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Die junge Witwe Julia Severin ist auf sich allein gestellt, seit ihr Ehemann bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Ihr einziger Lebensinhalt sind ihre beiden Kinder Roberta und Ralph, ihnen schenkt sie ihre ganze Aufmerksamkeit. Dabei merkt sie nicht, wie sehr sie sich vor allem von ihrer eifersüchtigen und besitzergreifenden Tochter beeinflussen lässt. Auf deren Drängen beendet sie schließlich sogar ihre Affäre. Doch eines Tages kommt Julia zu der Überzeugung, dass sie sich alleine behaupten muss und dass es sich lohnt, für das eigene Glück, für die eigenen Träume und für eine neue Liebe zu kämpfen. Band 2 der »Julia Severin«-Trilogie von Marie Louise Fischer.
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Seitenzahl: 546
Marie Louise Fischer
Roman
Julia schrak zusammen.
Sie hatte geträumt, eine Treppe hinaufzusteigen, aber dort, wo eben noch eine Stufe gewesen war – oder sie eine Stufe vermutet hatte – war plötzlich nichts mehr, und sie hatte ins Leere getreten. Dadurch war sie erwacht.
Noch mit geschlossenen Augen versuchte sie, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Sie lag in den Armen ihres Geliebten, den Kopf an seiner Brust, und der Geruch von Tabak verriet ihr, dass er rauchte.
Als sie die Augen aufschlug, begegnete sie seinem Blick.
Liebevoll betrachtete er sie. »Ich mochte dich nicht wecken«, verteidigte er sich, ohne dass sie ihm einen Vorwurf gemacht hatte, »du wirktest so entspannt.«
»Wie spät ist es?« Sie wollte sich aus seinen Armen lösen, um einen Blick auf das Zifferblatt der Nachttischuhr zu werfen.
Er hielt sie fest. »Reg dich nicht auf! Du bist nur wenige Minuten weg gewesen.«
»Wie spät?«, fragte sie noch einmal.
»Gerade erst zehn vorbei.«
Sie atmete auf und schmiegte sich an ihn. »Dann schaffe ich es noch.«
»Natürlich schaffst du es!« Er streckte seinen langen Arm über sie aus und zerdrückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher.
Im Zimmer herrschte ein sanftes Licht; die Vorhänge waren fest zugezogen, und nur eine kleine Lampe auf der Kommode des einfach eingerichteten Schlafzimmers brannte.
Er küsste sie, erst zärtlich und dann mit wachsender Leidenschaft.
Als sie spürte, dass sein Begehren wiedererwachte, legte sie beiden Hände gegen seine Brust und schob ihn mit sanfter Entschlossenheit von sich. »Bitte, nicht, Dieter … du weißt!«
»Du brauchst doch erst in einer Stunde zu Hause zu sein.«
»Aber erst muss ich mich noch duschen und … sei mir nicht böse, ich habe jetzt einfach nicht mehr den Nerv dazu.« Mit einem Seufzer der Enttäuschung gab er sie frei. »Wann wird das endlich anders werden?«
Das war eine Frage, auf die er, so hoffte sie, nicht ernsthaft eine Antwort von ihr erwartete. Sie hatten dieses Thema schon allzu oft diskutiert. So gab sie ihm nur noch einen raschen Kuss, der seine Schulter traf, und schlüpfte aus dem Bett.
Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und beobachtete sie, wie sie sich nackt im Zimmer bewegte, ihre Kleider zusammensuchte und sich bückte, um einen Strumpf aufzuheben. Sie tat das mit großer Selbstverständlichkeit, und er genoss es.
»Wenn ich dich nur nicht so liebte«, sagte er.
Sie richtete sich auf und sah ihn an. »Wünschst du dir das wirklich?«
»Manchmal schon.«
»Das finde ich nicht nett von dir.«
Gegen seinen Willen musste er lachen. Sie war jetzt sechsunddreißig Jahre alt, aber immer noch war ihr etwas Mädchenhaftes geblieben, wenn ihre Taille auch nicht mehr ganz so schmal war wie in ihren jungen Jahren. Ihr Körper war immer noch straff, ihr Popo rund, und ihre kleinen Brüste hüpften kaum, wenn sie auf und ab ging. Er fand, dass sie Unschuld ausstrahlte, und das schien ihm umso merkwürdiger, als sie sich ihm noch vor Kurzem mit der ganzen Leidenschaft einer reifen Frau hingegeben hatte. Er dachte, dass es vielleicht an ihrem herzförmigen Gesicht mit den großen, weit auseinanderstehenden braunen Augen lag, oder an ihrem dunklen, kurz geschnittenen Haar, das jetzt zerzaust war wie das eines kleinen Jungen nach einer Rauferei. Nein, eher kam es wohl daher, dass sie immer so beschützt gewesen war. Selbst nach dem Tod ihres Mannes, der durch einen unverschuldeten Autounfall ums Leben gekommen war, hatte sie keine finanziellen Sorgen kennengelernt. Robert Severin war Beamter gewesen, Amtsgerichtsrat, und zusätzlich zu ihrer Witwenpension zahlte ihr die Versicherung des Unfallschuldigen einen steigenden monatlichen Zuschuss. Außerdem besaß sie ja noch das Haus in der Akazienallee, das zur Hälfte vermietet war. So war es ihr seit eh und je erspart geblieben, sich im Existenzkampf abzustrampeln.
Darüber hinaus hatte es immer den einen oder anderen Mann gegeben, der sich um sie gekümmert hatte, ohne mehr von ihr zu verlangen als ihre Dankbarkeit.
Nein, ganz so war es nicht gewesen, berichtigte er sich. Erhofft hatten sich ihre Freunde schon sehr viel mehr von ihr. Aber sie war nie bereit gewesen, mehr zu geben als eben Dankbarkeit und Freundschaft, und sie hatte Schluss gemacht, sobald ein Verehrer mehr von ihr gefordert hatte.
Er, Dieter Sommer, Studienrat am Gymnasium in Bad Eysing, war der Einzige, dem es gelungen war sie zu erobern. Aber hatte er sie denn erobert? Er musste sich eingestehen, dass es nicht so war. Ja, sie gab sich ihm hin, aber nur in diesen kurzen, heimlichen Stunden. Danach wurde sie wieder ganz sie selbst, Julia Severin, die Witwe des früh verstorbenen Amtsgerichtsrats und verantwortungsbewusste Mutter zweier halbwüchsiger Kinder.
Aber das genügte ihm nicht, würde ihm nie genügen. Er wollte sie ganz für sich haben, als seine Frau. Julia Sommer – kein Name hatte einen schöneren Klang in seinem Ohr. Um sie wirklich für sich zu gewinnen, war er zu jedem Opfer bereit. Es hätte ihm durchaus nichts ausgemacht, bei ihren Kindern die Vaterstelle zu übernehmen, und mochten sie auch noch so schwierig und verwöhnt sein.
Julia wusste das; er hatte es ihr oft genug versichert. Aber das hatte ihn keinen Schritt bei ihr weitergebracht.
Es war nicht wegen ihrer Selbständigkeit, die sie nicht aufgeben mochte, nicht wegen ihrer Pension, auf die sie nicht verzichten wollte; es ging ihr einzig und allein um ihre Kinder.
Sie, so meinte Julia, hatten ein Recht auf ihre ungeteilte Liebe, und ihnen musste jeder Grund zur Eifersucht und jeder Schmerz erspart bleiben.
Er hätte gern noch einmal mit ihr darüber gesprochen, gerade jetzt, an diesem Abend. Er war eigentlich sicher, sie überzeugen zu können. Aber sein Verstand sagte ihm, Worte würden jetzt nur Schaden anrichten.
Sie wusste ja, wie es um ihn stand; sie musste eines Tages selber einsehen, dass es nicht immer so mit ihnen weitergehen konnte, auch nicht mehr so lange, bis ihre Tochter Roberta, heute dreizehn Jahre, ihren eigenen Weg gefunden hatte. Er wollte Julia heiraten, so lange sie beide noch jung waren, und er wollte Kinder mit ihr haben. Nur dann würde sie sich ihm wirklich zugehörig fühlen. Es war quälend, immer wieder die gleichen Gedanken denken, sich in den gleichen Hoffnungen verzehren zu müssen. Manchmal verstand er nicht, wie Julia, die doch sonst so feinfühlig war, das nicht begriff.
Plötzlich glaubte er, dass sie es spüren müsste. »Julia!«, rief er.
Sie kam sofort aus dem Bad, jetzt schon wieder vollständig angezogen, in einem Rohseidenkleid, das in der Taille mit einer rotbraunen Seidenschnur gegürtet war, das Haar sorgfältig frisiert. »Wie sehe ich aus?«, fragte sie.
