Das Echo der Raben - Mirco Deflorin - E-Book

Das Echo der Raben E-Book

Mirco Deflorin

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Beschreibung

Als im verschneiten Internat Rabenstein eine Schülerin verschwindet, kehrt Kriminalhauptkommissarin Sarah Reichert an den Ort ihrer eigenen Schulzeit zurück. Was als Vermisstenfall beginnt, führt sie tief in die Abgründe einer Elite-Einrichtung, die ihre düsteren Geheimnisse seit Generationen hütet. Die "Rabengesellschaft", ein geheimer Zirkel ausgewählter Schüler, übt noch immer ihre unheimliche Macht aus. Für Sarah werden die Ermittlungen zur Konfrontation mit ihrer eigenen Vergangenheit - vor zwanzig Jahren verlor sie hier ihre beste Freundin Marie unter mysteriösen Umständen. Unterstützt von der jungen Fotografin Emma Weber deckt Sarah ein perfides System aus Manipulation, Erpressung und blindem Gehorsam auf. Doch je tiefer sie in die Strukturen der Rabengesellschaft eindringt, desto grösser wird die Gefahr. Denn die Raben beschützen die Ihren - und sie dulden keine Verräter. Ein atmosphärisch dichter Psychothriller über die dunklen Seiten elitärer Bildung, die Macht tradierter Systeme und den hohen Preis der Wahrheit.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1: Der Fund

Wintermorgen im Internat

Entdeckung in der Bibliothek

Erste Untersuchungen

Kapitel 2: Rückkehr nach Rabenstein

Sarah betritt das Internat

Alte Erinnerungen

Das erste Verhör

Kapitel 3: Die sieben Raben

Die aktuelle Gruppe

Sophia's Führungsanspruch

Das Ritual der Aufnahme

Kapitel 4: Verborgene Spuren

Die Überwachungskameras

Der verschwundene USB-Stick

Nachtaktivitäten

Kapitel 5: Das Archiv

Geheime Räume

Die alten Aufzeichnungen

Ein ähnlicher Fall

Kapitel 6: Erste Risse

Emma bricht ihr Schweigen

Der Kunstlehrer's Alibi

Nächtliche Beobachtungen

Kapitel 7: Die Schulärztin

Mutter und Tochter

Fehlende Medikamente

Ein altes Foto

Kapitel 8: Schatten der Vergangenheit

Sarah's alte Schulakte

Der Fall von 2004

Wiederkehrende Muster

Kapitel 9: Das zweite Opfer

Verschwunden

Die Suche

Ein weiterer Fund

Kapitel 10: Durchbruch

Das geheime Tagebuch

Verschlüsselte Nachrichten

Der erste Verdacht

Kapitel 11: Die Hierarchie

Macht im Internat

Schülernetzwerke

Lehrerkonflikte

Kapitel 12: Nächtliche Wahrheiten

Mitternachtstreffen

Geständnisse

Neue Verdächtige

Kapitel 13: Das System

Erpressungen aufgedeckt

Die wahren Raben

Korruption im Kollegium

Kapitel 14: Fluchtversuche

Panik im Internat

Verschwundene Beweise

Die Verfolgung

Kapitel 15: Der alte Turm

Versteckte Dokumente

Das Ritual

Enthüllungen

Kapitel 16: Konfrontationen

Im Lehrerzimmer

Sophia's Zusammenbruch

Dr: Hartmann's Geständnis

Kapitel 17: Die letzte Nacht

Der Plan

Die Falle

Entscheidungen

Kapitel 18: Auflösung

Das Trio

Die Rekonstruktion

Verhaftungen

Kapitel 19: Nachwirkungen

Schulkonferenz

Reform der Traditionen

Persönliche Konsequenzen

Kapitel 20: Neubeginn

Sarah's Entscheidung

Die neuen Raben

Der Kreis schließt sich

Nachwort

Porträt zu Mirco Deflorin

Mirco Deflorin lebt und arbeitet in den Schweizer Alpen. Als Schriftsteller und Psychiatrie-Mitarbeiter verbindet er in seinen Werken psychologische Einsichten mit fesselnder Spannung.

