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Die Wahrheit liegt auf der Insel Vor sechzehn Jahren haben sich die vier Freundinnen zuletzt gesehen. Auf einer Schäreninsel während eines Urlaubs, der tragisch endete. Als Lara eine anonyme Einladung dorthin erhält, wirft sie das völlig aus der Bahn. Denn damals verschwand Becca spurlos. Alles, was die Polizei je fand, war ein verlassenes Motorboot – die einzige Verbindung zwischen der Insel und dem Festland. Kaum sind die einstigen Freundinnen auf der Insel angekommen, geschehen merkwürdige Dinge: Jemand bricht in das Haus ein und hinterlässt rätselhafte Botschaften, Fotos tauchen auf Laras Handy auf, die sie nie gemacht hat. Und in der Nacht sieht sie eine Gestalt um das Haus schleichen, die sie für Becca hält …
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Sophie Kendrick
Das Echo deines Todes
Die Wahrheit liegt auf der Insel
Vor sechzehn Jahren haben sich die vier Freundinnen zuletzt gesehen. Auf einer Schäreninsel während eines Urlaubs, der tragisch endete. Als Lara eine anonyme Einladung dorthin erhält, wirft sie das völlig aus der Bahn. Denn damals verschwand Becca spurlos. Alles, was die Polizei je fand, war ein verlassenes Motorboot – die einzige Verbindung zwischen der Insel und dem Festland. Kaum sind die einstigen Freundinnen auf der Insel angekommen, geschehen merkwürdige Dinge: Jemand bricht in das Haus ein und hinterlässt rätselhafte Botschaften, Fotos tauchen auf Laras Handy auf, die sie nie gemacht hat. Und in der Nacht sieht sie eine Gestalt um das Haus schleichen, die sie für Becca hält …
Sophie Kendrick lebte in verschiedenen europäischen Ländern, unter anderem in Großbritannien, wo sie englische Literatur studierte und über die Schwestern Brontë forschte. Sie arbeitete in einer Agentur für Buchprojekte und als Ghostwriterin, bevor sie ihren ersten eigenen Roman schrieb.
«Lara, wach auf!» Die Stimme schien gleichzeitig über ihr zu schweben und in ihrem Kopf zu sein.
Lara presste die Hände auf die Ohren, doch es nützte nichts. Die Stimme war überall.
«Aufwachen! Lara, mach schon.»
Jetzt wurde sie auch noch durchgeschüttelt. Sie stöhnte, ihr Kopf explodierte.
«Lass mich in Ruhe», nuschelte sie und versuchte, sich auf die andere Seite zu drehen. Doch ihr Körper war bleischwer und schien auf der Matratze zu kleben.
Und die Worte prasselten weiter unerbittlich auf sie ein. «Lara, du musst aufwachen, es ist etwas passiert.» Da endlich erkannte Lara die Stimme.
«Was ist denn los, Michelle?»
«Es ist wegen Becca.»
Lara öffnete die Augen. Grelles Licht blendete sie, ein heißer Schmerzblitz fräste sich durch ihren Schädel. Sie blinzelte. «Was ist mit Becca?»
«Sie ist weg.»
«Weg?» Lara versuchte, Michelles Worten Sinn abzuringen, sich zu erinnern, was geschehen war. Gestern Abend hatten sie gefeiert, es war ihr letzter Tag auf der Insel gewesen, ihr letzter Tag in Freiheit, bevor das begann, was gemeinhin der Ernst des Lebens genannt wurde. Bald würden sie sich in alle Winde zerstreuen. Becca würde an die Universität der Künste in Berlin gehen, Michelle nach München, Eileen für ein Sprachstudium an die Sorbonne. Nur sie würde nicht wegziehen, um keinen Preis der Welt. Allein der Gedanke, sich in einer fremden Stadt neu zurechtfinden zu müssen, jagte ihr Angstschauder über den Rücken.
Jedenfalls hatten sie gestern noch einmal richtig Party gemacht. Die beiden Jungs vom Festland waren auch da gewesen, Vincent und Leon. Sie hatten getrunken, viel zu viel getrunken, und Fisch gegrillt. Und dann …
Lara setzte sich auf, massierte sich die pochenden Schläfen. Sie erinnerte sich nicht mehr, wie sie ins Bett gekommen war. Sie sah Michelle an, die auf der Bettkante saß, bereits frisch geduscht und angezogen, die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und ganz offenbar ohne den geringsten Anflug von einem Kater. Bei ihrem Anblick fühlte Lara sich noch elender. «Was soll das heißen, Becca ist weg?», fragte sie.
«Sie ist nicht hier.» Michelle deutete auf das leere Bett in der anderen Ecke des Raums. «Wir müssen die Insel absuchen, vielleicht ist sie gestern Nacht noch mal raus und hat sich besoffen irgendwo zum Schlafen zusammengerollt.»
«Aber …»
«Du musst mir beim Suchen helfen. Eileen hockt in der Küche und schiebt Panik, du weißt ja, wie sie ist.»
Lara seufzte. Typisch Becca, ihnen am Abreisetag noch Stress zu machen. Sie schwang die Beine aus dem Bett, rieb sich das Gesicht, um wach zu werden.
Michelle streckte ihr die Handfläche entgegen, zwei weiße Pillen lagen darauf. «Dein Schädel brummt bestimmt. Du hast gestern ganz schön zugelangt, und du verträgst ja nichts.»
Lara nahm die Tabletten und schluckte sie trocken, was den pelzigen Geschmack in ihrem Mund noch verstärkte. «Ich erinnere mich nicht einmal, wie ich ins Bett gekommen bin.»
Michelle grinste. «Ist vermutlich besser so.»
Lara stand auf, wankte, fing sich aber rasch wieder. «Gib mir zehn Minuten.»
«Ich warte in der Küche.»
Nach ihrem Duschritual fühlte Lara sich deutlich besser. Die Kleidung für die Reise lag bereit. Ihre Tasche hatte sie bereits gepackt, zuoberst den Discman und die Kopfhörer, ihre wichtigsten Reisebegleiter. Ohne eine Möglichkeit, sich vor dem Lärm der Welt abzuschirmen, würde sie schon am Bahnhof die erste Panikattacke kriegen.
