Mein Tod in deinen Augen - Sophie Kendrick - E-Book
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Mein Tod in deinen Augen E-Book

Sophie Kendrick

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Beschreibung

Blinde Angst ... Psychiaterin Jennifer leidet an einer traumatisch bedingten Blindheit, seit ein Stalker sie in Berlin überfallen hat. Als der an der Ostsee ansässige Therapeut Gideon sie um fachlichen Rat bittet, stimmt Jennifer einem Treffen zögernd zu. Im Zug lernt sie den Computerspezialisten Marc kennen, zu dem sie bald Vertrauen fasst. An ihn wendet sie sich, als Gideon etwas sagt, das Jennifer an den Stalker erinnert. Marc findet tatsächlich Belege dafür, dass der Therapeut häufig in Berlin war. Aber wem kann sie wirklich trauen? Und was hat das alles mit dem Unfalltod von Jennifers Eltern vor dreißig Jahren auf Rügen zu tun? Sophie Kendrick dürfen Sie nicht verpassen! Der neue Thriller nach «Das Gesicht meines Mörders». Intelligent, fesselnd, großartig geschrieben.

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Seitenzahl: 335

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Sophie Kendrick

Mein Tod in deinen Augen

Thriller

Über dieses Buch

Blinde Angst …

 

Psychiaterin Jennifer leidet an einer traumatisch bedingten Blindheit, seit ein Stalker sie in Berlin überfallen hat. Als der an der Ostsee ansässige Therapeut Gideon sie um fachlichen Rat bittet, stimmt Jennifer einem Treffen zögernd zu. Im Zug lernt sie den Computerspezialisten Marc kennen, zu dem sie bald Vertrauen fasst. An ihn wendet sie sich, als Gideon etwas sagt, das Jennifer an den Stalker erinnert. Marc findet tatsächlich Belege dafür, dass der Therapeut häufig in Berlin war. Aber wem kann sie wirklich trauen? Und was hat das alles mit dem Unfalltod von Jennifers Eltern vor dreißig Jahren auf Rügen zu tun?

Vita

Sophie Kendrick lebte in verschiedenen europäischen Ländern, unter anderem in Großbritannien, wo sie englische Literatur studierte und über die Schwestern Brontë forschte. Sie arbeitete in einer Agentur für Buchprojekte und als Ghostwriterin, bevor sie ihren ersten eigenen Roman schrieb.

Montag, 10. August 1987

Es regnete schon seit den Morgenstunden, genau wie gestern und vorgestern, doch das machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, bei diesem Wetter hatte er den Wald und die Klippen für sich allein. Wenn es so schüttete, ging niemand dort spazieren und störte ihn.

Er vergewisserte sich, dass das Fernglas gut eingepackt war, sodass es nicht nass wurde. Es war das schwere alte von Opa aus dem Krieg mit dem Adleremblem auf der eckigen, abgewetzten Ledertasche. Damit durfte Mutti ihn nicht erwischen, sonst würde es Ärger geben. Rasch setzte er die Schirmmütze auf und rannte die Treppe hinunter.

Auf der Straße begegnete ihm keine Menschenseele, und nur wenige Autos fuhren vorbei. Ein Wagen hielt an, der Fahrer kurbelte das Fenster herunter und fragte, ob er ihn mitnehmen solle, bei dem Wetter würde er sich ja den Tod holen, doch er schüttelte stumm den Kopf und lief weiter.

Endlich erreichte er den Weg, der sich im Bogen um die Landzunge mit der steil abfallenden Küste wand. Jedes Mal, wenn er zwischen die Stämme der alten Buchen trat, fühlte es sich an, als würde er die Schwelle zu einem magischen Reich überschreiten. Früher hatte er oft gespielt, er wäre der Waldkönig, und alle Lebewesen, die hier wohnten, wären seine Untertanen. Inzwischen war er zu alt für solche Spiele, schließlich war er im Frühjahr zehn geworden. Nach den Ferien würde er in die Mittelstufe kommen, und an Gnome und Feen glaubte er längst nicht mehr. Auch wenn die Bäume manchmal unheimlich tuschelten und wisperten.

Im Wald war der Regen nicht so stark, doch vollkommenen Schutz bot das Laubdach nicht. Überall zweigten kleine Trampelpfade vom Hauptweg ab und führten bis ans Steilufer. Er ignorierte sie alle, denn er hatte seinen eigenen, geheimen Pfad, den niemand außer ihm kannte. Endlich erreichte er die Stelle und blieb unschlüssig stehen. Inzwischen war er völlig durchnässt, und die Kälte ließ ihn frösteln. Heute Morgen hatte das Thermometer an der Hauswand nur elf Grad angezeigt, und auch mittags war es kaum auf fünfzehn Grad geklettert. Alle stöhnten über den verregneten Sommer, über überschwemmte Felder und Hagel, der die Ernte zerstörte. So schlimm sei es seit Jahrzehnten nicht gewesen, jammerte Mutti jedes Mal, wenn sie aus dem Fenster schaute.

Zögernd blickte er auf den knorrigen Baumstamm, der den Zugang zu seinem geheimen Pfad verbarg. Er hatte seinem Vater versprochen, nicht in die Nähe des Abgrunds zu gehen. Das war lebensgefährlich, vor allem bei solchem Wetter. Wenn die Erde vom Regen aufgeweicht war, konnte leicht ein Stück Steilküste abbrechen und ins Meer stürzen.

Er wollte Vati keinesfalls enttäuschen, sein Versprechen war ihm heilig. Schließlich war sein Vater sein großes Vorbild. Er war Leutnant bei der Volkspolizei, sorgte für Recht und Ordnung im Dorf.

Wenn er groß war, wollte er auch Polizist werden. Manchmal tat er jetzt schon so, beobachtete die Nachbarn und die Feriengäste mit dem Fernglas und achtete darauf, dass sie nichts Verbotenes taten. Leider hatte er noch nie jemanden bei einer Straftat erwischt. Dabei hätte er zu gern einmal einen richtigen Verbrecher gefangen.

Wenn er schon keine Ganoven jagen konnte, dann wollte er wenigstens nach Schiffen Ausschau halten. Er liebte es, auf der Klippe zu sitzen, weit weg vom Abgrund natürlich, und den Blick über das Meer schweifen zu lassen, Schiffe in der Ferne ziehen zu sehen und sich vorzustellen, wohin sie wohl unterwegs waren. Er wusste, dass das nächste Land, das man von hier erreichen konnte, eine Insel war, die Bornholm hieß und zu Dänemark gehörte.

