Das Gesicht meines Mörders - Sophie Kendrick - E-Book
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Das Gesicht meines Mörders E-Book

Sophie Kendrick

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Beschreibung

Sie muss sich erinnern, um zu überleben. Als Clara aus dem Koma erwacht, ist ihr bisheriges Leben wie ausgelöscht. Sie erinnert sich weder an ihren eigenen Namen noch an ihren Ehemann, den Schriftsteller Roland Winter. Auch nicht an den Einbrecher, der sie niedergeschlagen haben soll. Freunde scheint sie keine zu haben – Roland ist ihre einzige Verbindung zur Vergangenheit. Mit seiner Hilfe wagt Clara einen Neuanfang. Bis jemand versucht, sie umzubringen. Und die junge Frau begreift, dass sie sich erinnern muss, um zu überleben. Schritt für Schritt rekonstruiert Clara ihr Leben und stößt auf eine geheimnisvolle Frau, mit der sie am Tag des Unglücks verabredet war. Und die seither spurlos verschwunden ist. «Liebling!» Ein Strahlen breitet sich auf dem Gesicht des Mannes aus. Er hat überraschend helle blaue Augen. «Wie fühlst du dich?» Liebling. Ich starre ihn an. Ich habe ihn noch nie im Leben gesehen. Zahllose Fragen liegen mir auf der Zunge. Wer sind Sie? Was machen Sie hier? Was ist mit mir passiert? Doch als ich den Mund öffne, bringe ich nur ein heiseres Krächzen zustande. Der Mann beugt sich vor. «Das kommt von den Schläuchen», sagt er mit sanfter Stimme. «In ein paar Tagen ist das abgeheilt.» Er sieht mich besorgt an. «Erinnerst du dich …?» Ich schüttele den Kopf. Ich muss ihn fragen, wer er ist. Mein Freund? Mein Mann? Mein Bruder? «Wer …?» Noch während ich das Wort krächze, fällt mir eine viel wichtigere Frage ein. «Wer bin ich?» Der Mann starrt mich an. «Du – du weißt nicht …?» Ich bewege den Kopf hin und her. «Dein Name ist Clara Winter. Du bist meine Frau. Wir sind seit zwei Jahren verheiratet. Ich bin Roland Winter. Wir leben in Berlin. Ich bin Schriftsteller, und du …» Ich schließe die Augen. Am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten und laut «Halt» schreien, doch dazu habe ich nicht die Kraft. Zu viele Informationen auf einmal. Als würde ich von einem Güterzug voller Wörter überrollt. Clara Winter. Der Name sagt mir nichts. Ich spüre ihn nicht. Kann es passieren, dass man sich selbst vergisst?

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Sophie Kendrick

Das Gesicht meines Mörders

Psychothriller

Über dieses Buch

Sie muss sich erinnern, um zu überleben.

 

Als Clara aus dem Koma erwacht, ist ihr bisheriges Leben wie ausgelöscht. Sie erinnert sich weder an ihren eigenen Namen noch an ihren Ehemann, den Schriftsteller Roland Winter. Auch nicht an den Einbrecher, der sie niedergeschlagen haben soll. Freunde scheint sie keine zu haben – Roland ist ihre einzige Verbindung zur Vergangenheit. Mit seiner Hilfe wagt Clara einen Neuanfang. Bis jemand versucht, sie umzubringen. Und die junge Frau begreift, dass sie sich erinnern muss, um zu überleben. Schritt für Schritt rekonstruiert Clara ihr Leben und stößt auf eine geheimnisvolle Frau, mit der sie am Tag des Unglücks verabredet war. Und die seither spurlos verschwunden ist.

 

«Liebling!» Ein Strahlen breitet sich auf dem Gesicht des Mannes aus. Er hat überraschend helle blaue Augen. «Wie fühlst du dich?»

Liebling. Ich starre ihn an. Ich habe ihn noch nie im Leben gesehen.

Zahllose Fragen liegen mir auf der Zunge. Wer sind Sie? Was machen Sie hier? Was ist mit mir passiert? Doch als ich den Mund öffne, bringe ich nur ein heiseres Krächzen zustande.

Der Mann beugt sich vor. «Das kommt von den Schläuchen», sagt er mit sanfter Stimme. «In ein paar Tagen ist das abgeheilt.» Er sieht mich besorgt an. «Erinnerst du dich …?»

Ich schüttele den Kopf. Ich muss ihn fragen, wer er ist. Mein Freund? Mein Mann? Mein Bruder?

«Wer …?» Noch während ich das Wort krächze, fällt mir eine viel wichtigere Frage ein. «Wer bin ich?»

Der Mann starrt mich an. «Du – du weißt nicht …?»

Ich bewege den Kopf hin und her.

«Dein Name ist Clara Winter. Du bist meine Frau. Wir sind seit zwei Jahren verheiratet. Ich bin Roland Winter. Wir leben in Berlin. Ich bin Schriftsteller, und du …»

Ich schließe die Augen. Am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten und laut «Halt» schreien, doch dazu habe ich nicht die Kraft. Zu viele Informationen auf einmal. Als würde ich von einem Güterzug voller Wörter überrollt.

Clara Winter. Der Name sagt mir nichts. Ich spüre ihn nicht.

Kann es passieren, dass man sich selbst vergisst?

Vita

Sophie Kendrick lebte in verschiedenen europäischen Ländern, unter anderem in Großbritannien, wo sie englische Literatur studierte und über die Schwestern Brontë forschte. Sie arbeitete in einer Agentur für Buchprojekte und als Ghostwriterin, bevor sie ihren ersten eigenen Roman schrieb.

Mitreißend erzählt Sophie Kendrick vom Schicksal ihrer Heldin, die aufgrund einer Amnesie jede Gewissheit über sich und ihr Leben verloren hat.

Auslöschung

Das Wasser ist schwarzgrün. So dunkel, dass ich nicht weiß, wo oben und wo unten ist. Ich spüre es nur an dem Sog, der mich in die Tiefe zieht. Ich muss hoch, an die Oberfläche, doch sie scheint unendlich weit weg. Ich rudere mit den Armen, strample mit den Füßen, aber etwas hält mich fest, hält meine Fesseln umschlungen, zerrt mich hinab in die ewige Finsternis.

Der Wassermann. Der Nöck. Er will meine Seele haben.

Aber ich gebe sie nicht her. Ich darf nicht bei ihm bleiben. Hier unten kriege ich keine Luft. Ich muss zurück an Land. Ich will nicht ertrinken.

Ich strample kräftiger mit den Füßen, etwas Kaltes streift meine nackte Haut, ich schaudere. Endlich löst sich der Griff um meine Fesseln. Hektisch paddle ich davon, dorthin, wo ich die Wasseroberfläche vermute. Richtig schwimmen kann ich nicht, meine Bewegungen sind unbeholfen, ich wühle das grüne Wasser auf, komme aber nur langsam voran.

Endlich wird es heller, ich habe es fast geschafft. Ein kräftiger Stoß noch, und ich breche durch die Oberfläche.

Grelles Licht blendet mich. Ich kneife die Augen zu, schnappe japsend nach Luft. Doch ich kann mich nicht oben halten. Schon schwappt das Wasser wieder über mir zusammen, etwas Schweres zieht mich langsam in die Tiefe. Ich habe nicht die Kraft, mich dagegenzustemmen.

Langsam gleite ich zurück ins Reich des Wassermanns.

 

Als ich erneut erwache, kommt mir das Wasser nicht mehr ganz so dunkel vor. Das Grün ist milchig-trüb und scheint zu leuchten. Ich bewege mich mit großen ruhigen Stößen nach oben. Keine Panik. Keine Angst vorm Wassermann.

Wieder ist es gleißend hell, als ich die Oberfläche erreiche, doch diesmal bin ich darauf gefasst, schließe rechtzeitig die Augen.