Sie zog sich an und ging die Treppe hinunter in die Küche, wo Michelle und Eileen vor dem Herd standen und sich anschrien. Eileens Stimme klang hysterisch, Michelles eher wütend, das zumindest glaubte Lara. Sicher war sie jedoch nicht, es fiel ihr schwer, den Tonfall anderer Menschen richtig zu deuten.
Jedenfalls waren die beiden viel zu laut.
Lara hielt sich die Ohren zu. «Hört auf! Hört sofort auf!» Ihre Kopfschmerzen flammten wieder auf, obwohl die Tabletten ihren Schädel gerade erst mit einem flauschig-weichen Nebel gefüllt hatten.
Die Freundinnen starrten sie an. Eileen sah so übernächtigt aus, wie Lara sich fühlte. Das braune Haar war zerzaust und strähnig, das Gesicht blass, die Augenringe tief. Sie zischte etwas und stürzte aus dem Raum.
«Tut mir leid, Lara.» Michelle lächelte sie an. «Eileen ist wirklich total durch den Wind. Willst du erst einen Kaffee, oder sollen wir sofort nach Becca suchen?»
«Sofort.»
Draußen wehte eine kühle Brise. Der Sommer war für schwedische Verhältnisse ungewöhnlich heiß gewesen, aber in der Nacht hatte das Wetter umgeschlagen. Der Wind zupfte an den krüppeligen Kiefern, das Meer donnerte mit einem dumpfen Grollen gegen die Felsen. Lara stolperte hinter Michelle her über die schmalen Trampelpfade, die wie die Fäden eines Spinnennetzes über die Insel gespannt waren. Erst gingen sie hinunter in den Wald zu der kleinen Hütte, dann zu der mit Schilfrohr bewachsenen Badebucht, und schließlich auf der anderen Seite wieder hinauf zum Aussichtspunkt auf dem höchsten Felsen, von dem aus man weitere Inseln und das Festland sehen konnte. Nirgendwo entdeckten sie eine Spur von Becca.
Immer wieder riefen sie ihren Namen und horchten auf eine Antwort, doch nur die Möwen schrien zurück. Sie hoben die Zweige der stacheligen Sträucher an, die überall wuchsen, lugten in Felsspalten und blickten sogar hinauf in die Kronen der alten Eichen.
«Sie kann doch nicht weg sein», sagte Michelle schließlich. «Die Insel ist so winzig, und es gibt kaum Verstecke.»
«Und wenn sie gestern Nacht mit Vincent und Leon aufs Festland gefahren ist?»
Michelle schüttelte den Kopf. «Ich habe die beiden zum Anleger gebracht.»
Lara presste die Hände auf die Schläfen. Worte hämmerten durch ihren Schädel. Wilde Gewalt. Gähnender Spalt. In komplexen Situationen wie diesen war sie mit den vielen Möglichkeiten heillos überfordert. Sie war gut darin, eine Sache nach der anderen abzuarbeiten, sich tausend winzige Details zu merken. Aber ein kompliziertes Geflecht von Optionen war für sie wie ein summender Bienenstock: ein wildes, unübersichtliches Gewusel, bei dem sie nicht wusste, wohin sie zuerst schauen sollte.
Wenn die Panik zu groß wurde, verfiel sie in eine Art Starre und begann, Gedichte aufzusagen, Balladen meistens. Manchmal auch nur einzelne Verse oder Wörter. Sie konnte es nicht verhindern, es passierte einfach.
Gewalt. Spalt.
Michelle berührte ihre Schulter.
Lara zuckte zusammen.
«Alles gut, Lara, du schaffst das.»
Michelle war eine der wenigen, die nie das Gesicht verzog, wenn Lara einen ihrer «Anfälle» bekam, wie die anderen es nannten, die immer Geduld hatte, immer wusste, was zu tun war, damit Lara wieder zur Ruhe kam.
Lara massierte sich die Schläfen. «Geht schon.»
«Lass uns am Steg nachsehen. Vielleicht hat Becca das Boot genommen, um für unser letztes Frühstück einzukaufen oder sonst was Verrücktes zu machen.»
«Okay.»
Wieder folgte Lara ihrer Freundin über die Insel, dankbar dafür, sich auf nichts konzentrieren zu müssen außer dem rosa Kapuzenpulli und dem wippenden blonden Pferdeschwanz vor ihr und dem Pfad unter ihren Füßen. Als die Bucht mit dem verwitterten Anleger vor ihnen auftauchte, stieß Michelle einen seltsamen Laut aus.
«Was ist?», fragte Lara und spähte über Michelles Schulter.
«Das Boot.»
«Es ist weg.» Lara starrte auf den leeren Steg. «Also hat sie tatsächlich –»
«Nein.»
«Aber …»
Michelle streckte den Arm aus. «Da hinten an dem Felsvorsprung. Siehst du es nicht?»
Lara kniff die Augen zusammen. Neben den Felsen ragte etwas aus dem Wasser hervor, das wie ein großer runder Stein geformt war. Doch dann erkannte sie, dass es kein Stein war, sondern das Boot, das kopfüber in der Ostsee trieb.
Alles fing damit an, dass ich den Bus verpasste. Und das lag natürlich an Jessie. Dabei weiß sie genau, wie sehr ich es hasse, wenn mein Zeitplan durcheinandergerät. Trotzdem hat sie mich auf der Treppe abgefangen und in ein Gespräch verwickelt. Sie wollte unbedingt über den Thriller reden, den sie gerade beendet hat. Sie verschlingt mehr als ein Dutzend Bücher im Monat, zum Bersten gefüllt mit Mord und Totschlag, und immer will sie mir von ihrer Lektüre erzählen, obwohl ich überhaupt nichts damit anfangen kann.