Bei so starkem Regen war die Sicht natürlich viel zu schlecht, da gab es keine Schiffe zu entdecken. Außerdem dämmerte es bereits, dabei war es höchstens halb sieben. Oder war es doch schon später?

Er musste darauf achten, vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein. Das Schlimmste wäre, wenn ihn einer der Grenzsoldaten aufgreifen würde, die nachts an der Küste patrouillierten. Manchmal sah er die Suchscheinwerfer über das Wasser huschen, wenn er aus dem Fenster schaute. Dann stellte er sich vor, einer der Männer zu sein, die die Küste sicherten, und träumte davon, lieber zur Grenzbrigade zu gehen statt zur Polizei.

Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte er sich, dass die Luft rein war, und bog auf den Pfad ab. Er würde nur eben kurz zum Versteck laufen, das aus einem Loch in einem Baumstumpf bestand, das er mit Gestrüpp und Tannenzweigen getarnt hatte. Dort würde er nachsehen, ob all seine Schätze noch an Ort und Stelle waren, das Messer, die Schnur, die Dose mit besonders schönen Muscheln und Feuersteinen, und dann nach Hause zurückkehren.

Als er das Versteck erreichte, zerrte eine Bö an seiner Mütze und er musste sie festhalten. Hier auf der Nordseite der Landzunge blies der Wind immer etwas stärker, und der Baumstumpf lag an einer Stelle, wo der schützende Wald nicht bis dicht ans Steilufer reichte.

Plötzlich hörte er über das Heulen des Windes hinweg ein merkwürdiges Geräusch. Es klang wie das Winseln eines Hundes, nur lauter.

Erschrocken hielt er inne. Was war das?

Er horchte, doch bis auf den Wind war nichts zu vernehmen.

Gerade als er sich abwenden und durch das Gestrüpp zu seinem Versteck kriechen wollte, hörte er wieder das Winseln, schwach und hell, als würde es auf dem Wind reiten. Irgendwer musste ganz in der Nähe sein. Vielleicht verbarg sich ein verwundetes Tier im Unterholz. Aber das Wimmern schien von vorne zu kommen, von dort, wo nichts war außer der Steilküste und dem Meer.

Er klemmte die Mütze zwischen die Beine, damit sie nicht über den Abgrund geweht wurde, nahm das Fernglas aus der Tasche und blickte hindurch. Nichts war zu sehen außer grauem, aufgewühltem Wasser mit weiß schäumenden Wogen.

Er musste näher an die Klippe.

Aber er durfte nicht, er hatte es versprochen. Andererseits war es ein Notfall. Vielleicht war jemand abgestürzt und brauchte Hilfe.

Er schob die Mütze in den Hosenbund und machte ein paar vorsichtige Schritte auf den Abgrund zu. Spähte nach unten. Nichts.

Noch einmal hob er das Fernglas vor die Augen, beschirmte es mit der linken Hand, damit das Glas nicht nass wurde. Regen peitschte ihm ins Gesicht, seine Zähne klapperten vor Kälte, dennoch ließ er seinen Blick geduldig über das Wasser und die Klippen rechts und links von ihm schweifen.

Und da entdeckte er es.

Lügen

Einunddreißig Jahre späterSamstag, 15. September

Wenn ich im Zug sitze, das Gesicht dem Fenster zugewandt, Kopfhörer im Ohr, das Smartphone in der Hand, sehe ich vermutlich aus wie eine beliebige Frau auf Reisen.

Aber ich bin keine beliebige Frau.

Denn sosehr ich auch den Blick auf die Landschaft vor dem Zugfenster hefte, ich kann sie mir höchstens vorstellen, kann Erinnerungen wachrufen an den Anblick von vorbeifliegenden Häusern mit kleinen Vorgärten und von goldenen Weizenfeldern, die sich sacht im Wind wiegen.

Sehen kann ich sie nicht.

Meine Erblindung war die zweite große Katastrophe meines Lebens. Die erste war der Tod meiner Familie. Meine Mutter, mein Vater und mein kleiner Bruder starben bei einem Unfall, als ich sieben Jahre alt war, aber daran denke ich selten zurück. Es ist so lange her, dass ich mich kaum an mein Leben davor erinnere. Ich habe mich mit meinem Schicksal arrangiert, oder, besser gesagt, ich hatte mich arrangiert, bis ich vor einem Jahr beim Joggen im Park von einem maskierten Mann überfallen wurde, der vorher schon einige andere Frauen vergewaltigt hatte. Ich konnte den Angreifer abwehren, schaffte es, ihm zu entwischen, bevor er mir Schlimmeres antun konnte.

Ich dachte, ich wäre davongekommen.

Falsch gedacht.

Wenige Wochen nach dem Überfall merkte ich zum ersten Mal, dass ich auf einem Auge nur noch verschwommen sehen konnte. Kurz darauf folgte das zweite. Von da an ging es rapide bergab mit meiner Sehkraft. Innerhalb von einem Monat erkannte ich nur noch Schatten, konnte mit Mühe Tag und Nacht auseinanderhalten. Zwei Monate nach dem Überfall sah ich gar nichts mehr. Nicht schwarz, nicht weiß, nur ein großes farbloses Nichts. Und dabei ist es geblieben.

Manchmal glaube ich, das Aufleuchten eines Lichtes wahrzunehmen oder eine Bewegung neben mir, und die Hoffnung jagt mir einen Adrenalinstoß durch die Adern. Doch ich weiß, dass es lediglich meine Einbildung ist, die mir einen grausamen Streich spielt. Es ist das Aufblitzen der Erinnerung daran, wie es sich anfühlt, etwas zu sehen, nicht der Anblick selbst.

Die Ärzte haben mich auf den Kopf gestellt, Dutzende Male meine Augen untersucht. Es gibt keine körperliche Ursache für mein Erblinden. Ich leide unter dissoziativer Blindheit infolge eines schweren Traumas. Mit anderen Worten: Der Schock hat mir das Augenlicht geraubt.