»Anbetungswürdig!«, brach es aus ihm heraus.
»Ach, du Dummer!« Sie knipste das Deckenlicht an. »Sag mir ehrlich, muss ich mein Gesicht noch zurechtmachen?«
»Für mich nicht.«
»Das weiß ich … für Roberta! Ich hatte mich doch ein bisschen angemalt, weil ich angeblich ins Konzert wollte. Wird es ihr nicht auffallen, wenn ich jetzt mit blankem Gesicht nach Hause komme?«
»Sie wird sicher schon schlafen.«
»Und wenn nicht?«
»Dir wird schon was einfallen«, sagte er müde.
Sie wandte sich zum Spiegel über der Kommode hin und öffnete ihre kleine Abendtasche. »Ich glaube, ich nehme doch lieber ein bisschen Lippenstift.«
»Julia«, sagte er, »versetzt du dich eigentlich nie in meine Lage?«
Sie schraubte die Hülse zu, tat den Lippenstift in ihre Handtasche und drehte sich zu ihm hin. »Du hältst mich für ziemlich oberflächlich, wie?«, fragte sie leichthin, dabei war ihr Gesicht jedoch sehr ernst.
»Nein, ich frage mich nur …«
»Ich weiß, wie schwer das alles für dich ist! Aber ich leide ja auch.«
»Du!?«
»Ich hasse Heimlichkeiten … ich hasse sie so sehr, dass ich manchmal überlege, ob es nicht besser wäre uns zu trennen.«
»Das könntest du?«
»Wenn es mir nicht so unendlich schwerfiele, hätte ich es längst getan.«
Er bereute, dass er es zu dieser Auseinandersetzung hatte kommen lassen. Sie waren glücklich miteinander gewesen, und er hatte wieder einmal alles verderben müssen.
»Ich gehe jetzt«, sagte sie und schlüpfte in ihren braunen Biberpelz.
»Kommt nicht in Frage!« Er sprang aus dem Bett. »Ich bringe dich natürlich.«
»Das ist doch nicht nötig. Bis zum Taxistand sind es doch nur ein paar hundert Meter.«
»Du traust mir zu, dass ich dich allein durch die Nacht laufen lasse?!«
»Und warum nicht? Hier bei uns ist das doch ganz ungefährlich. Oder ist dir etwa zu Ohren gekommen, dass sich in Eysing nachts Bösewichte und Unholde auf den Straßen herumtreiben?«, sagte sie, machte aber keine Anstalten zu gehen, sondern beobachtete gerührt, wie er, nackt wie er war, in seine Hosen schlüpfte und sich den Rollkragenpullover über den Kopf zog. »Du solltest wenigstens Strümpfe anziehen«, mahnte sie, »sonst wirst du dich noch erkälten, darin sehe ich die einzige Gefahr.«
»Für die paar Minuten … nicht nötig«, wehrte er ab und steckte seine großen Füße in ausgeleierte Boots.
»Sei froh, dass du nicht mein Sohn bist, sonst würde ich dir was erzählen.«
»Ich bin froh, dass ich nicht dein Sohn bin«, erklärte er mit Nachdruck und nahm sie in die Arme.
Sie schmiegte sich kurz an ihn und rieb die Wange an seiner Brust, machte sich dann aber rasch frei. »Wenn du mich fahren willst … bitte, dann los!«
Er hatte die Frage auf der Zunge, ob sie es denn vor Sehnsucht nach ihrer Tochter nicht länger aushalten könnte, verbiss sich diese Bemerkung aber, weil ihm bewusst wurde, dass sie von kindischer Eifersucht diktiert worden war. »Also gehn wir«, sagte er stattdessen, »verdammt, wo habe ich meine Autoschlüssel?«
»Wahrscheinlich, wo du sie immer hast!«, erwiderte sie sanft. »Greif mal in deine Jackentasche!«
Er zog die Lederjacke an, die er über den Stuhl geworfen hatte, und fasste hinein. »Wahrhaftig!« Er ließ den Ring mit den kleinen Schlüsseln um den Zeigefinger kreisen. »Wer hätte das gedacht?!«
Obwohl dies eine rein rhetorische Frage war, sagte sie: »Ich!« Sie ging ihm voraus in den Flur und die schmale Treppe hinunter, die geradewegs in die Garage führte.
Das war einer der Gründe, warum er das kleine Haus gemietet hatte. Es lag in einer Feriensiedlung, einige Kilometer von Bad Eysing entfernt. Zwei Reihen von Häusern, vierzig an der Zahl, waren hier auf billigem Grund völlig gleichförmig nebeneinander aufgebaut worden. Die meisten waren fest vermietet, wurden aber nur an den Wochenenden und in den Ferien bewohnt. Das ganze Jahr über lebte, außer Dieter Sommer, nur ein geschiedener Mann hier draußen, der seiner Frau die Wohnung hatte überlassen müssen, und ein junges Ehepaar, das sich nichts Besseres hatte leisten können. Die Häuser waren allzu hastig zusammengeschustert worden und zeigten die ersten Verfallserscheinungen, kaum dass sie bezogen worden waren.
Trotzdem hatte Dieter Sommer seine schöne Wohnung in der Innenstadt, nahe dem Gymnasium, die er möbliert bewohnt hatte, ohne Bedauern aufgegeben. Für die Liebenden brachte das den Vorteil, dass Julia ihn ungesehen besuchen konnte.
Meist trafen sie sich in der Stadt, wo sie in sein Auto einstieg. Auf wechselnden Umwegen fuhren sie dann heraus und in seine Garage. Allerdings trieb Julia die Vorsichtsmaßnahmen nicht so weit, sich auf ihrem Sitz zu ducken. Das wäre ihr albern und unwürdig vorgekommen.
Sie war auch sicher, dass jeder in Bad Eysing von ihrer Beziehung zu dem jungen Studienrat wusste, obwohl einige noch rätseln mochten, wie nahe sie sich tatsächlich standen. Julia hatte so viele Jahre lang alle Annäherungsversuche so entschieden abgelehnt, dass man sie am Stammtisch »die standhafte Witwe« nannte.
Es war ihr ziemlich gleichgültig, was die Leute von ihr dachten und über sie redeten. Sie beide, Dieter und sie, waren ja erwachsene und freie Menschen und konnten tun und lassen, was sie wollten. Vielleicht würden einige, die sich ausrechneten, dass ihre Beziehungen nicht platonisch geblieben waren, sie als »unmoralisch« bezeichnen. Die meisten aber würden doch wohl Verständnis für sie aufbringen. Dafür, dass sie ihn nicht heiratete, gab es in den Augen ihrer realistischen Mitbürger einen sehr einleuchtenden Grund: Sie hätte dadurch ihre sehr gute Pension verloren.
Nein, nicht der Leute wegen trafen sie ihre Vorsichtsmaßnahmen, sondern nur, damit Julias Kinder nichts erfahren sollten. Zwar lebte Ralph, siebzehnjährig, jetzt in München und besuchte sie nur noch sporadisch. Aber auch er hatte sich von der Mutter das Bild einer reinen, unberührbaren Frau gemacht. Julia hatte bisher nicht die Kraft gehabt, den Sockel, auf den er sie gestellt hatte, einzustürzen.
Jetzt, als sie neben Dieter durch die nächtlich stille Siedlung fuhr, deren Wege von wenigen Straßenlaternen spärlich beleuchtet wurden, sagte sie plötzlich: »Ich glaube, ich habe alles falsch gemacht.«
Er glaubte nichts anderes, als dass sich ihre Zweifel auf ihre Liebe zu ihm bezögen, und war zu erschrocken, um eine Frage zu stellen.
Nach einer Pause, die ihm unendlich lang schien, fügte sie hinzu: »Mit meinen Kindern.«
»Ach so«, sagte er und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme erleichtert klang.
»Damals«, fuhr sie gedankenverloren fort, »als sie noch klein waren … nach Roberts Tod und auch noch Jahre danach … da war ich wahrscheinlich so, wie sie mich sahen. Aber ich habe mich verändert. Meine Gefühle haben sich verändert und meine Einstellung zum Leben. Nur für sie bin ich immer die geblieben, die ich einmal war.«
»Hm, hm«, machte er nur, denn er konnte ihr nicht widersprechen und fürchtete, sie mit einer Bestätigung zu reizen.
»Nicht, dass ich nicht immer wieder versucht hätte auszubrechen. Aber es ist mir einfach nicht gelungen. Sobald ich etwas sagte oder tat, das nicht in ihr Bild von mir passte, waren sie so bestürzt und erschrocken, dass ich …« Sie suchte nach Worten.
