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»Einer der besten und krassesten Krimis, die ich in diesem Jahr gelesen habe.« Nicole Abraham, hr 1 Buchtipp »Kallentoft auf der Höhe seines Könnens: Fiebriger Sound und eine Story, der man sich unmöglich entziehen kann.« Upsala Nya Tidning »Einer der besten und krassesten Krimis, die ich in diesem Jahr gelesen habe« Nicole Abraham, hr1 Buchtipp Eine verschwundene Tochter. Ein verzweifelter Vater. Und ein Wettlauf gegen die Zeit in der Hitze von Palma. Mons Kallentoft hat einen hochkarätigen Krimi vor atemberaubender Kulisse geschrieben. Mit einem gefallenen Helden, in dessen wüstem Innenleben sich die ganze Abgründigkeit des verlorenen Urlaubsparadieses wiederfindet. Drei Jahre ist es her, dass Tim Blancks sechzehnjährige Tochter Emme während einer Partyreise nach Mallorca verschwand. Die Polizei hat den Fall längst abgeschlossen. Doch Tim hat sich geschworen, niemals aufzugeben – ein Versprechen, das seine Ehe zerstörte und ihn alle Zelte in Schweden abbrechen ließ. Mittlerweile arbeitet er in Palma als Privatdetektiv. Für einen Auftrag soll er die untreue Ehefrau eines deutschen Millionärs beschatten. Doch schon bald wird ihr Geliebter ermordet aufgefunden, die junge Frau verschwindet spurlos. Tim beginnt auf eigene Faust zu ermitteln und gerät in die üblen Machenschaften von Mallorcas High Society. Hier, im dunklen Herzen des Urlaubsparadieses, zwischen Gier, Korruption und Gewalt, stößt er plötzlich auf eine Spur seiner Tochter. Was ist mit Emme passiert? Ist sie noch am Leben?
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Seitenzahl: 523
Mons Kallentoft
Verschollen in Palma
Ein Mallorca-Krimi
Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt
Tropen
Die Zitate auf den Seiten 16, 17, 18 und 19 stammen aus dem Song »Maria«, Words & Music by James Destri.
© Copyright 1999 BMG Gold Songs & Dick Johnson Songs.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Tropen
www.tropen.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Se mig falla« im Verlag Bokförlaget Forum, Stockholm
© 2019 by Mons Kallentoft
Published by agreement with Ahlander Agency, Sweden
Für die deutsche Ausgabe
© 2020, 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Zero-Media.net, München
Fotos: GettyImages/Westend61 (Palma), FinePic®, München (Himmel)
Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Printausgabe: ISBN 978-3-608-50511-5
E-Book: ISBN 978-3-608-12010-3
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Beauty is the mystery of life
AGNES MARTIN
Die Nachricht trifft genau in dem Moment ein, als er die Wohnung verlassen will, um neue Klingen für den Rasierapparat zu kaufen.
Er zieht die Tür hinter sich zu, bleibt auf dem Treppenabsatz stehen und liest, während er gleichzeitig hört, wie sich Rebecka mit leichten Schritten von ihm entfernt.
WhatsApp.
Emme online.
kein balconing, Papa, versprochen
Auf dem Selfie lächelt sie in die Kamera. Posiert vor einem niedrigen Metallgeländer um den Balkon des Hotelzimmers. Sie trägt ein weißes Top und hat auf den Schultern und der Brust einen Sonnenbrand, helle Kreise um die Augen von ihrer Ray-Ban. Die grünen Augen glänzen und sind rot gerändert.
Auf einem Tisch im Hintergrund stehen eine Flasche Cola light und Gläser mit Eiswürfeln, die in der Hitze schmelzen. Der Wodka, wie anderes, was es dort sicher gab, ist weggeräumt, aber angekokeltes Zigarettenpapier ist in einem Aschenbecher am unteren Bildrand zu erkennen.
Am anderen Bildrand ist das Mittelmeer zu sehen, wie eine schmale dünne Linie gegen den Abendhimmel, der sein Blau aufgegeben hat für ein glitzerndes Rosa und ein mattes Orange.
Er zoomt in das Bild hinein.
Ein Pool tief unter dem Balkon. Weiße Kacheln lassen das Wasser eisig aussehen. Ein einsamer gelber Schwimmreifen treibt mitten im Bassin und am Beckenrand schläft ein junger Mann. Das Tribal-Tattoo scheint sich an seinen massiven Oberarmen wie ein Wesen aus einem Alienfilm festzuklammern. Neben ihm schleckt ein mallorquinischer Mischlingshund etwas auf, das wie Kotze aussieht.
Das Bild ist gut komponiert.
Er schreibt eine Antwort.
Haha. Wage es nur nicht. Viel Spaß.
Sie antwortet.
U watch me dad, me do da jump
Das Foto, das danach kommt, besteht aus unendlichen Farben in der Unschärfe schneller Bewegungen, als wirbelte derjenige, der das Handy in der Hand hält, durch die Luft.
Emme, zuletzt gesehen um 20.37 Uhr.
Magaluf, 5. August 2018
Es war einmal ein Strand, und den Strand gibt es heute noch.
Tim Blanck bewegt sich langsam durch die Mittelmeernacht.
Die Wellen kräuseln die graue Wasseroberfläche. Das Licht der rotierenden Scheinwerfer des Tivoli Nightclub reicht bis hierher, und für wenige Sekunden ist ein kopulierendes Paar auf dem Sand zu sehen, ihre Körper werden in dem graublauen Schein sichtbar. Dann verschwinden sie wieder, in der Dunkelheit, ihre Muskeln, ihre Geschlechter und die überhitzten, zugedröhnten Gehirne, in den Augenblicken, die nur ihnen gehören, und das Licht der Scheinwerfer wandert suchend den Berg hinauf, der für kurze Zeit in der Ferne sichtbar wird.
In den Hotelzimmern brennt Licht, Handtücher hängen zum Trocknen auf den Balkonen wie Separatistenflaggen.
Er geht weiter die Straße entlang. The Strip, wie die Partymeile auch genannt wird.
Hier, oberhalb des Strandes, ziehen sie in Gruppen umher. Erwachsene Kinder, oder kindliche Erwachsene, in Bikinis mit Sternen über den Brustwarzen, Tops mit schwindelerregend tiefen Ausschnitten, Kleidern, knielangen Surfershorts, weißen Jeans und Hemden, sie tanzen in den Clubs, recken die Hände zur Decke, die Musik gibt den Takt vor, in dem sie sich bewegen, in einer einzigen gemeinsamen Bewegung, und right here, right now wollen sie besoffen und high werden, lachen, grölen und tanzen, an Bushaltestellen und in Hauseingängen schlafen, alles auf einmal.
Sie sind hier, alle zusammen, um zu sehen und gesehen zu werden.
Jemand hat dich gesehen, Emme. Jemand muss dich gesehen haben.
Anfangs, im ersten Jahr, hatte Tim immer das Bild bei sich, zeigte es vielen Menschen, verteilte die Karten, und bald kannten ihn alle, baten ihn, zu verschwinden. Inzwischen sind die Menschen ausgewechselt. Die wenigen, die ihn wiedererkennen, kümmern sich nicht um ihn, und die Neuen registrieren nicht einmal, dass es ihn gibt, oder sie werden nur wütend, sagen ihm, er solle abhauen.
City Lights, Taboo, Pure Lounge, Sorry Mom Tattoo, Chaplin, Bad Girlz, The Secret, Red Lion, Crystal, Coco Bongo, Benny Hill und THE STRIP.
Frauen tanzen auf Podesten, lassen lasziv die Hüften kreisen, aufgepumpte Türsteher in schwarzen Trikots, nackte Rücken mit Bodybuilding-Akne, kleine Gauner, die gefälschte Rolex verkaufen, alles ist fake, und die nigerianischen Prostituierten, die in den Gassen warten, in Gruppen, mit Messern in den Händen warten sie darauf, die Besoffenen und Verlassenen zu überfallen, die von der Nacht zerkaut und ausgespuckt worden sind.
Die Polizei schaut zu. Wartet ab. Kameras wachen über alles, aber Filme können verschwinden und Kameras können kaputtgehen.
Tim mustert die Kids. Als könnte sie sich unter ihnen befinden.
Sie wollen in der Nacht baden, in der Sicherheit des Neonlichts. Sie schwimmen in die falsche Richtung, werden von dem gleichen Meer geschluckt, das auch die römische Flotte im Ersten Punischen Krieg auf dem Heimweg von Karthago schluckte.
Saufen, rauchen, sniffen, drücken.
Weed von irgendeinem Inder kaufen. Dem Inder?
Morgen ist heute. Was eigentlich gestern war. Die Araber verkaufen Kebab, die Chinesen billige Strandmatten, die Südamerikaner putzen und die Rumänen und Bulgaren schrauben. Und der Gestank nach Urin und eingetrocknetem Alkohol, nach frischem kaltem Bier, süßen Drinks und Cider liegt wie eine Wolke in der Luft, berauscht die Mücken und Fliegen, weckt in ihnen Sehnsüchte, den Hunger nach Blut, das nach Messerstechereien auf den Fußwegen und in den Venen der Teenager fließt.
Wer hat dich gesehen, Emme?
Erkennst du dieses Mädchen? Hast du sie gesehen? Nimm bitte diese Karte, zeig sie deinen Freunden.
Whatever, man.
Oft kam Tim schon der Gedanke, dass Magaluf in einer Augustnacht sowohl von Untergang als auch von Schöpfung zeugt, aber es gibt keinen siebten Tag, um zu ruhen.