Ich verschnaufe kurz. Um mich herum ist Stille, durchbrochen von einem regelmäßigen Piepsen. Ich rühre mich nicht, lausche dem Ton. Er ist beruhigend, fast wie ein Herzschlag. Etwas drückt auf mein Gesicht. Ich will es wegstreichen, doch ich kann meinen Arm nicht bewegen.

Schließlich öffne ich vorsichtig die Augen. Das Licht ist grell, aber es blendet mich nicht. Ich sehe nackte weiße Wände. Ein Fenster, die Vorhänge sind zugezogen. Eine Leuchtstoffröhre an der Decke. Ich drehe den Kopf auf die andere Seite, nur ein kleines Stück, und erschrecke zu Tode. Da sitzt ein Mann auf einem Stuhl, völlig reglos, und sieht mich an.

Als unsere Blicke sich treffen, reißt er die Augen auf. «Liebling, du bist wach!»

Ich will etwas erwidern, aber ich weiß nicht, was. Außerdem habe ich noch immer dieses Ding auf dem Gesicht.

Der Mann springt auf. Ich spüre, wie er meine Hand ergreift. Hinter ihm wird eine Tür aufgestoßen, eine junge Frau in weißer Tracht kommt herein, gefolgt von einem Mann. Graues Haar, grauer Bart, er hat Ähnlichkeit mit dem Wassermann.

Mit einem Mal bin ich unendlich müde. Ich kann die Augen nicht länger offen halten. Ich höre, wie der grauhaarige Mann mir eine Frage stellt, aber sie hallt in meinem Kopf wider, ohne dass die Worte einen Sinn ergeben.

Etwas Weiches, Grünes hüllt mich ein. Ich lasse mich fallen, zurück in die Finsternis, zurück in die kalten, nackten Arme des Wassermanns.

 

Beim dritten Mal geschieht es ganz von allein, ich muss gar nichts tun. Sanft gleite ich nach oben, wache auf und bin in dem weißen Zimmer.

Der Mann, der mich Liebling genannt hat, ist eingenickt. Sein Kinn ruht auf der Brust, sein Atem geht regelmäßig, eine Strähne seiner braunen Haare ist ihm in die Stirn gefallen. Außer uns beiden ist niemand im Raum. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist.

Ich bewege den Kopf hin und her. Dabei fällt mir auf, dass nichts mehr auf mein Gesicht drückt. Ich bin erleichtert. Ich liege in einem Bett. Weiße Wäsche. Weiße Wände. Rechts ein Metallgestell, in das eine Flasche eingehängt ist. So etwas habe ich schon einmal gesehen, doch mir fällt der Name nicht ein. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich überhaupt je wusste, wie es heißt.

Dafür weiß ich jetzt, dass ich im Krankenhaus bin. Aber warum? Hatte ich einen Unfall? Ich versuche, mich zu erinnern. Nichts.

Mir wird heiß, ich kriege keine Luft, so als würde mir jemand ein Kissen aufs Gesicht drücken. Die Panikwelle verebbt zum Glück sofort wieder. Das ist völlig normal, sage ich mir. Wenn ich einen Unfall hatte, stehe ich bestimmt noch unter Schock. Mir wird früh genug wieder einfallen, was passiert ist.

Doch schon überrollt mich eine zweite Welle. Diesmal heftiger. Meine Kehle ist zugeschnürt, ich glühe vor Hitze, das Zimmer verschwimmt vor meinen Augen. Wie schwer sind meine Verletzungen? Habe ich noch alle meine Gliedmaßen? Kann ich laufen? Gelähmt vor Angst liege ich da. Als ich endlich wieder richtig atmen kann, nehme ich meinen Mut zusammen und versuche, die Beine zu bewegen. Sie sind schwer wie Blei, doch ich sehe, wie die Bettdecke sich anhebt.

Erleichtert stoße ich Luft aus.

Der Mann schreckt hoch. «Liebling!» Ein Strahlen breitet sich auf seinem Gesicht aus. Er hat überraschend helle blaue Augen. «Wie fühlst du dich?»

Liebling. Ich starre ihn an. Ich habe ihn noch nie in meinem Leben gesehen.

Zahllose Fragen liegen mir auf der Zunge. Wer sind Sie? Was machen Sie hier? Was ist mit mir passiert? Doch als ich den Mund öffne, bringe ich nur ein heiseres Knurren zustande. Mein Hals brennt, er fühlt sich wund an, wie aufgescheuert. Ich stöhne vor Schmerz.

Der Mann beugt sich vor. «Das kommt von den Schläuchen», sagt er mit sanfter Stimme. «In ein paar Tagen ist das abgeheilt. Möchtest du einen Schluck trinken?» Er deutet auf einen Becher, in dem ein Strohhalm steckt.

Ich nicke.

Er hält mir den Strohhalm an die Lippen, und ich sauge gierig. Lauwarmer Tee. Er schmeckt bitter. Ich muss husten.

«Nicht so hastig.» Er nimmt mir den Strohhalm weg, stellt den Becher ab, sieht mich besorgt an. «Alles in Ordnung?»

Ich nicke, obwohl gar nichts in Ordnung ist.

«Erinnerst du dich …?» Er bricht ab.

Ich schüttele den Kopf.

Er runzelt die Stirn, betrachtet mich mit zusammengekniffenen Augen. Ich sehe, wie es in ihm arbeitet. Etwas beschäftigt ihn. Er öffnet den Mund, schließt ihn aber wieder.

Ich muss ihn fragen, wer er ist. Mein Freund? Mein Mann? Mein Bruder?

«Wer …?» Noch während ich das Wort krächze, fällt mir eine viel wichtigere Frage ein. «Wer bin ich?»

Der Mann starrt mich an. «Du – du weißt nicht …?»

Ich bewege den Kopf hin und her.

Sein Blick wandert zum Fenster, dann zu seinen Händen, die gefaltet in seinem Schoß liegen, und schließlich wieder zurück zu mir. «Dein Name ist Clara, Clara Winter. Du bist meine Frau. Wir sind seit zwei Jahren verheiratet. Ich bin Roland. Roland Winter. Wir leben in Berlin. Ich bin Schriftsteller, und du …»

Ich schließe die Augen. Am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten und laut «Halt» schreien, doch dazu habe ich nicht die Kraft. Zu viele Informationen auf einmal. Als würde ich von einem Güterzug voller Wörter überrollt.

Clara Winter. Der Name sagt mir nichts. Ich spüre ihn nicht. Kann es passieren, dass man sich selbst vergisst?

Der Mann ist verstummt. Ich höre, wie er sich im Stuhl bewegt, doch ich halte die Augen fest geschlossen, tue so, als wäre ich eingeschlafen. Er soll keinesfalls weiterreden, er hat schon viel zu viel gesagt.

Plötzlich berührt er meine Hand.

Ich zucke zurück, ich will nicht, dass dieser Fremde mich anfasst.

Er lässt los. Wieder knarrt der Stuhl. Kurz darauf höre ich eine Tür zufallen. Stille kehrt ein. Erleichtert stoße ich den Atem aus. Er ist weg. Ich bin allein im Zimmer. Als ich die Augen öffne, fällt mein Blick als Erstes auf das Gestell neben meinem Bett, und plötzlich weiß ich den Namen wieder: Infusionsständer. Hoffnung prickelt durch meinen Körper, vielleicht kommt alles andere ja genauso zurück wie dieses Wort.

 

Die nächsten Stunden verbringe ich damit, in jeder wachen Minute den Namen vor mich hin zu sagen.

Clara Winter. Clara Winter.

Ich suche nach einer Erinnerung, einem Echo in meinem Inneren. Aber da ist nichts. Absolut nichts. Es ist einfach nur ein Name. Clara Winter ist eine Fremde.

Eben war eine Krankenschwester im Zimmer, um mir Tabletten zu verabreichen. Sie trug ein Namensschild, auf dem SCHWESTER DAGMAR stand. Sie hat mich mit Frau Winter angesprochen. Es muss also stimmen. Ich bin Clara Winter, verheiratet mit einem Mann, der strahlend blaue Augen hat, Roland heißt und Schriftsteller ist. Ich bin mit einem Schriftsteller verheiratet. Wir wohnen in Berlin.