»… gleich wieder einen Rückzieher gemacht hast.«
»Ja«, gab sie zu, »ich konnte es nicht durchstehen. Lach mich nicht aus, es war zu schwer. Wenn jemand von dir glaubt, dass du ihn liebst … nur ihn und niemand anderen auf der Welt, würdest du dann …« Sie überbrach sich. »Stell dir vor, du würdest dich in eine andere Frau verlieben … würdest du es mir dann einfach so ins Gesicht sagen?«
»Nicht einfach so. Ich würde dir ja nicht wehtun wollen. Aber ich würde es dich doch wohl merken lassen. Ich kann mich nicht sehr gut verstellen, weißt du.«
»Siehst du! Und genau das ist es: Ich habe das Gefühl, dass mein Leben eine einzige Verstellung geworden ist. Nur bei dir fühle ich mich frei … fühle ich mich, wie ich bin.«
Er legte seine Hand mit leichtem Druck auf ihr Knie. »Schön, das zu hören.«
»Warum nur können sie mich nicht lieben wie ich bin?«
»Weil du ihre Mutter bist. Kinder sehen ihre Mutter eben immer nur in dieser Rolle. Sie können sich auch nur schlecht vorstellen … lehnen diesen Gedanken ab, verdrängen ihn … dass sie mit ihrem Vater schläft. Irgendein Schutzmechanismus, nehme ich an.«
»Aber ist das denn nicht schrecklich!«
»Nein, es ist ganz normal, nur …« Er stockte.
»Sprich doch! Was wolltest du sagen?«
»… dass deine Kinder allmählich keine Kinder mehr sind. Ralph ist fast erwachsen, er hat sich weitgehend von dir gelöst, und auch Roberta sollte allmählich imstande sein, sich mit den Tatsachen des Lebens vertraut zu machen. Hast du schon mal ein Aufklärungsgespräch mit ihr gehabt?«
»Oh das! Natürlich.«
»Und?«
»Gar nichts. Sie kann sich noch nicht vorstellen, dass sie je … auf diese Weise … mit einem Mann zusammen sein wird … und natürlich auch nicht, dass ich es tun könnte.«
»Du musst ihr behutsam klarmachen …«
»Als wenn ich das nicht schon unzählige Male versucht hätte! Aber sie lacht mich nur aus oder, was noch schlimmer ist, schaltet einfach ab.«
»Tja«, sagte er nur.
»Was soll das heißen?«
»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Wahrscheinlich fehlt es dir einfach am nötigen Egoismus.«
»Wenn ich damals gleich … ein oder zwei Jahre nach Roberts Tod … einen anderen Mann genommen hätte, wäre vielleicht alles leichter gewesen. Aber nein, auch nicht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sie gebockt haben, sobald sie fühlten, dass sich jemand für mich interessierte. Und ich selber … ich hatte damals einfach kein Interesse.«
»Dafür brauchst du dich doch nicht zu entschuldigen«, sagte er, »es wäre mit Gewissheit falsch gewesen, wenn du dich in eine neue Bindung gestürzt hättest, ohne innerlich dazu bereit zu sein. Außerdem … dann hättest du mich ja nicht kennengelernt.«
»Vielleicht doch. Vielleicht wäre ich inzwischen schon wieder geschieden … Aber gerade das wollte ich nicht riskieren. Ich mag nicht, wenn die Dinge in die Brüche gehen.«
»Ich weiß«, sagte er liebevoll, »du willst immer alles so gut wie möglich machen.«
»Ist das ein Fehler?«
»Natürlich nicht.«
»Aber es klang bei dir so.«
»Weißt du«, sagte er sehr behutsam, »ich habe den Eindruck, dass du immer mit Gott und aller Welt und besonders natürlich mit den Menschen, die du liebst, in voller Harmonie leben willst.«
»Ja, das stimmt. Aber ich kann nichts Falsches darin sehen.« Die Lichter von Bad Eysing tauchten vor ihnen auf, der Verkehr auf der Straße wurde lebhafter, und er zog seine rechte Hand zurück und legte sie ans Steuer.
»Um des lieben Friedens willen«, sagte er, »verzichtest du, deine Rechte durchzusetzen. Das hast du schon immer getan. Als dein Mann noch lebte, hast du dich ihm gefügt, und jetzt fügst du dich deinen Kindern.«
»Wenn du wüsstest, wie es in der Ehe meiner Eltern zugegangen ist, könntest du mich besser verstehen. Streit von morgens bis abends und dann … das schreckliche Ende.« Mit Überwindung fügte sie hinzu: »Meine Mutter hat sich das Leben genommen.«
»Armer Liebling.« Jetzt war er betroffen. »Das hast du mir nie gesagt.«
»Alle in Eysing wissen es.«
»Aber ich bin nicht von hier, und niemand hat es an mich herangetragen.« Er löste jetzt doch wieder die Hand vom Steuer und strich ihr sanft über die Wange. »Jedenfalls bin ich froh, dass ich es jetzt weiß.«
Er hätte ihr gerne klargemacht, wie groß der Unterschied zwischen ständigen Reibereien und dem klaren Anspruch auf das eigene Recht war. Aber er unterließ es, weil ihm bewusst wurde, dass er mit seinem eigenen Egoismus und seiner Eifersucht genauso an ihr zerrte wie ihre Kinder.
»Ich denke immer, dass es besser ist, mehr an die Wünsche und das Wohl der anderen zu denken … dadurch werden sie es dann auch tun …«
»Man könnte meinen, du lebtest auf dem Mond!«, rutschte es ihm heraus.
Sie zuckte zusammen.
»Tut mir leid«, fügte er rasch hinzu, »ich wollte dich nicht verletzen. Aber wann haben deine Kinder je an dich gedacht?«
»Oh, Ralph verwöhnt mich, er besucht mich so oft er kann und Roberta hilft mir im Haus …«
»Du weißt genau, dass ich das nicht meine.«
»Sie sind eben noch Kinder. Aber wenn sie erst erwachsen sind, werden sie begreifen, wie sehr ich mich bemüht habe, sie glücklich zu machen, und sie werden für mich da sein … sie werden nicht wie andere Kinder froh sein, dem Elternhaus zu entrinnen.«
Er hatte nicht das Herz, ihr ihre Illusionen zu zerstören, und er wusste auch, dass jedes weitere Wort jetzt gegen ihn sprechen würde. Kein Wort konnte stark genug sein, sie zu überzeugen.
Sie fuhren durch die hell erleuchtete Innenstadt; die letzten Kinovorstellungen waren beendet, und es waren noch viele Leute, besonders jugendliche, unterwegs.
»Wollen wir noch einen Schluck trinken?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Du weißt doch!«
»Ja, ich weiß!«, sagte er resigniert.
Als er nach dem Rathausplatz rechts einbog, reagierte sie sofort. »Wohin fährst du?«, fragte sie und richtete sich auf »Die Akazienallee liegt geradeaus.«
»Keine Angst, ich will dich nicht entführen. Ich möchte dir nur einen Abschiedskuss geben, und das können wir doch nicht vor deinem Haus.« Er parkte und nahm sie in die Arme.
Sie erwiderte seine Küsse, aber er spürte ihre Ungeduld. In Gedanken war sie schon nicht mehr bei ihm, und er gab sie frei. Aber als sie die Tür öffnete, versuchte er sie zurückzuhalten.
»Was soll das? Ich bringe dich doch selbstverständlich.«
»Nein, lass mich. Ich gehe jetzt zu Fuß. Es sind ja nur noch ein paar Schritte.«
»Aber es ist doch nichts dabei, wenn ich dich zur Haustür fahre.«
»Das nicht. Aber vielleicht ist es auch mal ganz gut, wenn ich zu Fuß nach Hause komme!«
»Du übertreibst deine Vorsichtsmaßnahmen!«
Aber sie war schon ausgestiegen. »Ich will jetzt einfach noch ein paar Schritte gehen.« Plötzlich wurde ihr bewusst, dass er sich verletzt fühlen könnte; sie beugte sich noch einmal ins Innere des Wagens und gab ihm einen raschen Kuss. »Bis bald, Dieter! Wir telefonieren dann wieder, ja?«
»Wenn Roberta in der Schule ist«, sagte er nicht ohne Bitterkeit, dann fügte er in verändertem Ton hinzu: »Keine Sorge, Julia, ich liebe dich sehr … trotz deiner Marotten.«
Sie warf ihm eine Kusshand zu, bevor sie sich abwandte und davon schnitt – sehr schlank, trotz des Pelzmantels, mit geradem Rücken, den Kopf erhoben.
Er musste gegen den Impuls ankämpfen, ihr nachzufahren, um sich zu überzeugen, dass sie sicher und unbelästigt nach Hause kam. Es war ihm, als zöge sie ganz allein in den Kampf gegen eine Welt, die sie nicht verstand.