Anfangs war ich völlig am Boden zerstört, so sehr, dass ich in einer einsamen Winternacht sogar versuchte, mir das Leben zu nehmen. Diese düstere Phase ist vorüber. Aber wütend und frustriert bin ich noch immer.

Warum musste ausgerechnet mir so etwas passieren? Warum habe ich nach dem Überfall nicht einfach Albträume bekommen, oder Panikattacken wie andere Opfer von Gewalt? Es wäre mir sogar lieber gewesen, der Mistkerl hätte mir die Augen ausgestochen, dann hätte ich wenigstens einen guten Grund, nichts zu sehen. So kommt es mir vor, als wäre ich selbst schuld. Nicht umsonst nennt man meine Erkrankung auch hysterische Blindheit.

Um nicht weiter zu grübeln, schalte ich noch einmal die Aufzeichnung an. Bis Stralsund sind es noch drei Stunden, in denen ich genauso gut etwas Nützliches tun kann. Meine Finger gleiten über das Display des Smartphones, ich lausche den Anweisungen der Stimme in meinem Ohr, bis ich an der richtigen Stelle bin, und konzentriere mich.

«Auf dem Bild dominieren die Farben Schwarz und Rot.»

Es ist merkwürdig, meine eigene Stimme aus einer Zeit zu hören, als ich noch sehen konnte, als ich dachte, das Schlimmste, was mir je im Leben passieren könnte, läge längst hinter mir.

«Es zeigt vier menschliche Gestalten, eine im Zentrum, zwei auf der linken Seite, und eine kleine am rechten unteren Bildrand. Die Darstellungsweise lässt auf ein Kind als Urheber des Bildes schließen, das nicht älter als fünf oder sechs ist. Allerdings ist dieses Kind offenbar schwer traumatisiert, weshalb ein Entwicklungsrückstand vorliegen könnte. Das tatsächliche Alter könnte also auch bei sieben oder acht Jahren liegen.»

Seufzend unterbreche ich die Aufnahme. Wenn ich mich anstrenge, kann ich mir das Bild ins Gedächtnis rufen. Nicht in allen Details, aber doch in seiner Wirkung, die mir sofort wieder einen Schauder über den Rücken jagt, wie im Sommer vor etwas mehr als einem Jahr, als ich es zum ersten Mal sah. Gideon Mahler, ein Kindertherapeut aus einem kleinen Dorf auf Rügen, hatte es mir damals geschickt mit der Bitte um eine Einschätzung.

Ich bin eine renommierte Expertin für Kinderzeichnungen, werde oft als Gutachterin vor Gericht engagiert. Zumindest war das bis vor einem Jahr so. Seit meiner Erblindung hat mich niemand mehr um meine Einschätzung gebeten. Eine blinde Gutachterin würde von der Gegenseite im Handumdrehen demontiert werden. Dabei gibt es durchaus Möglichkeiten für mich, die Bilder zu «sehen».

Ich hatte damals gerade mit meiner Analyse der Zeichnung begonnen und mit Gideon mehrmals E-Mails geschrieben, um Näheres über den Fall zu erfahren, als der Angriff im Park mich aus der Bahn warf. Nachdem ich bemerkt hatte, dass meine Sehkraft nachließ, teilte ich ihm mit, dass er sich eine andere Expertin suchen müsse, ebenso wie einem halben Dutzend anderer Auftraggeber, deren Anliegen ich nicht mehr bearbeiten konnte. Seither hatte ich nichts von ihm gehört.

Ich hatte nicht ernsthaft erwartet, je wieder in meinem Beruf zu arbeiten, bis Gideon vergangene Woche anrief. Er hätte noch mehr Zeichnungen von dem mysteriösen Jungen gefunden, der offenbar ein Patient seines Vorgängers war, und er mache sich ernsthafte Sorgen. Ich erklärte ihm meine Situation, doch er schien sich nicht daran zu stören, jedenfalls bestand er darauf, dass ich zu ihm komme. Wir würden schon einen Weg finden, die Bilder gemeinsam zu interpretieren.

Erst sagte ich ab. Nicht, weil ich Angst hatte, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Auch wenn das durchaus eine Rolle spielte. Aber es ist vor allem der Ort, der mir Furcht einflößt. Seit meiner Kindheit war ich nicht mehr auf Rügen, genauer gesagt, seit ich sieben Jahre alt war. Denn genau dort, auf dieser Insel, in dem Dorf, wo Gideon lebt, verlor ich vor über dreißig Jahren meine Familie.

Ein Geräusch neben mir reißt mich aus meinen Gedanken. Ich fahre zusammen, mache eine abrupte Bewegung mit der Hand, stoße an etwas Hartes, zucke erschrocken zurück.

«Mensch, können Sie nicht aufpassen?», fährt mich eine Frauenstimme wütend an. «Sehen Sie nicht, dass ich einen Kaffeebecher in der Hand halte? Wie soll ich die Flecken denn wieder rauskriegen?»

Unwillkürlich versteife ich mich.

Ein Mann tuschelt, ich verstehe nur einzelne Worte. Blind. Peinlich.

Ich spüre, wie alle mich anstarren. Unsichtbare Blicke brennen auf meiner Haut wie Feuer. Mir bricht der Schweiß aus, mein Atem wird flach.

Kaum nehme ich wahr, wie die Frau und der Mann weitergehen, wie ein schriller Pfiff ertönt und der Zug sich in Bewegung setzt. Erst jetzt wird mir klar, dass wir an einem Bahnhof gehalten haben und dass neue Fahrgäste zugestiegen sein müssen.

Es dauert ein paar Minuten, bis die Starre sich löst und ich imstande bin, mich zu rühren. Vorsichtig fahre ich mit den Fingern über meinen linken Ärmel. Vielleicht habe ich auch Kaffee abgekriegt. Nichts wäre mir unangenehmer, als die ganze Zeit mit Flecken auf der Bluse herumzulaufen, ohne es zu ahnen.

«Alles sauber», kommt eine Stimme vom Sitz gegenüber. Freundlich, warm und mit einem heraushörbaren Lächeln darin. «Die dumme Pute hat sich nur selbst bekleckert.»

«Danke», murmele ich und senke den Blick.

Verlegen aktiviere ich erneut die Aufzeichnung, doch die Worte rauschen durch meinen Kopf, ohne dass ich ihren Sinn aufnehme. Das gleichmäßige Ruckeln des Zuges macht mich schläfrig. Ich habe kaum ein Auge zugemacht in der vergangenen Nacht, vor lauter Nervosität immer wieder nach meinen Sachen getastet, dem gepackten Koffer, der Handtasche mit den Unterlagen, der Jacke, den Schuhen.