Aber das sind alles leere Informationen. Ich habe keinerlei Bezug dazu. Keine Erinnerungen. Nicht an mich, nicht an mein Leben, meine Kindheit, meine Ehe mit Roland Winter, mein Zuhause. Da ist nur ein gähnendes schwarzes Loch. Als wäre ich in dem Moment, als ich aus dem Grün des Sees ins Licht stieß, neu geboren worden. Was ich über mich und über mein Leben weiß, hat ein Fremder mir erzählt.

Ich kann mich kaum länger als einige Minuten wach halten. Ständig nicke ich ein. Eben sank ich in meinem Traum zum ersten Mal nicht auf den Seegrund.

Erst war ich erleichtert. Ich ging durch ein Haus, helle Räume, hohe Decken, vielleicht war es das Haus, in dem ich wohne. Ich strich mit den Fingern über den Bezug des cremefarbenen Sofas, ließ meinen Blick durch das geöffnete Fenster in den weitläufigen Garten schweifen, der nach frisch gemähtem Gras duftete und von den vielen blühenden Stauden bunt gesprenkelt war.

Doch plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, wurde es dunkel. Schwarzer Rauch hüllte mich ein, ich bekam keine Luft. Angst erfüllte mich, viel schlimmer als in dem See, denn die Dunkelheit war absolut, kein Funke Licht, kein Ort, an den ich fliehen konnte. Der Rauch schnürte mir die Kehle zu, mir wurde schwindelig, ich war sicher, dass ich sterben würde.

Ich muss im Traum geschrien haben, denn als ich die Augen aufschlug, beugte sich Roland über mich und redete beruhigend auf mich ein.

Er hat eine tiefe, warme Stimme. «Nur ein Traum, Liebes, es war nur ein Traum.»

Ich konnte sein Aftershave riechen, die Wärme seiner Haut spüren. Seine Nähe war mir unangenehm. Doch ich zwang mich, nicht von ihm abzurücken. Als mein Herzschlag sich normalisiert hatte, fragte ich ihn, warum ich im Krankenhaus bin.

Seine Lippen wurden schmal, er fasste meine Hand und küsste sie. «Du hast einen Einbrecher überrascht, er hat dich niedergeschlagen. Als ich dich auf dem Boden liegen sah, dachte ich, du wärst tot.» Seine Augen schimmerten feucht.

Komischerweise war ich erleichtert. Ein Einbrecher erschien mir weniger bedrohlich als ein Feuer.

 

Roland schiebt mich im Rollstuhl über den Krankenhausflur. Ich komme mir albern vor, schließlich sind meine Beine völlig in Ordnung. Aber ich bin zu schwach zum Laufen. Als ich es vorhin probiert habe, bin ich in seine Arme gestrauchelt.

Die Berührung war wie ein Stromschlag, und ich bin vor Schreck erstarrt. Ich weiß, er ist mein Ehemann, und er hat mich bestimmt schon tausend Mal angefasst. Doch für mich ist er ein Fremder.

Ich bin sicher, dass er meine Befangenheit gespürt hat. Da war etwas in seinen Augen. Aber er hat sich nichts anmerken lassen. «Wir nehmen wohl doch besser den Rollstuhl», hat er gesagt und mich vorsichtig hineingesetzt.

Eine Reihe von Ärzten hat mich untersucht. Der erste, ein blutjunger Kerl mit Brille, hat mir seinen Finger vor das Gesicht gehalten. Ich sollte ihm mit den Augen folgen. Mir ist ganz schwindelig geworden, aber es ist mir nicht schwergefallen. Dann musste ich ein Puzzle legen und auf einer Karte Farben und Formen bestimmen. Schließlich hat er mir eine Reihe Fragen gestellt. In welchem Land wir uns befinden. Welches Jahr wir schreiben. Wer uns regiert. Wie der zaubernde Junge mit der Narbe auf der Stirn heißt.

Ich hatte keine Mühe, seine Fragen zu beantworten, auch wenn ich mir mit dem Jahr nicht ganz sicher war. Doch als er mich fragte, wo ich zur Schule gegangen bin, wie meine Eltern heißen und was meine Lieblingsfarbe ist, musste ich passen.

Ich brach in Tränen aus.

Roland tröstete mich behutsam, ohne mir zu nahe zu kommen. Ich ließ es über mich ergehen, obwohl ich mich dadurch noch elender fühlte.

Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, wurde ich fürs EEG verkabelt. Anschließend wurde ich in eine MRT-Röhre geschoben, wo ein Bild von meinem Gehirn gemacht wurde, so als wäre es in kleine Scheiben geschnitten.

Nun sind alle Untersuchungen abgeschlossen. Der Chefarzt will nachher mit mir sprechen, so lange soll ich mich in meinem Zimmer ausruhen.

Roland schiebt mich vor das Bett und hängt die Flasche um. Vom Rollstuhl zurück an den Infusionsständer. Als er Anstalten macht, mir beim Aufstehen zu helfen, winke ich ab.

«Ich möchte das allein schaffen.»

«Okay.» Er tritt zurück.

«Ganz allein.» Ich blicke auffordernd in Richtung Tür.

Er zögert. «Und wenn du stürzt?»

«Dann stehe ich wieder auf.»

«Also gut.» Er will noch etwas sagen, doch er bringt es nicht heraus.

Ich komme mir schäbig vor. Roland tut alles für mich, er ist fürsorglich, rücksichtsvoll, bemüht sich, mir jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Und ich behandle ihn wie einen lästigen Verehrer, der nicht begreift, was ein Nein ist.

Er ist mein Mann, er liebt mich.

Und ich liebe ihn auch. Ganz bestimmt. Ich habe es nur vergessen.

Ich beiße die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. «Bitte hol mich ab, wenn es Zeit ist für das Gespräch mit dem Chefarzt.»

Er nickt. Lächelt verlegen. Sieht ein bisschen aus wie Hugh Grant. Dann ist er weg.

Einen Moment lang sitze ich einfach nur da und starre auf die Tür. Ich versuche, in mich hineinzuhören. Doch da ist nichts. Als wäre ich eine leere Hülle. Ein Android. Eine menschenähnliche Maschine ohne Seele.

Ich erinnere mich an Harry Potter und Hugh Grant, aber nicht an mich selbst. Wie ist das möglich?

Entschlossen stemme ich mich aus dem Rollstuhl hoch. Es ist anstrengend, Schweiß läuft mir den Rücken hinunter, doch ich gebe nicht auf. Mit festem Griff packe ich den Infusionsständer und tapse Schritt für Schritt auf das Bad zu. Ich schalte das Licht ein. Über dem Waschbecken hängt ein großer Spiegel.

Ich nehme meinen Mut zusammen, blicke hinein.

Und fahre erschrocken zurück. Ein schmales, blasses Gesicht starrt mich an. Riesige blaue Augen. Bleiche Wangen. Kurze Stoppeln auf dem Schädel. Ich sehe aus wie eine Strafgefangene.

Nachdem der erste Schreck abgeklungen ist, hebe ich die rechte Hand und fahre mir mit den Fingern über den Kopf. Ich berühre vorsichtig die Stoppeln, sie sind überraschend weich. Auf dem Hinterkopf ertaste ich eine Kompresse. Hier hat mich der Einbrecher verletzt. Ich habe vergessen zu fragen, womit er mich niedergeschlagen hat. Langsam bewege ich den Kopf hin und her, aber es ist unmöglich, zu sagen, welche Farbe meine Haare haben. Sie könnten braun sein wie die von Roland, aber auch dunkelblond. Oder rot.

Ich blicke an mir hinunter. Ein weißes Krankenhausnachthemd, das kaum meinen Oberkörper bedeckt. In der rechten Hand steckt der Zugang mit dem Schlauch daran. Die Finger sind lang und schlank. Kein Nagellack. Das gefällt mir.