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

hinter den imposanten Mauern traditionsreicher Internate verbirgt sich oft mehr als nur akademische Exzellenz und ehrwürdige Geschichte. In "Das Echo der Raben" öffnen wir die schweren Holztüren des Internats Rabenstein und tauchen ein in eine Welt, in der Macht, Tradition und düstere Geheimnisse eng verwoben sind.

Als eine Schülerin unter mysteriösen Umständen verschwindet, kehrt die Ermittlerin Sarah Reichert an den Ort ihrer eigenen Schulzeit zurück. Was als Vermisstenfall beginnt, entwickelt sich zu einer Reise in die Abgründe einer geschlossenen Gesellschaft, in der sich Geschichte auf unheilvolle Weise zu wiederholen droht.

Die "Rabengesellschaft", ein elitärer Zirkel ausgewählter Schüler, hütet Geheimnisse, die Generationen überdauern. Sarah muss sich nicht nur den Schatten ihrer eigenen Vergangenheit stellen, sondern auch einem System, das Menschen formt und bricht – damals wie heute.

"Das Echo der Raben" ist mehr als ein klassischer Kriminalroman. Er ist eine psychologische Reise in die Mechanismen von Macht und Kontrolle, von Manipulation und blindem Gehorsam. Er zeigt, wie Traditionen zu Fesseln werden können und welchen Preis Menschen zahlen, um dazuzugehören.

Lassen Sie sich mitnehmen in die düsteren Korridore von Rabenstein, wo das Krächzen der Raben mehr ist als nur der Ruf von Vögeln – es ist das Echo einer dunklen Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinwirkt.

Mirco Deflorin

Kapitel 1: Der Fund

Wintermorgen im Internat

Der Schnee dämpfte jeden Laut, als Karl Müller seinen morgendlichen Kontrollgang durch das Internat Rabenstein begann. Seine Schritte hallten dumpf durch die leeren Korridore des altehrwürdigen Gebäudes. Um sechs Uhr morgens schliefen die Schüler noch, nur das erste Winterlicht drang durch die hohen Bleiglasfenster und warf gespenstische Schatten auf den polierten Steinboden.

Die gotischen Bögen des Hauptgangs ragten wie versteinerte Rippen über ihm auf. Müller kannte jeden Winkel des Internats, jedes Knarren der jahrhundertealten Holzdielen, jedes Quietschen der gusseisernen Heizkörper. Nach dreißig Jahren Dienst war ihm der rhythmische Atem des Gebäudes so vertraut wie sein eigener. Doch an diesem Morgen war etwas anders.

Die eisige Januarluft kroch durch jede Ritze der alten Mauern. Draußen vor den hohen Fenstern tanzte der Schnee in dichten Flocken zu Boden. Der weitläufige Innenhof lag unter einer makellosen weißen Decke. Nur die Fußspuren des Nachtwächters durchbrachen die unberührte Fläche - und seltsamerweise eine zweite Spur, die zur Bibliothek führte.

Ein heiseres Krächzen ließ Müller zusammenzucken. Über dem Ostturm kreiste ein Schwarm Raben, mehr als er je zuvor gesehen hatte. Ihre schwarzen Silhouetten hoben sich scharf gegen den bleichen Winterhimmel ab. Das ungute Gefühl in seiner Magengegend verstärkte sich.

Die massive Eichentür zur Bibliothek war nur angelehnt. Ein schmaler Lichtstreifen fiel in den Gang - unmöglich, er hatte gestern Abend selbst abgeschlossen. Der schwere Schlüsselbund an seinem Gürtel klimperte leise, als er näher trat. Die Tür öffnete sich mit einem langgezogenen Knarren.

Der erste Eindruck war Kälte. Schneidende, beißende Kälte. Eines der hohen Fenster stand sperrangelweit offen, Schneeflocken wirbelten herein und bedeckten bereits den antiken Lesepult darunter. Die alten Bücherregale ragten wie stumme Wächter in die Höhe, ihre ledergebundenen Schätze in ewigem Schweigen verhüllt.

