hören will.
»Komm nach Hause, Tim. Du solltest bei uns hier sein. Hier bei uns, da solltest du sein.«
»Komm nicht her, Tim. Bleib dort.«
Die Haut auf den Wangen ist so dünn, und sie hat die gleiche Nase wie du, Emme. Er will wegsehen, will den Blick verweilen lassen, und er schaltet den Ton wieder ein. Rebecka schweigt, und er flüstert, sie ist schön, er meint, die Worte zu sagen, dabei hört er nur den leichten Atemzügen des Kindes zu, und dann flüstert er:
»Was hat sie heute gegessen?«
Und Rebecka antwortet:
»Spielt das irgendeine Rolle? Ich weiß es nicht mehr. Wäre es nicht besser, wenn du auf meine Frage antwortest?«
Welche Frage, will er sagen, ich hatte den Ton ausgeschaltet. Sie hält weiter die Kamera auf das kleine Mädchen gerichtet, dessen Namen er nicht einmal in seinem Inneren aussprechen kann, und er wünscht sich, er könnte die Hand durch den Schirm hindurch ausstrecken, die Wange des Kindes streicheln und dann den Arm um Rebecka legen, sie dicht an sich ziehen, zusammen mit ihr einschlafen, in den Träumen vom Atem des Kindes gewiegt, und unten auf der Straße sind Schreie zu hören, ein paar der neuen Zuhälter, die an der Straßenecke gegenüber von seiner Stammbar Las Cruces ihrem Geschäft nachgehen, sind aufgebracht. Vielleicht sind sie wütend auf irgendeinen Kunden, der nicht bezahlen will, oder auf eine der Prostituierten, die keine Lust hat, eine ganze heiße Augustnacht durchzuarbeiten.
»Du hast also keine Antwort auf meine Frage?«
»Nein.«
Sie ist jetzt irritiert, und Tim weiß, dass er etwas sagen sollte, etwas Liebevolles, ihr was auch immer versichern, erklären, dass er wisse, welcher Tag heute ist, dass das alles bedeutet, und nichts, es ist doch nur ein Tag, aber er bleibt stumm, starrt das kleine Mädchen an, seine zweite Tochter, fünfzehn Monate alt, liegt sie mit über den Kopf ausgestreckten Armen da, offen, als wollte diese Welt ihr nur Gutes, und Rebecka sagt,
»Ich bin müde, ich glaube, wir sollten ins Bett gehen«, und bevor er etwas darauf erwidern kann, ist das Fenster auf dem Schirm, in dem er gerade noch das kleine Mädchen sah, schwarz.
Er kann ihre Atemzüge nicht mehr hören. Seine eigenen auch nicht.
Stattdessen aufgebrachte Schreie.
»Ich werde dich töten.«
Menschen, die in Ecken gedrängt werden, von denen sie nicht einmal wussten, dass es sie gab. Er schaltet den Computer aus, reibt sich die Augen, und Rebecka legt sich neben Maia, berührt mit der Hand den Brustkorb des Kindes, sie weiß, dass Tim den Ton ausgestellt hatte, das macht er immer, und sie fragt sich, was er eigentlich nicht zu hören erträgt, welche Worte, welche Geräusche am schmerzhaftesten sind. Aber sie hat keine Zeit für solche Überlegungen, das Kind ist hier, nirgendwo sonst, jetzt, und Maia spürt ihre Hand, dreht sich im Schlaf zu ihr, und der Atem des Mädchens streift jetzt süß und warm ihre Stirn, sie konzentriert sich auf diese Atemzüge, spürt, wie sie kommen und gehen, geboren werden, ersterben, geboren werden.
Alles wird gut werden, irgendwo da draußen ist deine Schwester, Maia, und sie ist nicht in der Lage, Emmes Namen auch nur lautlos auszusprechen, aber irgendwo ist sie, du wirst ihre Liebe kennenlernen, wie diese einen Spalt in deiner Seele öffnet,
genau
wie
wir
es einmal fühlten.
WhatsApp, Zuletzt online.
Tim schaut durch einen Spalt in der Gardine. Das blinkende Licht des Polizeiautos tut weh in den Augen, die Polizisten steigen aus, und es gelingt ihnen, die lärmenden Männer zu beruhigen, die fünf Meter voneinander entfernt auf dem Bürgersteig stehen, zwei Zuhälter, die mit schwerem Atem und aufgeblasenen Brustkörben versuchen, die letzten Spuren von Adrenalin aus ihren Körpern zu vertreiben.
Vor einigen Wochen hatte es hier im Viertel eine Messerstecherei gegeben. Ein Mann, der einem Freund fünfzig Gramm Marihuana besorgt und dafür kein Geld bekommen hatte, stieß ebenjenem Freund ein Küchenmesser mit zehn Zentimeter langer Klinge in den Bauch, nachdem sie beim Türken an der Ecke Kebab gegessen hatten. Tim weiß nicht, wie es dem Opfer ergangen ist, aber auf dem Pflaster vor dem Restaurant sind immer noch kleine Blutspritzer zu erkennen.
Er zieht sich vom Fenster zurück. Seine Kehle ist trocken, also holt er sich ein Bier aus dem Kühlschrank, legt sich aufs Bett und schaut an die Decke, an der die neue blaue Farbe in der Dunkelheit zu einem Nachthimmel wird.
Er meint aus den Clubs in El Arenal Musik zu hören, doch er weiß, das ist reine Einbildung, die Geräusche dringen nicht bis zu ihm. Aber der Rhythmus ist da, dessen ist er sich sicher, vielleicht findet ja in dem ecuadorianischen Restaurant Casa del Sabor eine Party statt, vielleicht tanzen und trinken sich die von der Arbeit Erschöpften durch die Nacht.
Das Bett schwankt unter ihm. Er müsste sich eigentlich ein neues kaufen, aber woher soll das Geld kommen? Sowieso steht Nachtschlaf nicht an erster Stelle auf seiner Prioritätenliste wichtiger Dinge. Von Peter Kants Geld ist nicht mehr viel übrig, hunderttausend Euro waren es mal, dafür hatte er die Unschuld des Deutschen beweisen sollen, der des Mordes angeklagt war.
So weit ist er nie gekommen. Kant wurde in einer Gefängniszelle ermordet. Aber es ist Tim gelungen, dessen junge Frau Natascha zu retten. Sie schickt ab und zu kurze SMS aus Polen oder ein Foto von einem Traumstrand, an den sie mit ihrer Mutter gereist ist.
Die Zeitung liegt ordentlich zusammengefaltet am Fußende des Bettes. Er hatte sie nicht aufschlagen wollen. Wollte nicht den doppelseitigen Artikel sehen, das Bild auf dem Zeitungspapier, auf dem sie ihn anblickt, in dem Auto am Flughafen Arlanda, auf dem sie direkt in die Kamera lächelt, hinter ihr der Regen wie eine Wand aus Tropfen.
Es ist keine Ruhe zu finden.