Ich nehme meinen Mut zusammen und streife das Krankenhaushemd ab. Gar nicht so einfach mit dem Schlauch an meiner Hand. Ich muss die Flasche abhängen und durch den Ärmel fädeln. Das Hemd fällt lautlos zu Boden.

Mein Körper ist nicht ganz so bleich wie mein Gesicht, die Haut sieht aus, als würde sie häufiger die Sonne sehen. Da ist eine Grundfärbung, vor allem auf den Unterarmen und auf den Beinen, als wäre ich viel an der frischen Luft. Ich bin schlank, fast mager, meine Brüste sind klein, irgendwie mädchenhaft. Ich bin ein bisschen enttäuscht.

Ein Geräusch auf dem Flur lässt mich zusammenzucken. Als ich mich nach meinem Hemd bücke, erfasst mich ein Schwindel. Ich muss mich am Waschbecken festhalten.

Es dauert ewig, bis ich wieder angezogen bin. Als ich am Bett ankomme, bin ich völlig erschöpft. Ich ziehe die Decke bis zum Hals und schlafe augenblicklich ein.

 

Wieder schiebt Roland mich durch endlos lange Korridore. Ich habe eine Wolldecke auf den Oberschenkeln. Roland hat versprochen, mir beim nächsten Mal einen Schlafanzug mitzubringen, damit ich mich nicht mehr so nackt fühle. Er ist schweigsam, und auch mir ist nicht nach Reden zumute. Ich habe Angst vor dem Gespräch mit dem Arzt. Was, wenn er mir sagt, dass ich mich nie wieder an mich selbst erinnern werde? Außerdem fühle ich mich hässlich, seit ich das bleiche Gesicht, die Stoppelfrisur und die winzigen Brüste im Spiegel gesehen habe.

Was findet ein Mann wie Roland an mir? Einer, der aussieht wie ein Filmstar und Umgangsformen hat wie ein Gentleman alter Schule? Ein Gedanke kommt mir. Schriftsteller sind notorisch abgebrannt, mit Büchern verdient man nicht viel Geld, es sei denn, man kriegt den Literaturnobelpreis oder ist ein Megastar, der mit Krimis oder Liebesromanen Millionenauflagen hat. Ich krame in meinem Gedächtnis, aber ich kenne keinen Schriftsteller namens Roland Winter. Kann es sein, dass ich reich bin und meinen schreibenden Mann aushalte? Ist er deshalb mit mir verheiratet? Weil er mein Geld braucht?

Wir erreichen den Fahrstuhl. Roland schiebt mich hinein und drückt auf Erdgeschoss.

«Was für Bücher schreibst du eigentlich?», frage ich so beiläufig wie möglich, als die Türen sich geschlossen haben.

«Liebesromane.» Er sieht mich nicht an. «Unter einem Pseudonym. Marc Frost.»

Der Name sagt mir etwas. Ich bin mir sicher, seine Bücher schon gesehen zu haben. Ich meine sogar, den Schriftzug auf dem Cover vor Augen zu haben. Was für ein Blödsinn! Natürlich habe ich die Bücher schon gesehen. Vermutlich stehen sie reihenweise bei uns zu Hause herum. Ich würde ihn gern fragen, ob mir seine Romane gefallen, ob ich seine erste Leserin bin. Aber ich habe Angst vor der Antwort, vor der Verlegenheit, die sie auslösen könnte.

Ich nehme meinen Mut zusammen für eine andere Frage. «Was habe ich für einen Beruf?»

Die Aufzugtür geht auf, bevor er antworten kann. Er schiebt mich hinaus, blickt sich suchend um und hält dann auf eine Glastür zu, die sich automatisch öffnet.

PSYCHIATRISCHE ABTEILUNG steht auf der Scheibe.

Mir ist plötzlich übel.

«Du bist nicht ganz gesund», sagt Roland in meinem Rücken. «Deshalb arbeitest du im Augenblick nicht.»

Ich erwidere nichts, sehe nur die ganze Zeit den Schriftzug vor mir, obwohl wir ihn längst hinter uns gelassen haben.

Vor einer Tür bleiben wir stehen. Roland klopft an. Die Tür wird geöffnet. Vor uns steht der grauhaarige Mann, der ein bisschen aussieht wie der Wassermann.

Er beugt sich zu mir hinunter und reicht mir die Hand. «Hallo, Frau Winter. Schön, Sie zu sehen.»

Er setzt sich hinter einen großen Schreibtisch, der unter der Last von Akten und Unterlagen ächzt. Roland stellt den Rollstuhl davor ab und nimmt neben mir Platz.

«Mein Name ist Niklas Morungen», sagt der Arzt. «Ich leite die psychiatrische Abteilung der Klinik.»

Ich nicke beklommen.

Morungen blickt zu Roland, dann wieder zu mir. «Ist es Ihnen recht, dass Ihr Mann dabei ist? Wir können auch unter vier Augen sprechen.»

Verdutzt starre ich ihn an. An diese Möglichkeit habe ich gar nicht gedacht. In den letzten vierundzwanzig Stunden – ist es wirklich erst vierundzwanzig Stunden her, seit ich aus dem See aufgetaucht bin? – wurde ich hin und her geschoben und untersucht, ohne dass mich irgendwer gefragt hat, was ich will. Ich zögere, werfe Roland einen Blick zu und bringe es nicht übers Herz.

«Schon in Ordnung», antworte ich. «Ich denke, es ist besser, wenn er über alles Bescheid weiß. Falls ich etwas vergesse.» Ich lächle verlegen über meinen Scherz.

«Wie Sie meinen.» Dr. Morungen schlägt eine Mappe auf. «Sie können es sich jederzeit anders überlegen.»

Mich durchzuckt der Gedanke, dass es ihm lieber gewesen wäre, mit mir allein zu sprechen. Doch ich habe keine Zeit, mich darüber zu wundern, denn schon legt er los.

«Frau Winter, darf ich Ihnen einige Fragen stellen?»

«Ja.»

«Wie heiße ich?»

«Dr. Niklas Morungen. Steht auf dem Schild.» Ich deute auf seinen Kittel.

Er schneidet eine amüsierte Grimasse und lässt das Namensschild mit einer raschen Handbewegung in seiner Brusttasche verschwinden. Dann fährt er sich über den grauen, akkurat gestutzten Bart. «Wie heißt die Hauptstadt von Spanien?»

«Madrid.»

«Waren Sie schon einmal dort?»

«Keine Ahnung.» Ich denke an meine gebräunte Haut, werfe Roland einen hilfesuchenden Blick zu.

Aber schon prasseln die nächsten Fragen auf mich nieder. «Wie viel ist drei mal drei?»

«Neun.»

«Sechs mal acht?»

«Achtundvierzig.»

«Der Plural von Tuba?»

«Tuben? Oder Tubas?»

«Beides ist korrekt. Spielen Sie ein Instrument?»

«Ich weiß nicht.»

«Woraus wird Caipirinha gemixt?»

«Cachaça, Limettensaft, Zucker und Eis», sprudelt es aus mir heraus, bevor ich darüber nachdenken kann.

Roland stößt einen überraschten Laut aus. Es scheint Dinge in meiner Vergangenheit zu geben, von denen auch er nichts weiß.

«Mögen Sie Caipirinha?», will der Arzt wissen.

Ich hebe hilflos die Achseln.

Morungen nickt und legt die Fingerspitzen aneinander. «Zunächst einmal die gute Nachricht», sagt er bedächtig, so als müsse er jedes Wort genau abwägen. «Körperlich fehlt Ihnen nichts, zumindest soweit wir das bisher beurteilen können. Alle Untersuchungen waren ohne Befund. Der Schlag auf den Kopf war nicht kräftig genug, um das Gehirn nachhaltig zu beeinträchtigen.»