Ich nicke ein und träume von einer Wiese auf einer Waldlichtung, wo ich mit meiner besten Freundin Siri im piksenden Gras liege und Ketten aus Gänseblümchen bastele. Es ist ein friedlicher Ort, die Sonne scheint, Vögel singen, Insekten schwirren durch die Luft. Plötzlich tritt ein maskierter Mann auf die Lichtung und schwenkt ein Beil. Siri und ich versuchen, seinen Schlägen auszuweichen, aber der Angreifer ist überall gleichzeitig, wir können ihm nicht entkommen. Irgendwann fließt mir Blut in die Augen, ich weiß nicht, ob es Siris ist oder mein eigenes. Jedenfalls kann ich nichts mehr sehen, taste hilflos herum, voller Todesangst, weil ich jeden Augenblick damit rechne, dass das Beil mir den Schädel spaltet.

 

Als ich aufwache, bin ich zunächst orientierungslos.

«Noch etwa eine halbe Stunde bis Stralsund», sagt die Stimme von vorhin.

«Ich habe wohl ziemlich lange geschlafen.» Verlegen streiche ich mir die Haare aus der Stirn. Hoffentlich sehe ich nicht total zerzaust aus.

«Kann man so sagen.» Mein Gegenüber räuspert sich. «Ich heiße übrigens Marc. Marc Jessen.»

«Jennifer Lark.»

Ich versuche, mir den Mann vorzustellen. Das mache ich immer, wenn ich jemanden kennenlerne. Ich zeichne im Kopf ein Bild von ihm, damit er mehr ist als eine körperlose Stimme im Raum. Menschen, die von Geburt an blind sind, machen das bestimmt nicht, sie erschließen ihre Umwelt anhand von Geräuschen und Gerüchen. Oder dem, was sie ertasten. Aber ich denke und empfinde noch immer in Kategorien von Sehenden, ich ordne die Welt nach Farben und Formen, obwohl ich sie nicht mehr wahrnehme.

Marc Jessen stelle ich mir in Anzug und Krawatte vor. Er ist ein paar Jahre älter als ich, hat leicht schütteres Haar und einen kleinen Bauchansatz, den er durch die Sitzhaltung zu kaschieren versucht.

«Sind Sie auf dem Weg nach Rügen?», fragt er.

«Ja. Beruflich.»

«Ich auch. Ich bin IT-Spezialist und besuche einen Kunden.»

«Ich bin … Therapeutin. Und Gutachterin vor Gericht.»

«Klingt spannend. Waren Sie schon einmal auf Rügen?»

Die Frage erwischt mich eiskalt. Meine Hände verkrampfen sich.

«Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Ich bin auf Rügen aufgewachsen, und ich dachte, falls Sie einen Tipp brauchen …»

«Danke», erwidere ich steif. «Aber ich werde wohl eher keine Zeit für Ausflüge haben.»

Eine Weile schweigen wir.

«Ich bin übrigens knapp vierzig», sagt er dann unvermittelt, «habe braune Haare und braune Augen, bin etwas über eins achtzig groß und trage Hemd, Jeans und Sakko. Nur der Fairness halber, damit Sie wissen, mit was für einem Typ Sie es zu tun haben.»

Unwillkürlich muss ich lächeln. «Kurze oder lange Haare?»

«Kurz. Und einen ziemlich coolen Dreitagebart.»

Ich korrigiere das Bild in meinem Kopf, tausche Anzughose gegen Jeans, schütteres Haar gegen Dreitagebart. «Hören Sie auf, ich kriege schwache Knie.»

«Das war die Absicht.» Er lacht leise.

«Sie sind ja überhaupt nicht von sich eingenommen.»

«Alles Show, in Wirklichkeit bin ich furchtbar schüchtern.» Er erzählt mir, wie er als Junge immer allein in der Ecke des Schulhofs stand, weil niemand mit ihm spielen wollte, wie er als Jugendlicher so einsam war, dass er seine Nächte vor dem PC verbrachte, weshalb er heute so viel über Computer weiß, dass er seinen Lebensunterhalt damit verdienen kann.

Ich kaufe ihm den armen Außenseiter nicht ab, dafür wirkt er viel zu selbstbewusst, finde seine Geschichte jedoch irgendwie charmant. Und als der Zug in den Bahnhof von Stralsund einfährt, erscheint es mir wie die selbstverständlichste Sache der Welt, dass Marc mich beim Arm nimmt und mich zu dem Bahnsteig führt, wo der Regionalexpress nach Rügen abfährt.

 

Die Fahrt von Stralsund nach Bergen dauert dreißig Minuten. Marc erzählt von verrückten Erlebnissen mit Kunden und stellt keine einzige dämliche Frage über meine Blindheit. Nur einmal will er wissen, ob ich das ungefähre Alter eines Menschen an der Stimme erkennen kann.

«Leider nicht», erwidere ich.

«Sie haben keinen siebten Sinn, keinen besonderen Instinkt?»

«Blinde haben keine besonderen Fähigkeiten. Das ist leider nur im Kino so. Ich muss mit den Sinnen klarkommen, die mir geblieben sind.»

Das ist nur zum Teil wahr. Ich habe einen extrem feinen Geruchssinn, auch jetzt in diesem Moment rieche ich nicht nur die Polster des Zuges, sondern auch Marcs Aftershave und sprödes, altes Leder, vielleicht von einer Tasche oder einer Jacke. Aber diese spezielle Gabe hat nichts mit dem Verlust meines Augenlichts zu tun, ich hatte sie schon als kleines Kind, weshalb ich immer besonders pingelig beim Essen war. Obst, das nur einen Hauch überreif ist, bereitet mir Übelkeit, genauso wie Fisch, wenn er nicht ganz frisch gefangen wurde.

Ich erwarte weitere Fragen, doch Marc wechselt das Thema, erzählt mir, was er draußen vor dem Fenster sieht, durch was für eine Landschaft wir gerade fahren, und zwar so lebhaft, dass ich sie vor mir sehe. Dankbar lausche ich ihm und freue mich über die Bilder, die in meinem Kopf entstehen.