Es gibt nur ihn und das Bier, das ihm kalt die Kehle hinunterrinnt. Das muss er sich jedenfalls einreden, sonst könnte er nicht hier liegen, sonst könnte er nie ausruhen, und wenn er nicht ausruht, wird er zugrunde gehen, und dann ist alles zu Ende.
Am liebsten würde er sich selbst klonen, damit er an mehreren Orten gleichzeitig sein könnte, aber in erster Linie, damit es ihn mehrfach gäbe, sodass er all den Gefühlen entfliehen könnte, für die es keinen Platz in ihm gibt. Aber jetzt liegt er hier auf dem Bett, auf dem verschwitzten Laken und will das Diario de Mallorca nicht öffnen, das er früher am Tag von dem Schwarzen am Zeitungsstand draußen an den Avenidas gekauft hat.
»Sie steht drin«, sagte der Mann. Und Tim hat genickt.
Axel Bioma, sein Freund, der als Journalist beim Diario de Mallorca arbeitet, hatte ihm am Morgen eine SMS geschickt.
Der Artikel kommt heute raus.
Er hatte Tim vor ein paar Tagen um einen Kommentar gebeten, und Tim hatte ihn gebeten, zur Hölle zu fahren.
»Rede mit mir. Das hier ist deine einzige Chance, vielleicht ihre einzige Chance. Und das weißt du, Tim, das ist dir doch klar?«
Ich habe dazu nichts zu sagen.
Capisce?
Tim umklammert fest die Bierdose, aber nicht so fest, dass er sie zerdrückt. Dann richtet er sich auf, ergreift die Zeitung, schlägt den Artikel über Emme Kristina Blanck auf, über das sechzehnjährige Mädchen, das auf den Tag genau vor fünf Jahren in Magaluf verschwand. Was Axel verfasst hat, ist eine Art Rückblick auf den Verlust, die Trauer und die Sehnsucht.
Deine Augen, Emme. Das Foto ist in Farbe, und der unscharfe Druck lässt sie fast jadegrün erscheinen.
Chica sueca desaparecida hace ya cinco años.
Was ist mit ihr passiert?
Der Polizeichef Juan Pedro Salgado gibt dazu keinen Kommentar ab. Niemand hat dazu etwas zu sagen, keiner weiß etwas, und dann der unvermeidliche Abschnitt über den Vater, Tim, der jahrelang gesucht hat, der glaubte, sie an einem Novembermorgen, als die Sonne vom Himmel fiel, in den Bergen hinter Deià gefunden zu haben, der jedoch ein paar Wochen später einen Anruf von der Polizei erhielt, die ihm mitteilte: Das ist sie nicht, das ist nicht Ihre Tochter, die wir gefunden haben, das ist eine andere Person, wir wissen nicht, wer, aber es ist nicht Ihre Tochter.
SIE IST ES NICHT.
Verstehst du das, verstehst du, was wir euch sagen wollen?
Salgados Stimme, belegt, am anderen Ende.
Das ist nicht deine Tochter, Tim.
Der Artikel schließt mit einer Telefonnummer. Eine Hotline zur Policía Nacional.
Falls Sie sachdienliche Hinweise haben, wählen Sie bitte diese Nummer.
Inzwischen tun sie nicht einmal mehr so, als ob, denkt Tim. Ich bin der Einzige, der nach dir sucht, Emme. Ich und deine Mutter, aber sie tut es auf ihre Weise.
Er blättert in der Zeitung, als gäbe es den Artikel gar nicht. Hofft, dass jemand diese Nummer anruft.
In Madrid fand eine Demonstration statt, liest er. Kinder, die während des Franco-Regimes ihren Eltern gestohlen wurden, Hunderte von ihnen, wollen eine Entschädigung vom Staat. Sie sind inzwischen alle erwachsen, und auf den Fotos, die am Anfang der Gran Vía gemacht wurden, ist eine bunte Schar zu sehen, die den Verkehr blockiert und vom Staat fordert, seiner Verantwortung gerecht zu werden.
»Ich bin nie in mir selbst angekommen«, sagt ein Mann in einem abgetragenen rosa Hemd. »Der Schmerz hört nie auf.«
Tim blättert weiter.
Ein Repräsentant der rechten Partei Vox im andalusischen Parlament ist in Málaga auf offener Straße erschossen worden.
Miguel Albern.
Er hatte die Vox in El Ejido vertreten, wo die Partei bei der Regionalwahl fünfunddreißig Prozent der Stimmen erhielt. Ein Körper unter einer gelben Plastikfolie, uniformierte Polizisten vor einem Krankenwagen. In einem Leitartikel wird darüber spekuliert, ob möglicherweise eine neue Welle des Terrorismus ins Land schwappt, nach der ETA, aber dieser rechte Politiker soll eine dubiose Vergangenheit gehabt haben, wahrscheinlich hat seine Ermordung damit zu tun, vermutet der Journalist.
Dann verliert sich Tim in den üblichen Sommerartikeln, über Betrunkene in El Arenal und bulgarische Drogenhändler in Magaluf, über die mangelnde Sauberkeit überall dort, wo keine Touristen sind, über verstopfte Abflüsse. Immerhin herrscht kein Wassermangel mehr, die große neue Quelle außerhalb von Marratxí liefert wie erwartet und sogar noch mehr.
Ein Eiscremetest, und der lokale Laden Ca’n Miquel schlägt sowohl Häagen-Dazs als auch Amorino im Blindtest, der von einem der bekanntesten Köche der Insel ausgeführt wurde.
Keine große Überraschung, dass die einheimischen Sorten gewinnen. Selbst die Eistester sind hier korrupt.
»Amorino schmilzt zu schnell«, sagt der Koch, »das ist der Fehler am ausländischen Eis.«
Tim faltet die Zeitung zusammen. Er sieht das kleine Mädchen vor sich, ihr Kopf auf dem Kissen, all das flaumige Haar, deine Haare waren anders, Emme, sie waren dünn und fein und lagen perfekt an deinem perfekt geformten Kopf, und in der Küche klapperte deine Mama mit den Töpfen, während ich neben dir im Bett lag, und ich wusste, es würde niemals einen schöneren Augenblick geben als diesen.
Ein Himmel wird zerrissen.
Von blauen Farben, grauen.
Er trinkt sein Bier aus, das lauwarm und abgestanden ist.
Maia.
Emme.
Dann zieht er die Schuhe an und geht hinaus in die Nacht, auch wenn er weiß, dass seine Bemühungen fruchtlos sein werden.
Denn das ist es, was er tut:
Er sucht.
Und bevor er nicht das gefunden hat, was er sucht, kann nichts anderes gefunden werden. All das, was Wasser und Erde ist, Wolken und Mandelbäume, rissiger Beton, hustende Motoren und keuchende Kaffeemaschinen, alles andere, all das, was sich in der Umgebung eines Menschen befindet, das muss warten.