Ich mag Geschichten, die berechenbar sind. Ich mag alles, was berechenbar ist. Besonders liebe ich Balladen, denn darin fühle ich mich aufgehoben. Egal wie oft ich sie mir aufsage, meine Lieblingsballaden bestehen immer aus genau denselben Wörtern in genau derselben Reihenfolge. Zweihundertfünfundzwanzig sind es bei Goethes Erlkönig, achthundertsiebzig bei Schillers Bürgschaft und exakt zweihundertsiebenundneunzig bei Heines Schelm von Bergen. Keine Überraschungen. Man kriegt genau das, was man beim letzten Mal auch gekriegt hat.
Jessie sagt immer, dass es ihr hilft, mit ihren Ängsten klarzukommen, wenn sie Romane liest, in denen Menschen in tödliche Gefahr geraten, wenn sie mitfiebern und die Ungewissheit aushalten muss, weil sie nicht weiß, ob das Opfer am Ende überlebt. Es relativiere ihre eigenen Ängste und mache sie mutiger. Und sie meint, ich müsse auch einen Weg finden, aus meinem Schneckenhaus herauszukommen.
Anfangs wusste ich nicht, was sie damit meint, weil ich das mit dem Schneckenhaus mal wieder wörtlich genommen habe. Nicht richtig wörtlich natürlich, ich weiß ja, dass ich nicht in einem Schneckenhaus wohne. Aber was genau sie mir damit sagen wollte, wusste ich auch nicht. Inzwischen verstehe ich es, aber ich will gar nichts Besonderes aus meinem Leben machen. Ich fühle mich wohl so, wie ich bin. Und ich brauche keine Veränderungen.
Ich kann Jessie gut leiden, und wenn ich nicht so wäre, wie ich bin, könnten wir Freundinnen sein, da bin ich sicher. Wir waren einige Male zusammen im Kino und danach etwas essen, Sushi meistens, da ist das mit der Sojasoße am einfachsten. Ich kann ja nicht immer nur zu Hause hocken, und Jessie kennt mich, das macht es weniger anstrengend.
Aber mehr als ein oder zwei Abende im Monat sind nicht drin. Es geht einfach nicht. Es ist zu kompliziert, ich habe es versucht. Menschliche Beziehungen funktionieren nach Regeln, mit denen ich nicht klarkomme, die mir Stress bereiten. Ich muss mich ständig konzentrieren, wenn ich unter Leuten bin, damit ich auch bloß alles richtig mache, und das ist wahnsinnig kräftezehrend. Deshalb bin ich am liebsten allein.
Nur einmal hatte ich Freundinnen, das war in der Schulzeit. Eileen, Becca und Michelle. Mit ihnen war es anders, in ihrer Gesellschaft war es mir möglich, loszulassen und ich selbst zu sein. Wir sind noch immer Freundinnen, irgendwie, durch das Schicksal für alle Zeiten aneinandergefesselt.
Aber daran denke ich nicht gern.
Jedenfalls hat Jessies Redeschwall über einen Serienkiller in den Wäldern von Montana dafür gesorgt, dass ich den Bus verpasst habe. Ich hasse es, den Bus zu verpassen, ich hasse jede Abweichung von meiner täglichen Routine. Ich brauche einen klar strukturierten Alltag mit immer gleichen Abläufen, das sagt auch meine Therapeutin. Nur so fühle ich mich halbwegs sicher und drehe nicht durch.
Zum Glück bietet mir die Universitätsbibliothek einen solchen Tagesablauf. Bücher katalogisieren, Bücher einsortieren, Bücher aussortieren. Das ist genau die Art von Arbeit, die perfekt zu mir passt. Selbst die Widrigkeiten, mit denen man in einer Bibliothek zu kämpfen hat, sind immer dieselben. Bücher, aus denen Seiten herausgerissen werden, Bücher, die spurlos verschwinden, Bücher, die hinter anderen Bänden im Regal versteckt werden, damit niemand sonst sie ausleihen kann.
Ich kenne alle Kniffe, und meine Kollegen behaupten, dass ich auch alle Signaturen kenne. Aber das stimmt nicht, es sind zu viele. Über eine Million. Und täglich kommen Bücher hinzu. Dann gibt es noch die historischen Sammlungen, die Handschriftensammlung, die Thomas-Mann-Sammlung und das Universitätsarchiv. Nicht zu vergessen die elektronischen Medien, auch die haben Signaturen. Die Bibliothek ist ein Bücher verschlingendes und wieder ausspeiendes Monster. Kein Mensch kann jede einzelne Signatur kennen. Aber ich weiß von jedem Buch, wohin es gehört.
Ich liebe meinen Arbeitsplatz, ich liebe den Geruch nach Papier und Staub, die Stille, die Kühle, die Ordnung. In der Bibliothek fühle ich mich mehr daheim als in meinem tatsächlichen Zuhause, obwohl ich dort schon mein ganzes Leben wohne. Ich lebe noch bei meinen Eltern, in einer Einliegerwohnung zwar, aber dennoch im selben Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Es ist einfach die praktischste Lösung. Das Haus ist riesig, meine Eltern brauchen den ganzen Platz nicht, und ich komme am besten in einer vertrauten Umgebung klar.
Ich musste also den nächsten Bus nehmen, der auch noch sieben Minuten Verspätung hatte, und so kam mein Tagesablauf endgültig durcheinander. Normalerweise schwimme ich jeden Nachmittag einen Kilometer, esse zu Abend und sitze spätestens um sieben vor meinem Laptop, um meinen Artikel zu schreiben, damit ich ihn pünktlich um acht hochladen kann. Doch als ich endlich vor der Haustür stehe, ist es schon Viertel nach sechs, und ich bin genervt und durchgeschwitzt.
Ich schaue wie immer in den Briefkasten und erschrecke, als tatsächlich ein Brief darin liegt. Ich bekomme kaum Post, nur hin und wieder eine Rechnung oder eine Werbesendung. Aber das hier ist ein echter Brief in einem echten Umschlag aus schwerem, teurem Papier. Die geschwungenen Buchstaben der Anschrift sehen auf den ersten Blick aus, als wären sie mit der Hand geschrieben. Aber sie sind gedruckt. Ich drehe den Umschlag um. Kein Absender.