"Hallo?", rief Müller in die Stille. Seine Stimme klang fremd in seinen eigenen Ohren. Keine Antwort.

Er durchquerte den Raum, seine Schritte gedämpft vom dicken Perserteppich. Das Fenster musste geschlossen werden, bevor die wertvollen Bücher Schaden nahmen. Als er sich dem Lesepult näherte, stockte ihm der Atem.

Dahinter, halb verborgen im Schatten der gewaltigen Regale, lag eine zusammengekauerte Gestalt. Der hereingewehte Schnee hatte sich bereits wie ein dünner Schleier über ihre reglose Form gelegt. Dort, wo die weißen Flocken den Boden um sie herum berührten, hatte sich das Weiß in ein dunkles Rot verwandelt. Eine stetig wachsende Lache, die sich ihren Weg zwischen den feinen Schneekristallen bahnte.

Müller taumelte rückwärts, sein Herz hämmerte gegen seine Rippen. Mit zitternden Fingern zog er sein Dienst-Handy hervor. Die Nummer des Schulleiters war die erste auf der Kurzwahlliste.

"Dr. Koch? Hier ist Müller. Kommen Sie sofort in die Bibliothek. Es... es ist etwas passiert."

Draußen kreisten die Raben weiter ihre stummen Runden über dem Internat. Ihr Schatten fiel durch das offene Fenster, tanzend über die reglose Gestalt am Boden. Sie waren zurück. Nach all den Jahren waren sie zurück.

Müller starrte auf die dunkle Silhouette am Boden. In dreißig Jahren hatte er viel gesehen in Rabenstein. Schülerstreiche, nächtliche Zusammenkünfte, verbotene Liebschaften. Aber dies war anders. Dies war der Anfang von etwas, das die jahrhundertealten Mauern des Internats in ihren Grundfesten erschüttern würde.

Ein eisiger Windstoss fegte durch das offene Fenster und ließ die schweren Vorhänge tanzen. Für einen Moment schien es, als würden sie wie schwarze Rabenflügel durch die Luft schlagen. Müller schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, war der Spuk vorbei. Nur die grausame Realität blieb.

Das Echo seiner Schritte hallte von den hohen Wänden wider, als er zurück in den Gang trat. In wenigen Minuten würde Dr. Koch hier sein. Und dann würde nichts mehr sein wie zuvor in Rabenstein.

Die Morgenglocke läutete in der Ferne, ihr vertrauter Klang seltsam fehl am Platz in dieser unwirklichen Szenerie. Ein neuer Tag begann im Internat Rabenstein. Ein Tag, der alles verändern würde.

Entdeckung in der Bibliothek

Dr. Maximilian Koch eilte durch die verschneiten Gänge des Internats Rabenstein. Seine sonst so beherrschte Miene zeigte Spuren von Besorgnis. Der Anruf des Hausmeisters hatte ihn beim Morgenritual gestört - Müllers Stimme hatte er noch nie so erschüttert gehört.

Die schweren Absätze seiner maßgefertigten Schuhe hallten von den Wänden wider. Als er die Bibliothek erreichte, traf ihn der Anblick wie ein Schlag: Zwischen den Bücherregalen lag der leblose Körper einer jungen Frau am Boden. Jana Weber, eine seiner Vorzeige-Schülerinnen.

"Herr Müller, haben Sie irgendetwas angefasst?", fragte Koch scharf. Der Hausmeister stand wie versteinert am Eingang, schüttelte stumm den Kopf.

Die Szene hatte etwas verstörend Inszeniertes. Schwarze Federn lagen in einem perfekten Kreis um den Körper verstreut. Janas Smartphone war säuberlich auf dem massiven Eichentisch platziert, der Bildschirm nach oben gerichtet. Kein Stuhl war umgeworfen, keine Spuren eines Kampfes zu sehen.

"Rufen Sie sofort den Sicherheitsdienst", befahl Koch. "Die Bibliothek wird abgeriegelt. Niemand betritt den Raum." Seine Gedanken rasten. Das durfte nicht sein, nicht hier, nicht in Rabenstein.