Er geht in die Berge, die Taschenlampe leuchtet ihm den Weg. Er meint etwas hinter einem Felsen zu sehen, die Umrisse eines Körpers, ein Stück eines Skeletts.
Bist du das? Nie im Leben bist du das, und er fühlt sich dumm, während er in der Dunkelheit weiterstolpert, den steilen Abgründen und scharfkantigen Steinen nahe. »Emme, Emme.« Ihr Name kommt einer Meditation gleich, Plastikperlen eines Rosenkranzes, durchsichtig, nicht materiell existent, als strichen seine Finger über nichts, als wäre sie alles und es gäbe sie gleichzeitig gar nicht. Ihr Verschwinden hat ihn zu etwas gemacht, was außerhalb der letzten Grenze existiert. Er bewegt sich außerhalb der Welt, schaut in sie hinein, und das ist nicht seine, nicht Rebeckas, nicht Maias, das ist nicht ihre Welt, und das Einzige, was sie zurückführen kann, ist Emme. Sie haben es nie ausgesprochen, aber keiner von ihnen kann die Erleichterung leugnen, die sie empfanden, als sie eine Weile lang glauben durften, dass Emme tot sei. Jetzt können wir dich begraben, um dich trauern, weiter vorwärts gehen und du wirst immer in unserem Gedächtnis bleiben. Doch jetzt befindet er sich wieder im Limbus, einem Limbus, der daraus besteht, hier herumzulaufen, des Nachts Gespenster zu sehen und zu ermüden, hinunter nach Magaluf zu fahren und zu trinken, das neue Kind zu vermissen, dem er nicht nahe sein kann, dem er nicht seine Liebe schenken kann. Manchmal denkt er, dass diese Gefühle sinnlos sind, und er versucht sich in der Leere zurechtzufinden, nur zu funktionieren, weder zu fühlen noch zu denken oder zu hoffen.
Als er anruft, zeigt die Uhr kurz nach fünf. Rebecka wacht nicht vom Klingelton auf, sondern von Maias Weinen. Vor dem Fenster ist es bereits hell, und sie setzt sich im Bett auf, will nicht rangehen, will nicht, aber wenn er nun etwas gefunden hat, wenn …, und sie greift mit der einen Hand nach dem Telefon, zieht mit der anderen Maia an sich, schiebt das T-Shirt hoch und gibt ihr die Brust, spürt, wie sich die kleinen Lippen um die Brustwarze festsaugen, und sie nimmt den Anruf an. Fast nagt Maia jetzt, das tut weh, aber sie ist still, auch die Augen schweigen in der Dunkelheit.
Tims Stimme klingt schleppend, er ist betrunken, aber nur ein wenig, und sie weiß, was er getan hat, er war in Magaluf, hat in den Clubs nach Emme gefragt, die Energie verloren, den Mut, hat sich im Benny Hill auf den Barhocker gesetzt und eins, zwei, drei, vier Pils getrunken, und dann ist er wieder ins Auto gestiegen, hat sich alle Mühe gegeben, in der Spur zu bleiben, und jetzt ist er zu Hause in seiner Wohnung, einsam, und sie sagt:
»Du hast uns aufgeweckt, Tim.«
Sie kann hören, wie er schluckt.
»Was trinkst du?«
»Wasser.«
»Gut.«
»Schläft sie?«
Rebecka spürt, wie fest Maia saugt, hungrig. Sie schläft und trinkt gleichzeitig.
»Ich habe ihr die Brust gegeben. Sie ist wieder eingeschlafen. Wenn es dich beruhigt.«
»Ich habe eine der üblichen Runden gedreht«, sagt er.
»Magaluf?«
»Ja. Und in die Berge.«
»Wie war es?«
»Wie immer. Was habt ihr morgen vor?«
»Wir gehen in den Hagapark. Treffen dort ein paar andere.«
»Welche anderen?«
»Frauen, die ich schon mal im Vasapark getroffen habe. Ich habe dir von ihnen erzählt. Jüngere Mütter, die solche Sorgen haben, in denen ich mich gerne verliere.«
Und sie wiederum verlieren sich gern in Rebeckas Sorgen, ihnen gefällt die einfache Psychologie, dass man ein Kind verliert, oder es zumindest hoffnungslos verschwunden zu sein scheint, und dann kommt ein neues, ein Ersatzkind, und damit ist eine Art Ordnung wiederhergestellt, ein glückliches, aber nicht banales Ende. Rebeckas Nähe scheint diesen Frauen die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Sorgen zu relativieren; mit Männern, die zu viel arbeiten, Kinderwagen, die kaputtgehen, Kindern, die sich weigern, abgestillt zu werden, Kindergartenplätzen, die es nicht in der gewünschten Kita gibt, Sojamilch oder Hafermilch zu dem ökologischen, frisch gerösteten Filterkaffee, der nicht heiß genug ist, oder viel zu heiß, und am meisten gefällt ihnen, dass Rebecka ihnen die Möglichkeit gibt, bei der nächsten Essenseinladung etwas Besonderes zu sein; erinnert ihr euch noch an das Mädchen, diese Sechzehnjährige, die auf Mallorca verschwunden ist, wisst ihr, ihre Mutter, die habe ich in Tegnérlunden getroffen und sie …
Ja, was ist sie?
Ich bin zu streng, denkt sie. Das sind vernünftige junge Menschen, die versuchen, ihren Platz im Leben zu finden. Versuchen, gute Mitbürger zu sein und all das.
»Rebecka, bist du noch dran?«
Blaugraues Licht der Morgendämmerung vor dem Fenster.
»Ich bin noch dran, Tim.«
Sie kann sein Gesicht vor sich sehen. Die hellen Falten auf der Stirn, die nie braun werden, sie sehen wie kleine Risse aus, wie von rauem Sandstein, die kleine Narbe an der Augenbraue, das Haar in einem unordentlichen Seitenscheitel gekämmt und Augen, die sie anschauen, auffordernd, fragend, als glaubte er, sie hätte auf alles eine Antwort, sie wüsste in jeder Situation, was richtig ist, unter allen Umständen.
Aber ich weiß nichts, Tim. Und das weißt du.
Ich weiß nur etwas von dem kleinen Menschen, der jetzt meine Brust mit den Lippen loslässt, nach der anderen Brust sucht, ungeduldig, wimmernd, und ich schiebe die Brustwarze an ihre Lippen, beruhige sie.
»Sag einmal ihren Namen. Ich möchte, dass du ihn jetzt sagst.«
»Warum?«
Sie kann die unterdrückte Verärgerung in seiner Stimme hören.
»Sag ihn, sie ist deine Tochter.«
Sie ist jetzt selbst auch verärgert, zumindest ihr Ton.
»Heute stand ein großer Artikel über Emme im Diario. Axel hat ihn geschrieben. Zum Jahrestag, dem fünften Jahrestag. Der ist heute.«
»Ich weiß, dass er heute ist.«
Einundzwanzig.
Emme ist jetzt einundzwanzig.