Ich will widersprechen, schließlich war ich offenbar längere Zeit ohne Bewusstsein. Wie lange eigentlich? Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, jemanden zu fragen. Der Arzt mit dem Puzzle sprach von einem Koma, aber ich war zu benommen, um mich nach Details zu erkundigen.

«Es liegt deshalb die Vermutung nahe», fährt Morungen fort, «dass Ihre Amnesie Ursachen hat, die in der Psyche zu verorten sind.»

«Ich verstehe nicht …»

«Lassen Sie mich erklären: Es gibt sehr viele Formen von Amnesie. Sie leiden unter retrograder Amnesie, das heißt, Ihr Langzeitgedächtnis ist betroffen, Sie erinnern sich nicht an Dinge aus der Vergangenheit, an Ihr Leben vor dem schädigenden Ereignis. Aber Sie erinnern sich an alles, was geschehen ist, seit Sie aus dem Koma erwacht sind. Ist es nicht so? Wie heiße ich?»

«Niklas Morungen», sage ich, ohne zu zögern.

Er lächelt. «Das ist aber noch nicht alles. Stellen Sie sich vor, dass unser Gedächtnis dreigeteilt ist. Wir haben das semantische Gedächtnis, dort speichern wir unser Wissen über die Welt ab. Also etwa, dass die Hauptstadt von Spanien Madrid heißt. Dann gibt es das prozedurale Gedächtnis. Hierunter fallen Fertigkeiten wie Fahrradfahren, Zähneputzen oder Schwimmen. Beides macht Ihnen keine Schwierigkeiten, oder?»

Ich denke an den See, an meine unbeholfenen Paddelbewegungen, und bin mir nicht sicher. Dennoch nicke ich.

«Als Letztes haben wir das episodische Gedächtnis. Es speichert quasi unsere persönliche Lebensgeschichte ab: unseren ersten Schultag, unseren ersten Kuss, unsere Lieblingsfarbe, all die schönen, schrecklichen und banalen Erinnerungen. Das episodische Gedächtnis ist am häufigsten betroffen, wenn eine Amnesie vorliegt. Wenn es keine konkreten organischen Ursachen gibt, geschieht das normalerweise zum Schutz. Um ein traumatisches Erlebnis nicht erinnern zu müssen. So wie bei Ihnen der Angriff des Einbrechers.»

«Wann kehrt die Erinnerung zurück?», frage ich bang.

Morungen zupft an seinem Ärmel, bevor er antwortet. «Das lässt sich nicht vorhersagen. Es kann Tage dauern. Oder Wochen. Manchmal länger. Nach zwei Jahren ist die Erinnerung normalerweise wieder da. Aber feste Regeln gibt es nicht.»

«Zwei Jahre?», frage ich fassungslos.

«Meistens geht es schneller.»

«Und wenn nach zwei Jahren noch nichts wiedergekommen ist?», flüstere ich.

«Dann würde ich die Hoffnung trotzdem nicht aufgeben. Es gibt allerdings Patienten, bei denen das Gedächtnis nie zurückkehrt.»

Ich schlage die Hände vor das Gesicht.

Roland beugt sich vor. «Heißt das, es könnte sein, dass meine Frau sich nie wieder an ihr Leben erinnert?»

«Ich möchte nicht den Teufel an die Wand malen. Sie steht ja noch ganz am Anfang.»

«Aber Sie halten es für möglich?»

Morungen zögert, wendet sich mir zu. «Es ist ungewöhnlich, dass Ihr episodisches Gedächtnis vollständig vernichtet zu sein scheint. Normalerweise wird bei solchen traumatischen Erlebnissen lediglich das Ereignis selbst vergessen und vielleicht noch die Zeit kurz davor. Ein ganzes Leben wird selten gelöscht. Aber es kommt vor.»

«Was bedeutet das für uns?», fragt Roland mit scharfer Stimme. «Was können wir tun?»

Zum ersten Mal spüre ich, dass der Fremde, mit dem ich verheiratet bin, nicht nur der sanfte liebevolle Partner ist, sondern auch hart und entschlossen sein kann. Ein winziger Schauder krabbelt mir über den Rücken.

Wieder richtet der Arzt seine Antwort an mich. «Es gibt eine Menge Möglichkeiten, dem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Mit speziellen Übungen, mit Musik, mit Bewegung. Aber es kann dauern. Sie müssen sich Zeit geben, dürfen nichts erzwingen. Meistens tauchen die Erinnerungen nach und nach wieder auf. Erst als kleine Inseln ohne Zusammenhang.»

Morungen zieht einen Block zu sich heran und notiert etwas. Er reißt das Blatt ab und reicht es mir. «Das ist ein niedergelassener Kollege. Bei ihm sind Sie in guten Händen. Aber Sie können natürlich auch einen anderen Psychiater oder Psychotherapeuten aufsuchen. Das ist Ihnen freigestellt.»

«Kann ich nicht weiterhin zu Ihnen kommen?»

«Das geht leider nicht, Frau Winter. Ich bin Klinikarzt. Sobald Sie wieder zu Hause sind, bin ich nicht mehr für Sie zuständig.»

Zu Hause. Das sollte ein Ort sein, der einem vertraut ist, an dem man sich geborgen fühlt. Ich habe kein Zuhause.

Ich muss ziemlich verzweifelt dreinblicken, denn Morungen beugt sich vor und sieht mich mitfühlend an. «Ich kann nicht Ihr Therapeut sein, aber das heißt nicht, dass Sie mich nicht im Notfall anrufen können.» Er drückt mir eine Karte in die Hand.

Dankbar legen sich meine Finger um das Papier.

Roland räuspert sich. «Vielen Dank, Dr. Morungen.»

«Keine Ursache.» Er steht auf und geleitet uns nach draußen.

Während Roland den Rollstuhl durch den Korridor manövriert, fällt mir meine Frage wieder ein. «Wie lange lag ich im Koma?»

«Fünf Tage.»

«Aber ich dachte, die Kopfverletzung war harmlos. Wie kann das sein?»

Er schiebt mich in den Aufzug. Wir sind nicht allein. Ein älteres Ehepaar, bewaffnet mit Blumenstrauß, Luftballon und einem in Folie eingeschlagenen Strampelanzug. Noch ein Leben, das neu beginnt, hilflos dem Wohlwollen seiner Umwelt ausgeliefert. Eine Woge solidarischen Mitgefühls lässt meine Augen feucht werden.

Roland antwortet mir erst, als wir zurück im Krankenzimmer sind. «Es war nicht der Schlag auf den Kopf, es war eine Rauchvergiftung.»

Ich fahre herum und starre ihn an. «Eine Rauchvergiftung? Aber ich dachte …»

Roland hockt sich vor mich und greift nach meinen Händen. «Der Einbrecher hat das Haus in Brand gesteckt, nachdem er dich niedergeschlagen hat.»

 

Zwei Tage sind vergangen seit meinem Gespräch mit Dr. Morungen. Tage, die ich hauptsächlich damit verbracht habe, im Bett zu liegen und in meinem Kopf nach den Inseln zu suchen, von denen der Arzt gesprochen hat. Kleine Erinnerungsnester, die zu großen Netzen zusammenwachsen können. Aber da ist nichts. Ich weiß, wovon der Film Titanic handelt. Ich weiß, welche Schauspieler die Hauptrollen spielen. Ich kann die Musik summen. Aber ich habe keine Ahnung, wann und wo und mit wem ich den Film gesehen habe.

Morgen werde ich entlassen, in ein Leben, das ich nicht kenne. Das nicht meines ist. Ich komme mir so hilflos vor, so abhängig. Und dieses Gefühl macht mich aggressiv, vor allem Roland gegenüber. Er hat so viel Macht über mich. All mein Wissen über mich stammt von ihm. Er hat mir erzählt, dass meine Eltern beide tot sind. Geschwister habe ich keine. Als ich nach Freundinnen fragte, wich er aus.

«Nicht so direkt», antwortete er.

«Was soll das heißen? Habe ich eine Freundin? Habe ich keine?»