Die Akazienallee, auf der das schöne alte Haus, das Julia von ihrer Mutter geerbt hatte, früher einmal einsam gestanden hatte, war im Lauf der letzten Jahre zu einer breiten Straße geworden. Es gab gepflasterte Bürgersteige zu beiden Seiten und dazwischen eine asphaltierte Fahrbahn. Zum Glück war sie ruhig geblieben, weil sie nicht dem Durchgangsverkehr diente. Die Häuser, solide gebaut, standen in angemessenem Abstand voneinander und in großen Gärten. Die Akazienallee war eine vornehme Straße, in der sich reiche Pensionäre angesiedelt hatten, um so das ganze Jahr über die Heilmittel des Bades genießen zu können. Hier lagen weder Geschäfte, noch Restaurants, aber das Kurhaus war zu Fuß in einer knappen Viertelstunde zu erreichen, die Innenstadt in zwanzig Minuten. Die milchweißen Laternen auf ihren altehrwürdigen gusseisernen Pfählen leuchteten sie nicht voll aus.
Julia fürchtete sich nicht, auch wenn die Häuser zumeist schon im Dunkel lagen und es allein ihre Schritte waren, die auf dem Pflaster klapperten.
Es war Ende Oktober. Die Luft war nach einem sonnigen Tag winterlich frisch geworden, und aus den Gärten kam ein Geruch von welkendem Laub und verblühten Astern.
Keinen Augenblick dachte sie an Gefahr, und dennoch schlug ihr Herz höher, als ihr eigenes Haus vor ihr auftauchte. Die Lampe über dem Eingang brannte, und aus den Fenstern des unteren Stocks fiel helles Licht bis auf die Straße hinaus.
Sofort fiel ihr wieder ein, dass die Kasts, die seit Jahren zur Miete wohnten, heute Abend eine Party gaben. Auch sie und Dieter Sommer waren eingeladen gewesen, aber sie hatten es vorgezogen, die seltenen Stunden, die sie ganz für sich haben konnten, nicht mit anderen zu teilen. Agnes Kast war ihre Freundin, die einzige wirkliche Freundin, die sie hatte, aber die Menschen, die sie eingeladen hatte, Geschäftsfreunde ihres Mannes, Handwerker zumeist, waren ihr fremd.
Sie stieg die drei breiten Stufen hinauf und schloss so leise wie möglich auf, obwohl sie sich selber sagte, dass diese Vorsicht übertrieben war; bei dem Stimmengewirr, Gelächter und Gläserklirren würde bestimmt niemand auf die Haustür achten. Aber sie wusste auch, dass Agnes ihr Schicksal mit großer Anteilnahme verfolgte. Es war nicht auszuschließen, dass sie auf ihre Heimkehr gewartet hatte und aus der Wohnung geschossen kam, sobald sie sie hörte.
Aber Julia war durchaus nicht zu einem Schwatz aufgelegt, sondern hatte jetzt nur noch den Wunsch, sich von Robertas Wohlergehen zu überzeugen und sie so schnell wie möglich in die Arme zu schließen.
Auch die kleine Halle, in altmodischem Luxus mit weißen und schwarzen Marmorplatten ausgelegt, erstrahlte in hellem Licht; offensichtlich hatte Günther Kast zu Ehren seiner Gäste stärkere Birnen in die Jugendstil-Deckenlampe eingeschraubt.
Die Wohnungstür war, wie Julia mit einem raschen Blick feststellte, nur angelehnt. Obwohl sie sich albern vorkam, streifte sie rasch die Schuhe ab und schlich auf Strümpfen die Treppe hinauf.
In ihrer Wohnung hörte sie männliche Stimmen, die sie erschreckten, bis ihr klar wurde, dass sie aus dem Fernseher kamen, den Roberta zur vollen Lautstärke aufgedreht hatte.
Ohne ihren Mantel auszuziehen, betrat sie rasch das Wohnzimmer. Roberta war von der Tür her nicht zu sehen; sie hockte in einem der schweren Ledersessel, aber es war unmöglich, dass sie bei diesem Lärm eingeschlafen war.
»Hallo, Liebling!«, rief Julia munter. »Da bin ich wieder!« Es kam keine Antwort.
Julia lief zu dem Sessel, beugte sich über ihre Tochter und gab ihr einen raschen Kuss.
»Hallo, Julia«, sagte Roberta mit gespieltem Desinteresse. Julia nahm die Fernbedienung, die auf der Sessellehne lag. »Ein bisschen leiser, ja?«, bat sie.
»Wenn es denn sein muss.«
»Ist der Film interessant?«
»Nein, überhaupt nicht.«
»Dann können wir ja ausstellen!« Julia schaltete ab. »Wieso bist du überhaupt noch auf? Du solltest längst im Bett sein.«
»Du weißt doch, dass ich nicht einschlafen kann, solange du nicht zuhause bist.«
»Du hättest es wenigstens versuchen können.«
»Wo ich doch weiß, dass es zwecklos ist.«
Julia hatte keine Lust auf eine Auseinandersetzung, deshalb lenkte sie ein. »Ist auch nicht so wichtig, morgen ist ja Samstag.« Sie knipste die Stehlampe an, ging hinaus, zog sich den Mantel aus und hing ihn über einen Bügel in der Garderobe. Dabei warf sie unwillkürlich einen Blick in den Spiegel. Ihre Augen strahlten, und ihre Wangen waren leicht gerötet. Sie wirkte jung und frisch, und sie fragte sich, ob das von der Liebe oder von dem kurzen Spaziergang kam.
Dann hörte sie, dass Roberta sich in der Küche am Kühlschrank zu schaffen machte.
»Hast du noch Hunger?«, rief Julia und folgte ihrer Tochter.
»Nur Durst!«
Als sie in die Küche trat, war Roberta gerade damit beschäftigt, eine Flasche Cola zu öffnen. Julia verbot sich, sie zu tadeln. Es war ja ihre eigene Schuld, dass sie, trotz besseren Wissens, immer wieder Cola und auch, wenn nur in beschränktem Maße, Süßigkeiten ins Haus brachte. Aber sie konnte ihrer Tochter nicht jeden Wunsch abschlagen. Dabei wäre es für Roberta viel besser gewesen, sich an die vitaminreiche, kalorienarme Kost zu halten, die Julia ihr zu den Mahlzeiten vorsetzte, und die sie auch mit ihr teilte.
Robertas Problem war ihre Figur. Sie hätte ein hübsches Mädchen sein können mit ihrem runden Gesicht, dem hellblonden langen Haar und der klaren Haut, aber sie hatte Speck auf den Hüften, und das, obwohl Julia mit ihr im Sommer wie im Winter häufig Tennis spielte. Dazu kam, dass sie ständig mürrisch dreinschaute. Wahrscheinlich glaubte sie, eine Miene der Überlegenheit zur Schau zu tragen, aber auf ihre Mitmenschen wirkte sie abweisend.
Julia bedauerte sie, ließ es sich aber nie anmerken; auch jetzt sagte sie nur: »Dann werde ich noch ein Glas Wein mit dir trinken.«
Sie holte sich eine Flasche französischen Weißwein aus dem Kühlschrank, Muscadet de Sèvre, ihre Lieblingsmarke, und schenkte sich ein Glas ein. Gern hätte sie sich jetzt eine Zigarette angezündet, aber die Versuchung war gering, da sie keine im Haus hatte. Um Robertas willen hatte sie sich das Rauchen abgewöhnt, nachdem das junge Mädchen angefangen hatte, auch einmal ziehen zu wollen. Julia wollte ihr kein schlechtes Beispiel geben und sie schon gar nicht zum Rauchen verführen oder auch nur anregen.
»Na, wie war’s?«, fragte Roberta, nahm einen langen Schluck und schenkte sich gleich wieder ein.
»Schön!«, sagte Julia. »Wollen wir nicht lieber wieder reingehen?«
»Wie du meinst.«
»Im Wohnzimmer ist es doch gemütlicher … vor allem sind die Sessel bequemer.«
»Dir tut wohl der Po weh vom langen Sitzen?«
»Nein, das gerade nicht.«
»Diese harten Stühle … die sind einer der Hauptgründe, warum ich Konzerte hasse.«
Sie gingen ins Wohnzimmer, und Julia löschte hinter ihnen das Küchenlicht.
Roberta warf sich in einen Sessel, wobei sich ihr Nachthemd – sie hatte sich schon für die Nacht zurechtgemacht – bis zu den dicken Oberschenkeln hinaufschob. Julia stellte fest, dass es ihr zu eng oder zu kurz geworden war und dass sie ihr dringend neue Nachthemden oder Schlafanzüge besorgen musste. Aber sie sprach es nicht aus.
»Also, erzähl mal!« Roberta sah ihre Mutter über den Rand des Glases hinweg erwartungsvoll an. »Wie war das Konzert?«
»Seit wann interessierst du dich für Konzerte?«, fragte Julia ausweichend.