Am Strand, den es immer noch gibt, zwischen dem Meer und den Bergen, wurden Häuser gebaut, um das Glück und die Träume zu beherbergen, um Kapital aus den Träumen zu schlagen, und hier ist alles erlaubt, solange es nicht schlecht fürs Geschäft ist, und nicht einmal dann können einige an sich halten, denn die Versprechungen trafen bei den Unternehmern wie bei den Touristen ins Schwarze. Du bist in einem gesetzlosen Land. Du kannst hier jemand anderes sein, als du bist.
Einer von den Glücklichen.
Den Euphorischen.
Einer von jenen, die das gewisse Etwas haben, was alle anzieht. Die Superkräfte der Jugend. So hätte es sein sollen.
Jemand wollte das von dir, Emme.
»Das schmeckt ja nach Bonbons! Nach Zuckerstangen! Oder nach diesen Schnullern. Habt ihr auch was, das nach sauren Fischen schmeckt?«
»One more, girls, try the green gummibears this time. I make that shot myself. It’s my favorite.«
Two for one.
Shit, ist das stark. Shit, langsam werde ich besoffen, shit, was bin ich besoffen, der Strand, ich will tanzen, yeah. »Give me a drag of that.«
Tim sieht sie. Wie sie versuchen, mit sich selbst zurechtzukommen, miteinander, die Waffe entsichern, er sieht den Zeigefinger, der den Abzug krampfhaft umklammert. Sie schweben auf den grauschwarzen Wellen des Asphalts, das Neonlicht streift den Strand, und die Scheinwerfer fangen die vögelnden Körper wieder ein. Sandkörner scheuern an ihren Geschlechtsteilen, und morgen werde sie winzige Wunden dort haben, wo es am meisten brennt, Kriegsverletzungen, die beim walk of shame und beim Wodkafrühstück präsentiert werden, bis es wieder Zeit ist für die Sonne, für verbrannte Haut und für die nächste Nummer.
Dann fliegt das Flugzeug zurück.
Aber sie werden nächstes Jahr wieder herkommen.
So nähert sich der Mensch seinem Leben, denkt Tim, als er einer dunklen Seitengasse zurück zum Auto folgt. Zuerst schleichen wir uns heran, dann stürzen wir uns auf die Liebe, von der wir hoffen, dass sie sich irgendwo in der Zeit verbirgt. Die Liebe, von der wir in unserer Sehnsucht träumen, dass es sie gibt.
Wir hören, wie sich Menschen hinter verschlossenen Türen bewegen. Es sind Menschen, die wir lieben, die wir da hören. Sie bewegen sich auf uns zu, und wir weigern uns, den Traum zu beenden. Den Traum von Liebe und Freiheit und Wiederauferstehung.
Magaluf.
Dort, wo alles anfängt.
Dort, wo der Rausch seinen Ursprung hat, dort, wo alles möglich ist.
Magaluf.
Es kann nicht alles hier ein Ende gefunden haben.
Du musst auf dein Leben zurückschauen, Emme.
Er sieht das Licht des roten Benny-Hill-Schilds gegen den Nachthimmel, es zerfließt zu einem unscharfen Muster, und er muss feststellen, dass er vielleicht noch nie etwas so Schönes gesehen hat. Dass es dort, wo die meisten etwas Hässliches sehen, Schönheit gibt.
Die wir alle einmal in uns hatten.
Das Schild vor dem Himmel.
Weder erwachsen noch ein Kind. Eine Welt im Entstehen.
Jetzt fahren wir.
Das ist mir ja wohl scheißegal.
U watch me dad
Whatever.
me do da jump
Lakritzshots?
Ich mag kein Lakritz. Das wisst ihr doch.
Ich weiß es, Emme. Ich weiß.
Gibt es irgendjemanden, der Lakritz mag? Im Ernst? Saure Fische, scheißsaure Fische, bitte.
Papa.
Tim ist ins Gebirge hochgefahren. Er hat auf einem nachtschwarzen Aussichtsplatz geparkt und schaut auf die Lichter von Magaluf hinunter. Von hier aus scheint das Benny-Hill-Schild dunkelrot zu leuchten, und die Nachtbeleuchtung des Tivoli Nightclub flackert immer noch unruhig.
Die extradicke Isomatte war noch im Kofferraum, und er hat sich direkt auf einen Felsen gesetzt. Der Stein drückt hart gegen das Steißbein, aber das gefällt ihm, denn das unbequeme Gefühl hält ihn wach, lässt die Gedanken wandern.
Eine Zeit lang glaubte er, dass es eine Grenze der Gier selbst auf Mallorca gab, sogar in Palma. Doch dem ist nicht so. Vier Professoren am Universitätskrankenhaus Son Espases gründeten einen Fonds für Krebsforschung. Sterbende Menschen bezahlten fünfundzwanzigtausend Euro in den Fonds ein, um dafür eine Behandlung mit der revolutionären Methode zu bekommen, die aus der Forschung resultierte und die ihr Leben retten sollte. Die Patienten nahmen Hypotheken auf, bettelten bei Freunden und Verwandten, um die Kur bezahlen zu können. Die Methode war erfunden, die Pillen nur Zucker und der Fonds eine Geldmaschine für die vier.
Autos, Boote, Häuser, Huren.
Tote Patienten.
Als der Diario de Mallorca den Bluff aufdeckte, taten die Einwohner, als wären sie empört. Einige waren es sicher auch. Keiner möchte an seine Schwächen erinnert werden. Und dem Tode nahe, sind wir besonders verletzlich.
Im Las Cruces, seiner Stammbar, empörte sich die Klientel dagegen nicht. Man zuckte mit den Schultern und konstatierte, dass man nicht unbedingt hohl in der Birne werden musste, nur weil man Krebs hatte.
Die Professoren versuchten außerdem, falsche Alzheimermedizin zu verkaufen, Medikamente, die das fortschreitende Vergessen stoppen und das wiederherstellen sollten, was verloren gegangen war, eine Rückwärtskur im Traum.
Tim betrachtet das rote Schild.
lliH ynneB.
Er bleibt lange auf dem Felsen sitzen. Das Licht in Magaluf erlischt nie, es verschwindet nur in der Morgendämmerung, genau wie Emme es tat.
Als Tim den Wagen in Richtung Palma lenkt, schaltet er die Musikanlage ein.
She moves like she don’t care
Smooth as silk, cool as air
Debbie Harrys Stimme ruft Erinnerungen hervor an den Anfang von allem.
Emme saß am Küchentisch, zeigte ihm die Homepage des Reiseveranstalters, las laut vor, als zitierte sie zunächst ernsthaft und dann ironisch Rilke, etwas von dem, was er über Kunst und die Erfahrungen junger Menschen geschrieben hatte, über den ungeschliffenen Wert darin.
»Mallorca ist eines unserer beliebtesten Reiseziele. Hier findet man Tapasbars mit gemütlicher Stimmung. Wogende Mohnfelder, grünende Olivenhaine, Meer, Gebirge und wunderschöne Strände. Und außerdem die heiß ersehnte Mittelmeerwärme – von Anfang April bis Mitte Oktober.«
Sie schaute auf.
»Mallorca hat alles«, fuhr sie fort, »familienfreundliche Strände, charmante Dörfer, lebhafte Badeorte, Spa-Anlagen, Fitnesshotels und die Großstadt Palma. Hotels in bester Lage für Paare in den Flitterwochen, Familien mit Kleinkindern, Freundesgruppen oder die gesamte Großfamilie.«
»Das reicht«, sagte er. »Ich habe verstanden, worauf du hinauswillst, so dumm bin ich ja nun auch nicht.«
»Papa, hör dir nur das hier an. ›Viele spezielle Dinge machen Mallorca so einzigartig. Wie der vierzehn Kilometer lange Strand in Alcúdia und die alte Eisenbahn zwischen Sóller und dem Meer. Oder die Weinberge und die Serpentinenstraßen um Deià und Valldemossa. Ganz zu schweigen von Palma mit seinen Jugendstilfassaden, Designergeschäften und seiner mächtigen Kathedrale.‹«
Er lässt die helle Stimme ausklingen, sie erinnert ihn an die Baumwolle eines Bettlakens, das unzählige Male gewaschen wurde, eine Sanftheit, die nur Zeit, Sorgfalt und Träume erschaffen können.
Er hält das Lenkrad fest in den Händen, die Musik hallt im Wageninneren wider, er muss sich wach halten, darf nicht einschlafen.
In der Ferne sieht er die Kathedrale, La Seu, die Sonne steht jetzt direkt dahinter, und zunächst will er die Sonnenblende herunterklappen, lässt es dann aber. Das grelle Licht und die Musik halten den Schlaf auf Abstand.
Latina, Ave Maria
A million and one candle lights
Es herrscht Hochsaison. Die Insel erwacht zu einem weiteren Tag, und sie streckt sich, gähnt, rauft sich die Haare.
Zuerst kam die Talayotkultur, dann kamen die Römer, die Byzantiner, später die Mauren und dann die Aragonier, die über den zerstörten Moscheen Kathedralen errichteten. Die Faschisten, die Touristen. Sangria, weiß gekalkte Resorts, Berge, die in Klippen übergehen, sie stürzen senkrecht hinunter ins Wasser, dessen Flut jeden Tag neue Nuancen an Blau erschafft. Strände mit Sand wie Staub.
Sechsundzwanzig Millionen Touristen letztes Jahr, drei Millionen mehr als im Jahr zuvor. Zweihunderttausend Starts und Landungen auf dem Flughafen Son Sant Joan.