Viel zu schnell sind wir am Ziel. Gideon erwartet mich am Bahnhof von Bergen, wo auch Marc aussteigt. Ich stelle die beiden einander vor, sie begrüßen sich knapp, dann drückt Marc meine Hand und verschwindet. Ich presse die Finger um die Visitenkarte, die er mir zugesteckt hat und auf der die Schrift so eingeprägt ist, dass ich die Handynummer ertasten kann.

«Schön, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen», sagt Gideon und greift nach meinem Arm.

Er riecht nicht nach Aftershave, sondern nach Holzfeuer und frischer Luft. Unwillkürlich muss ich über den Kontrast zwischen dem gewandten Städter und dem einfachen Naturburschen schmunzeln, obwohl ich natürlich weiß, dass das so nicht zutrifft.

Gideon führt mich zu einem Parkplatz, verstaut meinen Koffer im Wagen und hilft mir beim Einsteigen. Wenn ich die Karte der Insel richtig im Kopf habe, dürfte die Fahrt zu seinem Wohnort etwa eine halbe Stunde dauern. Ich lehne mich im Sitz zurück und stelle mir Gideon am Steuer vor. Im Gegensatz zu Marc weiß ich aus eigener Anschauung, wie er aussieht. Als er mich im vergangenen Jahr kontaktiert hat, habe ich ihn gegoogelt und mir das Foto auf seiner Website angesehen. Er ist drei Jahre älter als ich, wirkt aber jünger, blond, blauäugig und jungenhaft, so als hätte er sich geweigert, erwachsen zu werden. Dabei hat das Schicksal auch ihm übel mitgespielt. Er ist seit zwei Jahren Witwer, zieht seinen siebenjährigen Sohn Finn allein groß.

«Wo genau wohnst du?», frage ich, während Gideon den Wagen über unsichtbare Straßen steuert. «Mitten im Ort oder eher außerhalb?»

«Mein Haus steht direkt am Waldrand. Es gibt keine unmittelbaren Nachbarn. Ich hoffe, das ist okay für dich. Du bist jedenfalls nicht allein, ich bin den ganzen Tag daheim, weil ich meine Patienten dort empfange.»

Mir ist nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass ich quasi im Haus gefangen bin, weil ich nicht ohne weiteres zu Fuß wegkomme. Andererseits bleibe ich ja nur ein paar Tage. «Ein bisschen Kontrastprogramm zu Berlin wird mir guttun», sage ich deshalb.

«Ich habe dir die Gartenlaube hergerichtet, ganz wie du wolltest», fährt Gideon fort. «Wenn du doch lieber bei uns im Haus wohnen möchtest, ist das aber auch kein Problem.»

«Gartenlaube klingt wunderbar.»

Ursprünglich wollte ich mich in einem Hotel einquartieren, weil ich meinen unbeholfenen Alltag nicht gern mit fremden Menschen teile, doch als Gideon mir von der Laube mit eigenem Bad erzählte, fand ich die Vorstellung reizvoll, in meinem eigenen kleinen Häuschen zu wohnen.

Endlich höre ich Schotter unter den Rädern knirschen, der Wagen rollt in eine Einfahrt. Kühler Wind schlägt mir entgegen, als ich die Beifahrertür öffne. Es riecht nach Wald und salziger Seeluft. Irgendwo schreit eine Möwe. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzt eine Erinnerung auf. Ich dränge sie weg, bevor das Bild scharf wird.

Gideon führt mich zu der Gartenlaube und erklärt mir, wo das Bett steht und wo die Tür zum Bad ist, dann drückt er mir den Schlüssel in die Hand und lässt mich allein, verspricht, mich in einer halben Stunde zum Abendessen ins Haus zu holen.

Als er weg ist, atme ich erleichtert auf. Seit Monaten war ich nicht mehr so viele Stunden am Stück in der Gesellschaft anderer Menschen, und ich bin total erschöpft. Obwohl ich mich am liebsten aufs Bett legen und ausruhen würde, ziehe ich nur meine Jacke aus, diktiere eine SMS, dass ich gut angekommen bin, an meine Freundin Siri in mein Smartphone und mache mich daran, mein vorübergehendes Zuhause gründlich zu erkunden. Das habe ich mir angewöhnt, damit ich im Zweifelsfall nicht völlig orientierungslos bin. Erst wenn ich verinnerlicht habe, wo Fenster und Türen, wo das Bad und wo die Steckdosen sind, fühle ich mich halbwegs sicher.

Ich taste mich an den Wänden entlang, beginne gegenüber der Eingangstür, wo ich auf einen zweitürigen Schrank und eine Kommode mit drei Schubladen stoße, in der zusätzliche Handtücher und Bettwäsche liegen. In der nächsten Wand befindet sich das Fenster, es gibt kleine Scheibengardinen und Vorhänge aus schwerem Stoff. Neben dem Fenster ist eine Garderobe, an der einige leere Bügel und ein Schirm hängen. Die dritte Wand ist kahl, bis auf die Eingangstür aus massivem Holz, und in der letzten Wand ertaste ich die Tür zum Bad neben dem Bett.

Das Bad ist winzig. Es gibt eine Dusche mit Vorhang, eine Toilette und ein kleines Waschbecken. Das taschentuchgroße Fenster ist gekippt, das Glas geriffelt, also vermutlich blickdicht.

Als ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser benetze, um die Müdigkeit zu vertreiben, fege ich ein Glas vom Beckenrand. Es zersplittert auf den Fliesen, und schlagartig überrollen mich Wut und Enttäuschung. Tränen schießen mir in die Augen.

«Dumme Kuh!», beschimpfe ich mich selbst, setze mich auf den Toilettendeckel und frage mich, wieso ich mir diese blöde Reise überhaupt angetan habe.

 

Gideon hat ein ganzes Blech Pizza zubereitet, jede Ecke anders belegt. Eigentlich sollten sein Sohn und dessen Freund mit uns essen, doch die beiden haben es sich anders überlegt. Also sind wir beide mit der riesigen Pizza allein.

Nach dem Heulkrampf im Bad ist meine Stimmung gedämpft. Ich habe die großen Scherben vorsichtig aufgesammelt, für den Rest müsste ich Gideon um Handfeger und Schaufel bitten. Aber das ist mir unangenehm. Wenn ich noch sehen könnte, hätte es mir vermutlich kaum etwas ausgemacht, gleich bei meiner Ankunft etwas kaputt zu machen, das passiert eben. So jedoch hat das kleine Missgeschick eine ganz andere Bedeutung.