»Ist der Pianoplayer wirklich so toll wie er auf den Plakaten aussieht?«
»Das ist doch ganz unwichtig. Es kommt auf die Musik an.«
»Stimmt ja gar nicht.« Roberta nuckelte an ihrem Glas. »Auch das Aussehen und das Auftreten ist wichtig, sagt Fräulein Nolte, wenn man als Solist Karriere machen will.«
»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht«, gab Julia zu, »vielleicht hat sie sogar recht.«
»Also sag schon: Wie war er?«
»Ich habe nicht darauf geachtet«, log Julia und suchte verzweifelt das Thema zu wechseln. »Du, hör mal, wie wär’s, wenn du dich jetzt ganz rasch hübsch machen würdest? Wir könnten noch ein Stündchen zu Kasts gehen.«
»Was sollen wir da?«
»Na eben … feiern. Mit den anderen lustig sein.«
»Mit den Deppen?«
»Du kennst doch nur die Kasts, und die sind …«
»Ach, geh mir weg mit denen! Bist du denn nicht am liebsten mit mir zusammen?«
»Doch, natürlich.«
»Dann erzähl schon endlich, wie es heute Abend gewesen ist! War Tante Lizi auch da? Mit ihrem neuen Typen?«
Plötzlich ertrug es Julia nicht länger. »Wenn ich ganz ehrlich sein soll …«, begann sie zögernd und mit einem Lächeln, das um Verzeihung bat.
»Nun sag bloß, darauf hättest du auch nicht geachtet!«
»Ich war gar nicht im Konzert!«
»Nicht!« Roberta riss die Augen auf. »Bist du zu spät gekommen? Aber warum hast du das denn nicht gleich gesagt?«
Da Roberta offensichtlich nichts begriff, geriet Julia in Versuchung, einen Rückzieher zu machen. Aber sie kämpfte dagegen an. Sie wollte endlich Klarheit zwischen sich und ihrer Tochter schaffen. Wenn die schöne Harmonie, die im Allgemeinen zwischen ihnen herrschte, auf einer großen Lüge aufgebaut war, konnte sie nichts taugen.
»Ich war mit Dieter Sommer zusammen«, bekannte sie.
»Ausgerechnet!« Roberta stellte das Glas hart auf den Tisch. »Wo?«
»Ich habe ihn besucht.«
»In seiner Wohnung?«
»Ja.«
»Und dafür hast du dich so feingemacht?«
»Nicht dafür. Sondern damit du glauben solltest, ich ginge ins Konzert. Ich wollte dir nicht wehtun, Liebling! Bitte, versteh doch!«
Roberta sprang hoch. »Du hast mich also allein gelassen … nur um mit diesem Typen zusammen zu sein!«
»Du wolltest mich ja nie ins Konzert begleiten«, verteidigte Julia sich schwach.
»Das ist doch keine Entschuldigung!«
»Ich glaube nicht, dass ich mich bei dir zu entschuldigen brauche.«
»Nicht! Obwohl du mich nach Strich und Faden belogen hast?« Auf Robertas runden Wangen bildeten sich hektische rote Flecken.
Unwillkürlich dachte Julia, dass sie auf erstaunliche Weise einer eifersüchtigen Ehefrau glich. »Jetzt hör mich doch mal in Ruhe an, Robsy«, bat sie und streckte die Hand nach ihr aus, um sie an sich zu ziehen.
Aber Roberta wich zurück. »Das hätte ich nie von dir gedacht!«, schrie sie.
»Das hat sich alles so entwickelt«, sagte Julia, »du weißt, Dieter Sommer und ich kennen uns schon seit vielen Jahren. Ich hätte immer so sehr gewünscht, wir alle könnten gute Freunde sein. Aber Ralph und du, ihr habt ihn von Anfang an abgelehnt …«
»Und das mit Recht!«
»Mit welchem Recht?«, fragte Julia, jetzt wirklich verwundert.
»Weil er ein Unsympath ist … und weil er dir nachstellt!«
»Er liebt mich!«
»Ach was! Das kann jeder sagen.«
»Ich weiß, dass er mich liebt.«
»Na und? Ich liebe dich auch … ich liebe dich viel, viel mehr!« Robertas Gesicht verzerrte sich, und sie brach in wildes Schluchzen aus. »Ach, Julia … Julia …« Sie warf sich ihrer Mutter in die Arme.
Julia zog sie auf den Schoß, wie sie es so oft getan hatte, als das Mädchen noch kleiner gewesen war. Jetzt war sie schwer geworden, nicht mehr das leichte kuschelige Etwas, sondern eine drückende Last. Dennoch floss Julias Herz über vor Liebe und Erbarmen, als Roberta sich verzweifelt an sie klammerte.
»Bitte, mein Liebling«, sagte sie und streichelte sie sacht, »nun reg dich doch nicht so auf! Du weißt genau, dass du für mich das Liebste auf der Welt bist. Niemand steht meinem Herzen näher als du … du und natürlich auch Ralph.«
»Dann versprich mir, dass du nie, nie wieder …«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Dann liebst du mich auch nicht!«
»Robsy, wie kannst du denn so unvernünftig sein! Du bist doch jetzt schon ein großes Mädchen. Warte mal ab, in ein paar Jahren wird ein junger Mann kommen, mit dem du gern zusammen sein möchtest. Nun stell dir mal vor, wenn ich dir dann so eine Szene machen würde!«
»Nie, nie, nie!«
Julia spürte, wie Robertas heiße Tränen auf ihr Seidenkleid tropften. Flüchtig schoss es ihr durch den Kopf, dass sie wohl Flecken geben würden. Sie hasste sich wegen dieses egoistischen Gedankens und zog ihre Tochter noch enger an sich. »Du hast recht, das würde ich nie tun, denn ich weiß, dass jeder Mensch …«
»Nie wird ein junger Mann kommen!« Roberta riss sich los und sprang auf. »Und wenn einer käme, wär’s mir auch egal. Ich würde mich gar nicht um ihm kümmern. Ich brauche keinen. Ich will nur mit dir zusammen sein.«
»Aber Robsy, das wäre doch ganz unnatürlich!«
Roberta starrte Julia aus schwimmenden Augen an. »Du möchtest mich also los sein? Sag’s nur! Du spekulierst darauf, dass ich mit irgendeinem Kerl abzische, nur damit du mit diesem dämlichen Steißtrommler zusammen sein kannst!«
»Robsy, ich bitte dich! Was sind das für Ausdrücke!«
»Das ist die Wahrheit!«
»Herr Sommer hat noch niemals irgendjemanden verhauen« – »Aber er ist trotzdem bloß ein blöder Pauker! Und du willst mich seinetwegen loshaben.« Roberta versuchte, sich mit den Fäusten die Tränen aus den Augen zu reiben.
»Aber davon kann doch keine Rede sein, Liebling! Ich möchte bloß hin und wieder ein paar Stunden mit ihm zusammen sein … ohne dass ich dich deshalb belügen muss.«
»Du liebst mich nicht wirklich.«
»Das ist doch Quatsch. Du weißt, dass ich nur für dich lebe.«
»Dann lass den dämlichen Kerl sausen!«
»So kommen wir doch nicht weiter, Robsy …«
»Ich will auch gar nicht weiterkommen! Ich will, dass alles so bleibt, wie es war. Hatten wir es denn nicht schön miteinander? Immer haben wir uns gut verstanden, und seit Ralph weg ist, erst recht. Den hast du immer vorgezogen, das weißt du selber ganz genau! Aber ich habe nicht gemuckt. Endlich ist er weg, und jetzt kommst du mit diesem grauenhaften Typen an!«
Julia konnte einen schweren Seufzer nicht unterdrücken. »Robsy«, sagte sie, »wenn ich nicht wüsste, dass du jetzt sehr aufgeregt bist, könnte ich ernstlich böse werden. Aber ich glaube, es war mein Fehler. Ich hätte dieses Gespräch nicht anfangen dürfen … nicht jetzt, mitten in der Nacht. Ich mache dir einen Vorschlag: Gehen wir schlafen! Morgen früh sieht alles schon ganz anders aus.«
Roberta schniefte. »Das glaubst du doch selber nicht!«
Julia stand auf. »Jedenfalls werden wir beide in besserer Verfassung sein.«
»Ich nicht! Bildest du dir etwa ein, ich könnte schlafen?!«
»Nimm ein paar Tropfen Baldrian!«
»Baldrian!«, höhnte Roberta.
Julia räumte die Gläser ab. »Baldrian wirkt beruhigend und kann nichts schaden.«
»Nie hätte ich gedacht, dass du so lieblos sein kannst!« Roberta stampfte mit dem Fuß auf.