«Du bist eher eine Einzelgängerin.» Er senkte den Blick.

«Bedeutet das, dass ich meine Zeit immer nur mit dir verbringe?» Es gelang mir nicht, den hysterischen Unterton zu unterdrücken. «Dass du der Einzige bist, der mir etwas über mich erzählen kann?»

Er hob die Schultern, sah mich mit diesem verlegenen Hugh-Grant-Lächeln an. «Das macht doch nichts.»

«Natürlich macht es was!» Ich drehte mich weg, starrte auf einen dunklen Fleck an der Wand, der langsam seine Konturen verlor, als meine Augen sich mit Tränen füllten.

Es gibt niemanden außer meinem mir fremden Ehemann, den ich nach meiner Vergangenheit fragen kann. Es gibt nicht einmal Tagebücher, Briefe oder Fotos, weil alles zusammen mit dem Haus zu Asche verbrannt ist.

Jedes Mal, wenn ich daran denke, steigt hilflose Wut in mir auf. Und sie richtet sich gegen Roland. Dabei ist er genauso betroffen wie ich. Auch sein Leben ist ein Opfer der Flammen geworden. Doch im Gegensatz zu mir hat er wenigstens noch seine Erinnerungen. Ich habe gar nichts.

Ich weiß, dass es unfair ist, aber ich komme nicht dagegen an. Außerdem bin ich noch immer wütend auf ihn, weil er mir nichts von dem Feuer erzählt hat. Mir fällt der Traum wieder ein. Das lichtdurchflutete Haus, das auf einen Schlag voller Qualm war. Ist das eine Erinnerungsinsel? Habe ich von etwas geträumt, das wirklich passiert ist?

Gestern habe ich Roland nur kurz gesehen. Er hatte den ganzen Tag zu tun. Mit der Polizei, mit der Versicherung. Abends war er kurz da, doch ich war schon so müde, dass ich kaum die Augen offen halten konnte. Ich glaube, er war erleichtert.

Es klopft.

«Ja?»

Zwei Männer betreten das Krankenzimmer, der eine ist blond und breitschultrig, eine kernige Mischung aus Surfer und Bauarbeiter, der andere ist ebenfalls gut gebaut, aber weniger blond und weniger attraktiv.

«Guten Tag, Frau Winter», sagt der Dunkelblonde. «Mein Name ist Mirko Rossbach, ich bin von der Kripo Berlin, das ist mein Kollege Jan Colbe.» Er nickt dem Surfer zu. «Wir würden Ihnen gern einige Fragen stellen.» Er lächelt freundlich.

Jan Colbe lächelt nicht, sondern fixiert mich mit zusammengekniffenen Augen.

«Ich erinnere mich an nichts», murmle ich.

«Das sagte uns Ihr Mann schon», erklärt Rossbach. «Wir würden trotzdem gern mit Ihnen reden. Manchmal fällt einem plötzlich etwas wieder ein, wenn man darüber spricht.» Er zieht sich einen Stuhl heran und lässt sich nieder. «Sie wissen also nichts mehr von dem, was letzte Woche in Ihrem Haus geschehen ist?»

Ich blicke hoch zu Colbe, der noch immer unergründlich dreinblickt. So, als würde er mir nicht über den Weg trauen, als hätte er Grund zu der Annahme, ich würde meine Amnesie nur vortäuschen. «Ich habe alles vergessen, nicht nur den Einbruch. Mein ganzes Leben.»

«Das tut mir sehr leid.» Rossbach zieht ein Notizbuch hervor. «Dann erinnern Sie sich auch nicht mehr daran, dass Sie Anzeige erstattet haben? Und zwar vor –» Er blättert. «Vor zwei Monaten. Sie haben mit meinem Kollegen gesprochen.» Er deutet mit dem Daumen hinter sich, wo Colbe steht, die Hände in den Hosentaschen vergraben.

«Anzeige? Gegen wen? Und warum?»

«Gegen unbekannt. Wegen Stalking. Jemand hat Sie auf der Straße verfolgt, Sie ständig zu Hause angerufen, Ihnen Briefe geschrieben, auf den Stufen vor Ihrer Haustür Blütenblätter ausgestreut. Rote Rosen. Sie wissen das nicht mehr?»

Ich schüttele benommen den Kopf. «Wusste mein … ich meine, weiß mein Mann davon?»

Rossbach zögert kurz. «Das kann ich Ihnen nicht sagen. Er war nicht dabei, als Sie Anzeige erstattet haben.» Er blickt fragend zu seinem Kollegen, der schweigend den Kopf schüttelt.

«Haben Sie herausgefunden, wer das getan hat?»

Rossbach druckst verlegen herum.

Sein Partner bricht sein Schweigen. «Wir müssen uns bei Ihnen entschuldigen, Frau Winter. Wir haben der Sache zu wenig Bedeutung beigemessen. Sie wirkten sehr – hm – aufgedreht in unserem Gespräch. Ich hatte den Eindruck, dass Sie sich wichtig tun wollten. Außerdem konnten Sie keinerlei Beweise vorlegen. Die Briefe hatten Sie angeblich alle vernichtet. Sie hatten nicht einmal ein Foto von den Rosenblüten gemacht.» Seine Worte klingen freundlich, doch sein Gesichtsausdruck ist noch immer lauernd.

«Sie haben mich für eine Spinnerin gehalten?» Ich muss an das denken, was Roland gesagt hat. Ich bin krank. So krank, dass ich nicht arbeiten kann. Meinte er eine psychische Erkrankung? Bin ich verrückt?

Colbe kratzt sich am Kinn. «So würde ich das nicht ausdrücken. Es gab einfach keinen Hinweis darauf, dass Sie bedroht wurden. Aber das sieht jetzt natürlich völlig anders aus.»

«Ich verstehe nicht.»

«Der Anschlag auf Sie in Ihrem Haus.»

«Anschlag?» Ich schreie das Wort heraus. «Aber es war doch ein Einbrecher!» Hat Roland mir etwa noch immer nicht die ganze Wahrheit gesagt?

«Anfangs sah es tatsächlich nach einem Einbruch aus, das ist richtig», erklärt Rossbach, und ich leiste Roland stumm Abbitte. «Aber inzwischen konnten wir rekonstruieren, dass mit ziemlicher Sicherheit nichts gestohlen wurde. Es wurden offenbar nicht einmal Schranktüren oder Schubladen geöffnet.»

«Vielleicht habe ich den Einbrecher überrascht?»

«Es gibt keine Einbruchspuren. Weder an den Fenstern noch an der Haustür.»

Ich sehe ihn wortlos an.

«Verstehen Sie, was das bedeutet?», fragt Rossbach.

«Der Einbrecher hatte einen Schlüssel?»

«Wäre möglich. Wir vermuten allerdings, dass Sie ihm die Tür geöffnet haben. Weil es gar kein Einbrecher war, sondern jemand, der etwas von Ihnen wollte.»

«Der Stalker», flüstere ich.

Die beiden Polizisten schweigen. Auch eine Antwort.

«Sie wissen also nicht mehr, ob Sie am Tag des Feuers mit irgendwem verabredet waren?», fragt Rossbach nach einer Weile. «Ihr Angreifer könnte sich als jemand anders ausgegeben haben. Als Paketbote. Oder Versicherungsmakler.»

«Nein!», fahre ich ihn an. Er scheint noch nicht begriffen zu haben, dass ich wirklich gar nichts mehr weiß. Nicht einmal meinen eigenen Namen.

Sein Kollege tritt an mein Bett und zieht eine Visitenkarte aus der Tasche. «Rufen Sie mich an, wenn Ihre Erinnerung zurückkommt. Auch wenn es nur Bruchstücke sind. Jede Kleinigkeit kann uns weiterhelfen.»

Die beiden verabschieden sich. Als sie weg sind, starre ich an die Decke. In meiner Hand spüre ich die harten Kanten der Visitenkarte. Ganz langsam sickert in mein Bewusstsein, was die Polizisten mir da erzählt haben.