Ooh, don’t you wanna take her
Ooh, wanna make her all your own
Sie kommen in Scharen, eine brutale Invasion aus dem Land der Barbaren, getrieben von Sehnsucht und Angst, und er kann sie verstehen. Hier gibt es keine Terroristen, keine Bomben, keine Afghanen mit schwarzen Ziegenbärten. Hier gibt es Sonne, Schnaps. Es gibt nichts, was man unbedingt sehen müsste. Man kann sich für zehn Euro am Tag einfach auf einem Liegestuhl zurücklehnen, unter einem Sonnenschirm für fünf, und die Arbeit des Winters und des Frühlings in Vergessenheit geraten lassen.
Dies ist die Insel des Vergessens, und du kannst dich verlaufen in der Schönheit der Landschaft, in den verborgenen Tälern im Gebirge verschwinden, und jedes Mal, wenn du hochschaust, ist der Himmel blau, nichts steht zwischen dir und deinem Schöpfer, du siehst ihm in die Augen, und er schweigt nicht, er flüstert, alles ist gut, du führst ein gutes Leben, du hast alles richtig gemacht.
Emme las weiter. Ihre Stimme klang jetzt äußerst ironisch, Watte in einem scharfen Reibeisen.
»Und es sollte nicht vergessen werden, welch bequeme Voraussetzungen Mallorca für einen Urlaub bietet. Gepflegte Strände, Strandpromenaden, problemlose Verkehrsverbindungen, Fahrradverleihe und Tauchschulen, Wanderwege und Golfplätze – alles steht zur Verfügung.«
Er fährt am Ufer entlang, Richtung Schlaf, hinunter in die Stadt, vorbei an den verlassenen Hochhäusern an der Calle Martí Costa und direkt zur Umgehungsstraße nach Son Dameto. Die Fenster der Häuser sind dunkel und leer, dennoch scheinen sie über die Stadt zu blicken, über die Insel und die Bucht, und er fragt sich, was sie eigentlich dort sehen, was außer Wasser, Himmel und Steinen.
Auf den 3640 Quadratkilometern, die er an diesem Morgen mit zwei Millionen Menschen teilt, wachen die meisten ein bisschen glücklich auf. Obwohl sie einen Kater haben, enttäuscht und müde sind, bedrückt von den Umständen und Gehässigkeiten, von den Jahren, die kommen und gehen, sind sie am Leben und dem nahe, was sie als die Dreieinigkeit des Glücks zu betrachten gelernt haben.
Sonne, Meer und Strand.
Ist das Emme, die singt,
She’s like a millionaire
Walkin’ on imported air
Ooh, it makes you wanna die
Jetzt nicht einschlafen, Tim. Nicht einschlafen.
Sieh, wie sie baden, wie sie die Sonne genießen, die Menschen.
Don’t, singt sie,
Go insane and out of your mind.
Stockholm, 5. August 2015
Ein kalter Regen schlägt gegen die Windschutzscheibe. Hart trommelt er auf das Dach, mit einem Geräusch, das an den Eifer eines Kindes erinnert, das übt zu schnalzen.
Das Fenster ist überzogen von herablaufendem Wasser, Tropfen, und Terminal fünf vom Flughafen Arlanda ist nur verschwommen zu erkennen. Menschen hasten mit ihrem Gepäck durch den Regen. Sie ducken sich und schieben die Taschen vor sich her, verfluchen das Wetter.
Tim stellt den Motor aus. Er sieht sie an.
Emme Kristina Blanck, Kristina nach seiner Mutter, die starb, als er zwölf war.
Sie trägt Kopfhörer, eine Sechzehnjährige tut das die ganze Zeit, was immer da in ihren Gehörgängen dröhnen mag und weiter in ihr Gehirn, das möchte er gar nicht hören. Es sind die Songs des Sommers, die Takte, die die Freude und die Enttäuschungen dieser Jahreszeit begleiten. Sie nimmt die Hörer ab, jemand, der lean on singt, versucht das Trommeln des Regens zu übertönen, und sie sieht ihren Vater an, ruhig und dankbar, und dann kramt sie in ihrer Tasche, zieht ein Paket Stimorol heraus, extra stark, streckt es ihm entgegen.
»Willst du?«
Tim nimmt das Päckchen, fummelt ein Kaugummi heraus. Emme wartet den Moment ab, in dem die kräftige Pfefferminze zuschlägt, und ganz richtig, er kneift die Augen zusammen.
»Nimm noch eins«, sagt sie grinsend, aber er reicht ihr das Päckchen, und sie stopft es zurück in die Tasche, nachdem sie selbst auch ein Kaugummi genommen hat.
»Pass auf, dass es nicht an der Zahnklammer festklebt.«
»Haha, sehr witzig.«
»Mach mal das Handschuhfach auf«, sagt er.
Als sie die große Tüte mit roten, sauren Weingummifischen entdeckt, stößt sie einen Jubelschrei aus.
Der Regen nimmt an Stärke zu, prasselt einige Sekunden lang laut aufs Autodach, bis er sich wieder etwas beruhigt.
»Nicht schlecht, das hier für eine Weile hinter sich zu lassen, was?«
Emme nickt, setzt sich erneut die Kopfhörer auf, nimmt sie aber gleich wieder ab und stopft die Tüte mit den Fischen in den Rucksack, den sie auf dem Schoß hat.
»Wenn du meinen Koffer rausholst und ihn an die Seite rollst, kann ich rausspringen und schnell unters Dach laufen.«
Er lacht.
»Oder aber ich öffne von innen und du holst den Koffer selbst raus.«
»Please, Papa.«
Sie zupft an dem Ärmel ihrer rosa Bomberjacke aus Satin. Entdeckt einen kleinen Schokoladenfleck auf dem weißen Bündchen. Rümpft die Nase.
»Die hätten wir in die Reinigung geben sollen.«
Dann zieht sie ihr iPhone heraus, das beigefarbene Etui scheint in ihrer Hand zu verschwinden. Sie schaut nach, was passiert ist, und im Profil bilden ihre Stirn, ihre etwas breite Nase und das scharfe Kinn eine perfekte Linie, etwas, das nur eine sehr wohlgesinnte Natur erschaffen kann.
Ihr blondes, glattes Haar ist dicker als Rebeckas und endet frisch geschnitten direkt über den Schultern.
»Julia und Sofia sind schon drinnen«, sagt sie. »Ich muss los.«
Ihm liegen tausend Ermahnungen auf der Zunge. Sei vorsichtig, pass auf, dass du dich nicht allein mit Typen betrinkst, die du nicht kennst, betrinke dich überhaupt lieber nicht, trink gar nichts und nimm auf keinen Fall irgendwelche Drogen. Aber für so etwas ist es zu spät, sie ist, wie sie ist, und wird das tun, was sie tun will, und er vertraut ihr, hat sich von ihr überreden lassen und anschließend Rebecka überredet, sie fahren zu lassen, eine Woche auf Mallorca mit den besten Freundinnen, eine Woche, um den Sommer zu feiern, die guten Noten, und um zu vergessen, dass die Schule allzu bald wieder anfängt.
Gymnasium, ein Oberstufenprofil mit Schwerpunkt Design. Woher auch immer sie das Talent haben mag.
»Wir müssen ihr vertrauen.«
»Sie ist noch zu jung für so was, und das weißt du auch.«
Sei vorsichtig.
Aber er sagt nichts, sieht sie nur an, und sie spürt das Schweigen, dreht sich zu ihm um.
»Was ist?«
»Nichts.«
»Willst du mir eine Moralpredigt halten?«
»Dich vor allen Gefahren warnen, meinst du? Ja, das würde ich gern, aber ich werde es nicht tun. Es gibt nur eine Sache, die ich dir sagen will, und zwar sollst du«, und er lässt die Worte in der Luft hängen, sieht, wie sie das Gesicht verzieht, dann fährt er fort, »so viel Spaß haben, wie du nur haben kannst.«
Jetzt lacht sie, streckt sich zu ihm hinüber, umarmt ihn, und ihr Körper ist hart und weich zugleich, nicht der Körper eines Erwachsenen, nicht der eines Kinds, sondern etwas anderes, der eines lebendigen, freien Wesens, das versucht, seine Form zu finden.
Er erwidert ihre Umarmung. Vorsichtig. Wie er es immer getan hat und immer tun wird. Er flüstert ihr »Los jetzt« ins Ohr, und sie entzieht sich seinen Armen, hüpft auf ihrem Sitz auf und ab, kribbelnd vor Erwartung und reiner Freude darüber, am Leben und auf Reisen zu sein.
Er beneidet sie, möchte in ihrer Haut stecken, so wie sie ist er nie gewesen. Sie ist in jeder Beziehung die bessere Ausgabe von ihm, sie hat ein Talent fürs Leben, das er nie gehabt hat.
Er öffnet die Fahrertür, und der Regen wird zu einem Getöse. Der Seitenwind wirft winzige Tropfen ins Auto, er spürt sie kalt an den Wangen, und dann steigt er aus, holt den Koffer aus dem Kofferraum, fühlt, wie Hemd und Jeans binnen weniger Sekunden durchnässt sind.
Er stellt ihren großen schwarzen Koffer neben die Beifahrertür, klopft an die Scheibe, und dann läuft er ums Auto herum zurück, sucht Schutz im Innenraum, sie lacht.
»Guck nicht so traurig.«
»Ich bin nicht traurig.«
»Ich meine, wie ein begossener Pudel.«
Er will fragen, ob sie auch alles dabeihabe, ihre Kreditkarte, Geld, aber sie wäre sauer, wenn er das täte, also fordert er sie stattdessen auf, die Sonnenblende herunterzuklappen.