»Ich versuche nur vernünftig zu sein. Bitte, Robsy, Liebling, mach doch nicht so ein Theater!«
»Immer habe ich dir vertraut! Immer habe ich geglaubt, dass du mich liebst! Jetzt machst du alles kaputt und verlangst, ich soll das einfach so hinnehmen. Aber da hast du dich geschnitten, verlass dich drauf! Ich werde nicht einfach zusehen, wie du mich und dich und auch Ralph unglücklich machst …«
»Geh jetzt zu Bett, Robsy! Wir sprechen morgen weiter.«
»Ich will, dass du mir jetzt … jetzt sofort versprichst …«
»Nein, und das ist mein letztes Wort!«
»Du wirst schon sehen, was du davon hast!« Wie eine Megäre sauste Roberta an der Mutter vorbei und verschwand ohne ein »Gute Nacht« in ihrem Zimmer.
Als die Tür hinter ihr zuknallte, musste Julia lächeln. Es war eine schreckliche Auseinandersetzung gewesen, die erste, die sie und Roberta je gehabt hatten. Dennoch war sie froh, dass jetzt wenigstens die Wahrheit heraus war.
Sie war entschlossen, für ihre Liebe zu kämpfen.
Ralph kam am frühen Samstagnachmittag.
Julia hatte ihn halb und halb erwartet, denn er besuchte sie fast jedes Wochenende, immer mit einem Koffer voll schmutziger Wäsche, vor allem Oberhemden, und mit einem kleinen Geschenk: Blumen, Parfüm, einem Tüchlein, Seife oder einer anderen Überraschung.
Sie riss die Tür auf, kaum dass er geklingelt hatte, und er nahm sie mit einer fast altmodischen Grandezza in die Arme und küsste sie auf beide Wangen.
Dann hielt er sie von sich entfernt und musterte sie liebevoll: »Gut siehst du aus, Julia!«
»Du aber auch!«
Tatsächlich hatte er sich aus einem hübschen Jungen zu einem ausnehmend gutaussehenden jungen Mann entwickelt. Die Wimpern seiner grünen, schrägstehenden Augen waren nicht mehr so gebogen wie in seiner Kinderzeit, aber immer noch seidig, dicht und dunkel. Das braune, leicht gelockte Haar fiel ihm in einer weichen Tolle in die hohe Stirn, das Kinn wirkte energisch, und der hübsch geschnittene Mund war immer zu einem, meist etwas spöttischen, Lächeln bereit.
Unter dem Humphrey-Bogart-Mantel, den er jetzt auszog, trug er eine braune Cordsamthose, darüber ein offenes beiges Hemd und einen Pullunder, der in einem vorwiegend lindgrünen Muster gestrickt war.
»Und wie geht’s dir?«, fragte sie.
»Blendend.«
»Auch in der Lehre?«, erkundigte sie sich ein wenig zweifelnd, nicht, weil er je geklagt, sondern weil sie so viel lieber gesehen hätte, dass er sein Abitur gemacht hätte, als nach der Mittleren Reife auszusteigen.
»Aber ja!« Er legte seinen Arm um ihre Schultern. »Wartest du immer noch auf eine Katastrophe?«
»Sag doch so was nicht!«
»Ist es denn nicht wahr?«
»Nein, ich finde nur, dass du dich einfach zu früh ins Berufsleben gestürzt hast! Noch ein paar Jahre Schule …«
»… und ich wäre völlig verblödet! Nein, Julia, glaub mir, ich habe es richtig gemacht. Nicht, dass es immer nur Spaß wäre, aber es ist interessant. Ich bin jetzt in der Abteilung Kreuzfahrten … sie lassen mich in alle Abteilungen hineinriechen, weißt du.«
»Dann pass nur auf, dass du dir nicht den Geruchssinn verdirbst!«
Er lachte und drehte sich in der kleinen Diele um seine Achse. »Wo steckt denn Robsy?«
»Auf ihrem Zimmer.«
»Warum?«
»Erwartest du jedes Mal ein großes Empfangskomitee?« Sie nahm den Koffer. »Geh ins Wohnzimmer! Ich setze Kaffeewasser auf.«
Er nahm ihr den Koffer wieder aus der Hand. »Lass das! Der ist doch viel zu schwer für dich. Ich bringe ihn selber ins Bad.« Seine Hilfsbereitschaft tat ihr wohl, aber sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass ihm die Arbeit, die sie mit seinen Oberhemden hatte – er brauchte jeden Tag ein frisches, manchmal auch zwei, und immer mussten sie aus Baumwolle sein – gar nichts auszumachen schien. Allerdings hatte sie sich auch noch nie über die endlose Bügelei beklagt, und die Wahrheit war, dass sie es gerne für ihn tat. Nie hatte sie ihm den Vorschlag gemacht, sie doch einfach in eine Wäscherei zu bringen, denn sie war, wie auch er selber, überzeugt, dass man es dort nicht gut genug für seine Ansprüche machen würde.
Als sie das Kaffeetablett gerichtet hatte, saß er, die langen Beine von sich gestreckt, im Lieblingssessel seines früh verstorbenen Vaters, mit dem er, einmal abgesehen von der Größe, allerdings nicht die geringste Ähnlichkeit hatte. Eher war es Roberta, die, wenn sie die jugendliche Rundlichkeit der Wangen einmal verloren haben würde, nach ihrem Vater kam. »Gut, mal wieder zu Hause zu sein«, sagte er.
»Das könntest du immer haben.«
»Und jeden Tag nach München fahren? Nein, danke. Das wäre mir denn doch zu strapaziös.«
Sie hätte ihm sagen mögen, dass er sich ja auch eine Lehrstelle in Bad Eysing hätte suchen können. Aber sie hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass es ihm in der Kleinstadt nicht mehr passte, und sie verstand es auch. Roberta hatte ihr gesteckt, dass man hinter seinem Rücken über seine homoerotischen Beziehungen munkelte. Sie selber glaubte zwar nach wie vor nicht daran, war außerstande, es sich vorzustellen, begriff aber, dass schon der Verdacht genügen musste, um ihm das Leben schwer zu machen.
Da sie schwieg, fuhr er fort: »Und hier arbeiten? Ausgeschlossen. Zeig mir hier in Eysing einen Betrieb, der sich mit dem ABR vergleichen könnte!«
»Schon gut. Niemand macht dir Vorwürfe. Du hast deine Entscheidung getroffen, und ich habe sie akzeptiert. Jetzt kann ich nur hoffen, dass du sie nie bereuen musst.«
»Sei nicht so pessimistisch!«
»Bin ich ja gar nicht. Bloß … man ist als Mutter eben besorgt, wenn die Kinder allzu früh aus dem Haus gehen.«
»Du hast ja immer noch Robsy.«
»Ja, natürlich.«
»Und mich hast du doch auch nicht wirklich verloren! Meinst du, ich käme sonst so oft?«
»Es geht ja nicht um mich, Ralph, sondern um deine Zukunft. Wenn dir wirklich im Amtlichen Bayerischen Reisebüro die Arbeit gefällt, und wenn du dich in der Großstadt wohlfühlst, dann kommt es gar nicht darauf an, dass ich ein bisschen darunter leide.«
»Leidest du denn?«, fragte er betroffen.
Sie dachte nach und sagte ehrlich: »Nein. Jetzt nicht mehr.«
»Dann ist doch alles gut.«
»Ja, Ralph!« Sie strich ihm im Vorbeigehen, während sie den Tisch deckte, zärtlich über das weiche Haar – nur ganz leicht, denn sie wusste, er hasste es, wenn man seine Frisur durcheinanderbrachte. »Es ist alles in Ordnung … aber versprich mir eines: Wenn du Schwierigkeiten haben solltest, wendest du dich sofort an mich, ja?«
Er lächelte zu ihr hoch und dachte, dass sie der letzte Mensch wäre, den er mit seinen Sorgen belasten würde, sagte aber, um sie nicht zu beunruhigen: »Verlass dich drauf!« Dann wechselte er bewusst das Thema. »Du hast dir ja noch gar nicht angesehen, was ich dir mitgebracht habe!« Er lenkte ihren Blick auf ein kleines, in weiß und goldenes Papier verpacktes Päckchen.
»Was ist es?«
»Mach’s auf! Nicht so zaghaft! Reiß das Papier doch ruhig entzwei. Man kann ja doch nichts mehr damit anfangen.« Sie tat es, und zum Vorschein kam ein schwarz lackiertes, mit silbern hingepinselten Blattornamenten geschmücktes Kästchen. Vergebens versuchte sie es zu öffnen.
»Es ist nichts drin«, belehrte er sie, »du musst an der Kurbel drehen.«
Erst jetzt entdeckte sie die kleine Kurbel an der Seite, drehte sie und entlockte dem Kästchen einige Töne. »Eine Spieldose!«, rief sie.