Ich habe keinen Einbrecher überrascht.

Es gab nie einen Einbrecher.

Jemand hat versucht, mich zu töten.

Ich habe keine Ahnung, wer.

Mir wird kalt vor Angst, so kalt, dass ich trotz der Bettdecke anfange zu zittern. Ich könnte ihm auf der Straße begegnen, an der Bushaltestelle, im Eiscafé. Ich würde ihn nicht erkennen. Ich würde nicht wissen, dass er es auf mich abgesehen hat. Ich wäre ihm schutzlos ausgeliefert.

 

Die Hitze ist wie ein Schlag ins Gesicht. Nach der langen Zeit im klimatisierten Krankenzimmer bin ich nicht darauf gefasst, obwohl ich weiß, dass Juli ist. Ich trage eine weiße Leinenhose mit Gummibund und eine passende Bluse. Die Sachen hat Roland besorgt. Leicht, bequem, und es kommt nicht so genau auf die Größe an. Er sagt, dass ich in unserem Wochenendhaus genug Klamotten habe.

Mir ist etwas mulmig zumute, als ich in den Wagen steige. Ein schwarzes Mercedes Coupé. Eigentlich hätte ich erwartet, dass Roland einen exzentrischen Wagen fährt, der zu einem Schriftsteller passt, einen liebevoll gepflegten Oldtimer mit geschwungenen Formen. Immerhin ist der Mercedes gut klimatisiert, und ich atme durch, als mir die kühle Luft ins Gesicht bläst.

«Wie lange werden wir brauchen?», frage ich.

«Eine gute Stunde», antwortet Roland und fädelt sich in den Stadtverkehr ein.

Unser Wochenendhaus ist eigentlich gar kein Haus, sondern eine Blockhütte im Spreewald, die wir selten nutzen. Roland hat mir erzählt, dass er sich manchmal dorthin zurückzieht, wenn er einen Roman fertigstellen muss. Aber ab und zu machen wir auch gemeinsam Urlaub dort. Jetzt wird die Hütte erst einmal unser Zuhause sein. Bis mit der Versicherung alles geklärt ist und wir uns in Berlin etwas Neues suchen können.

Wir. Uns.

Roland ist noch immer ein Fremder für mich. Ich erinnere mich nicht an meine Gefühle für ihn. Er ist ein netter, hilfsbereiter und, zugegeben, verdammt attraktiver Mann. Aber ich kenne ihn nicht. Und jetzt fahre ich mit diesem Fremden in eine abgelegene Hütte im Nirgendwo. Ich wäre lieber für die ersten Tage in einer Pension in der Stadt untergekommen, aber Roland lebt jetzt seit über einer Woche im Hotelzimmer und hat keine Lust mehr. Außerdem, so sagt er, könne mir eine vertraute Umgebung helfen, mich zu erinnern.

Aber ist mir diese Hütte wirklich vertraut? Wie oft war ich überhaupt dort?

Ich hätte wohl trotz allem darauf bestanden, in ein Hotel zu ziehen, wenn Schwester Dagmar nicht gewesen wäre. Eben hat sie sich von Roland einen Stapel Bücher signieren lassen und ihn dabei angehimmelt wie ein Teenager. Mein Mann ist erfolgreich, er braucht mein Geld nicht. Falls ich überhaupt welches habe. Und er ist eine öffentliche Person. Bekannt und beliebt. Nicht irgendein mysteriöser Unbekannter, der mich entführen will.

Ich blicke aus dem Fenster und halte nach Häusern oder Straßen Ausschau, die mir bekannt vorkommen. Schließlich lebe ich in dieser Stadt. Aber ich erkenne nichts wieder. Außer ein paar Namen auf Straßenschildern, die jeder Tourist schon einmal gehört hat. Reichstag. Brandenburger Tor. Checkpoint Charlie.

«Können wir nicht an unserem Haus vorbeifahren?»

Roland wirft mir einen Blick zu. «Den Anblick möchte ich dir lieber ersparen. Du würdest es ohnehin nicht wiedererkennen, selbst wenn …»

«Schon gut.» Ich schließe die Augen. Ich bin erschöpft. In der vergangenen Nacht konnte ich kaum schlafen vor Aufregung. Und dann das Anziehen vorhin. Meine Finger haben so gezittert, dass Roland mir die Bluse zuknöpfen musste, und ich habe mich gefragt, wie oft er sie mir wohl schon aufgeknöpft hat. Oder ob er so leidenschaftlich ist, dass er sie mir vom Leib reißt, ohne sich um die Knöpfe zu scheren.

Für einen kurzen Moment habe ich mir ausgemalt, wie es wäre, wenn er es tun würde, jetzt sofort, wenn er mir die Bluse, die er gerade so mühsam zugeknöpft hat, wieder aufreißen, mich aufs Bett werfen würde. Und ich bin über meine eigene Phantasie erschrocken.

Roland musste etwas gespürt haben, denn er sah mich fragend an.

Ich lächelte tapfer. «Ich bin ziemlich aufgeregt.»

«Ich auch.»

 

Obwohl ich todmüde bin, schlafe ich nicht ein. Es ist, als wollte ich die Kontrolle nicht verlieren. Ich habe Roland noch nicht mit dem konfrontiert, was die Polizisten mir gestern erzählt haben. Ich wollte abwarten, ob er von selbst darauf zu sprechen kommt. Schließlich weiß ich, dass sie auch mit ihm geredet haben.

Bei dem Gedanken daran, dass irgendwo in der Stadt jemand herumläuft, der es auf mein Leben abgesehen hat, wird mir wieder kalt.

«Du hast ja eine Gänsehaut», sagt Roland neben mir. «Ich stelle die Klimaanlage runter.»

Der kühle Luftzug wird schwächer. Ich versetze mich in das Haus aus meinem Traum. Vielleicht sehe ich diesmal mehr. Das Gesicht des Mörders. Ich rufe mir das Zimmer mit dem cremefarbenen Sofa in Erinnerung. Den Blick aus dem Fenster. Die bunten Blumenstauden. Jetzt versuche ich, mich umzudrehen, denn mein Angreifer muss hinter mir stehen. Schließlich hat er mir auf den Hinterkopf geschlagen.

Tatsächlich sehe ich eine Gestalt. Ich halte die Luft an. Am liebsten würde ich die Augen aufschlagen, dem Traumbild entfliehen. Ich will das nicht noch einmal durchleben. Aber ich presse die Lider fest zusammen. Ich muss hinsehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass ich keine Angst mehr vor meinen übrigen Erinnerungen haben muss, dass mir alles wieder einfallen wird, wenn ich mich nur an das Gesicht meines Mörders erinnere.

Der Schatten hebt den Arm. Etwas Schweres rast auf mich zu. Ich schreie.

«O Gott, Liebes, was ist denn?» Roland blinkt und fährt an den Straßenrand.

Wir sind auf einer Landstraße, einer schnurgeraden Allee, stehen in der Einmündung eines Feldwegs. Mir wird bewusst, dass wir längst aus Berlin raus sind, dass wir schon mindestens eine halbe Stunde unterwegs sein müssen. Ich habe geschlafen.

«Nur ein Traum», sage ich. «Ich habe von dem Einbrecher geträumt.»

«Hast du sein Gesicht gesehen?»

«Nein.»

Er sieht mich lange schweigend an.

«Gestern waren zwei Polizisten bei mir.»

«Ich weiß.» Er stellt den Motor ab.

«Wusstest du von dem Stalker?»

Er starrt auf das Armaturenbrett, als gäbe es dort etwas Spannendes zu entdecken.

«Hey, was ist los? Rede mit mir!» Wut brodelt in mir hoch. Doch eigentlich ist es Angst.

Er dreht sich zu mir, nimmt meine Hand. «Was auch immer geschieht, Liebling, wir schaffen das. Wir geben nicht auf. Ich liebe dich, ich lasse dich nicht im Stich. Das darfst du nie vergessen.»