Durch das immer noch offene Fenster drang das Krächzen der Raben. Koch ging zum Fenster und schloss es mit einem energischen Ruck. Sein Blick fiel auf den Innenhof, wo die ersten Schüler bereits zum Frühstück eilten. Ahnungslos. Noch.

Er zog sein Mobiltelefon hervor und wählte eine Nummer, die nicht im offiziellen Verzeichnis des Internats stand. "Hartmann? Kommen Sie sofort in die Bibliothek. Diskret. Wir haben einen Vorfall."

Während er wartete, musterte er den Raum genauer. Die schwarzen Federn - ein deutliches Zeichen. Die "Raben" waren wieder aktiv. Nach all den Jahren. Seine Hand verkrampfte sich um das Telefon.

Dr. Elena Hartmann, die Schulpsychologin, erschien wenige Minuten später. Ihr sonst so perfekt sitzendes Kostüm wirkte hastig übergeworfen. "Mein Gott", entfuhr es ihr beim Anblick der Szenerie.

"Wir müssen das unter Kontrolle bringen", sagte Koch leise. "Bevor die Polizei eintrifft. Sie wissen, was auf dem Spiel steht."

Hartmann nickte knapp. Sie beide kannten die Geschichte der "Raben", diese dunkle Tradition, die sich wie ein Schatten durch die Jahrhunderte zog. Und sie beide wussten, dass dies erst der Anfang war.

Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die hohen Fenster, ließen die schwarzen Federn am Boden schimmern wie Obsidian. Das Morgenlicht enthüllte weitere Details: Ein aufgeschlagenes Buch auf dem Tisch, daneben ein einzelner Handschuh. Und etwas, das aussah wie eine Nachricht, in perfekter Handschrift.

Koch trat näher, las die Worte: "Das Echo kehrt zurück."

Draußen vor der Tür wurden erste Stimmen laut. Der Tag begann im Internat Rabenstein, und mit ihm eine Lawine von Ereignissen, die niemand mehr aufhalten konnte.

"Sperren Sie den gesamten Ostflügel", wies Koch den inzwischen eingetroffenen Sicherheitsdienst an. "Der offizielle Grund ist ein Wasserrohrbruch. Hartmann, Sie kümmern sich um die Krisenintervention. Sobald sich das herumspricht, brauchen wir jeden verfügbaren Psychologen."

Seine äußere Ruhe war perfekt einstudiert, das Ergebnis jahrzehntelanger Übung. Doch in seinem Inneren wusste er: Dies war kein gewöhnlicher Suizid. Die Inszenierung, die Federn, die Nachricht - alles deutete auf ein düsteres Ritual hin, das er längst für überwunden gehalten hatte.

Erste Polizeisirenen heulten in der Ferne. Koch warf einen letzten Blick auf die gespenstische Szenerie. Die Morgensonne malte lange Schatten durch die Bibliothek, ließ die schwarzen Federn wie kleine Seen aus Dunkelheit erscheinen.

"Es beginnt wieder", flüsterte Hartmann neben ihm.

Koch nickte stumm. Die "Raben" waren zurück. Und diesmal würde es nicht bei einem Opfer bleiben.

Erste Untersuchungen

Der Schnee fiel noch immer in dichten Flocken, als die Spurensicherung ihre Arbeit in der Bibliothek aufnahm. Die weißen Overalls der Techniker bildeten einen surrealen Kontrast zu den dunklen Holzregalen. Kriminaloberkommissar Viktor Thalheim beobachtete, wie seine Kollegen methodisch den Raum dokumentierten.

"Die Wassertemperatur lag bei zwei Grad", berichtete Dr. Martinez von der Rechtsmedizin. Sie kniete neben der Leiche, die nun in einer schwarzen Folie gehüllt war. "Der Tod muss zwischen ein und drei Uhr nachts eingetreten sein. Und sehen Sie hier..." Sie deutete auf mehrere kleine Einstichstellen am Hals des Opfers.

Thalheim ging in die Hocke. "Injektionen?"