»Du hast es erfasst!« Er nahm ihr das Kästchen aus der Hand, drehte die Kurbel rasch und gleichmäßig; eine Melodie erklang.
»Warte! Das kenn’ ich doch!«, rief sie. »Das ist der ›Clou‹, nicht wahr?«
»Meine musikalische kleine Mutter«, bemerkte er mit liebevollem Spott.
Unwillkürlich blickte sie zu dem Platz, wo das Klavier gestanden hatte. Sie hatte es verkauft, weil sie den Anblick nicht mehr ertragen konnte, nachdem er seine Übungen aufgegeben hatte. Sie hatte so viel Hoffnungen in seine musikalische Begabung gesetzt.
Auch ohne dass sie es aussprach, wusste er, woran sie jetzt dachte. »Ich liebe die Musik immer noch, Julia«, erklärte er, »und ich gehe so oft wie möglich ins Konzert, das heißt, soweit es meine als Azubi noch recht beschränkten Finanzen erlauben.«
»Wenn du Geld für Konzertkarten brauchst …«, erbot sie sich sofort.
»Nicht von dir, Julia!«, wehrte er ab.
Der Wasserkessel pfiff. Julia lief in die Küche.
»Ich hole Robsy!«, rief er ihr nach.
Als Julia wenige Minuten später ins Wohnzimmer zurückkam, saßen ihre großen Kinder beide am gedeckten Tisch, Ralph in lässiger Haltung, Roberta mit ungewohnt würdevollem Gesicht, als müsste sie sich zwingen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Julia goss Kaffee ein. »Holst du, bitte, die Platte mit dem Kuchen, Robsy?«, bat sie und sagte zu Ralph: »Ich habe Streuselkuchen gebacken, den magst du doch so gern.«
»Und wenn ich nun nicht gekommen wäre?«
»Hätten Robsy und ich ihn allein essen müssen … oder wir hätten ein paar Stücke zu Tante Agnes gebracht oder Tante Lizi und Leonore eingeladen. Irgendwie wären wir schon damit fertig geworden.«
»Du darfst nicht immer so fest damit rechnen, dass ich jedes Wochenende komme«, sagte er ernsthaft.
»Das tue ich ja auch gar nicht! Ich bereite mich nur für alle Fälle vor. Wenn du dir angewöhnen könntest, vorher anzurufen … sagen wir donnerstags … wäre es natürlich besser. Dann wüsste ich rechtzeitig Bescheid.«
»Aber wie soll ich denn immer schon donnerstags wissen, was ich am Wochenende vorhabe?«
»Aber dann beklag dich, bitte, auch nicht, wenn immer alles für dich bereit ist. Oder wäre es dir lieber, du kämst hier an und fändest das Nest leer?«
»Ich weiß nicht!« Er griff sich ein Stück Kuchen, noch ehe Roberta die Platte auf den Tisch gestellt hatte. »Wer weiß, vielleicht wäre es mal eine erfrischende Abwechslung.« Er biss in den Kuchen. »Lecker, lecker! Julia, du bist und bleibst unübertrefflich.«
Sie genoss das Lob. »Morgen Mittag gibt es Rehmedaillons«, kündigte sie an.
»Pech für mich! Dann bin ich leider nicht mehr da.«
Die Enttäuschung traf sie wie ein Schlag. Aber sie schwieg, um Ralph nicht zu belasten.
»Das ist so«, erklärte er, »ein Freund hat mich mit dem Auto gebracht. Das ist für mich doch viel bequemer, als mit dem Zug zu fahren. In zwei Stunden treffen wir uns vor dem Kurhaus, und dann fährt er mich nach München zurück.« Julia sagte immer noch nichts.
»Es tut mir leid, Julia«, fuhr er fort, »aber du musst das verstehen! Wenn ich erst einmal selber einen Wagen habe …«
»Du brauchst sie nicht zu trösten!«, platzte Roberta dazwischen. »Sie ist froh, wenn sie dich los ist … genau wie mich!«
Ralph blickte von Roberta zu Julia, die mit eiserner Miene dasaß, und wieder zu Roberta. »Ich verstehe immer nur Bahnhof!«
»Sie hat einen Freund!«, verkündete Roberta herausfordernd. »Dieter Sommer!«
Ralphs Irritation löste sich in einem Gelächter. »Ach den! Der war doch immer schon hinter ihr her!«
»Aber es ist nicht so harmlos, wie du denkst! Sie war bei ihm! In seiner Wohnung!«
»Und woher willst du das wissen? Hast du ihr nachspioniert?«
»Sie hat es mir selber gesagt!«
Jetzt wandte Ralph sich seiner Mutter zu. »Ist das wahr, Julia? Nein, ich kann’s nicht glauben. Du hast Roberta ärgern wollen, nicht wahr?«
»Du kennst sie schlecht!«, rief Roberta. »Von wegen ärgern! Erst hat sie mich sogar belogen! Sie hat behauptet, sie ginge ins Konzert. Und dann …« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie konnte nicht weitersprechen.
Ralph verstand immer noch nicht, oder er wollte nicht verstehen. »Herrgott, ihr Weiber! Man darf euch doch nicht allein lassen!« Angewidert schob er den Teller mit dem angebissenen Kuchenstück von sich fort.
»Ja, eben, wärst du nur geblieben! Bei dir hätte sie sich das nicht getraut. Du warst immer ihr Liebling. Aber auf mich nimmt sie keine Rücksicht.«
Julia hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, aber sie spürte, dass sie eingreifen musste. »Jetzt ist es aber genug«, sagte sie mit einer Stimme, die so gepresst war, dass sie ihr selber fremd klang.
»Das könnte dir so passen!«, schrie Roberta. »Wir haben gerade erst angefangen!«
»Komm, komm, Robsy«, mahnte Ralph, »nicht dieser Ton. Das Ganze kann doch nur ein großes Missverständnis sein. Wir werden das schon klären.«
»Dieter Sommer liebt mich schon seit Langem«, sagte Julia mühsam.
»Na und? Jeder, der dich kennt, muss dich lieben!«, behauptete Ralph.
»So ist es denn doch nicht.«
»Ganz genau so ist es! Seit Vater tot ist, waren dauernd irgendwelche Knacker hinter dir her. Aber du hast dir aus keinem was gemacht. Und jetzt ausgerechnet diesen Flachpfeifer?«
Julia straffte die Schultern und blickte ihrem Sohn in die Augen. »Er ist ein guter, liebenswerter Mensch … er ist klug und hat Humor …«
»Jetzt behaupte nur noch, dass du ihn liebst!«
»Vielleicht tu ich das wirklich.«
»Du hast immer gesagt, dass du nur uns liebst!«, fauchte Roberta.
»Ich liebe euch beide mehr als alles andere auf der Welt …«
»Na also!« Ralph lehnte sich zufrieden zurück.
»… aber ich liebe Dieter auch!«, fuhr Julia unbeirrt fort. »Auf eine andere Weise als euch. Ihr seid meine Kinder … er ist ein Mann.«
»Und das ist Grund genug für dich, mit ihm ins Bettchen zu hüpfen!« Ralphs Gesicht verzog sich verachtungsvoll.
»Du hast kein Recht, so mit mir zu reden!«, versuchte Julia ihn zurechtzuweisen. »Was geht es dich an, wenn ich jemanden liebe!«
»Aber doch nicht ausgerechnet diesen Pauker!«
»Diesen Steißtrommler!«, ergänzte Roberta.
»Für mich ist er gut genug! Oder meint ihr, ich sollte auf einen Astronauten warten? Einen Picasso? Einen Karajan?«
»Du brauchst auf niemanden zu warten«, erklärte Ralph, »du hast ja uns.«
»Aber wie lange noch? Du bist schon ausgezogen, und Roberta …«
»Ich werde immer bei dir bleiben«, versicherte das Mädchen, »immer!«
»Das glaubst du jetzt!«
»Nein, ich weiß es. Ich mache mir nichts aus Jungen. Sie sind dumm und ungeschickt und eingebildet. Wir beide könnten es so schön miteinander haben … wir hatten es doch so schön!«
»Aber Robsy! An unserem Zusammenleben ändert sich doch nichts, auch wenn ich hin und wieder mal Dieter Sommer besuche. Du hättest ja nichts davon gemerkt, wenn es mir nicht zu dumm geworden wäre, dich dauernd anzulügen.«
»Also heiraten will er dich nicht?«, fragte Ralph mit ausdrucksloser Miene, hinter der er seine Hinterlist zu verbergen suchte.
»Doch, natürlich. Aber mir gefällt mein Leben so, wie es ist. Ich will es gar nicht ändern.« Ehrlich fügte sie hinzu: »Jedenfalls vorläufig nicht.«
»Du wartest nur darauf, dass ich endlich abzische!«, schrie Roberta mit tränenerstickter Stimme.