Ich lasse den Brief ungeöffnet – wenn ich mich jetzt damit beschäftige, ist mein Zeitplan endgültig dahin –, schlüpfe in meinen Badeanzug und gehe die Treppe hinunter ins Schwimmbad. Während ich mit gleichmäßigen, kräftigen Zügen das Wasser teile, komme ich allmählich zur Ruhe. Schwimmen hatte schon immer diese Wirkung auf mich. Im Wasser fühle ich mich eins mit dem Universum, nicht wie sonst fast überall als Fremdkörper in einer Welt, die ich nicht verstehe. Das funktioniert natürlich nur zu Hause, wo ich das Becken für mich allein habe. In einem öffentlichen Bad voller kreischender Kinder, jaulender Musik und brüllender Aquafit-Trainer bekäme ich einen Nervenzusammenbruch.
Zurück in der Wohnung ziehe ich meinen Jogginganzug an, füttere den Kater und schiebe das Essen – Lasagne, wie immer – in die Mikrowelle. Ich gieße über jede warme Mahlzeit Unmengen von Sojasoße, deshalb lohnt es sich normalerweise für mich nicht, verschiedene Gerichte zu kochen. Ich mag es, wenn es immer gleich schmeckt, und ich verstehe nicht, warum andere ständig neue Rezepte ausprobieren müssen.
Es ist zwanzig nach sieben, als ich endlich den Laptop aufklappe und zu tippen beginne.
Es ist Dienstag, beginne ich den Artikel, Zeit also, euch die Frau der Woche vorzustellen. Sie hieß Lina Bögli, stammte aus der Schweiz und bestieg im Jahr 1892 in Triest ein Schiff, um eine zehnjährige Weltreise anzutreten – ohne Geld, dafür mit dem Plan, sich mit Jobs als Lehrerin über Wasser zu halten. Eine Pionierin der Idee des Work and Travel also. Und wieder einmal eine Abenteuerin. Doch anders als Clärenore Stinnes, über die ich vergangene Woche geschrieben habe, hatte Lina Bögli weder Geld noch Reisebegleiter, die sie unterstützt haben. Und das in einer Zeit, in der Frauen nicht einmal wählen durften.
Ich halte inne, aber nicht, weil ich in meinen Notizen nachschauen muss. Ich habe übers Wochenende alles über Lina Bögli gelesen, was online und offline über sie zu finden ist, und ich habe alle Daten und Fakten im Kopf.
Seit knapp drei Jahren betreibe ich den Blog «Lara und die starken Frauen». Das Logo zeigt ein Wikingermädchen mit frech blitzenden Augen und wippendem blondem Zopf. Es bildet einen scharfen Kontrast zu dem schmalen, braven, von kastanienbraunen Haaren gerahmten Gesicht auf meinem Profilfoto, das sich in der unteren rechten Ecke der Startseite versteckt. Jessie hat es aufgenommen, bezeichnenderweise vor einem Regal in der Unibibliothek mit Büchern über die Geschichte der Psychiatrie, was man aber auf dem winzigen Bild zum Glück nicht erkennen kann. Ich hätte mich vor der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts positionieren sollen, vor den Bänden mit den Balladen, die ich so sehr liebe. Aber darüber haben wir damals einfach nicht nachgedacht.
In meinem Blog berichte ich jede Woche über eine Frau, die etwas Besonderes geleistet hat, die sich nicht mit den engen Grenzen zufriedengegeben hat, die die Gesellschaft ihr setzte, sondern ihren eigenen Weg gegangen ist, manchmal schon vor Hunderten von Jahren. Zwar schreibe ich auch über berühmte Persönlichkeiten wie Marie Curie oder Sophie Scholl, aber mein Schwerpunkt liegt auf Frauen, die wenig bekannt sind. Ich möchte zeigen, dass die Geschichte voller mutiger Frauen ist, wenn man nur genau hinschaut. Und seit ich vor einigen Wochen ein Buch über reisende Frauen entdeckt habe, habe ich eine kleine Serie über sie begonnen.
Mein Blog ist ziemlich erfolgreich, und ich bekomme viele Nachrichten von Frauen, die durch meine Artikel den Mut gefunden haben, eine radikale Entscheidung zu treffen, endlich die Weltreise zu machen, von der sie seit Jahren träumen, ihren Job zu schmeißen, aufs Land zu ziehen und Ziegen zu züchten, ihren ungeliebten Partner zu verlassen und auf eigenen Beinen zu stehen. Ich freue mich über jede Zuschrift, es macht mich glücklich, anderen Menschen auf diese Art helfen zu können.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Kurz vor halb acht. Rasch beuge ich mich wieder über die Tastatur, schreibe die nächsten Zeilen.
Fünf Wochen dauert die Überfahrt nach Australien, dem ersten Zwischenziel ihrer Reise. Als Lina Bögli endlich ankommt, ist sie erschöpft, krank und voller Angst, weil sie nicht weiß, ob man sie überhaupt an Land gehen lässt. Falls man ihr die Einreise verweigert, ist ihr Schicksal ungewiss, denn sie hat kein Geld für eine Rückfahrkarte.
Der Artikel fließt mir nur so aus den Fingern. Um sechs Minuten vor acht bin ich fertig, lese noch einmal Korrektur. Um Punkt acht lade ich den Text hoch. Ich beantworte noch einige Kommentare zum Artikel der vergangenen Woche, dann fahre ich den Computer runter.
Erst jetzt denke ich wieder an den Brief. Ich gehe in die Küche, wo ich ihn auf der Arbeitsplatte abgelegt hatte, und schlitze den Umschlag mit einem scharfen Messer auf. Eine Karte kommt zum Vorschein. Es ist eine Einladung, wie mir klarwird, als ich die wenigen Worte überfliege.
Ich fasse mir an den Hals, weil ich plötzlich das Gefühl habe, keine Luft mehr zu kriegen. Mir ist heiß, die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Ich kneife mir in den Handrücken, murmle die ersten Zeilen, die mir in den Sinn kommen. Meine Lippen bewegen sich automatisch, ich kann es nicht verhindern, habe keine Kontrolle darüber.
Wann treffen wir drei wieder zusamm?
Um Mitternacht, am Bergeskamm.
Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm.
Ich komme.