Ein Messer im Bauch, die Lippen um ihre Brustwarze, nagend, und es tut weh, so weh.
»Oder vielmehr war es gestern«, bringt sie heraus. »Inzwischen ist schon ein neuer Tag.«
»Unter dem Artikel steht eine Telefonnummer, die einer Hotline. Vielleicht ruft ja jemand an.«
»Tausendachthundertsiebenundzwanzig Tage«, sagt sie.
»Was?«
»So lange ist sie jetzt verschwunden. Tausendachthundertsiebenundzwanzig Tage.«
»Sind es so viele? Ich habe den Überblick verloren.«
Und dann spricht sie die Worte aus, die sie nicht sagen darf, nicht sagen will, und trotzdem spricht sie sie. Fast wie die verrückte Marta in der Quartierskneipe nicht weit von Tims Wohnung entfernt, die auch die verbotenen Worte nicht zurückhalten kann.
»Glaubst du, dass sie nach so langer Zeit noch am Leben ist, Tim? Sie ist tot. TOT. Aber wir leben. Maia und ich. Und wir warten nicht mehr lange auf dich.«
Sie macht eine Pause.
Versucht, den eigenen Worten zu glauben.
Hört Tims Worte, als er das Gespräch mit der Polizei beendete.
Das war nicht Emme.
»Und wenn sie lebt, was glauben Sie, wie es ihr geht?«
Sie hatte ihn nicht gebeten, zu bleiben. Sie hatte ihn nicht gebeten, die Schwangerschaft an ihrer Seite mitzuerleben, das konnte sie nicht, und so fuhr sie ihn an einem Morgen voller Schneematsch nach Arlanda, als die Sicht durch die Windschutzscheibe nicht mehr als zwanzig Meter betrug. So fühlte sich damals ihr Leben an, gefährlich, als könnte alles Erdenkliche vor ihr auftauchen. Das Kind, das in ihr wuchs, das Kind, das es ihr ermöglichte, mit beiden Füßen fest auf dem Boden zu stehen, trotz der neuen Ungewissheit, trotz der Trauer darüber, dass sie vor kurzer Zeit erst in der Lage gewesen waren, trauern zu können.
Tim neben ihr. Ihre Hände verlässlich auf dem Lenkrad, der Wagen, der sich durch das Weiße, Undurchdringliche voranarbeitete, und sie hatte sich gewünscht, hatte es sich in Gedanken vorgestellt, dass er bliebe, in Stockholm bliebe, über Weihnachten und Neujahr, dass sie gemeinsam unter der Straßenbeleuchtung die Biblioteksgatan entlanggehen und in der Bar des Grand Hôtel säßen, unter all den Touristen und den gestressten Hauptstädtern, spürt, dass es trotz allem noch die Möglichkeit gab, ein anderes Leben zu führen, vielleicht kein neues, aber eines, in dem Verlust und Liebe nebeneinander existieren und sie beide zum alltäglichen Treiben und Leben zurückfinden könnten. Aber er wollte weg, und er gab ihr einen vorsichtigen Kuss auf den Mund, bevor er in Richtung Terminal 5 verschwand, durch immer dichter fallende Flocken, von dem Grauweiß verschluckt wurde, und sie musste ihm gar nicht sagen, dass sie sich wünschte, er bliebe hier, dass sie ihn brauchte, denn das wusste er, und er wusste auch, dass dies ein Spiel war. »Du bist ein großes Mädchen, Rebecka«, sagte er und schloss die Autotür. Er sagte die Worte weich, liebevoll, fast wie im Scherz, damit sie nicht wütend wurde, obwohl sie das hätte werden sollen.
Und er suchte und suchte, ohne dass es zu irgendetwas führte. Sie sahen einander auf den Bildschirmen im Dunkel, im März war sie auf Mallorca, und er lag da mit dem Ohr auf ihrem Bauch, sein schwerer Kopf, und er nickte, als sie ihn fragte, ob er das Kind hören könne, begreifen könne, dass es dort in ihr existierte, größer und lebenskräftiger mit jedem Tag. Er antwortete nicht mit Worten, vielleicht glaubte er, dass Worte ihn zu sehr an das Kind binden könnten, das dort unter der Haut existierte und das es bald bei ihm geben sollte, wirklich, nicht verschwunden, sondern hier, das sie aus nächster Nähe wachsen und sich entwickeln sehen sollten, im Gegensatz zu Emme, die fort war und die sie beide auseinanderriss, wo sie doch mehr als je zuvor zusammen sein sollten.
Sie gingen am Hafen von Palma spazieren, und die Wellen, die weißen Ränder, die sich ständig veränderten, sie gab es auch in ihrem Inneren. Er nahm ihre Hand, drückte sie fest, und sie wünschte sich, er würde sagen, dass alles gut werde, aber er sagte gar nichts.
Doch einmal, als sie vor einem heftigen Regenschauer unter einem Sonnenschirm Schutz suchten, da sagte er:
»Ich liebe dich, Rebecka.«
Und sie nickte und erwiderte:
»Ich dich auch.«
Sprach das Wort »liebe« nicht aus, denn unausgesprochen konnte es zu dem Haken werden, an dem sich seine Seele verfing und ihn zu Rebecka und dem Kind ziehen konnte. In diesem Augenblick glaubte sie, es könnte möglich sein, dass man als Mensch tatsächlich ganz neu anfangen könne, ganz gleich, was auch passiert war.
Tagträume im Regen. Hätte sie Tagebuch geschrieben, hätte die Eintragung diese Überschrift getragen.
Dann kam Maia.
Tim war bei ihr, und er war doch nicht bei ihr. Er kam ein paar Tage vor dem Geburtstermin, fuhr mit ihr ins Karolinska, war dabei, als Maia ihren ersten Atemzug machte, hielt sie im Arm, schnitt die Nabelschnur durch, legte ihr das winzige Mädchen in dem grellen Licht des Kreißsaals auf die Brust, und doch war er nicht anwesend. Er war in den Bergen und auf den Ebenen von Mallorca, er war in den Bäumen und in den Steinen der Häuser, in dem glänzenden Asphalt in Palmas Nächten, nicht einmal in diesem Augenblick konnte er für sie da sein, seine neugeborene Tochter, er konnte nur für Emme da sein, aber Rebecka war zu erschöpft, um etwas zu sagen, und nach acht Tagen verließ er die beiden. Schweigend packte er seine Tasche, bat sie, nachzukommen, sobald sie konnte, und sie stand da mit Maia im Arm, diesem schlafenden neuen Menschen, hielt sie ihm hin, und er schüttelte den Kopf.
»Tu das nicht, tu das nicht. Du weißt, ich kann das nicht, noch nicht.«
»Du wirst es niemals können«, sagte sie.