«Du bist bestimmt müde von der langen Zugfahrt», sagt Gideon.

«Ein wenig.» Ich habe meinen Teller kaum angerührt. Es fällt mir noch immer schwer, in Gegenwart von Fremden zu essen. Ich fühle mich beobachtet, habe Angst davor, mich zu bekleckern, ohne es zu bemerken.

«Dann möchtest du dich vermutlich sofort zurückziehen.»

«Nein.» Ich schreie das Wort fast. Mir graut vor der langen Nacht, in der ich vermutlich wieder kaum schlafen werde, an einem fremden Ort, in einem fremden Bett, mit fremden Geräuschen hinter der dünnen Bretterwand. Mit einem Mal verspüre ich den Drang, meinen Aufenthalt hier schnell hinter mich zu bringen. Ich habe ein Rückfahrticket für Freitag, also in sechs Tagen, aber vielleicht sind wir ja früher fertig.

«Ich würde gern mit den Bildern anfangen.» Ich räuspere mich. «Falls du nichts anderes vorhast.»

«Natürlich habe ich nichts anderes vor», erwidert er. «Wir können den Wein in mein Arbeitszimmer mitnehmen.»

Ich folge ihm in eine Art Wintergarten, durch dessen Scheiben man, wie er mir versichert, den Waldrand mit der Gartenlaube davor sieht. Für eine Sekunde ist mir die Vorstellung unangenehm, dass er hier am Fenster stehen und mich beobachten könnte, auch wenn er aus dieser Entfernung bestimmt keine Details durch das kleine Fenster der Laube erkennen kann.

Gideon schichtet Holzscheite im Kamin auf und macht Feuer, obwohl es kein besonders kühler Abend ist. Das Knistern und die Wärme beruhigen mich, der Anflug von Panik eben am Küchentisch kommt mir mit einem Mal lächerlich vor.

«Erzähl mir zuerst noch einmal alles, was du über den Jungen weißt», bitte ich ihn, nachdem ich in einem Korbsessel Platz genommen habe.

«Das ist leider nicht viel», sagt Gideon.

Ich höre, wie er Papiere raschelnd zur Seite legt und seinen Stuhl vom Schreibtisch weg in meine Richtung dreht. Ich stelle mir ein riesiges altes Monstrum aus schwerem dunklen Holz vor, das direkt vor der Fensterscheibe steht, sodass er beim Arbeiten hinausschauen kann. Der Stuhl ist ebenfalls aus Holz, das Leder, mit dem er überzogen ist, spröde und rissig.

«Er war ein Patient deines Vorgängers», helfe ich ihm auf die Sprünge.

«Ja. Dr. Fahrenbach kam ziemlich unerwartet vor zwei Jahren ums Leben. Ich wohnte damals in Bergen, und meine Frau … Lisa, sie war wenige Monate zuvor ebenfalls gestorben.»

Er holt hörbar Luft.

«Jedenfalls sah ich es als Chance für einen Neuanfang, kaufte dieses Haus hier und übernahm einen Großteil seiner Patienten. Im Nachhinein betrachtet, habe ich wohl ziemlich überstürzt gehandelt, meinen Sohn zu früh nach dem Verlust der Mutter entwurzelt. Ich wollte weg, raus aus dem Haus, in dem ich mit Lisa glücklich gewesen war. Aber für Finn war das eine weitere Traumatisierung. Inzwischen hat er sich jedoch gut eingelebt.»

«Das war bestimmt alles nicht leicht», sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt. Ich weiß, dass seine Frau Krebs hatte, und kann nur ahnen, wie schlimm es sein muss, seinem Partner beim langsamen Sterben zuzusehen, ohne helfen zu können.

«Schon okay. Ich bin drüber hinweg. Und Finn auch. Meistens jedenfalls.» Ich höre, wie er nach seinem Weinglas greift und einen Schluck nimmt. «Jedenfalls dauerte es Monate, bis ich mich hier eingelebt und mir einen Überblick über die Akten verschafft hatte. Zumal die meisten Patienten sich von allein meldeten. So fiel mir die dünne Mappe erst im darauffolgenden Jahr auf. Sie lag ganz unten im Fach mit den aktuellen Patienten, doch es war nichts darin, bis auf das Bild und eine rätselhafte Notiz.»

«Was denn für eine Notiz? Die hast du gar nicht erwähnt, als du mich im vergangenen Jahr kontaktiert hast.»

«Ich wollte dich nicht beeinflussen. Sie hätte dir auch nicht bei der Interpretation des Bildes geholfen.»

«Und wie lautet sie?»

«Es sind nur vier Worte: ‹Dringend mit Gerrit sprechen›. Und drei Ausrufezeichen. Der Zettel war mit einer Büroklammer an der Zeichnung befestigt.»

«Wer ist Gerrit?»

«Das habe ich noch nicht herausgefunden. Dafür habe ich beim Sortieren der alten Akten weitere Zeichnungen entdeckt, die eindeutig von demselben Jungen stammen. Sie lagen lose in einem Karton, sind wahrscheinlich aus einem Ordner herausgerutscht.»

«Wieso bist du eigentlich so sicher, dass es ein Junge ist, der die Bilder gemalt hat? Waren doch noch weitere Informationen in der Mappe?»

«Du warst doch diejenige, die gesagt hat, dass das Bild höchstwahrscheinlich von einem Jungen im Vorschulalter gemalt wurde.»

«Hm.» Ich habe den Verdacht, dass Gideon mir etwas verschweigt. Aber warum sollte er das tun? Er wollte unbedingt, dass ich komme und die Bilder analysiere. Bestimmt bin ich überempfindlich. Dies ist mein erster richtiger Job, wenn man es so bezeichnen kann, seit ich erblindet bin. Es ist ein vorsichtiger Schritt zurück ins Leben, zwar nicht in mein altes Leben, dahin führt kein Weg zurück, aber doch in eins, in dem ich nicht nur eine Last für mich selbst und alle Menschen um mich herum bin.