Ich mit.
Ich nenn’ euch die Zahl.
Und ich die Namen.
Und ich die Qual.
Bei dem Wort bleibe ich hängen. Qual. Qual. Qual. Ich lasse die Karte fallen.
Qual. Qual. Qual.
In dem Augenblick klingelt mein Telefon.
Es ist Michelle, und ich kenne sie gut genug, um ihrer Stimme anzuhören, dass sie beunruhigt ist. Sie hat ebenfalls eine Einladung bekommen, mit demselben Text.
Wenn du wissen willst, was mit deiner Freundin Becca geschehen ist, warte am kommenden Freitag um 16:00 Uhr auf dem Bootssteg in Karlskrona. Ein Boot wird dich übersetzen. Die Wahrheit liegt auf der Insel.
Ein Freund
Die Wahrheit liegt auf der Insel. Was soll das bedeuten? Ist das wieder so eine Redewendung, die ich nicht verstehe? Oder ist es wörtlich gemeint? Ich wage nicht, Michelle danach zu fragen, stattdessen sage ich: «Weißt du, ob Eileen auch eine Karte bekommen hat?»
«Hat sie. Ich habe gerade mit ihr gesprochen.»
«Was ist das? Ein Scherz?»
«Wenn es ein Scherz sein soll, ist er nicht witzig.» Michelles Stimme klingt scharf, schneidet mir ins Ohr. Ich weiß nicht, ob sie geschockt ist oder vielleicht wütend auf mich, weil ich eine so blöde Frage gestellt habe. Oder ob sie traurig ist, weil sie an Becca denkt. An Becca, die ertrunken ist, für immer in kalter Umarmung mit den Wogen der Ostsee vereint.
Ich sage Michelle klipp und klar, dass ich nicht hinfahren werde. Ich verreise nie. Seit damals zumindest nicht mehr. Warum sollte ich irgendwo hinfahren wollen, wo alles fremd ist, das Bett, das Essen, der ganze Tagesablauf, wenn ich doch zu Hause alles habe, was ich brauche?
Und auf diese Insel will ich nie wieder zurückkehren. Ich habe das, was dort geschehen ist, hinter mir gelassen. Ich bin zufrieden mit meinem Leben, was soll ich also dort?
Becca ist tot, da bin ich sicher. Auch wenn ihre Leiche nie gefunden wurde. Ich weiß es, sie muss tot sein. Selbst sie, die immer für eine Überraschung gut war, würde sich keinen so grausamen Scherz mit uns erlauben. Wäre sie noch am Leben, hätte sie sich längst bei uns gemeldet. Sie hätte uns nicht sechzehn Jahre lang zappeln lassen.
Becca ist tot, und es würde nichts ändern zu wissen, wo und wie genau das Boot in jener Nacht gekentert ist, ob es Absicht war oder ein tragisches Unglück. Es würde sie nicht wieder lebendig machen.
Anfangs habe ich mich mit der Ungewissheit herumgequält, das stimmt. Ich war von Beccas Verschwinden besessen, habe jeden Artikel in der Zeitung und im Internet gelesen und archiviert, habe Skizzen gemacht und Wege rekonstruiert, wieder und wieder bei der schwedischen Polizei angerufen, um zu erfahren, ob es nicht doch eine Spur von ihr gibt, einen winzigen Hinweis, dem man nachgehen kann. Monatelang habe ich mich mit nichts anderem beschäftigt. Nicht zu wissen, was mit Becca passiert ist, hat mich innerlich zerfressen.
Irgendwann war ich zittrig vor Schlaflosigkeit und völlig abgemagert, weil ich kaum noch aß, sodass meine Therapeutin die Notbremse zog. Sie forderte mich auf, Becca gehen zu lassen. Erst wollte ich nicht, habe mich an sie geklammert wie ein Kind an sein Lieblingsspielzeug. Ich wollte nicht, dass Becca aus meinem Leben verschwindet.
Natürlich war mir vor der Reise klar gewesen, dass sich danach vieles ändern würde. Wir hatten gerade Abi gemacht, und ich wusste, dass meine Freundinnen und ich unterschiedliche Wege einschlagen würden, dass ich würde lernen müssen, ohne sie klarzukommen. Aber doch nicht auf diese Weise, nicht so endgültig.
Schließlich begriff ich, dass ich Becca loslassen musste, wenn ich überleben wollte. Ich begrub sie symbolisch in einem hohlen Baum auf unserem Friedhof. Ich nahm ein Foto von ihr und den Ring, den sie immer trug, den silbernen mit dem Bernstein. Ich wickelte beides in ein türkisfarbenes Halstuch und stopfte es ganz tief in das Astloch. Und dann zündete ich am Boden davor eine Kerze an und sagte meine Lieblingsballade für sie auf.
Im Schloß zu Düsseldorf am Rhein
Wird Mummenschanz gehalten;
Da flimmern die Kerzen, da rauscht die Musik,
Da tanzen die bunten Gestalten.
Becca mochte den Schelm von Bergen ebenso wie ich, und sie neckte Eileen manchmal, indem sie mit einer selbst gebastelten Maske um sie herumsprang und sie zum Tanz aufforderte. Sie hat sogar ein Bild gemalt, eine Art Selbstporträt, auf dem sie der verkleidete Henker ist und dem Betrachter hinter der Maske hervor zuzwinkert.
Ich habe meinen Frieden mit der Vergangenheit gemacht, erkläre ich Michelle am Telefon, schon vor vielen Jahren. Warum also sollte ich nach Schweden fahren und alte Wunden aufreißen?
Nach dem Telefonat fühle ich mich seltsam leer. Und auf eine Art allein, die nicht friedlich und beruhigend ist wie sonst. Am liebsten würde ich Michelle sofort wieder anrufen. Stattdessen tigere ich durch die Wohnung, räume in der Küche Sachen hin und her, ordne Papiere auf meinem Schreibtisch, lege die Wäsche für den nächsten Tag bereit. Normalerweise hilft mir das, zur Ruhe zu kommen, doch heute funktioniert es nicht. Immer wieder schleiche ich um die Einladungskarte herum, werfe sie in den Müll, fische sie wieder heraus.