»Ich muss los. Der Koffer wird nass.«
»Du hast noch Zeit. Tu, was ich sage.«
Sie ahnt, was da kommt, also klappt sie den Sonnenschutz herunter, sieht, was dahinter klemmt. Schon hat sie den weißen Umschlag mit dem Logo der Versicherungsgesellschaft If drauf in der Hand, und sie öffnet ihn, stößt einen Freudenschrei aus, als sie die sechs Fünfzig-Euro-Scheine sieht.
»Sag Mama nichts.«
»Versprochen.«
Sie umarmt ihn noch einmal, diesmal aber nur kurz. Dann öffnet sie die Tür.
»Warte noch mal«, sagt er.
Er holt sein Handy heraus, macht etwas, das er sonst nie tut, stiehlt sich ein Foto von ihr, ihr Gesicht vor der Mauer aus Wasser.
Sie hält inne, es scheint ihr etwas Wichtiges eingefallen zu sein.
»Willst du mit reinkommen?«, fragt sie.
»Ich weiß, dass du das nicht willst.«
»Papa, ich möchte nur ein bisschen private space.«
»Schon in Ordnung«, sagt er.
»Wirklich?«, fragt sie nach.
Ich habe doch nur dich, hätte er am liebsten gesagt.
Du bist meine einzige Tochter.
Mein einziges Kind.
Sei vorsichtig, möchte er rufen, sei vorsichtig. Deine Mutter hat recht, das ist doch Wahnsinn, die ganze Reise ist eine bescheuerte Idee.
Der Geschmack von Pfefferminze.
Der Duft siegessicheren Regens.
Geld, saure Fische.
Sie ist aus dem Auto ausgestiegen und läuft, den Koffer vor sich herschiebend und den Rucksack in der Hand, auf das müde Maul der Drehtür zu.
Leichte Flocken fallen im Licht der Straßenlaternen. Emmes blau-rot gestreifter Schneeanzug macht ihre Bewegungen langsam, sie ist müde, ihr ist warm, und noch wärmer wird ihr drinnen im Seven-Eleven, wo Jorge, der träge Halbmexikaner, hinter der Kasse steht, neben den Würstchen, Croissants und Schokoladenmuffins und den dreieckigen Sandwiches, die nach Pappe schmecken.
Sie streckt sich hoch, schiebt den Twix-Riegel so weit sie nur kann auf den Tresen, tritt dann ein paar Schritte zurück, damit sie Jorge sehen kann, der etwas sagt, aber die Worte haben keine Bedeutung, nicht einmal in jenem Moment, deshalb verschwinden sie, werden vergessen, sind nicht mehr hervorzurufen für denjenigen, der versucht, sich an sie zu erinnern.
Emme nimmt den Schokoriegel wieder an sich, nachdem Tim bezahlt hat. Dann setzen sich die beiden am Fenster auf die hohen Hocker, neben den Milchtüten, laktosefrei, Soja und fettarme Milch, und sie öffnet den Twix-Riegel, gibt den ersten der beiden Schokoriegel ihm.
»Einer für Papa«, sagt sie. »Einer für Emme.«
Draußen fällt der Schnee, es ist dunkel, februarschwarz, die Uhr zeigt kurz nach vier. Das ist ab und zu ihr Ritual, Emmes und seins, sie machen halt beim Seven-Eleven am Tegnérlunden, teilen sich ein Twix, sitzen hinter den großen Glasfenstern und lassen die Zeit vergehen, die Welt gehört ihnen und wird ihnen gleichzeitig genommen.
Tim hofft, dass er nicht allzu viel Gewalt anwenden muss. Möglichst gar keine, aber Small-time-Bootsbetrüger haben selten so viel Grips in der Birne, dass sie begreifen, wann das Spiel vorbei ist, und dann tun, was er ihnen sagt.
Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigt zehn nach fünf, und draußen herrscht drückende Hitze. Er hat ein Stück weiter oben an der Strandpromenade Paseo Marítimo geparkt. Auf der einen Seite, hinter der sechsspurigen Straße mit den Palmen auf dem Mittelstreifen, schaukeln die Bootsmasten mit ihren Wimpeln im Hafen. Die Yachtbesatzungen hasten mit Proviant und anderem zu den Booten, bevor die Eigentümer kommen und die Schiffe in Besitz nehmen, um mit ihnen loszufahren: nach Taormina fürs Highlife, nach Ibiza wegen der Clubs und der Drogen oder an die Riviera der Abwechslung halber. Auf der anderen Seite liegen das Hotel Iberostar Gold und der Nachtclub Opium mit seinem spiegelbesetzten Entrée. Ein Angestellter klebt eine Folie über ein großes Schild, dass den DJ des Abends ankündigt.
Dreitausend Gäste fasst das Opium, früher gehörte die Diskothek Sergio Gener, einem geborenen Spieler und dem späteren König der Vergnügungsbranche, der über ein Imperium herrschte, das in der Hochsaison eine Million Euro pro Tag einbrachte. Hier im Opium ließ Gener die Polizeibeamten filmen, die er sonntags gratis einlud. Er hatte Bilder davon, wie sie sich kostenlos Prostituierte holten oder Kokain, entweder von dem, was es im Club gab, oder aber von dem, was sie selbst beschlagnahmt hatten. Dank dieser Aufnahmen machten die Polizisten alles, was er wollte. Ab und zu wurde die Leiche von jemandem, der wohl einer von Geners Konkurrenten war, im Hafenbecken von Palma gefunden. Da lagen sie mit dem Gesicht nach unten im Wasser, sodass der eingeschlagene Schädel gut zu sehen war.
Tim schließt die Augen. Öffnet sie wieder.
Sergio Gener sitzt jetzt in Asturien hinter Gittern, er ist dorthin verlegt worden, weil seine Männer die Zeugen hier bedrohten. Gener wollte zur Society gehören, und das dürfen hier auf der Insel nur Mitglieder alter Adelsfamilien oder Hoteldynastien.
Ein roter Ford Fiesta hält auf der Zufahrt zum Yachthafen und der Däne, auf den Tim wartet, steigt aus. Er heißt Mickel Andersen, ein großer, kräftiger und nicht gerade erfolgreicher Kleinkrimineller, der bis vor Kurzem noch fünf Jahre in Odense abgesessen hat, wegen Versicherungsbetrug und schwerer Misshandlung. Mickel schaut sich um, und als er feststellt, dass er offenbar nicht verfolgt wird, schlendert er den langen Anleger entlang, auf ein bestimmtes Segelboot zu. Er hat es mit Geld gekauft, das er einer deutschen Zahnarztfamilie aus Kassel abgeluchst hat, indem er ihnen ein anderes Boot verkaufte, das jedoch nur in einer schicken Annonce im Internet existierte. Der Preis war günstig, aber nicht so niedrig, dass der Geizhals aus Kassel Verdacht schöpfte, im Gegenteil, er kaufte die Yacht, ohne sie je gesehen zu haben.
Tim öffnet die Wagentür. Er holt den weißen Umschlag aus dem Handschuhfach, steckt sich einen Füller in die Gesäßtasche und überquert den Paseo Marítimo. Dann schleicht er sich unauffällig auf das Gelände des Yachthafens. Das junge Mädchen im Wachhäuschen nimmt keine Notiz von ihm. Er ist ordentlich gekleidet, blaue Chinos und ein gebügeltes Hemd, sicher nimmt sie an, er sei der Besitzer eines der Boote. Er nickt einigen Skippern auf einer riesigen, gelb gestrichenen Yacht zu, steigt über eine große Taurolle, registriert einen muffigen Geruch, der vermutlich von den Mülltonnen kommt oder von einem Boot, dessen Abwassertank voll oder kaputt ist.
Der Däne biegt nach links ab, auf einen Seitensteg, geht an einer langen Reihe von Segelbooten entlang, springt dann kraftvoll auf das Deck eines Zweimasters.
Tim schaut sich die Boote ringsherum an. Ein junges Mädchen schrubbt ein Achterdeck, ein älterer Spanier sitzt im Vorschiff eines Segelboots und versucht eine Pumpe zu reparieren. Die beiden könnten etwas hören, falls der Däne anfängt zu schreien, aber sie werden sicher nichts unternehmen. Hier ruft niemand unnötig die Polizei, und deine Sorgen sind niemals meine Sorgen.
Tim bleibt vor dem Boot des Dänen stehen. Er überlegt, ob er auf das weiße Vordeck klettern und in die Kajüte hinuntersteigen soll, aber er bleibt auf dem Anleger stehen und ruft laut ins Bootsinnere:
»Mickel Andersen, bist du da?«
In der Kajüte ist es still.
»Der Zahnarzt will sein Geld zurück.«
Tim erwartet, eine Pistole hervorlugen zu sehen, aber stattdessen kommt der Däne an Deck.
»Und wer zum Teufel bist du?«
Die beiden Menschen auf dem Nachbarboot sind still geworden, sie starren abwartend zu ihnen herüber.
»Ich bin ein Freund vom Zahnarzt«, sagt Tim. »Du weißt schon, der für ein Boot bezahlt hat, das er nicht gekriegt hat. Er will sein Geld zurück, sofort.«
Mickel Andersen tritt einen Schritt vor, bohrt seine tief liegenden Augen in Tims, versucht bedrohlich auszusehen, aber als das keine Wirkung zeigt, weicht er zurück, und Tim kommt an Bord, mit einem großen Schritt, keinem Sprung.
Er öffnet den weißen Umschlag, holt das Dokument heraus, reicht es dem Dänen.