Gideon schenkt Wein nach. «Ich bin dabei, die Sachen von Dr. Fahrenbach durchzusehen. Leider habe ich bei meinem Einzug alle Unterlagen, die älter als ein Jahr waren, einfach in Kartons gepackt und im Schuppen neben dem Haus verstaut, ohne sie irgendwie zu sortieren. Also muss ich alles Stück für Stück sichten. Ungefähr die Hälfte habe ich durch, ich bin sicher, dass ich bald auf die Akte stoße.»

«Und wenn es gar keine gibt? Vielleicht war das Kind nur dieses eine Mal in Behandlung. Oder jemand anders hat Dr. Fahrenbach das Bild gezeigt, so wie du mir.»

«Du vergisst die vier weiteren Bilder, die ich gefunden habe.»

«Was macht dich so sicher, dass sie von demselben Jungen stammen?»

«Wenn du sie sehen könntest …» Er räuspert sich. «Entschuldige, das war blöd von mir.»

«Schon okay.» Wieder durchzuckt mich die Frage, warum Gideon die Zeichnungen ausgerechnet einer blinden Expertin zeigen wollte. Ich schiebe sie weg, versuche, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. «Beschreib sie mir.»

Der Stuhl dreht sich knarrend, dann raschelt Papier.

«Ich habe die Blätter nebeneinander vor mir auf dem Schreibtisch liegen», sagt Gideon.

Ich höre ihn schlucken, bin nicht sicher, ob er trinkt oder der Anblick der Bilder ihn so verstört.

«Gut, dann mal los. Alle fünf Blätter sind ausschließlich in den Farben Rot und Schwarz bemalt», beginnt er. «Und alle haben dieselbe Figur im Zentrum, wenn auch jedes Mal in leicht veränderter Form. Ein Wesen, halb Kind, halb Monster, mit spitzen Zähnen und klauenartigen Händen.»

Zehn Minuten später verstehe ich, warum Gideon so besorgt ist. Das Bild, das er mir im vergangenen Jahr geschickt hat, ist verstörend genug gewesen, hat tief in die Gefühlswelt eines schwer traumatisierten Kindes blicken lassen.

Die neuen jedoch sind ungleich schlimmer. Wer auch immer diese Bilder gemalt hat, muss Furchtbares erlebt haben. Und er hat sein Leid in brutale Gewaltphantasien verwandelt, die er jederzeit in die Tat umsetzen kann. Dieses Kind, wo immer es steckt, ist eine tickende Zeitbombe.

Sonntag, 16. September

Am nächsten Morgen werde ich von einem lauten Knall geweckt. Kurz darauf knallt es wieder, und ich erkenne, dass irgendwer eine Autotür zugeworfen hat. Erleichtert schlage ich die Decke zurück. Wider Erwarten habe ich tief geschlafen. Vermutlich war ich einfach zu erschöpft, um lange zu grübeln.

Am Gesang der Vögel draußen im Garten erkenne ich, dass die Nacht vorbei ist. Ich taste mich zum Fenster und ziehe die Vorhänge ein Stück zurück. Warmes Sonnenlicht fällt auf mein Gesicht.

Unter der Dusche kommen mir die Bilder wieder in den Sinn. Der unbekannte Junge hat jedes Mal das gleiche Motiv gemalt, allerdings in Variationen. Im Zentrum ist immer eine Gestalt, mit der er sich offenbar selbst darstellt. Er hat sich als hässliches Monster mit einer Art zackiger Krone auf dem Kopf gemalt. In seinem Gesicht dominiert der riesige Mund voller spitzer Zähne, die Augen sind zu Schlitzen zusammengezogen. Beides steht für starke Aggressionen.

Auf dem Bild, das Gideon mir vor einem Jahr geschickt hat und das ich für das erste der Serie halte, hat dieser Monsterjunge keine Hände und keine Füße. Eine Selbstdarstellung ohne Hände ist ein Symbol dafür, dass der Zeichner sich handlungsunfähig und wehrlos fühlt. Er kann die Wut, die ihm ins Gesicht gemalt ist, nicht nach außen kehren, sie brodelt in seinem Innern. Und ohne Füße kann er sich nicht vom Fleck bewegen, kann er der schrecklichen Situation nicht entfliehen.

In den weiteren Bildern werden aus den Händen erst spitze Klauen, dann scherenartige Waffen. Die Füße stecken nun in schweren, mit Dornen bewehrten Stiefeln. Die anderen Gestalten, die auf dem ersten Bild noch an den Rändern zu sehen waren und die möglicherweise seine Familie darstellen sollen, sind auf den letzten Bildern verschwunden. Aus dem traumatisierten Jungen, der sich von seiner Familie nicht verstanden fühlt, ist ein isolierter Einzelkämpfer geworden, der die ganze Welt zum Feind hat.

Ich drehe das Wasser ab und greife nach dem Handtuch, das ich bereitgelegt habe. All diese Spekulationen führen zu nichts, solange ich nicht mehr über das Kind weiß. Es ist unseriös, ein Bild zu analysieren, ohne die Lebensumstände des Zeichners zu kennen, ebenso wie den Kontext, in dem das Bild entstanden ist. Ich müsste wissen, ob der Junge zum Beispiel von dem Therapeuten gebeten wurde, sich selbst zu malen, oder ob er das Monster auf Papier bannen sollte, das nachts unter seinem Bett liegt.

Es könnte auch sein, dass der Junge die Bilder gemalt hat, nachdem er heimlich eine Nacht mit der Horrorfilmsammlung seines großen Bruders verbracht hat. Dann wären sie lediglich ein Versuch, Eindrücke zu verarbeiten, mit denen sein junges Gehirn völlig überfordert war.

Oder der Junge hat mit einem anderen Kind gemeinsam am Tisch gesessen und dessen Bilder kopiert. Auch das kommt häufig vor.

Ich wickle mir das Handtuch um und steige in meine Hausschuhe. Scherben knirschen unter den Sohlen, die Reste des Glases. Heute werde ich Gideon um Handfeger und Schaufel bitten, egal wie blöd ich mir dabei vorkomme. Vorsichtig greife ich nach der Zahnpastatube und drücke mir einen Streifen auf den Zeigefinger, den ich dann auf die Bürste streiche. So stelle ich sicher, dass nicht die Hälfte von dem Zeug im Waschbecken landet.

Während ich mir die Zähne putze, überkommt mich plötzlich das Gefühl, nicht allein im Raum zu sein. Seit ich blind bin, geschieht das häufig. Aber manchmal ist das Unbehagen besonders intensiv.