Schließlich lasse ich mich erschöpft aufs Sofa fallen, verschränke die Arme hinter dem Kopf und starre vor mich hin. Ich fange an, von hundert rückwärts zu zählen. Michelle hat mir geraten, das zu versuchen, wenn meine Gedanken außer Kontrolle geraten. Hundert, neunundneunzig, achtundneunzig. Ich verheddere mich schon bei dreiundachtzig. Mein Kater, der spürt, dass etwas nicht stimmt, springt zu mir aufs Sofa. Er heißt Maynard, nach John Maynard in der Ballade von Theodor Fontane, und hat ein getigertes Fell. Ich kraule ihn gedankenverloren, und er macht eine große Show daraus, die richtige Position zu finden, um es sich auf meinem Schoß bequem zu machen.
Ich erzähle ihm von der Einladung, von meinen Freundinnen Michelle, Eileen und Becca, vor allem von Becca, die ich in einem hohlen Baum beerdigt habe und deshalb nicht auf einer Insel in Schweden suchen will, und er hört geduldig zu. Er scheint mir zuzustimmen, aber das macht mich nur noch unruhiger. Es wäre mir lieber, er würde mir widersprechen, mir Vorhaltungen machen, weil ich so egoistisch bin. Dann hätte ich mich verteidigen, ihm meine Gründe erläutern müssen. Am Ende beschimpfe ich ihn unfairerweise als Verräter, setze ihn auf dem Boden ab und gehe ins Bett.
In der Nacht schlafe ich schlecht, träume von einer einsamen Insel mit einem Berg in der Mitte, auf dem Becca steht. Sie trägt ein wehendes weißes Nachthemd und winkt mir zu. Das ist Blödsinn, Becca hat nie Nachthemden getragen, sondern immer in T-Shirt und Slip geschlafen. Dennoch wache ich mit dem Gefühl auf, Becca im Stich gelassen zu haben.
Es ist das gleiche Gefühl, das ich vor sechzehn Jahren hatte, als ich im Zug nach Hause saß. Ohne Becca. Ohne zu wissen, wo sie steckte. Ohne zu wissen, ob sie lebte oder tot war. Das Gefühl, das ich mit dem Sammeln von Zeitungsartikeln und den Anrufen bei der Polizei bekämpfen wollte. Das Gefühl, das ich erstickt habe, als ich Becca in dem hohlen Baum zu Grabe trug.
Ich melde mich krank, krame die alten Fotos hervor, weine. Mittags rufe ich Michelle an und sage ihr, dass ich doch mitkomme. Ich kann Becca nicht noch einmal im Stich lassen. Ich muss die Wahrheit wissen. Und wenn das Ganze doch nur ein blöder Scherz ist, habe ich es wenigstens versucht.
Ort: Polizeistation, Järnvägstorget 5, Karlskrona
Datum: Montag, 18.8.2003
Anwesend sind Polizeikommissar Johan Berggren und Polizeiinspektorin Karin Samuelsson
Berggren: Geht es dir nicht gut, Lara? Ich darf dich doch Lara nennen? Wir sind hier in Schweden nicht so förmlich. Du kannst auch gern Johan sagen, und das ist meine Kollegin Karin.
Jordan: Okay.
Berggren: Du schwankst, ist dir schwindelig?
Jordan: Das ist der Stress.
Berggren: Du machst dir Sorgen um deine Freundin?
Jordan: Ich mache das immer, wenn ich mit einer Situation überfordert bin. Ich bewege den Oberkörper hin und her, oder ich kneife mir in den Handrücken. Das nennt man Autostimulation. Manchmal zitiere ich auch Gedichte. Das beruhigt mich.
Berggren: Aha.
Jordan: Mein Vater hat mir früher immer Gedichte aufgesagt, wenn er mich ins Bett gebracht hat. Am liebsten mochte ich die Ballade vom Schelm von Bergen, die ist ziemlich gruselig, hat aber ein glückliches Ende. Und es kommen viele beruhigende Wörter darin vor. Brummbass, zum Beispiel. Oder Marizzebill. Oder Mummenschanz. Mummenschanz ist ein sehr beruhigendes Wort.
Berggren: Hat das mit deiner, hm, Krankheit zu tun? Dass du diese Beruhigung brauchst, meine ich.
Jordan: Ja. Wobei Asperger, streng genommen, keine Krankheit ist, sondern eine neurologische Störung.
Berggren: Das ist sicherlich nicht leicht für dich. Ich nehme an, du wirst häufig missverstanden.
Jordan: Es ist einfacher, seit ich weiß, was es ist. Ich habe die Diagnose erst vor etwa einem halben Jahr bekommen. Früher dachten alle, ich sei ein Freak. Oder zurückgeblieben. Ich war sogar kurz auf der Sonderschule, weil die Lehrer meinten, ich hätte eine Lernstörung. Dabei konnte ich das doch alles, ich habe nur oft nicht verstanden, was von mir erwartet wird. Und wenn mir alles zu viel wurde, habe ich mir die Ohren zugehalten und Gedichte aufgesagt.
Berggren: Verstehe. Und warum bist du im Augenblick so gestresst?
Jordan: Weil ich mich an nichts erinnere. Der vergangene Samstag ist wie ausgelöscht.
Berggren: Der ganze Tag oder nur der Abend?
Jordan: Der ganze Tag. Fast zumindest. Ich weiß nur noch, dass wir morgens die Grillwürstchen gesucht haben. Ich war sogar unten am Steg deswegen. Wir dachten, wir hätten sie nach dem Einkaufen im Boot vergessen. Und ich erinnere mich, dass Becca mich aus dem Zimmer vertrieben hat, weil sie in Ruhe malen wollte, dass sie furchtbar laut Musik gehört hat, und dann nichts mehr. Ich bin nicht einmal sicher, ob das mit der Musik nicht an einem anderen Tag war. Sie hört immer Musik, wenn sie malt.
Berggren: Hast du eine Ahnung, warum du dich nicht erinnerst?
Jordan: Das liegt am Alkohol, schätze ich. Ich habe zu viel getrunken an dem Abend, und ich vertrage nichts.