»Kannst du es denn, Rebecka? Kannst du es?«
»Ja, ich kann.«
»Ist dir eigentlich klar, was du da von dir selbst verlangst?«
»Woher soll ich das denn wissen, Tim? Kann das überhaupt jemand wissen?«
»Ich weiß es«, sagte er, aber sie konnte ihm ansehen, dass er es nicht mehr wusste, dass er eher einer Idee als einem Menschen hinterherjagte, dass er versuchte, den letzten Rest seiner selbst zu bewahren, um ihn Emme geben zu können, sollte sie jemals nach Hause kommen. Falls jemand mehr von ihm fordern sollte, wäre er verloren.
Mehr Zeit am Bildschirm.
Worte.
Gesichter, lächelnd, weinend, schreiend.
»Du fliehst, Tim«, sagte sie.
Und er lachte ihr direkt ins Gesicht. »Entschuldige.«
»Das kehrt das Schlechteste in uns hervor.«
Und sie dachte, vielleicht kehrt es das Wahre in uns hervor.
Sätze, von denen erwartet wird, dass sie gesagt werden. Wir sollten zusammen sein; ich sollte bei euch sein; ich kann hinunterfliegen, nichts hindert uns daran; also komm, das wird schön.
Ende September zog sie zu ihm nach Palma, in die Wohnung in der Reina Constanza, und sie spielten Familie, schliefen zusammen in dem kleinen Bett, liebten sich auf dem Küchenfußboden, wenn Maia schlief, leise, heftig und einsam, und anschließend verschwand er, ging hinaus, suchte, und gegen Mittag kam er wieder, manchmal auch erst am Abend, besoffen, nachdem er in einer billigen Bar getrunken hatte, in einem Stadtteil, der noch kaputter war als er selbst.
Sie kaufte Fisch auf dem Markt, glänzenden, frischen Steinbutt, den sie im Ofen buk, und sie aßen, tranken Weißwein, und sie versuchte ihn zu halten, in der Wohnung, in der Stadt auf der Insel, die er nicht verlassen konnte, ihn in der muffigen Wohnung bei sich zu behalten, bei Maia, dem Kind, das in seinem Hunger ihre Brustwarzen zerbiss und dem anscheinend der Eisengeschmack in der süßen Milch gefiel.
Der Ventilator drehte sich an der Decke, die Nacht rumorte draußen vor dem Fenster. Sirenen heulten, einsame Menschen brüllten den Mond an, der sich hinter dichten Wolken verbarg, und auf der anderen Seite der Insel fiel ein Regen, der zu einer Sturzflut wurde, die kleine Kinder in dem Lehmstrom zum Meer hin mit sich riss und sie lebendig in dem erstarrenden Schlamm begrub. Als sie morgens von dem Sturzregen las, und davon, dass die verschlammten Kanäle das Wasser nicht hatten halten können und es stattdessen durch die Straßen des kleinen Ortes und weiter auf die Strände zugerast war, schien die Sonne.
»Hast du das gesehen?« Sie saß mit Maia auf dem Schoß am Küchentisch, hielt Tim die Zeitung hin. »Sie gehen davon aus, dass es mindestens dreißig Tote gibt.«
»Und hier scheint die Sonne. Da kann man sich so einen Regen schwer vorstellen, nicht wahr?«
»Aber es gab ihn. Genau wie es dich gibt.« Sie stupste vorsichtig Maias Nase.
»Ich hoffe, sie finden alle Kinder«, sagte er und ging erneut, ließ sie allein zurück.
Rebecka schaute sich die Fotos in der Zeitung an, das Feld, auf dem das lehmige Wasser in einem zwei Meter hohen, neu entstandenen Wasserfall angerauscht kam, Fotos von den Hunden, die nach den Kindern suchten, von den Einwohnern, die einen Suchtrupp aufgestellt hatten, um zu helfen, und Rebecka begriff, dass auch Maia sie nicht näher zueinanderführen konnte, sondern sie nur noch weiter voneinander trennte, und sollte es ihr und Maia jemals gelingen, ihn zurückzugewinnen, dann wäre sie gezwungen, ihn Einsamkeit spüren zu lassen, ihn dazu zu bringen, ihre Abwesenheit zu fühlen, sie zu einem Teil von ihm werden zu lassen, damit er letztendlich begreifen konnte, dass es eine Möglichkeit für ein Sowohl-als-auch gab. Ein Wir, mit oder ohne Emme.
Während er draußen unterwegs war, packte sie. Buchte Tickets für sich und für Maia. Schrieb einen Zettel, den sie direkt hinter die Wohnungstür legte.
»Wir lieben dich, Tim. Komm, wenn du bereit bist.«
Sie schrieb:
»Es gibt einen Raum, in dem wir alle zusammen sein können. Du und ich und Emme und Maia.«
Jetzt hält er den Zettel in der Hand, es ist früher Morgen, und er hat ihn so oft an all den Abenden und in den Nächten, die inzwischen vergangen sind, in der Hand gehalten, und wieder liest er:
Wir lieben dich.
Ich liebe dich.
Komm, wenn du bereit bist.
Werde ich jemals bereit sein?
EMME, EMME, EMME.
Es ist noch etwas von uns übrig. Von dir, von mir, von uns.
Rebeckas geschriebene Worte in seinem Ohr, ein Wind, der über Europa gen Süden zieht und der flüstert,
du solltest du solltest du solltest.
Wir sind es, die sollten, Rebecka, würde er gern flüstern, aus der Dunkelheit der Wohnung heraus, damit die Worte sie und Maia vor einer Welt beschützen, in der es keinen Schutz gibt.
Ich werd meine eigene Muschi lecken! Ich leck meine Muschel, als wär’s meine Muschi!«
Martas Worte dröhnen durch das Las Cruces, laut und schrill stoßen sie gegen die verschiedenfarbigen Fliesen an den Wänden, gegen die Geräte, in denen Zitronensorbet und horchata langsam umgerührt werden, ziehen über den Besitzer Ramón hinweg, der den Bartresen bedächtig mit einem feuchten Tuch abwischt, dann weiter zu seiner Frau Vanessa, die am Sandwichgrill steht und den Käse auf einem llonguet schmelzen lässt, um schließlich in Tims Ohren zu dringen, während er einen Schluck von seinem cortado con hielo nimmt.
Niemand mag über ihre verrückten Worte lachen, niemand regt sich auf, dafür ist es draußen viel zu heiß, fieberheiß, malariaheiß, eine Hitze, die Insekten auf dem Asphalt und den abblätternden Putzwänden im Viertel festkleben und verbrennen lässt.
Draußen auf der Straße fährt ein gelber Wagen vorbei, langsam, zögernd, als wäre die Luft durch die Hitze nur noch schwer zu durchdringen, und wieder schreit Marta:
»Die Hölle ist hier! Die Hölle der Höllen.«
»Sei still«, ruft Ramón mit schleppender Stimme, die verrät, dass er aus Andalusien stammt. »Wir wissen schon alles über deine Höllen.« Und jetzt lächelt er, schaut Tim an und fragt ihn, ob er noch einen Kaffee wolle.
Tim nickt zur Antwort.