Mein Hals wird eng.

«Dieser blonde Polizist, Jan Korte oder –»

«Colbe mit ‹C›. Jan Colbe.» Ich denke an die Karte, die ich in meine Hosentasche gestopft habe, zusammen mit der Karte von Dr. Niklas Morungen.

«Er hat mit mir gesprochen», sagt Roland. «Im Mai, kurz nachdem du die Anzeige erstattet hattest.»

Mir bleibt die Luft weg. «Das hat er mit keiner Silbe erwähnt!»

Roland nickt. «Verstehe. Aber so ist es. Er hat mich gefragt, ob du mit mir über den Stalker gesprochen hättest. Was ich darüber wüsste, ob ich einen der Briefe gesehen hätte. Oder zufällig einen der Telefonanrufe entgegengenommen hätte. Ich bin aus allen Wolken gefallen. Ich hatte keine Ahnung.»

Ich starre Roland fassungslos an. Ich werde verfolgt und belästigt und spreche nicht mit meinem Mann darüber? Warum nicht? Vertraue ich ihm nicht?

«Allerdings hat es mich auch nicht überrascht», fährt Roland fort. «Du hast … du hast eine Vorgeschichte.»

«Ein Vorgeschichte?» Meine Stimme klingt schrill.

«Bitte beruhige dich. Du hast einige schlimme Dinge durchgemacht. In deiner Kindheit. Deshalb bist du extrem misstrauisch. Eifersüchtig. Fühlst dich beobachtet. Du glaubst ständig, dass jemand dir etwas wegnehmen will. Du siehst Verfolger, wo keine sind.»

«Und der Mann, der mich im Haus überfallen hat?» Meine Stimme ist heiser.

«Ich bin mir sicher, dass es ein gewöhnlicher Einbrecher war. Du hast manchmal die Tür offen stehen lassen, wenn du im Garten gearbeitet hast. Vermutlich hat jemand spontan die Gelegenheit ergriffen und nicht damit gerechnet, dass du so schnell zurückkehrst.» Er sieht mich beschwörend an. «Glaub mir, es gibt keinen Stalker.»

«Ist das die Krankheit, wegen der ich nicht arbeiten kann?», flüstere ich.

Er holt tief Luft. «Ja. Du leidest seit Jahren unter Wahnvorstellungen.»

Das Wort knallt mir ins Gesicht wie eine Faust. Ich zucke zurück.

Er drückt meine Hand. «Keine Sorge. Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört. Du hast keine Halluzinationen, du hörst auch keine Stimmen. Du hast lediglich zwanghafte Vorstellungen, die rational nicht nachvollziehbar sind.»

Der Satz klingt wie auswendig gelernt. Distanziert. Bestimmt hat er ihn schon unzählige Male aufgesagt. Mir gegenüber. Oder anderen Menschen gegenüber, denen er mein merkwürdiges Verhalten erklären musste.

Roland hebt meine Hand an seine Lippen und küsst sie sanft. «Die Amnesie könnte eine Chance sein, ganz von vorn anzufangen. Wenn du dich an nichts erinnerst, dann vielleicht auch nicht mehr an deine Wahnvorstellungen. Wir könnten einfach so tun …»

«Bin ich in ärztlicher Behandlung?»

Er schüttelt den Kopf. «Das wolltest du nicht. Du warst ja davon überzeugt, dass alles real ist. Und ich musste das respektieren. Du bist keine Gefahr für dich oder andere, deshalb kannst du nicht zur Therapie gezwungen werden. Einmal konnte ich dich überreden, mit mir zu einem Psychiater zu gehen. Das Gespräch verlief nicht besonders gut.»

Ich wage nicht zu fragen, was passiert ist.

«Du hast mir unterstellt, dass ich dich entmündigen lassen will, damit ich über dein Geld verfügen kann.»

Oh nein! Ich schließe die Augen. Genau das habe ich mir im Krankenhaus zusammenphantasiert. Dass Roland nur wegen meines Geldes mit mir verheiratet ist. Es stimmt also! Ich bin tatsächlich verrückt. Ich bin starr vor Schock. Wörter schwirren in meinem Kopf herum.

Eifersucht.

Misstrauen.

Verfolgungswahn.

Stimmen.

Halluzinationen.

Was ist mit den Rosenblättern vor meiner Haustür, von denen ich der Polizei erzählt habe? Den Anrufen? Den Briefen? War das alles nicht real? Wenn ja, dann ist meine Krankheit nicht so harmlos, wie Roland behauptet. Dann habe ich sehr wohl Halluzinationen. Und was ist mit dem wiederkehrenden Traum von dem lichtdurchfluteten Zimmer?

«Haben wir ein cremefarbenes Sofa?», frage ich mit banger Stimme.

«Erinnerst du dich an etwas?» Er klingt aufgeregt.

«Ich sehe immer wieder ein Wohnzimmer mit Fenstern zum Garten.»

«Sonst noch was?»

«Nein. Und?»

«Was?»

«Das Sofa?»

Er senkt den Blick. «Schwarzes Leder. Und unser Wohnzimmer hat Fenster zur Straße.»

Ich drehe mich weg und presse mein Gesicht gegen die kalte Scheibe. Plötzlich wünsche ich mir, dass Roland nie davon gesprochen hätte. Dass ich glauben könnte, ich sei eine ganz normale junge Frau, die von einem Einbrecher überrascht und niedergeschlagen wurde und dabei das Gedächtnis verloren hat.

 

Wir reden kein weiteres Wort, bis Roland den Mercedes auf einen Parkplatz lenkt. Er liegt am Ende einer Sackgasse mit kleinen Einfamilienhäusern. Hinter dem Parkplatz beginnt ein Wald. Rechts sehe ich Wasser und einen Steg, an dem einige hölzerne Kähne vertäut sind.

Ich schaue mich um. «Welches Haus ist es?»

«Wir sind noch nicht da.»

«Aber …» Dann begreife ich. «Wir müssen mit dem Boot weiter?»

«Anders ist die Hütte nicht zu erreichen.» Er sieht mich an. In seinem Blick liegt eine Frage.

«Okay», murmle ich. Vermutlich erwartet er mehr Euphorie angesichts der romantischen Lage unseres Häuschens. Dabei kämpfe ich mühsam mit der Panik. Ich werde ganz allein mit Roland dort draußen sein. Vollkommen abgeschnitten vom Rest der Welt. Ausgeliefert. Ich unterdrücke die Vorstellungen, die in mir aufsteigen, die Bilder von einem Gefängnis, von absoluter Einsamkeit, die mich langsam, aber sicher in den Wahnsinn treibt. Alles nur Einbildung, sage ich mir. Hirngespinste. Nichts weiter.

Roland lädt das Auto aus und schleppt die Taschen zum Bootssteg. Er hat reichlich Vorräte eingekauft. Ich darf nicht helfen, schaue zu, wie er alles in einem kleinen Motorkahn verstaut, der gefährlich unter der Ladung schaukelt.

«So, das wär’s», ruft er nach einer Weile. «Einsteigen, bitte!» Er hält mir die ausgestreckte Hand hin.

Ich betrete den Steg. Doch schon nach zwei Schritten bleibe ich wie versteinert stehen.

«Was ist?», fragt Roland mit besorgtem Gesicht.

«Ich kann nicht», flüstere ich. Mir ist plötzlich so heiß, als würde mein Körper in Flammen stehen.

Er kommt näher, nimmt meine Hand. «Ich helfe dir.»

An seiner Seite mache ich ein paar Schritte. Schweiß läuft mir den Rücken runter, trotzdem beginne ich zu zittern.

Roland sieht mich an. «Also gut», sagt er leise. «Warte hier.» Leichtfüßig springt er in den Kahn und fischt eine orangefarbene Schwimmweste unter der Bank hervor. Er klettert zurück auf den Steg. «Dein Kopf hat vergessen, aber dein Körper nicht.»

«Was?»

«Du kannst nicht schwimmen.»

«Oh.»