»Unterschreib das.«
»Was ist das?«
»Das ist ein Überlassungsdokument. Du überschreibst damit dieses Boot dem Zahnarzt, denn ich gehe davon aus, dass du keine dreihunderttausend Euro unten in der Kajüte versteckt hast?«
»Nie im Leben. Ich unterschreibe gar nichts.«
»Nein?«
»Nein, das hier ist mein Boot.«
Tim wirft das Papier zur Seite, macht einen Ausfallschritt nach vorn, dann trifft seine Faust Mickel Andersens Kopf, und gegen seinen Willen ist es ein gutes Gefühl, zuzuschlagen, wie eine Erleichterung. Der Däne hatte die Zungenspitze zwischen den Zähnen, und jetzt spritzt das Blut in einem sauberen feinen Strahl aus seinem Mund, er weicht zurück, rudert mit dem einen Arm in der Luft herum, bis er auf einem der blau-weiß-gestreiften Polster am Steuerrad landet.
»Sau hier nicht alles mit deinem Blut ein«, sagt Tim, »dieses Boot gehört dir nicht mehr.«
Blut läuft aus Mickel Andersens Mund. Er schaut zu Tim auf, scheint zu überlegen, ob er den Kampf aufnehmen soll oder nicht, aber offenbar begreift er, dass hier Schluss ist, Schluss mit dieser Gaunerei, Schluss mit diesem Boot, Schluss mit dieser Geschäftsidee.
»Oder aber du entscheidest dich für den schwierigen, steinigen Weg, mit Anwälten, Polizei und Gerichtsverfahren. Ich kann dir das Leben so zur Hölle machen, dass du dich noch zurücksehnst in die Arschfickerzellen in Odense.«
Die Menschen auf den anderen Booten sind nicht mehr zu sehen, und die Sonne scheint inzwischen auch stärker, der Schweiß läuft Tim über den Rücken. Er zieht den Füller aus der Gesäßtasche, streckt ihn dem Dänen hin. Der unterschreibt damit die fünf zusammengehefteten Seiten und gibt sie Tim zurück.
»Du hast eine halbe Stunde, dann bist du verschwunden«, sagt Tim.
Dann dreht er sich um, klettert zurück auf den Steg, geht zum Auto, überquert wieder den Paseo Marítimo.
Die Sonne hat das Wageninnere bereits in einen Backofen verwandelt. Er schaltet die Klimaanlage ein, streckt sich zum Beifahrersitz, klappt die Sonnenblende herunter und nimmt eine der gedruckten Karten, die dort festgeklemmt sind. Er hält die Karte in der Hand, aber er will nicht, er will nicht auf das Bild schauen, schafft es einfach nicht, also guckt er lieber zum Kai, auf den Bereich, wo die riesigen Katamarane gerade angelegt haben. Menschen platzen aus ihnen heraus, betrunken, mit geröteter Haut, einigen ist sichtlich übel, und die Passagiere der Abendfahrt warten träge im dunklen Schatten der Palmen.
Tim holt tief Luft.
Der Däne kommt den Steg entlang, mit einer großen Tasche auf dem Rücken und ein paar vollgestopften Plastiktüten in den Händen. Tim schickt eine SMS an Wilson, den Chef von Heidegger Private Investigators.
All taken care of.
Good. Don’t forget about tonight.
Das hat er aber. Was passiert heute Abend?
What?
You know. Duty time.
Tim macht sich gar nicht die Mühe, zu versuchen, sich zu erinnern, sich zu erinnern ist nur selten gut, und eine ganze Truppe von Kreuzfahrtpassagieren geht auf dem Bürgersteig an ihm vorbei. Die Tür zum Opium ist jetzt offen, und ein anderer Mann putzt den schwarz lackierten Kassentresen. Tim schaut auf die Karte in seiner Hand, aber er sieht nicht das Foto an, stattdessen liest er den Text auf der Rückseite, was er schon so oft getan hat:
!FALTANT! Has vist aquesta noia?
!DESAPARECIDO! Has visto a esta chica?
MISSING. Have you seen this girl?
SAKNAD! Har du sett den här flickan?
DISPARUE! Avez-vous vu cette fille ?
OTCYTCTBYET! Вы видели эту девушку?
VERMISST! Haben Sie dieses Mädchen gesehen?
Please call, und dann seine eigene Nummer.
Das ist ein Touristenmenü, eine Banalität, passend für alle, übersetzt und gedruckt und schnell wieder vergessen, und er will die Karte umdrehen, aber er weiß ja, wie das Foto auf der anderen Seite aussieht, er hat Tausende solcher Karten in den letzten drei Jahren verteilt.
Er dreht sie dennoch um. Emme auf einem anderen Beifahrersitz als dem leeren neben ihm. Terminal fünf vom Flughafen Arlanda ist im Regen zu erkennen, sie sitzt lachend vor der Regenmauer.
Heute ist es genau drei Jahre her, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.
Du bist nicht vergessen. Das verspreche ich dir: Ich werde niemals aufhören, dich zu suchen.
Tim spürt die Gewalt in seinem Körper nachhallen. Er zieht die dünne weiße Gardine zur Seite, sieht den Pizzaboten von Tony’s Pizza auf seinem Motorroller vor dem Tor halten.
Familie Adame ist hungrig. Pizza wurde bestellt, mit extra viel Käse. Wer in Palma als Dessert eine Line Koks haben will, kann sie auch bei Tony’s zu sich nach Hause bestellen. Dann bittet man um zusätzlich »weißen« Käse, und mitten auf der Pizza liegt ein Gramm Kokain, wenn sie ausgeliefert wird, sicher versiegelt in einer hitzebeständigen kleinen weißen Plastiktüte. Bestellst du zehn Scheiben extra, bekommst du zehn Gramm.
Familie Adame isst oft Pizza.
Wenn der Pizzabote da gewesen ist, kann man oft nach einer Weile hören, wie Mann und Frau anfangen, sich zu prügeln und anzuschreien, dass die Fensterscheiben der Nachbarn erzittern. Zuerst haben die Kinder Angst, sie weinen leise, was aber trotzdem durch die Wände zu hören ist. Dann wird das Weinen lauter, und schließlich verhalten sie sich völlig still, das ist am Ende am besten, so viel haben sie gelernt.
Der Bote fährt wieder ab.
Es ist ruhig auf der Straße, die Hitze zwingt die Menschen, drinnen zu bleiben, und die alte Klimaanlage stöhnt und faucht, um zumindest eines seiner beiden Zimmer einigermaßen kühl zu halten.
Er wohnt im zweiten Stock von vieren in einem kleinen Mietshaus in der Calle Reina Constanza, Nummer 20A. Das Haus wurde in den Siebzigerjahren gebaut, wie ein großer Teil der Stadt. Die Fassade ist bedeckt mit quadratischen Platten, die im Laufe der Jahre durch Feuchtigkeit schwarze Flecken bekommen haben. Brüchige Stromkabel hängen vor seinem Sims, und die zwanzig Fenster des Hauses sind hinter weißen Metalljalousien und Fensterläden verborgen. In allen Wohnungen, außer in seiner. Er ist der Einzige, der das Licht nicht scheut, eine Angewohnheit, die er aus Schweden mitbringt und die keiner seiner Nachbarn begreift.
Tim zahlt seine Miete an einen mallorquinischen Miethai, der fünfhundert Euro im Monat kassiert. Für den Preis muss er den Schimmelgeruch im Badezimmer ertragen sowie den Umstand, dass lediglich eine der drei Flammen des Gasherds funktioniert und dass der Boiler es nur schafft, die kostbaren Tropfen auf maximal dreißig Grad zu erwärmen.
Die Reina Constanza ist unmöglich.
Son Foners, wie der Stadtteil heißt, ist unmöglich.
The wrong side of the river,
the wrong side of the road.
Was in diesem Fall die Avenida de Gabriel Alomar wäre, ein Teil von Palmas großer Avenue, die sich wie ein Ventilationsschacht durch die Stadt schneidet, voller Lärm und eiskalt. Selbst drinnen in der Wohnung, die gegen den Lärm durch die Häuserreihe vor ihr geschützt sein sollte, ist der Verkehr zu hören, sind die Abgase zu riechen, gemischt mit dem Gestank aus der chemischen Reinigung im Nachbarhaus, dem Motorölgeruch aus den Werkstätten im Haus gegenüber und dem zischenden Frittieröl vom Kebabimbiss ein Stück die Straße weiter runter.
Er hat möbliert gemietet. Ein grünes Sofa mit synthetischem Bezug. Ein kleiner Mosaiktisch aus Metall im Wohnzimmer. Tapete mit Medaillonmuster in Gold und Rot aus der Zeit, als das Haus gebaut wurde, elektrische Kabel, die knistern, wenn man sich in Ruhe hinlegen will. Keine Fotos von Emme, keine von Rebecka, sie existieren hier nicht. Er hat etwas vergessen, hat Wilson nicht etwas gesagt? Dieser Tag ist noch nicht zu Ende, aber er möchte den Kopf jetzt leer haben, er will sich nur noch aufs Sofa sinken lassen, den Fernseher ohne Ton laufen lassen, CNN am besten, die letzten Explosionen sehen, die frischesten Lügen, den neuesten erwarteten Verfall, was die guten Sitten betrifft. Die Türen der Küchenschränke sind verblichen, hinter ihnen verbirgt sich das angestoßene Porzellan, aber er hält die Küche sauber, besonders zu dieser Jahreszeit, wenn Ratten, Kakerlaken und Ameisen sich nur zu gerne auf die Jagd nach Essensresten machen. Auf der Toilette gibt es ein kleines Fenster, gerade groß genug, dass er sich hindurchquetschen könnte, und dann vom Fenster auf das Dach des Nachbarhauses springen, weiter zum nächsten laufen, bis zu einem Balkon, von dem auf einen anderen Balkon springen und danach hinunter auf eine Zisterne, weiter hinunter auf einen Trockenplatz und vom Innenhof aus in eines der Häuser hineinlaufen, die an Las Avenidas liegen. Er weiß nicht, ob die Hintertür zum Hof offen ist, aber sie ist aus Glas, also wird er auf jeden Fall diesen Weg nehmen können, wenn es einmal notwendig sein sollte.