Auf dem Fernsehbildschirm über den Regalen mit den Gläsern werden Bilder von einer großen Prügelei im Megapark gezeigt, dieser gigantischen Bierhalle in El Arenal. Deutsche prügeln sich mit Briten, Schreie und Biergläser, die durch die Luft fliegen.
Ramón stellt ihm den Kaffee mit Eis hin. Schnell schmilzt das Eis durch die Hitze des Getränks, und Tim rührt um, er spürt noch das gestrige Bier, dessen Nachwirkungen in seinem müden Schädel, und er schiebt Rebeckas Worte beiseite, schiebt Maia beiseite, die Bilder von ihr auf dem Bildschirm. In seinem Inneren traut er sich, ihren Namen zu denken, aber die Wahrheit ist, dass es ihm gelungen ist, sich einzureden, dass ein Kind in der ersten Zeit seinen Vater nicht braucht, da geht es um Nähe und Symbiose mit der Mutter, deshalb kann er getrost hier sein, kann suchen, ohne dass es ihn etwas kostet.
»Ich habe den Artikel gesehen«, sagt Ramón. »Er weiß, was er tut, dieser Axel.«
Tim nickt, hebt den Blick zu dem Fernsehapparat, um zu zeigen, dass er nicht daran interessiert ist zu reden, weder über den Artikel noch über Emme.
»Vielleicht passiert ja jetzt was, vielleicht taucht ein neuer Hinweis auf.«
Wieder nickt Tim. Er muss sich eingestehen, dass er sich nicht so recht traut, in diese Richtung zu denken, dass es tatsächlich neue Hinweise geben könnte, die zu etwas führen könnten. In all der Zeit, die er nun schon nach Emme sucht, ist er selbst ein Teil dieser Suche geworden, das wird ihm nun klar. Er ist längst nicht mehr derjenige, der sein eigenes Handeln steuert. Emme, die Erinnerung an sie, die große Ungewissheit, die sie ist, erfüllt seine Tage, und so könnte er weitermachen bis an sein Lebensende. Oder aber etwas passiert, ein Hinweis taucht auf und er folgt ihm, wohin auch immer er ihn führt, direkt in die Dunkelheit, wenn es notwendig ist, an einen Ort, an dem die letzten reinen Reste einer Seele verwittern.
Vielleicht ist heute der Tag, an dem sich etwas verändert?
»Wie geht es Rebecka?«, fährt Ramón fort. »Und Maia?«
Tim fragt sich, woher die Neugier kommt. Ramón ist eigentlich bekannt dafür, dass er den Mund halten und Distanz wahren kann, aber vielleicht macht ihn die Hitze verrückt.
Seine Frau knallt das fertige Sandwich auf den Tresen.
»Lass ihn in Ruhe, Ramón. Du bist viel zu neugierig.«
»Er ist nur höflich«, erwidert Tim mit einem Lächeln.
»Und wie geht es ihnen?«
Vanessa kehrt zurück zum Sandwichgrill, macht ihn sauber und murmelt etwas in der Richtung, dass diese verfluchten Männer doch immer zusammenhalten.
»Gut«, antwortet Tim, und Ramón nickt, die Antwort genügt ihm.
»Allen geht’s immer nur gut«, schimpft Marta, und einer der alten Säufer am Fenstertisch hebt sein Glas mit Anisschnaps: »Darauf stoßen wir an, Marta«, und Ramón lacht über den Wahnsinn, sagt nur: »Irrenhaus, ein einziges großes Irrenhaus.«
Tim spürt, wie sein Handy in der Tasche vibriert, es ist auf lautlos gestellt, und er fragt sich, wer ihn wohl jetzt anrufen will, er weiß nicht, wer das sein könnte.
Tim holt das Telefon heraus. Eine spanische Nummer, die er nicht kennt. Schweres Atmen am anderen Ende.
»Ist da jemand?«, fragt Tim.
»Ja«, antwortet eine dumpfe, raue Stimme auf Spanisch.
»Und?«
»Spreche ich mit Tim Blanck?«
Ramón zieht die Augenbrauen hoch, scheint sich zu wundern, was das für ein Telefongespräch sein kann, vielleicht spürt er, dass es wichtig ist, dass die Welt in der Hitze ächzt und etwas außerhalb des Gewöhnlichen geschieht.
»Ich habe den Artikel gelesen«, sagt die Stimme am Telefon. »Über deine Tochter.«
»Und jetzt möchtest du mir ein paar nette Worte sagen?«
Schweigen.
»Wie heißt du und wie bist du an meine Nummer gekommen?«
»Darauf gebe ich dir keine Antwort.« Der Mann klingt nicht ängstlich, nicht zögerlich, aber auch nicht entschlossen. »Ich habe Informationen über die Nacht, in der deine Tochter verschwunden ist.«
Tim hält den Apparat vor sich. Sieht ihn an, begegnet Ramóns fragendem Blick, dann drückt er das Handy wieder ans Ohr, fragt sich, ob das ein Scherz ist oder Ernst, oder ob jemand sich wegen irgendetwas an ihm rächen will, ob das all die Dämonen aus seiner Vergangenheit hier auf dieser Insel sein können, die ihn letztendlich vernichten wollen.
Oder aber es ist der neue Hinweis, der auftaucht.
»Wer bist du?«
»Das ist nicht wichtig, aber ich habe dir etwas über diese Nacht zu berichten.«
»Und was?«
»Sei um drei Uhr am chiringuito an der Cala Mayor.«
Tim holt tief Luft, überlegt, was er zu verlieren und was er zu gewinnen hat. Dann streicht er sich mit der Hand über die kleine Narbe von der Schusswunde an der Seite, spürt den kleinen Knoten unter dem verwaschenen dünnen Stoff des hellblauen T-Shirts.
»Und wenn ich das nicht tue?«
Der Mann hustet.
»Dann war’s das. Ich bin nur ein ganz normaler Mensch, für den es keinen Grund gibt, Angst zu haben. Ich werde in der Bar warten. Drinnen, draußen ist es zu heiß. Komm, wenn du glaubst, dass es die Mühe wert ist.«
Verschwitzte Haut im Schatten der Sonnenschirme, verschwitzte Körper beim Essen, Kinder, die am Wasser spielen, verkohlte Silhouetten im Gegenlicht und ein spiegelglattes, ätzendblaues Meer.
Verhaltene Schreie, vor Freude oder um sich ein Eis zu erbetteln. Der schmutzige Sand ist heiß, und die wenigen, die es bis zum Wasser schaffen, rennen oder haben Flipflops an den Füßen und verspiegelte Sonnenbrillen, wer sieht mich?
Tim schaut an der Cala Mayor über den Strand. Er hat sich ganz hinten ins chiringuito gesetzt, mit dem Rücken zum Notausgang, sodass er das ganze Lokal überblicken kann.
Die Spanier sitzen drinnen in dem Raum mit Klimaanlage, sie schaufeln Paella in sich hinein, trinken langsam ihren gekühlten Weißwein und lauwarmes Wasser. Die Touristen sitzen draußen, scheinen die extreme Hitze zu genießen.