"Definitiv. Die genaue Substanz wird das Labor klären müssen." Martinez deutete auf einen kreisförmigen Abdruck neben den Einstichstellen. "Das könnte von einem Ring stammen."

Die schwarzen Federn um den Fundort zogen Thalheims Aufmerksamkeit auf sich. Die Spurensicherung fotografierte und dokumentierte jede einzelne. Ihre perfekte kreisförmige Anordnung schien fast rituell.

Draußen vor der Bibliothek hatte sich trotz der frühen Stunde eine Gruppe Schüler versammelt. Die meisten wirkten verstört, einige weinten. Nur ein Mädchen mit eisigem Blick stand regungslos da. Sophia Berger, wie er später erfuhr.

Dr. Koch erwartete sie in seinem Büro. Der korpulente Mann wirkte fahrig, seine Hände zitterten leicht, als er den Beamten Kaffee anbot.

"Ein tragischer Unfall", begann er. "Jana war eine ausgezeichnete Schülerin..."

"Lassen Sie uns die Einordnung den Ermittlungen überlassen", unterbrach Thalheim kühl. "Was können Sie mir über die 'Raben' sagen?"

Koch erstarrte für einen Moment. "Eine harmlose Schülerverbindung. Traditionell künstlerisch orientiert."

Das Telefon auf Thalheims Schreibtisch klingelte. Das Labor. Er hörte aufmerksam zu, während sein Blick auf Dr. Koch ruhte. Als er auflegte, herrschte Stille im Raum.

"Die Toxikologie ist da", sagte er schließlich. "Sie haben Ketamin im Blut gefunden. Ein verschreibungspflichtiges Narkosemittel." Er beobachtete Koch genau. "Wer hat hier Zugang zu solchen Medikamenten?"

In diesem Moment klopfte es, und Dr. Claudia Weber trat ein. Die Schulärztin trug ihren typischen weißen Kittel, doch ihre Augen waren gerötet vom Weinen. Als Mutter des Opfers hätte sie eigentlich gar nicht im Dienst sein dürfen.

"Die Krankenstation ist versiegelt", sagte Thalheim zu ihr. "Wir müssen den Medikamentenbestand überprüfen."

Dr. Weber nickte mechanisch. "Natürlich. Ich... ich habe die Zugangsprotokolle dabei." Ihre Hände zitterten, als sie einen Ordner auf den Tisch legte.

Die ersten Befragungen der Schüler brachten wenig. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Zu perfekt einstudiert, dachte Thalheim. Als hätten sie alle das gleiche Skript gelernt.

Besonders das Gespräch mit Emma Schneider blieb ihm im Gedächtnis. Das schüchterne Mädchen mit der dicken Brille hatte gezittert, während sie sprach. Aber ihre Augen... In ihnen lag etwas Berechnendes.

"Jana war... nett zu mir", hatte sie gesagt. Eine offensichtliche Lüge.

Später am Nachmittag kam der detaillierte Bericht der Spurensicherung. Unter den Fingernägeln des Opfers hatten sie Hautpartikel gefunden. Und etwas anderes: mikroskopisch kleine Fasern eines sehr speziellen schwarzen Stoffes.

Thalheim stand am Fenster seines provisorischen Büros und blickte über das verschneite Gelände. Die Raben hatten sich auf dem alten Turm versammelt, eine schwarze Krone gegen den grauen Winterhimmel.

Er griff zum Telefon und wählte eine Nummer in der Zentrale. "Verbinden Sie mich mit Sarah Reichert von der Sonderkommission Jugendkriminalität." Er wartete. "Frau Reichert? Hier ist Thalheim. Wir haben einen Fall, der Sie interessieren könnte. Es geht um Ihre alte Schule... Rabenstein."

Eine lange Pause am anderen Ende. Dann: "War es in der Bibliothek?"

Thalheim erstarrte. "Woher...?"

"Ich komme sofort." Ihre Stimme klang angespannt. "Wurde ein Ring gefunden?"

"Nein. Aber ein Abdruck davon."

"Dann hat es wieder begonnen", sagte sie leise. "Nach zwanzig Jahren."