Berggren: Und deshalb stehst du unter Druck, ja? Weil du glaubst, dass du nichts zu den Ermittlungen beitragen kannst.
Jordan: Nicht nur. Ich bin auch nervös, weil ich kein Wort Schwedisch kann. Aber zum Glück sprechen Sie, ähm, sprichst du gut Deutsch.
Berggren: Meine Frau stammt aus Schwerin. Wir ziehen unsere Kinder zweisprachig auf. Und meine Kollegin hier, Polizeiinspektorin Samuelsson, hat ein Praktikum bei der deutschen Polizei gemacht. Deshalb hat man uns beiden den Fall übertragen. Können wir nun über deine Freundin Rebecca reden? Nicht über ihr Verschwinden. Erzähl uns einfach von ihr.
Jordan: Was willst du denn wissen?
Berggren: Was dir einfällt.
Jordan: Becca ist neunzehn Jahre alt, hat braune Haare und braune Augen, und sie malt gern. Sie ist Waise. Ihre Eltern starben vor zehn Jahren bei einem Autounfall. Deshalb lebt sie in einer Pflegefamilie. Wolltest du das wissen?
Berggren: Auch. Ja. Rebecca, du und die anderen beiden, Michelle und Eileen, ihr seid auf die gleiche Schule gegangen, stimmt das?
Jordan: Ja. Bis vor wenigen Wochen. Da haben wir Abi gemacht.
Berggren: Seid ihr gut befreundet?
Jordan: Ich glaube schon.
Berggren: Bist du dir nicht sicher?
Jordan: Ich habe sonst keine Freunde, also kann ich es nicht vergleichen.
Berggren: Und die anderen drei?
Jordan: Ob die noch mehr Freunde haben?
Berggren: Ja.
Jordan: Ich bin nicht sicher. Michelle ist sehr beliebt. Eileen ist eher schüchtern. Aber sehr klug. Und Becca malt am liebsten.
Berggren: Ihr vier habt euch also gesucht und gefunden.
Jordan: Gesucht haben wir nicht.
Berggren: Das sagt man so.
Jordan: Aha. Aber eigentlich war es anders. Becca, Eileen und ich wurden erst zu Freundinnen, als Michelle in unsere Klasse kam. Sie hat gesagt, dass wir Außenseiter zusammenhalten müssen.
Berggren: Aber Michelle ist doch keine Außenseiterin. Du sagtest, dass sie sehr beliebt ist.
Jordan: Na ja, aber sie war neu und kannte noch keinen.
Berggren: Und ihr drei?
Jordan: Wir passten nirgendwo richtig rein. Becca hat immer nur ans Malen gedacht, alles andere war ihr egal. Ich war uncool, falsche Klamotten, peinliches Verhalten. Und Eileen hat einen behinderten Bruder. Bei ihr zu Hause dreht sich alles nur um ihn. Sie muss meistens zurückstehen. Nachmittags shoppen oder abends ausgehen ist nicht drin, da muss sie im Haushalt helfen. Seit Michelle da ist, hat sich das gebessert, Eileen lässt sich nicht mehr so herumkommandieren. Und jetzt geht sie sogar nach Frankreich zum Studieren.
Berggren: Michelle hat also euer aller Leben umgekrempelt.
Jordan: Äh, hm. Ja. Irgendwie. Ich habe mich nicht mehr so allein gefühlt, so unverstanden. Plötzlich hatte ich Freundinnen und fast jeden Tag Besuch. Wir haben uns nämlich meistens bei mir getroffen, weil wir da unsere Ruhe hatten. Mein Vater ist immer bis spät an der Uni, er ist Literaturprofessor, und meine Mutter ist oft mehrere Wochen am Stück in einer anderen Stadt. Sie berät Firmen, die umstrukturiert werden müssen. Da muss sie vor Ort sein.
Berggren: Und so hattet ihr sturmfreie Bude.
Jordan: Was?
Berggren: Ihr hattet das Haus für euch allein. Keine Eltern, die kontrollieren, was man tut.
Jordan: Ja. Wir konnten stundenlang Filme schauen, wenn wir Lust hatten, im Garten abhängen oder schwimmen.
Berggren: Schwimmen?
Jordan: Mein Vater hat vor einigen Jahren ein überdachtes Schwimmbad anbauen lassen, weil ich gern schwimme. Ich bin eine ziemlich gute Schwimmerin. Im Wasser fühle ich mich geschützt. Geborgen. Ich weiß auch nicht, warum.
Berggren: Deine Eltern tun viel für dich, wie mir scheint.
Jordan: Vermutlich haben sie ein schlechtes Gewissen, weil sie so viel weg sind. Und weil sie nie richtig wussten, wie sie mit mir umgehen sollten. Ich glaube, sie dachten jahrelang, dass sie etwas falsch gemacht hätten. Seit ich die Diagnose habe, ist es besser. Mein Vater hat einen Stapel Ratgeber über Asperger gelesen, und ich merke, dass er sich Mühe gibt.
Berggren: Also habt ihr vier euch immer bei dir zu Hause getroffen.
Jordan: Manchmal auch bei Becca im Atelier. Becca wohnt in einer Pflegefamilie, da hat sie allerdings kein eigenes Zimmer. Ihre Eltern haben noch weitere Kinder in Pflege, manchmal gehen auch welche, und andere kommen. Aber ein Nachbar hat Becca seinen Gartenschuppen zur Verfügung gestellt, damit sie darin malen kann. Der ist echt wunderschön, mit einem großen Fenster mit Blick auf ein Rosenbeet. Allerdings hatte Becca immer ein bisschen Angst, dass wir ihre Sachen durcheinanderbringen, deshalb haben wir uns nur selten dort getroffen. Bei Eileen ging es gar nicht, sie durfte immer nur eine Freundin zu Besuch mitbringen wegen ihres Bruders, und bei Michelle war es viel zu eng. Sie wohnt mit ihrer Mutter in einer winzigen Wohnung in einem Hochhaus.
Berggren: Das klingt alles sehr harmonisch. Aber bestimmt hat es auch mal Streit gegeben, oder?