Früher, als ich noch ganz klein war, hat meine Oma mir von einer Schreckensgestalt aus ihrer fränkischen Heimat erzählt, dem Nachtgiger. Das ist ein Monster, das nachts durch die Straßen streift und Kinder fängt und frisst. Bei ihren Geschichten sind mir immer wohlige Schauder über den Rücken gelaufen, denn ich lag sicher in meinem Bett, und der Nachtgiger dringt niemals in Häuser ein. Dabei stellte ich ihn mir als schwarze Gestalt mit wehendem Umhang vor, die mit langen Schritten durch verwinkelte nächtliche Gassen hastet, eine Laterne in der Hand, um die Kinder aufzuspüren, die sich in Hauseingängen und Nischen versteckt haben.

Nach dem Tod meiner Eltern und als auch meine Oma längst gestorben war, wandelte ich den Nachtgiger in meiner Phantasie in meinen Beschützer um. Er war jetzt mein Leibwächter, mein mächtiger Schatten, der alles Böse von mir fernhielt. Vor allem in den Wochen im Heim, bevor ich adoptiert wurde, klammerte ich mich an diese Vorstellung. Da war der Nachtgiger so real für mich, dass ich ihn sogar zu sehen glaubte.

Irgendwann brauchte ich ihn dann nicht mehr, denn meine neuen Eltern beschützten mich nun. Er zog sich in die Schatten zurück, und ich vergaß ihn.

Bis zum vergangenen Herbst. Da tauchte er eines Tages wieder auf, ganz unvermittelt stand er vor mir, als ich schon fast nichts mehr sehen konnte, und verkündete, dass er zurückgekommen sei, weil ich erneut seine Hilfe bräuchte.

Allerdings hatte der Nachtgiger seit meiner Kindheit sein Aussehen verändert. Er war nicht mehr der schwarze Hüne ohne Gesicht, sondern hatte auffällige Ähnlichkeit mit dem Monster auf dem Kinderbild, das ich wenige Wochen zuvor so intensiv studiert hatte. Seither begleitet der Nachtgiger mich in neuer Gestalt, taucht manchmal auf, wenn ich nicht damit rechne, und noch immer bin ich nicht sicher, ob er mich wirklich beschützen will oder nur auf den richtigen Moment wartet, um mir den Rest zu geben.

Gestern habe ich mit Gideon vereinbart, dass er schnellstmöglich die alten Akten durchgeht. Irgendwo müssen weitere Informationen über den Jungen stecken. Außerdem will er noch einmal versuchen herauszufinden, wer diese oder dieser mysteriöse Gerrit ist. Es könnte sich um den Vater des Jungen handeln. Oder um eine Lehrerin. Oder um eine Kollegin, die Fahrenbach zu Rate ziehen wollte.

Wieder frage ich mich, warum Gideon so sehr an dem Fall interessiert ist. Wahrscheinlich ist dieses Kind schwer gestört und potenziell gefährlich. Aber das allein scheint mir als Beweggrund nicht auszureichen. Er ist nicht Gideons Patient, Gideon kennt ihn nicht einmal. Oder doch?

Ich habe den Verdacht, dass Gideon weiß, wer der Junge ist, und es absichtlich verschweigt. Aber warum sollte er das tun?

 

Als ich das Haus durch die Hintertür betrete, empfängt mich der Duft von Kaffee. Ich folge ihm in die Küche. Schwach nehme ich unter dem Kaffeearoma den Geruch nach überreifem Obst wahr und nach der riesigen Pizza, deren Reste noch irgendwo stehen müssen. Und da ist noch etwas, das ich nicht einordnen kann, etwas Fremdes, das mich instinktiv wachsam werden lässt.

Kaum habe ich einen Schritt in den Raum gemacht, ertönt ein kratzendes Geräusch, als würde ein Stuhl über den Boden schaben, und im gleichen Augenblick höre ich jemanden atmen.

«Gideon?»

Keine Antwort.

Doch ich bin sicher, dass jemand in der Küche ist. Mein Herz schlägt schneller, ich unterdrücke die aufsteigende Panik, die Erinnerungen an das Gebüsch im Park, wo der Angreifer mir aufgelauert hat.

«Wer ist da?», frage ich in die unheimliche Stille. Ganz gelingt es mir nicht, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken.

«Papa ist nicht da.»

«Oh.» Erleichtert reibe ich mir die schweißfeuchten Finger an der Hose trocken. «Du musst Finn sein. Ich bin Jenny.»

Ich strecke die Hand aus, doch niemand ergreift sie.

«Dein Vater hat mir erzählt, dass du bei deinem Freund schlafen wolltest», sage ich in die Richtung, aus der die Stimme kam. «Deshalb habe ich nicht mit dir gerechnet. Du hast mir einen ganz schönen Schreck eingejagt.»

«Muss nur meine Sportsachen holen.» Er rührt sich nicht von der Stelle. Die Stille hat etwas Feindseliges.

«Es riecht nach Kaffee», breche ich das Schweigen. «Könntest du mir sagen, wo er steht? Ich hätte gern eine Tasse.»

«Nein.»

Ich schlucke. «Okay, dann muss ich sie wohl selbst finden.»

Stück für Stück taste ich mich an der Arbeitsplatte entlang. Ich erspüre den Herd, die Spüle, dann eine Arbeitsfläche, auf der ein Toaster und ein Wasserkocher stehen. Schließlich stoße ich auf die Kaffeemaschine, die Kanne steht auf der Wärmplatte und ist heiß.

«Gefunden!», rufe ich. «Jetzt noch eine Tasse.» Ich strecke die Arme nach oben, in der Hoffnung, auf Oberschränke zu stoßen. «Könntest du nicht wenigstens ‹heiß› und ‹kalt› sagen, Finn?», bitte ich ihn, in der Hoffnung, dass ein Spiel das Eis bricht.

«Nein!»

Ich taste mich weiter, frage mich dabei, warum Finn so aggressiv ist, ob es an mir liegt, an meiner Blindheit, die ihn verunsichert, oder ob er sich allen Fremden gegenüber so abweisend verhält. Ich würde ihn gern fragen, was sein Vater ihm über mich erzählt hat, aber ich fürchte, dass ich keine Antwort bekommen würde.