Außerdem hat er Verstecke in der Wohnung. Eine Menge Flaschen hat er auch, klaren Schnaps, gefärbten Schnaps, Wein, und im Gefrierfach eine Flasche eiskalten Orujo, Schnaps aus mit den Füßen gestampften Trauben, den er von einem Winzer bekommen hat, für den er bei Heidegger ein Problem gelöst hat.
Er will sich eigentlich setzen, bleibt aber hinter der Gardine stehen, schaut hinaus auf die Straße, wo die Dämmerung endlich einsetzt und die Temperaturen damit fallen. Langsam erwacht die Straße zum Leben. Die Chilenen in der Erdgeschosswohnung haben ihre Stühle auf den Bürgersteig gestellt und die Roma in dem eingeschossigen Haus ein Stück weiter links öffnen ihre Fenster. Sie unterhalten sich leise miteinander, und er versucht gar nicht erst zu verstehen, was sie sagen, und die armen Schlucker an Spaniern und Mallorquinern, die hier wohnen, kommen von ihrer Arbeit nach Hause, mit hängenden Schultern, gekrümmtem Rücken, müdem Gesicht, dem Gesicht eines Arbeiters, ein zufriedenes Gesicht, wieder ein Tag mit Arbeit, wieder ein Tag im Leben eines mileurista, wieder ein Tag mit Essen auf dem Tisch, wieder ein Tag, an dem man für die Kinder etwas Besseres erhoffen kann als das, was das Leben einem selbst bietet.
Sie schlafen ein paar Stunden, ruhen sich aus, dösen, und dann kommen sie heraus, denn der Tagesablauf hat hier einen anderen Rhythmus, und nach dem leben sie hier alle, ganz gleich, wie der Tag gewesen ist. Ein Kaffee, ein Bier, ein langsamer Spaziergang durch el barrio, ein kleiner Plausch mit den Nachbarn, bellende Hunde, herumlaufende Kinder, Bälle, die gegen Wände geschossen werden, und eine Dunkelheit, die sich langsam wie ein Baum über sie senkt, der trotz Hitze und Dürre grünt und lebt.
Aber diese Stunde hat noch nicht geschlagen.
Jetzt versammeln sich die Alkoholiker mit Job im Las Cruces. Die dort schon den ganzen Tag gesessen haben, bleiben dort sitzen, die Neuankömmlinge werden lange Zeit hier bleiben.
Das weiße Schild der Bar mit dem Coca-Cola-Schriftzug leuchtet auf und die Slush-Maschine erwacht zum Leben, dreht das zäh fließende Zitroneneis. Tim nimmt an, dass der Besitzer drinnen ist, der fettleibige Andalusier Ramón, der seinen Tresen mit einem zerschlissenen Lappen abwischt, während seine kubanische Frau Vanessa die Tüten mit den Chips schüttelt, damit sie frisch aussehen. Eine der Prostituierten in der Wohnung über dem Las Cruces findet sich an ihrer Arbeitsstelle ein, sie parkt ihre rote Vespa zwischen zwei Autos, begrüßt die Männer drinnen in der Bar, schiebt ein wenig ihre Brüste vor, um ihnen eine Freude zu machen, bevor sie hinter der Eingangstür zu dem siebenstöckigen Mietshaus verschwindet.
Niemand fährt in Urlaub. Das kann sich keiner leisten. Wenn man verreist, dann nach Hause, um die Familie zu treffen. Alle sind irgendwann zu Hause. Alle kennen einander, und dadurch wissen sie genau, wer niemanden kennen will. Sie glauben, dass er, der Schwede, el Sueco, so einer ist, der allein sein will, dabei möchte er viel lieber einer von ihnen sein, so richtig, aber so sehen sie ihn nicht, sie wissen, wer er ist, warum er hier ist, und er tut ihnen leid. Er macht ihnen keine Angst, aber sein Schicksal tut es, und worüber sollten sie auch mit ihm reden?
Sie wissen, dass nichts Neues passiert oder herausgekommen ist, und sie haben genug mit ihrem eigenen Schicksal zu tun.
Die Familie Adame fängt an sich zu prügeln, zu schreien und zu weinen.
Macht dem ein Ende. Ruft den sozialen Dienst.
Aber an diesem Abend wird es schnell wieder ruhig, und bald lacht die ganze Familie miteinander.
Tim will schlafen, er geht ins Badezimmer, holt ein Päckchen mit Stesolid aus dem rostigen Medikamentenschrank, nimmt eine Tablette heraus, vermeidet es dabei, sich im Spiegel anzusehen, und versucht, den Kloakengeruch zu ignorieren, den deutlichen Gestank nach Kot, der aus dem überlasteten Abwassersystem während der Zeit der Touristeninvasion aufsteigt. Ein System, geschaffen für vierhunderttausend Personen, das nunmehr zwei Millionen Menschen dienen soll, und schon deshalb will er so schnell wie möglich wieder aus dem Bad rauskommen.
Das Bett gibt unter ihm nach, ein Meer, das sich teilt, die Matratzenfedern schneiden ihm in den Rücken, und er streckt sich nach der Fernbedienung, schaltet den Ventilator an der Decke ein.
Die Chemie zerpflückt das Gehirn. Die Worte werden getrennt, noch bevor es möglich ist, einen Gedanken zu formen, und er wird zu nichts außer verstreuten Fetzen von Worten, die einander scheuen, und der Ventilator schmeißt die Buchstaben in den dunklen Raum, Pizza, Schreie, Kinder, Vergewaltigung, Würgegriff, Angst, Worte wie weißer Staub, Worte, die durch die Luft schweben, die Worte eines Mexikaners, deine Worte, Emme, unmöglich, sie einzufangen, falsch geschrieben, pa pa, U watch me, er atmet aus, und nichts bleibt mehr übrig.
Als Tim einige Stunden später aufwacht, ist es still im Haus. Die Dunkelheit hat sich vor dem Fenster ausgebreitet und neben den Vorhängen stehlen sich nur schmale Streifen der Straßenbeleuchtung herein.
Er erinnert sich daran, was er zu tun hat.
Duty time.
Er zieht sich einen beigefarbenen Leinenanzug an, ein weißes Hemd, graue Espadrilles. Das Haar kämmt er mit den Fingern zur Seite, dicht und widerspenstig macht es, was es will und was es immer schon gemacht hat, es führt ein eigenes Regime auf seinem Kopf.
Im Auto auf dem Weg nach El Arenal sieht er das schwarze Meer zwischen den niedrigen Häusern in der Ciudad Jardín. Ein amerikanischer Flugzeugträger liegt in der Bucht von Palma, dunkel und monolithisch, nur wenige Lichter sind eingeschaltet, dafür leuchten sie umso deutlicher vor dem grafitgrauen Nachthimmel. Die meisten der sechstausend Besatzungsmitglieder sind jetzt an Land, sie erobern die Stadt, trinken, werfen irgendwelche Drogen ein, huren. Das Kriegsschiff wird morgen Nachmittag die Bucht verlassen, weiterfahren Richtung Naher Osten, nach Katar, zu einem der vielen unlösbaren Konflikte der Menschen und zwischen den Menschen, ob nun Schiiten oder Sunniten, Öl oder Gas, ob sie Schmiergeld nehmen oder nicht, eine Line ziehen oder abstinent sind, einknicken oder dagegenhalten, den Abzug umklammern oder nicht. Die Menschen liegen in einer schwarzen Bucht vor Anker, die Kette ist schwach, dem Anker fehlt das Gewicht, der Grund ist feiner Sand, aber darum kümmert sich sowieso niemand.
Auf einem Podest am Strand streckt ein DJ einen Arm in die Luft, mit dem anderen drückt er den Kopfhörer ans Ohr, und er schwingt den Kopf im Takt der Beats hin und her, die er den zweihundert Menschen entgegenwirft, die sich in El Arenal versammelt haben, um einen Beach Club einzuweihen. Die Haut der Frauen glänzt im Licht der Scheinwerfer, das über ihre Körper zu fließen scheint. Menschen drängen sich an der von hinten beleuchteten Bar, versuchen die Aufmerksamkeit gestresster Barkeeper zu erregen, die Shots sind gratis, da ist es am besten, sich ranzuhalten. Der Club ist am Strand gebaut, auf einem frisch gegossenen Betonfundament, und Tim weiß nicht, wem er gehört, so etwas kann man auf Mallorca nie sicher sagen. Sicher ist nur, dass Geld in irgendwelche Taschen gestopft wurde, um die Baugenehmigung zu erhalten, und dass das Gebäude von einer Firma gebaut wurde, die Geld auf das Konto irgendeines Mittelsmanns in der Schweiz oder auf den Antillen überwiesen hat, oder wo immer derartiges Geld heutzutage landet.