Kapitel 2: Rückkehr nach Rabenstein

Sarah betritt das Internat

Der eisige Januarwind zerrte an Sarah Reicherts Mantel, als sie vor dem schmiedeeisernen Tor des Internats Rabenstein stand. Zwanzig Jahre. So lange hatte sie diesen Moment hinausgezögert. Die verschnörkelte Aufschrift "Rabenstein" über dem Tor warf denselben geschwungenen Schatten wie damals.

Sie holte tief Luft und trat durch das Tor. Sofort fiel ihr die neue Überwachungskamera auf, diskret in den gotischen Verzierungen versteckt. Modern und alt, Kontrolle und Tradition – typisch Rabenstein. Ihre Schritte knirschten im Schnee, als sie den gewundenen Pfad zum Hauptgebäude nahm.

Weitere Kameras, geschickt getarnt zwischen Efeu und Steinornamenten. Das alte Gemäuer hatte sich gewappnet. Aber gegen was? Oder wen?

Im Foyer erwartete sie bereits Alexander Koch, der Internatsleiter. Seine Haltung war steif, das Lächeln aufgesetzt. "Kommissarin Reichert. Willkommen zurück in Rabenstein." Er streckte ihr die Hand entgegen. Seine Finger waren kalt.

"Oberkommissarin", korrigierte Sarah automatisch. Sie kannte Koch noch aus ihrer Schulzeit, damals war er stellvertretender Direktor gewesen. Seine Augen hatten nichts von ihrer berechnenden Schärfe verloren.

"Natürlich, verzeihen Sie. Kommissar Thalheim erwartet Sie bereits. Aber zunächst möchte ich Ihnen Dr. Hartmann vorstellen, unseren Kunstlehrer." Koch deutete auf einen hochgewachsenen Mann, der gerade die breite Marmortreppe herunterkam.

Michael Hartmann war das Gegenteil von Koch – lässig, charmant, mit einem warmen Lächeln. "Ah, die berühmte Sarah Reichert. Die Schülerin, die zur Ermittlerin wurde." Er musterte sie interessiert. "Ihre Rückkehr sorgt für... Gesprächsstoff."

Sarah bemerkte die unterschwellige Warnung in seinen Worten. Die Schüler, die im Foyer standen, beobachteten sie unverhohlen. Die Nachricht ihrer Ankunft hatte sich offenbar schnell verbreitet.

"Dr. Hartmann betreut unsere Kunstgruppen", erklärte Koch. "Auch die Raben."

Sarah ließ sich nichts anmerken, aber der Name traf sie wie ein Schlag. Die Raben. Marie. Nein, nicht jetzt.

"Ihr Büro ist im Westflügel eingerichtet", fuhr Koch fort. "Zusammen mit Kommissar Thalheim."

Der Weg dorthin war ein Gang durch die Vergangenheit. Dieselben hohen Fenster, durch die das Winterlicht fiel. Dieselben dunklen Holzvertäfelungen. Sogar der Geruch war unverändert – Bohnerwachs, alte Bücher und dahinter etwas Moderiges.

Thalheim erwartete sie bereits. Seine kantigen Gesichtszüge wurden von der Nachmittagssonne in scharfe Kontraste getaucht. "Reichert. Gut, dass Sie da sind."

"Was haben Sie bisher?"

Er breitete Fotos auf dem Schreibtisch aus. "Jana Weber, 17. Tod in der Bibliothek. Ketamin im Blut. Schwarze Federn, kreisförmig angeordnet." Sarah starrte auf die Bilder. Die Bibliothek hatte sich nicht verändert. Dieselben hohen Regale. Dieselben gotischen Fenster.

"Sie kannten das Opfer?", fragte Thalheim.

"Nein." Sarah wandte den Blick nicht von den Fotos ab. "Aber ich kannte ihre Mutter. Dr. Weber war schon zu meiner Zeit hier Schulärztin."

"Und die Raben? Koch erwähnte, Sie hätten... Erfahrung mit der Gruppe."