Ein scharfer Duft von gegrillten Sardinen.
War das Telefongespräch ein Scherz?
Wird überhaupt jemand kommen?
Er hat sich ein Bier bestellt, das die Kehle kühlt und den Hunger dämpft.
Ein kleines Mädchen verschüttet ein Glas mit Coca-Cola, ein Vater brüllt, droht ihr mit der Faust, schlägt aber nicht. Das ist glücklicherweise auch hier inzwischen verboten, und ich habe dich nie geschlagen, Emme, war auch nie kurz davor, habe dich nicht einmal fest am Arm gepackt, wenn du dich unmöglich aufgeführt hast, aber das hast du auch nie, es war immer nur ein außergewöhnliches Vergnügen, zusammen mit dir zu sein, und er will aufstehen, dem Vater ein paar Tische weiter sagen, er solle das wertschätzen, was er hat, was ihm jeden Moment entrissen werden kann, und er weiß, dass Maia es bei Rebecka gut hat, sicher sind sie jetzt im Hagaparken und Rebecka vergleicht gestreifte kurze Hosen von Polarn O. Pyret mit den Müttern aus Vasastan, und einen Moment lang hofft er, dass Rebecka darin einen Ausgleich finden kann, im Alltag mit kleinem Kind, Caffè latte und Zimtschnecken, obwohl er es doch besser weiß. Das alles macht sie Maia zuliebe, nicht für sich, aber vielleicht hilft es ihr trotzdem, die Gedanken von dem Unmöglichen fernzuhalten.
Emmes Füße, die kleinen Füße einer Dreijährigen in einem Teller mit Spaghetti, Tomatensoße auf den Zehen, und das Meer – welches Meer war es? – reicht bis ans Straßencafé, in dem sie sitzen. Emmes Haar ist immer noch kurz, es fing erst richtig an zu wachsen, als sie vier wurde, und er sagt ihr, sie solle die Füße herunternehmen. Sie lacht, sagt: »Ich bin Pippi, Papa, also darf ich mit den Füßen ins Essen«, und die Menschen um sie herum in diesem halbschicken Urlaubstempel schauen ihn und Emme an, warten, was er wohl tun wird, Füße gehören schließlich nicht ins Essen, »nimm die Füße runter, Emme«, aber sie weigert sich, »ich bin Pippi«, und er trägt sie davon, schreiend, lachend, glucksend vor Glück läuft sie zum Wasser und guckt mit großen Augen zu, wie die sanften Wellen ihre Füße sauber spülen.
Zwei Jahre später liegen sie nebeneinander im Bett, sie will nicht einschlafen, also liest er ihr noch ein Märchen vor und fragt dann, »Emme, was glaubst du, wer war er erste Mensch auf der Welt?«
Sie überlegt.
»Das war bestimmt Astrid Lindgren.«
Der Mann.
Tim erkennt sofort, dass er es ist. Schätzungsweise Mitte dreißig. Eins siebzig groß. Dichtes, schwarzes Haar, eine breite, gerade Nase, aufgepumpter Brustkorb und Bizeps, die unter einem weißen T-Shirt mit dem Logo von Palmas kommunalem Krankenhaus anschwellen.
Der Mann entdeckt Tim. Nickt. Er nähert sich langsam dem Tisch in der Ecke, und Tim mustert ihn. Offenbar hat er keine Waffe dabei: Wenn doch, hätte er sie im Rücken in den Hosenbund gesteckt, aber dieser Mann bewegt sich dafür zu locker.
Tim hat seine Pistole zu Hause gelassen. Die Glock liegt sicher in ihrem Versteck über der Toilette im Badezimmer. Kants Geld liegt dort auch. Die fünfundzwanzigtausend, die noch übrig sind.
Jetzt lächelt der Mann. Er sieht wirklich aus wie der Sanitäter, der er laut dem Logo auf seinem T-Shirt wohl sein soll.
Tim steht auf, streckt die Hand aus, und der Mann ergreift sie und drückt sie fest.
»Juan Carlos«, sagt er. »Wie der alte König. Du bist Tim?«
»Ja. Setz dich.«
Beide setzen sich an den Tisch. Über ihren Köpfen dröhnt ein Aggregat der Klimaanlage, und erst jetzt spürt Tim bewusst den kühlen Luftstrom, ganz wunderbar im Nacken.
Der Mann ruft einen Kellner zu sich, bestellt ein Bier.
»Ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich am Telefon so geheimnisvoll getan habe«, sagt er. »Aber hättest du mich nicht treffen wollen, wäre es wohl das Beste für mich gewesen, anonym zu bleiben.«
Warum?, fragt Tim sich.
Aber eigentlich weiß er, warum.
All die Korruption, die vielen Verbrechen, alle verborgenen Verbindungen zwischen den Menschen, ihre Gier, all der Schmutz, den es in dieser Stadt gibt, man weiß nie, wann sie ihr wahres Gesicht zeigt. Wenn man kann, schwimmt man lieber unter Wasser, wie die Mallorquiner sagen.
Juan Carlos’ Bier kommt, er prostet Tim zu.
»Na dann, zum Wohl.«
Dann zögert er. Tim spürt das, also ist es wohl das Beste, ihm einen kleinen Schubs zu geben.
»Du wolltest mir etwas erzählen.«
Er schiebt die Hand in die Tasche, zieht einen weißen Umschlag mit fünf Hunderteuroscheinen von Kants Geld heraus.
»Dreihundert«, sagt er. »Wenn du mir erzählst, was du mir erzählen wolltest. Zweihundert dazu, wenn es das wert ist.«
Juan Carlos schüttelt den Kopf, sein Blick verändert sich.
»Ich will kein Geld haben.«
Aber der veränderte Blick sagt etwas anderes. Er ist nicht hergekommen, um Geld zu kriegen, doch jetzt wittert er es.
»Ich arbeite als Sanitäter«, beginnt Juan Carlos, wischt sich ein paar frische Schweißtropfen von der Stirn und spielt an seiner schwarzen Ray-Ban herum. »In jener Nacht gab es einen Unfall. Oben bei Son Espases, auf einem Kreisverkehr ein Stück weiter. Ich war in dem Rettungswagen, der den Notruf übernahm. Als wir ankamen, war der Fahrer bereits tot, andere Autos waren an dem Unfall nicht beteiligt.«
Tim trinkt sein Glas aus.
»Noch eins?«, fragt Juan Carlos.
»Nein, danke. Erzähl weiter. Ich verstehe noch nicht, was das mit dem Verschwinden meiner Tochter zu tun haben kann.«
»Als wir am Unfallort waren, fuhr ein Auto vorbei. Und ich glaube, auf dem Beifahrersitz saß ein blondes Mädchen. Ganz schmutzig im Gesicht. Das kann deine Tochter gewesen sein.«
Tim hört schweigend zu. Emme in einem Auto, bei einem Unfall, vielleicht. Das kann wer auch immer gewesen sein, wenn der Krankenwagenfahrer sich überhaupt noch richtig erinnert. Und selbst wenn?