Fünfzig Liegestühle mit hellgrauen, dicken Polstern in Reih und Glied, um einen Pool, der wie ein blauer Himmel am Tag leuchtet. Auf einigen dieser Stühle sitzen langhaarige ältere Männer in weißen Hosen und pastellfarbenen Polohemden und rauchen Joints mit jungen Mädchen in kurzen, paillettenbesetzten Kleidchen. Die Mädchen haben ihre High Heels ausgezogen, sie ziehen den Bauch ein und schieben die Silikonbrüste vor.
Escortgirls.
Sie machen hier ihren Sommerjob.
Eigentlich will Tim gar nicht hier sein, doch Wilson verlangt das von ihm.
Auf der Strandpromenade bleiben Charter-Touristen stehen und schauen sich das Spektakel an, mit großen Augen, aber nicht neidisch. Sie wissen instinktiv, dass so eine Party nichts für sie ist, das hier ist VIP, das hier ist für einen exklusiven Kreis, Menschen, die niemals einen Fuß in den Biertempel Megapark knapp fünfhundert Meter weiter den Strand runter setzen würden, wo fünftausend Deutsche genau in diesem Moment Bier trinken, besoffen werden und im besten Fall am Strand einschlafen.
Die Nacht brodelt. Lippen küssen neben Wangen in die Luft. Körper stoßen aneinander, Augen suchen nach der Person, die einem etwas bedeutet oder vielleicht bedeuten könnte. Menschen sollen sich treffen, sollen Geld ausgeben, sie sollen hinters Licht geführt werden, um dann am besten mit dem Schmutzwasser im Abfluss zu verschwinden.
Die Lautstärke steigt und das monotone Hämmern geht über in den Song, der den ganzen Sommer über gespielt wird, »Better now«, eine junge Männerstimme singt better now, you probably think that you are better now und die Gäste jubeln, bewegen sich zum Takt der Musik, wo immer im Club sie sich auch befinden, und die Luft ist schwer von Salz und Zigarettenrauch, von Marihuana und viel zu großzügig verspritztem Tom-Ford-Aftershave.
It’s opening night.
It’s high season.
Hands up in the air.
HERE WE ARE!
Mehrere der Escortdamen werden allein dafür bezahlt, dass sie an Ort und Stelle sind, besonders die jungen hübschen Südamerikanerinnen und die aus Rumänien und Bulgarien.
Tims Telefon vibriert.
Eine SMS von Simone, seiner Kollegin bei Heidegger.
Bist du da? Wilson meinte, du würdest drauf scheißen.
Ich bin an den Affenärschen dran. Nächstes Mal ist das dein Job.
In your dreams, Timmy boy :)
Am Eingang, unter ein paar Fahnen mit dem Mercedes-Logo, macht Última Hora Fotos für die Klatschpresse von allen, die ankommen, und die Touristen scheinen sich zu fragen, ob das denn alles hier Berühmtheiten sind, ob das ein Instragram-Augenblick ist, und einige heben ihre Handys hoch, fotografieren selbst die strahlend lächelnde lokale Society, um ihren Fang sogleich zu posten.
Tim trinkt einen Shot mit Wodka, den eine Kellnerin im Matrosenkleidchen auf einem Tablett serviert. Er leert ihn mit einem Zug, schnappt sich noch einen, bevor sie wieder in der Mauer aus Körpern verschwindet.
Er sieht, wie Juan Pedro Salgado eintrifft, sich die Jacke zuknöpft, als er aus einem schwarzen Wagen aussteigt. Seit anderthalb Jahren ist Salgado Chef der Policía Nacional in Palma. Früher war er Chef der Policía Local, ein Job, den er von einem harten Hund übernahm, der wiederum aus Figueres geholt worden war, um die Korruption zu bekämpfen.
Der Kerl aus Figueres erklärte der Presse, dass seine Waffe immer geladen und er bereit sei, Sergio Geners ganze Bagage zu empfangen, er nannte sie pobrecitos, arme Schweine, fühlte sich aber wahrscheinlich genau als so ein armes Schwein, als seine Frau auf dem Weg zum Lunch in Deià von der Straße abgedrängt wurde. Maskierte Männer hielten ihr eine Pistole an den Kopf und erklärten ihr, sie möge doch ihrem Mann sagen, dass es für ihn an der Zeit sei, die Insel zu verlassen, ansonsten würde bald eine der Kugeln in ihrer Stirn sitzen. Der harte Hund nahm seine Familie und zog zurück aufs Festland.
Juan Pedro Salgado ist groß und massiv, er trägt einen maßgeschneiderten grauen Seidenanzug. Tim hat ihn bereits mehrmals getroffen. Es ist die Policía Nacional, die sich um alle Schwerverbrechen kümmert. Mord, Entführungen, Vergewaltigungen und Vermisstenfälle. Emmes Verschwinden. Ein paar Monate nach seinem Amtsantritt, gut anderthalb Jahre nach Emmes Verschwinden, rief Salgado Tim an und wollte sich mit ihm treffen. Sie verabredeten sich in der Bar Bosch, und Salgado versicherte ihm, er werde nicht aufgeben und er habe seine besten Ermittler auf den Fall angesetzt, fügte jedoch hinzu, dass es schwierig sei, denn es gebe keine Spuren, denen man folgen könne. Tim schaute auf seine dicken, weichen Wangen, in die freundlichen braunen Augen, und nickte, er wusste, dass es außer ihm selbst niemanden auf der Insel gab, der überhaupt ein Interesse daran hatte, nach Emme zu suchen.
»Und was machen Ihre eigenen Ermittlungen? Wie läuft es mit denen?«, fragte Salgado. »Suchen Sie immer noch?«
»Ich suche«, bestätigte Tim. »Aber ich bin nicht weitergekommen. Bis jetzt kein Stück.«
»Keine neuen Spuren?«
»Leider nein.«
»Wir geben nicht auf«, sagte Salgado und legte Tim eine Hand auf die Schulter. »Keiner von uns. Oder? Ich habe selbst zwei Kinder, und ich würde auch nie aufgeben.«
An diesem Abend kommt Salgado allein, was auch eine Möglichkeit ist, Stärke zu zeigen. Er ist geborener Mallorquiner, aber seine Familie stammt nicht ursprünglich von der Insel. Jetzt rutscht er aus Tims Blickwinkel, und stattdessen steht da ein Mann im gleichen Alter wie Salgado, nur schlanker, elegant, mit kurz geschnittenem, gegeltem, welligem Haar. Tim meint den Mann schon früher einmal gesehen zu haben, kann aber nicht sagen, wo, und der Elegante gibt Salgado Wangenküsschen, bevor er weiter ins Menschengetümmel eintaucht und seinen Blick zwischen den Escortdamen schweifen lässt.
Manchmal bekommt Heidegger Anfragen, ob sein Büro helfen könnte, Politiker oder Beamte zu bestechen. Doch das lehnen sie konsequent ab. So etwas tun sie nicht. Aber anderes tun sie, und deshalb ist Tim hier. Eheliche Untreue, Immobilienbetrug, Diebstähle, für die die Polizei keine Zeit hat, Bootbetrügereien wie die am Vormittag, jemanden unter Druck setzen, der seine Schulden nicht bezahlt hat, um so etwas kümmern sie sich. Und weil alle auf dieser Party hier einen Bedarf an derartigen Diensten haben könnten, mischt Tim sich nach dem zweiten Wodka unter die Leute, verteilt Visitenkarten mit dem Firmennamen, »If you encounter any problems, we are your guys.«
»Do not give that to my wife«, sagt ein fetter Mann in orangem Anzug, und die junge Frau im Gold-BH, die ihn begleitet, grinst.
»Please, give to wife. Tell about me«, sagt sie mit starkem osteuropäischem Akzent und der Orang-Utan klatscht ihr auf den unteren Rücken, kommt aber nicht an ihren Po, weil sie sich in diesem Moment hinsetzt.
Auf der Clubtoilette, einer mosaikverkleideten Silbergrotte mit gedämpfter Beleuchtung, wird Tim von einem Mann in einer engen Lederhose angesprochen, ob er eine Line haben wolle. Er lehnt dankend ab, gibt ihm stattdessen eine Visitenkarte.
»Falls dein Freund mal etwas Dummes tut.«
Zunächst versteht der Mann offenbar nicht, was Tim meint, doch als er »Private Investigator« auf der Karte liest, grinst er.
»Good place for marketing. Very smart man, you.«
Nicht smart genug, denkt Tim und bahnt sich den Weg nach draußen, sieht vier betrunkene Teenagermädchen auf der Strandpromenade. Sie lachen, grölen, schreien etwas auf Schwedisch in Richtung Club. Verdammte Kapitalisten, FUCKING SNOBS, eat my pussy, und sie schwanken weiter in die Nacht. Am liebsten würde er ihnen nachlaufen, ihnen sagen, dass sie vorsichtig sein sollen, aber er ist nicht ihr Beschützer, und da tippt ihm jemand auf die Schulter. Er dreht sich um, und dort steht sein Freund Axel Bioma, Kind nigerianischer Einwanderer und well to do, in dem Sinn, dass er eine akademische Ausbildung hat und beim Diario de Mallorca als Journalist arbeitet.
»Tim, wie geht es dir?«
Die Musik ist jetzt leiser, sodass sie miteinander reden können, ohne sich gegenseitig anzuschreien.
»Was würdest du sagen, wie es mir geht, meinem Aussehen nach?«
»Wie auf Diazepam.«
Hat er Axel Bioma von den Tabletten erzählt? Nein, das muss ein Zufall sein.