Jordan: Klar. Ich sage manchmal Sachen, die andere verletzen, obwohl ich das gar nicht will. Ich versuche zu lernen, wann man besser den Mund hält oder wie man etwas Unangenehmes nett sagt. Aber die Regeln sind sehr kompliziert. Becca kann auch ziemlich ruppig sein. Und Eileen ist schnell beleidigt.
Berggren: Und Michelle?
Jordan: Die ist ziemlich cool, lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen.
Berggren: Michelle gibt also bei euch den Ton an.
Jordan: Du meinst, dass sie so etwas wie unsere Anführerin ist? Vielleicht ein bisschen. Sie hat immer die besten Ideen. Dieser Urlaub war auch ihr Einfall. Wir wollten noch einmal zusammen verreisen, nur wir vier, bevor wir auseinandergehen.
Berggren: Auseinandergehen?
Jordan: Na ja, in verschiedenen Städten studieren. Eileen in Paris, Becca in Berlin, Michelle in München …
Berggren: Und wo wirst du hingehen?
Jordan: Ich verlasse nicht gern meine vertraute Umgebung. Ich reise auch nicht gern.
Berggren: Und doch bist du hier.
Jordan: Das ist etwas anderes. Ich habe ja meine Freundinnen dabei, und Becca kennt sich sehr gut aus, weil das Haus ihrem Onkel gehörte und sie schon oft hier war. Außerdem hatten wir die Insel ganz für uns allein. Jedenfalls bis …
Berggren: Bis was?
Jordan: Na ja, bis die beiden Jungs aufgetaucht sind.
Berggren: War dir das nicht recht?
Jordan: Sie haben alles durcheinandergebracht.
Berggren: Inwiefern?
Jordan: Schwer zu sagen.
Berggren: Versuch es zu beschreiben.
Jordan: Wir haben sie in einem Eiscafé in Karlskrona kennengelernt. Michelle hat sie eingeladen, uns auf der Insel zu besuchen. Keine Ahnung, warum. Eigentlich sollte Kristiansholmen unser Rückzugsort sein. Nur für uns vier, vier Wochen lang, so war es vereinbart. Jedenfalls sind die beiden aufgekreuzt, haben Bier und Würstchen zum Grillen mitgebracht. Eigentlich war es auch sehr nett. Ich habe mich lange mit Vincent unterhalten, er stammt aus Deutschland und wohnt schon seit über zehn Jahren in Schweden. Am nächsten Tag sind sie wiedergekommen, und ab da waren sie fast jeden Tag da. Und Becca hatte plötzlich schlechte Laune. Es war noch schlimmer als sonst.
Berggren: Sie hat also häufiger schlechte Laune?
Jordan: Sie ist sehr empfindlich, wenn sie malt. Dann darf man sie nicht stören. Mir ist das nur recht. Ich stecke mir Kopfhörer in die Ohren und höre Musik. Deshalb habe ich mir auch mit ihr das Zimmer geteilt.
Berggren: Ihr hört also beide gern Musik, Rebecca und du?
Jordan: Aber sehr unterschiedliche. Ich mag Tschaikowsky, Becca Rammstein.
Berggren: Aha. Und die beiden Jungs?
Jordan: Was die für Musik mögen?
Berggren: Mich interessiert eher, wie Rebecca mit ihnen klargekommen ist.
Jordan: Sie hat mal mit Leon gestritten, glaube ich.
Berggren: Wann war das?
Jordan: Ich weiß nicht mehr so genau. Ich habe es auch gar nicht selbst mitbekommen. Michelle hat es erwähnt.
Berggren: Dann weißt du also nicht, worum es ging?
Jordan: Nein.
Berggren: Hatten die beiden etwas miteinander?
Jordan: Wie bitte?
Berggren: Ob sie ein Paar waren.
Jordan: Ja. Ich glaube schon. Aber ich bin nicht sicher, weil sie ja ständig so … ich weiß nicht.
Berggren: Sie haben sich gekabbelt? Geneckt? Meinst du das?
Jordan: Ich glaube ja. Ich habe es nicht richtig verstanden. Michelle meinte, dass Becca scharf auf Leon ist und ihn deshalb ständig angiftet. Und so war es wohl. Sonst hätten sie ja nicht …
Berggren: Was hätten sie nicht?
Jordan: Da war ein benutztes Kondom im Sommerhaus.
Berggren: In der kleinen Holzhütte in dem Waldstück?
Jordan: Ja.
Berggren: Du glaubst, dass es von Rebecca und Leon war?
Jordan: Von wem sonst?
Berggren: Es könnte schon seit Monaten dort liegen.
Jordan: Nein. Es war frisch.
Berggren: Ach ja?
Jordan: Als die Jungs anfingen, jeden Tag auf die Insel zu kommen, habe ich mich manchmal in die Hütte zurückgezogen, um meine Ruhe zu haben. Ich habe mich auf die alte Matratze in der Ecke gelegt und Musik gehört. Wenn da ein Kondom gewesen wäre, hätte ich es bemerkt.
Berggren: Wann ist es dir aufgefallen?
Jordan: Irgendwann in der vergangenen Woche. Dienstag oder Mittwoch.
Berggren: Hast du mit den anderen darüber gesprochen?
Jordan: Nein.
Berggren: Gibt es sonst noch etwas, das wir wissen sollten?
Jordan: Nein. Glaube nicht.
Berggren: In Ordnung. Dann sind wir hier erst mal fertig.
Jordan: Werdet ihr Becca finden?
Berggren: Wir suchen mit allen zur Verfügung stehenden Kräften nach ihr.
Jordan: Ihr müsst sie finden.
Berggren: Wir versuchen es. Aber ich kann nichts versprechen.
Jordan: Ich muss wissen, dass es ihr gutgeht. Ich könnte es nicht ertragen, ich …
Berggren: Schon gut. Wir tun wirklich alles, was wir können. Versprochen. Soll meine Kollegin dich nach draußen begleiten?
Jordan: Nein, nicht nötig. Dann … dann gehe ich jetzt. Auf Wiedersehen. Und bitte findet sie.
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