»Ich habe gestern den Artikel gelesen und hatte so ein Gefühl, dass du das wissen solltest. Meine Erinnerung ist nicht mehr so genau, aber sie könnte es gewesen sein. Und am Steuer saß ein Mann.«
»Wie sah der Fahrer aus?«
»Er war dunkelhaarig, höchstwahrscheinlich ein Spanier, so weit kann ich mich noch erinnern.«
»Dick, schlank?«
»Ich kann mich nur an das schwarze Haar erinnern. Nicht an die Farbe des Autos oder welche Marke es war, aber ich erinnere mich, dass er vorbeifuhr. Tut mir leid, vielleicht war das eine dumme Idee, herzukommen.«
Juan Carlos trinkt aus seinem Glas. Steht auf.
Tim nimmt den Umschlag und reicht ihn ihm.
»Da sind fünfhundert drin.«
Der Mann nimmt das Geld, ohne sich zu bedanken.
»Ich will mit der Familie nach Formentera«, sagt er, »da kommt das gerade recht.«
»Warum hast du so lange gewartet, warum erzählst du mir das erst jetzt?«, fragt Tim. »Dir wird ja damals wohl kaum entgangen sein, was passiert ist.«
»Zu der Zeit war ich immer im Stress. Die Kinder waren klein, inzwischen sind sie größer. Als ich den Artikel gelesen habe, ist wohl einfach etwas im Gehirn verknüpft worden. Wie gesagt, es tut mir leid.«
»Trotzdem danke«, sagt Tim.
Juan Carlos dreht sich um, will gehen, doch dann zögert er.
»Da ist noch eine andere Sache, die ich dir mitteilen wollte«, erklärt er. »Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt sagen soll, es klingt wie Gotteslästerung.«
»Was?«
»Als mein Hund verschwunden ist, da bin ich zu einem Medium gegangen, einer Seherin.«
Tim schließt die Augen. Er denkt an die »Medien«, die Kontakt zu ihm und Rebecka aufgenommen hatten, behaupteten, sie könnten ihm sagen, wo Emme sei. Er hatte sie gebeten, zur Hölle zu fahren, weder er noch Rebecka haben etwas für diese Art von Hokuspokus übrig.
Er öffnet die Augen.
»Und sie konnte mir sagen, wo der Hund war. Im Bellver-Park. Und weißt du, ich habe ihn dort tatsächlich gefunden.«
Tim schüttelt den Kopf.
»Das ist nichts für mich.«
»Ich schicke dir auf jeden Fall ihre Nummer. Sie heißt Clandestina, hat einen Tarotladen nicht weit von El Corte Inglés.«
»Don’t bother«, sagt Tim. Bald sieht er nur noch Juan Carlos’ Rücken. Der Stoff seines T-Shirts scheint vom Strand verschluckt zu werden, von den Menschen, den Sonnenschirmen und schließlich vom Meer.
Tim holt sein Handy heraus. Die Hand zittert unkontrolliert. Er versucht, sie still zu halten, doch sie weigert sich, und er atmet tief und langsam, erinnert sich an den Raum, in dem Emme gewesen sein soll, der Raum mit dem Toiletteneimer und der dreckigen Matratze mit den Spermaflecken, dass sie von dort geflohen sein soll.
Das ist sie offenbar. Aber was ist danach passiert?
Ein Autounfall in der gleichen Nacht, die Ahnung eines Sanitäters, und er weiß, das ist nicht viel, dem er da nachgehen kann, aber es ist immerhin etwas, und die Hand darf nicht mehr zittern, er darf jetzt nicht zittern.
Es gelingt ihm, Simones Nummer zu tippen. Er braucht sie jetzt, die frühere Kollegin bei Heidegger Private Investigators, er braucht ihre unschlagbare Fähigkeit, digital Informationen herbeizuschaffen. Sie hat genau wie er bei Heidegger aufgehört, ist jetzt selbstständig. Tim vermisst seine Arbeit dort nicht: untreuen Männern und Frauen hinterherzuspionieren, sie zu fotografieren, Betrüger dazu zu zwingen, das mit falschen Papieren erschlichene Geld für Boote zurückzuzahlen, die verkauft wurden, ohne dass sie existierten, gestohlenes Gut für eine Versicherungsgesellschaft zurückzukaufen.
Sie meldet sich nach dem fünften Freizeichen.
»Tim, mein Freund. Was willst du? Ein Bier heute Abend mit mir trinken? Ich bin frei wie ein Vogel.«
Sie klingt fröhlich. Jung, jünger als die achtundzwanzig Jahre, die sie wirklich alt ist, diese deutsche Frau, die bereits als Teenager aus ihrem Heimatland weggezogen ist, aus Gründen, die er nie erfahren hat.
Ein Bier?
Er mag nicht einmal mehr an weitere Biere denken. Aber er erzählt ihr, was er erfahren hat, was Juan Carlos ihm berichtet hat. Bittet sie um Hilfe, alles herauszufinden, was sie über diesen Unfall in Erfahrung bringen kann, über das, was im Krankenhaus Son Espases in dieser Nacht geschah, denn Emme könnte ja auf irgendeine Art dort gelandet sein, zumindest den Platz überquert haben. Nachzuprüfen, ob das Auto, das vorbeifuhr, von irgendeiner Überwachungskamera festgehalten wurde.
Emme.
Das einzige Mädchen auf der Welt.
An deren Gesicht er sich kaum noch erinnert, ohne ihr Foto anzublicken. Wie siehst du jetzt aus? Wie sehe ich aus?
Welche Welt erfassen deine Augen?
»Ich melde mich. Mal sehen, was ich vor dem Bier schaffe. Um zehn Uhr bei Ventuno, okay?«
»Okay«, wiederholt er, ohne zu wissen, worauf er eigentlich antwortet.
Beide legen auf, da piepst Tims Handy.
971753585. Clandestina. Könnte einen Versuch wert sein.
Wenn wir nicht wissen, raten wir.
Um acht Uhr hat sich die größte Hitze gelegt, und Tim zieht sich die Joggingschuhe an, ein Unterhemd, und dann geht er hinaus. Läuft hinunter zur Playa de Palma, wo die letzten Strandbesucher den Sonnenuntergang in sich aufsaugen, der Haschischrauch wabert über ihnen, und die Mülltonnen quellen über vom Abfall des Tages. Wildkatzen laufen maunzend um sie herum, schlagen ihre Krallen in die Essensreste, fauchen einander an, und er läuft, atmet die warme Luft ein, spürt, wie ihm der Schweiß ausbricht, der Körper reagiert. Er schaut nicht zu den Fensterscheiben des Kongresszentrums, will sein eigenes Spiegelbild nicht sehen, denn was gibt es da mehr zu sehen als einen Mann, der versucht, vor sich selbst wegzulaufen.