»Ich soll was über die Einweihung schreiben«, sagt Bioma, und sein mageres dunkles Gesicht wird ganz faltig und die braunen Augen zeigen einen entschuldigenden Blick, trotzdem kann Tim sich nicht zurückhalten.
»Ich dachte, du bist seriös.«
»Seriös wie ein Beach Club im August.«
Dann holt Axel Bioma tief Luft, zieht den Bund seiner dünnen blauen Hose noch mal hoch und schaut sehnsüchtig zu den beiden Typen mit nacktem Oberkörper hinüber, die sich am Poolrand vorsichtig küssen.
»Ich habe heute einen Artikel über die Chinesen in Palma geschrieben. Die sind wie Termiten, diese verdammten Schlitzaugen, langsam, aber sicher fressen die sich durch bis zum Fundament der Stadt und übernehmen dann alles. Aber das konnte ich natürlich nicht schreiben, also wurde es das übliche Blabla, wie fleißig sie sind, wie gut sie sich in die spanische Gesellschaft integriert haben. Aber das haben sie nicht, wie alle Chinesen sind sie nur in ihre eigene, hundefressende Kultur integriert, ganz gleich, wo sie sich auch niederlassen.«
Der Mann aus der Toilette taucht an Axel Biomas Seite auf, leckt ihn am Ohr, schaut Tim mit lüsternem Blick an.
»Zeit, dass wir weiterziehen, Baby.« Mit diesen Worten schnappt er sich Axel Bioma, und die beiden verschwinden, als wären sie in dem tanzenden Menschenmeer ertrunken.
Tim spürt wieder eine Hand auf seiner Schulter und dreht sich um.
Juan Pedro Salgado lächelt, ein strahlendes weißes Lächeln, als hätte er Veneers.
Sie geben sich die Hand.
»Alles in Ordnung?«, fragt Salgado, und Tim nickt, zieht eine Visitenkarte heraus.
»Bin auf der Suche nach Kunden.«
»Leider wissen wir nichts Neues über Ihre Tochter.«
»Ich möchte nur, dass Sie nicht aufgeben«, sagt Tim.
»Niemals. Und Sie? Gibt es irgendetwas Neues?«
Tim schüttelt den Kopf. »Nichts.«
Salgado nickt, dann verschwindet er in Richtung Bar und Tim legt die letzte Visitenkarte auf einen Tisch, an dem fünf reiche Russen zehn Escortdamen zu einer Drei-Liter-Flasche, einem Jeroboam, mit Cristal eingeladen haben. Sie bieten ihm an, sich doch zu ihnen zu setzen, ein Detektiv ist etwas Spannendes, aber er gibt sich nicht einmal die Mühe, abzulehnen. Auf der Tanzfläche windet sich eine Frau mit schwarzen Locken aus den Händen des Mannes, der Salgado gerade mit Wangenküsschen begrüßt hatte, während gleichzeitig ein anderer Mann mit rotem Basecap und kalten Augen anfängt, vor ihr zu tanzen.
Die Papparazzi sind verschwunden, die Touristen sind schlafen gegangen oder weitergezogen an Orte, wo sie willkommen sind. Ein Stück die Strandpromenade runter stehen ein paar leere Bänke, dorthin geht Tim, setzt sich und schaut über die Bucht, auf das Kriegsschiff, auf dem plötzlich alle Lampen gelöscht werden wie in Erwartung eines Flugzeugangriffs.
Der Beach-Club verblasst langsam in der Ferne.
Manchmal redet er mit ihr, als stünde oder säße sie neben ihm.
»Warst du an so einem Ort, Emme?«
Er hört seine eigene Stimme, rau vom Wodka, vom Salz in der Luft, von der Feuchtigkeit des Meers und der trockenen Hitze, die von den Bergen herunterströmt. Die Worte sind die eines Idioten, dennoch spricht er sie aus, denn irgendetwas muss man doch den Vermissten sagen, die vielleicht leben, vielleicht aber auch tot sind, die die anderen in einem schwarzen Raum zurücklassen, einem verdunkelten Schiff, das in einem feindlichen Meer ankert. »Was hast du gemacht? Wohin bist du gegangen?« Das sind einfache Fragen, und sie haben sich im Laufe der Stunden, Tage, Jahre nicht verändert. Aber zu ihnen haben sich andere gesellt: »Warum? Warum wir, warum du, ich?« Diese Fragen sind sinnlos, trotzdem kommen sie ihm in den Sinn, der Wodka zwingt sie hervor, und ein paar Nachtschwimmer huschen an ihm vorbei, den Strand hinunter, kichernd und lachend, sie ziehen sich nackt aus und laufen weiter, hinein in die sanften Wellen.
Es ist ja möglich, Emme, dass du zum Meer hinuntergegangen bist, um deinen Rausch durch ein Bad wegzukriegen, ganz allein, dann die Orientierung verloren hast, hinaus aufs Meer geschwommen bist, statt zurück zum Ufer, und dann hat diese salzige Masse deine Lungen gefüllt, und vielleicht hast du geglaubt, dass du träumst, dass alles ein Traum wäre, aus dem du bald erwachen würdest. Dann zog die Strömung dich mit sich, brachte deinen Körper weit hinaus ins Meer, wo du gesunken bist. An diesem Abend war es warm in Magaluf, 29,8 Grad Celsius um 22.25 Uhr, und das Wasser war auch warm, 26,2, also hast du nicht gefroren, als du ertrunken bist.
»Hast du gefroren, Emme? Nein, frierst du? Verzeih mir.« Oft tappt er in diese Falle, spricht und denkt über sie als Tote, als jemand aus der Vergangenheit, eine Person, die es nicht mehr gibt, und dann schämt er sich, würde die Worte am liebsten zurücknehmen. Sein Schmerz nimmt nun überhand, Tränen fließen ihm über die Wangen. Eine Bar in Magaluf, eine Überwachungskamera, die Emme aufnimmt, wie sie in jener Nacht leicht schwankend eine überfüllte Straße entlanggeht, eine andere Kamera, die sie auf dem Weg hinauf zu einem gigantischen Parkplatz einfängt, ein paar Kilometer von der Bar entfernt, und wie sie auf der Calle Galió auftaucht und dann verschwindet. »Bist du zurückgegangen, Emme?« Zum Meer, wo die beiden jetzt laut stöhnen, es miteinander treiben, draußen im Wasser.
Tim steht auf, fährt mit dem Wagen nach Hause, schaltet im Wohnzimmer die Klimaanlage ein, und die springt summend und brummend an, erinnert an das leise Geräusch eines Flugzeugmotors, wie man ihn in der Flugzeugkabine hört,
in der Emme auf einem Gangplatz sitzt und denkt, dass die so fucking douche sind. Wo kommen alle diese Landeier her? Bestimmt haben sie gerade Abi gemacht, einer von ihnen hat Sofia sogar seine Nummer gegeben, will, dass sie sich treffen, denn: »Ihr wollt doch bestimmt auch nach Magaluf?«
Magaluf, Magaluf, Magaluf!
Die Landeier haben das wie einen Schlachtruf gegrölt.
Möglich, dass sie aus Örebro oder Sundsvall kommen, oder aus Gävle oder Borlänge. Aus irgend so einem Kaff halt. Sie kann ihren Dialekt nicht genau einordnen, aber sie reden wie die Bauern.
Dann legt sich in ihrem Inneren ein Schalter um, sie spürt den blauen Stoff des Flugzeugsitzes an den Schultern, wie rau er ist, fast wie die Zunge einer Katze, und zunächst tun ihr die Jungs leid, aber eigentlich sind sie doch wie wir, da gibt es keinen großen Unterschied. Sie wollen ihren Spaß haben. Ein bisschen happy sein. Saufen, vielleicht etwas Neues ausprobieren. Etwas Verrücktes. Dann denkt sie an das andere, ob es jetzt wohl passiert, das kann passieren, sollte passieren, denn genau darum fliegt man ja nach Magaluf, oder nach Ayia Napa, was sie auch in Erwägung gezogen hatten. Nun ja, und wenn es nicht passiert, dann ist es auch okay. Es bleibt ja noch viel Zeit.
»Wollen wir etwas bestellen?«, fragt Sofia von ihrem Fensterplatz aus, streicht das glatte schwarze Haar zurecht, damit die Pickel auf ihren runden Wangen nicht zu sehen sind. Oft vergisst sie das, und wenn sie merkt, dass man die Pickel hat sehen können, wird sie wütend. O my fucking god. Was für eine bitch sie dann sein kann. Totally out of character.
Denn Sofia ist nett, sie wurde aus China adoptiert, aus irgendeiner riesigen Industriestadt, von der noch nie jemand gehört hat. Die beiden können sich ordentlich fetzen, einander als bitch beschimpfen, müssen sich gegenseitig nicht nur immer süße Emojis schicken. Außerdem hat Sofia einen guten Geschmack, sie wird im Gymnasium den Modezweig besuchen, und später will sie aufs angesagte Beckmans College of Design. Und sie wird das schaffen. For sure.
Main bitch.
Und dann ist da Julia. Sie kennen sich seit dem Kindergarten und seitdem hängen sie zusammen ab, und jetzt wollen sie nach Mallorca. Julias Eltern mussten nicht mal überredet werden, sie treiben sich irgendwo an der Riviera herum, spielen Tennis und essen irgendwelche Delikatessen und sind sicher froh, nicht für noch eine Person mehr in all den teuren Restaurants bezahlen zu müssen, in die sie gehen.
Aber Julia ist das scheißegal.
Sie steht da völlig drüber.
»Für mich sind die beiden bloß wichtig als Geldgeber«, sagt sie immer.
Sofia schaut auf die Speisekarte.