Sarah trat ans Fenster. Draußen kreisten schwarze Gestalten um den alten Turm. "Die Raben sind mehr als nur eine Schülergruppe. Sie sind das Herz von Rabenstein. Seine dunkle Seele." Sie drehte sich zu Thalheim um. "Und sie hüten Geheimnisse, für die Menschen sterben."

"Wie Ihre Freundin Marie?"

Sarah erstarrte. Natürlich hatte er ihre Akte gelesen. "Das war vor zwanzig Jahren."

"Mit erschreckend ähnlichen Details." Er schob ihr ein weiteres Foto zu. "Auch damals schwarze Federn. Auch damals ein Ring-Abdruck."

Draußen verdunkelte sich der Himmel. Die Raben zogen engere Kreise um den Turm.

"Geschichte wiederholt sich nicht", sagte Sarah leise. "Sie rächt sich."

Alte Erinnerungen

Sarah stand im verlassenen Korridor des Westflügels. Die Mittagssonne warf lange Schatten durch die Bleiglasfenster, ein vertrautes Muster auf dem polierten Holzboden. Zwanzig Jahre, und doch war alles wie damals. Selbst der leichte Geruch nach Bohnerwachs und altem Holz.

Ihre Finger strichen über die Wandvertäfelung, bis sie die kleine Kerbe fand. "M+S" - Marie und Sarah, eingeritzt in einer längst vergangenen Nacht. Marie hatte gelacht, während Sarah nervös Wache hielt.

"Miss Reichert?"

Sarah zuckte zusammen. Diese Stimme kannte sie. Frau Dr. Schelling, ihre alte Deutschlehrerin, stand am Ende des Ganges. Noch immer die gleiche strenge Haltung, das gleiche akkurat geschnittene graue Haar.

"Guten Tag, Frau Dr. Schelling."

"Nach all den Jahren." Die alte Dame musterte sie. "Sie sind also zurückgekommen."

"Nicht freiwillig."

"Das dachte ich mir." Dr. Schelling deutete auf eine Tür. "Mein Büro ist noch immer dasselbe. Kommen Sie."

Das Büro war ein Zeitkapsel. Dieselben Bücherregale, derselbe schwere Schreibtisch. Sarah's Blick fiel auf die Fotowand dahinter. Jahrgänge über Jahrgänge, perfekt arrangiert.

"Sie suchen sich selbst?", fragte Dr. Schelling und trat neben sie.

"Nein." Sarah deutete auf ein Foto von 2004. "Die Raben. Das war unser Jahr."

Acht Schüler in schwarzen Blazern, darunter Marie mit ihrem strahlenden Lächeln. Sarah selbst stand am Rand, bereits damals mit diesem wachsamen Blick. Und zwischen ihnen, jung und ambitioniert: Alexander Koch.

"Es war eine schwere Zeit nach Maries Tod", sagte Dr. Schelling leise.

"War es wirklich Selbstmord?"

Die alte Lehrerin schwieg lange. "Sie waren dabei, Sarah. Sie müssten es wissen."

"Ich weiß nur, was man mir später erzählte." Sarah wandte sich um. "Was ich angeblich ausgesagt habe."

"Die Raben existieren noch immer", wechselte Dr. Schelling das Thema. "Andere Namen, gleiche Regeln."

"Gleiche Geheimnisse?"

"Vorsicht, Sarah." Dr. Schellings Stimme wurde scharf. "Manche Türen sollten geschlossen bleiben."

Sarah verließ das Büro mit einer Kopie des alten Fotos. Ihre Schritte führten sie automatisch zur Bibliothek. Der Tatort war noch immer abgesperrt, aber durch die offene Tür sah sie den Ort, wo Jana Weber gefunden wurde.

Erinnerungen überfluteten sie. Marie, die nachts hier lernte. Die geheimen Treffen der Raben zwischen den Regalen. Das alte Buch mit den verschlüsselten Botschaften...

Sie ging zum Archiv, zog die schwere Tür auf. Der modrige Geruch alter Dokumente schlug ihr entgegen. Ihre Taschenlampe streifte über die Regale, bis sie fand, wonach sie suchte: Jahrbücher.