»Das ist einfach nicht wahr!«, verteidigte Julia sich.
»Mir gefällt das nicht!«, erklärte Ralph. »Mir gefällt das ganz und gar nicht. Die Vorstellung, dass du mit diesem Kerl …« Er brach ab. »Grauenhafter Gedanke!«
»Vielleicht gefällt mir auch manches nicht, was du tust!«, schlug Julia zurück.
»Ich kann tun und lassen, was ich will! Ich bin kein kleiner Junge mehr.«
»Und ich bin eine erwachsene Frau!«
»Für mich warst du immer ein Engel.«
»Dann hast du mich falsch gesehen. Ich bin eine Frau aus Fleisch und Blut … eine Frau wie jede andere.«
»Nein, das bist du nicht. Mach dir nichts vor, Julia. Vielleicht möchtest du es sein, aber du bist es nicht. Du bist viel zu schade dazu, dass dieser Untyp sich an dir verlustiert.«
»Was hast du nur gegen Dieter Sommer? Er war doch immer anständig zu dir. Als du noch auf der Schule warst …«
»Das hat doch damit nichts zu tun! Ja, als Lehrer war er ganz recht. Aber ich ertrage es einfach nicht, dass er seine schmierigen Pfoten an dich legt.«
Julia holte tief Atem. »Wenn du mich wirklich liebhättest, Ralph, würdest du versuchen, mich so zu sehen, wie ich wirklich bin. Du würdest mir das bisschen Glück gönnen, das mir das Leben bietet.«
Roberta sprang so heftig auf, dass der Stuhl nach hinten umkippte. »Wir bieten dir also nichts!«
»Also nur ein bisschen Glück«, registrierte Ralph, »das hatte ich mir gedacht. Nicht die ganz große Liebe, sondern nur ein Abklatsch. Darauf müsstest du doch wirklich verzichten können … uns zuliebe.«
»Aber ich will es nicht«, sagte Julia aufgebracht und in die Enge getrieben, »verdammt nochmal … ich will es nicht! Mit welchem Recht verlangt ihr dauernd Opfer von mir?«
»Nicht dauernd«, korrigierte Ralph sanft, »sondern nur das eine.«
»Weil wir dich lieben! Verstehst du das denn nicht, Julia?«, rief Roberta. »Wir lieben dich und wollen dich nicht mit einem fremden Mann teilen!«
»Ihr beide seid ganz große Egoisten. Weiter nichts.« Julia stand auf. »Ich habe diese Auseinandersetzung satt. Robsy, sei, bitte, so lieb und räume ab. Dir, Ralph, wünsche ich eine gute Rückfahrt.« Mit hocherhobenem Kopf verließ sie den Raum.
Hinter ihrem Rücken hörte sie Ralph sagen: »Das war aber mal ein gemütliches Kaffeestündchen!«
In ihrem Zimmer hätte Julia sich am liebsten auf die Couch geworfen, den Kopf in die bunten Kissen vergraben und ihren Tränen freien Lauf gelassen.
Aber sie tat es nicht, weil sie wusste, dass diese Reaktion kindisch gewesen wäre; sie war kein junges Mädchen mehr, sie war eine erwachsene Frau. Doch sie schloss die Tür hinter sich ab, denn sie wollte ungestört bleiben, um nachdenken zu können.
Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich nicht wohl in ihrem geschmackvoll eingerichteten Zimmer. Der kleine Tisch mit der runden Platte und den zierlichen Sesseln, die Bücherwände, der Handarbeitstisch aus Rosenholz und die goldfarbenen Vorhänge schienen ihr eine Heiterkeit und Harmonie auszustrahlen, die es in Wahrheit gar nicht gab.
Am liebsten hätte sie die schöne alte Meissner Vase, in der ein Strauß später, rostroter Astern blühte, von der Konsole genommen und auf dem Boden zerschmettert.
Sie fühlte sich eingesperrt, vom Leben ausgesperrt, und das Schlimmste war, dass sie selber dieses Gefängnis um sich geschaffen hatte.
Vor wenigen Wochen hatte sie im Kurtheater Ibsens Drama »Nora oder das Puppenhaus« gesehen. Daran musste sie jetzt denken. Die Heldin hatte es sattgehabt, weiter in dem Puppenhaus zu leben, das ihr Mann ihr errichtet hatte. Sie aber, Julia, lebte in einem Puppenhaus, das sie selber erbaut hatte, für sich und ihre Kinder. Hier hatte sie die beiden vor der rauen Wirklichkeit, vor Schmutz, Bösartigkeit und Gemeinheit schützen wollen, aber auch vor der Leidenschaft, der Dämonie der Liebe. Sie hatte sich zur Gefangenen und zur Gefängniswärterin ihrer Kinder gemacht.
Ralph war ausgebrochen. Er hatte die Freiheit und den Kampf gewählt. Aber er wollte nicht zulassen, dass sein Puppenhaus zerstört wurde. Für ihn sollte es unversehrt bleiben, so dass er sich immer wieder hierher flüchten konnte, wenn auch nur in Gedanken. Er weigerte sich, sie als Frau zu akzeptieren. Für ihn sollte sie immer nur Mutter bleiben – nein, er sah sie nicht einmal als Mutter, die ihre Kinder mit Lust empfangen und unter Schmerzen geboren hatte, sondern als ein edles, geschlechtsloses Wesen, einen Engel!
Roberta klammerte sich mit allen Fasern ihres Herzens an sie, weigerte sich erwachsen zu werden, schnürte ihr mit ihrem Besitzanspruch die Luft ab und wollte ihr keinen Atemzug der Freiheit gönnen.
Julia trat ans Fenster. Dämmerung senkte sich über den Garten und löschte die letzten herbstlichen Farben. Die kahlen Zweige der Büsche und Bäume bewegten sich gespenstisch im Abendlicht. Als Julia das Fenster weit öffnete, drang frische kühle Luft herein und füllte ihre Lunge.
Sie spürte auf einmal, dass sie es hier, in der Stille ihrer vier Wände, nicht länger aushalten konnte. Sie öffnete den Kleiderschrank und riss ihren Trenchcoat vom Bügel, schlüpfte hinein und öffnete – sich selber hassend, weil sie es leise tun musste – die Tür. Aus dem Wohnzimmer hörte sie die erregten Stimmen ihrer Kinder. Sie nahm ihre Schlüssel und stürzte aus der Wohnung.
Die Haustür wurde von außen geöffnet, noch ehe sie sie erreichte.
Sie trat zurück, um nicht mit Agnes Kast zusammenzustoßen, die mit einem Korb Flaschen über dem Arm hereinkam.
»Hallo, Julia!«, grüßte die Freundin, und der fröhliche Klang ihrer Stimme stand im Gegensatz zu ihrem besorgten Blick. »Du gehst aus?«
Julia nickte stumm.
»Ich dachte, Ralph wäre gekommen!«
»Ist er auch.«
»Und du willst trotzdem …?«
»Nur Luft schnappen.«
»Krach mit den Kindern?« Julia nickte wieder.
»Soll ich dich begleiten? Ich muss nur eben die Flaschen …«
»Danke, nein! Ich will nur ein bisschen laufen …« Agnes verstand sofort, dass sie allein sein wollte. Julia stürmte an ihr vorbei auf die Straße.
Erst als sie das Haus ein gutes Stück hinter sich gelassen hatte, wurde ihr bewusst, dass sie die Freundin nicht sehr nett behandelt hatte. Agnes fiel ihr oft lästig durch die Anteilnahme, die sie an ihrem Leben zeigte. Aber sie war eben doch der einzige Mensch, der sich für sie und ihre Sorgen interessierte, ohne etwas von ihr zu wollen oder zu erwarten. Ohne Agnes hätte sie die Jahre nach dem Tod ihres Mannes sehr viel schwerer durchgestanden. Es tat ihr leid, dass sie sie so kurz abgewimmelt hatte. Aber sie wusste auch, dass sie sich deswegen keine Gedanken zu machen brauchte. Zu den besten Eigenschaften von Agnes zählte, dass sie, selbst wenn sie sich gekränkt fühlte, niemals nachtragend war.
Julia lief die Akazienallee entlang bis zum Kurpark; sie lief in leichtem Trab weiter über die schlecht erleuchteten Wege. Wenn ihr Menschen begegneten, wich sie ins Dunkel zurück. Sie wollte niemanden sehen, niemanden treffen, mit niemandem reden – nicht einmal mit Dieter Sommer. Sie gab sich der trügerischen Hoffnung hin, dass die körperliche Anstrengung sie von ihrer Last befreien würde.
Aber als sie endlich erschöpft stehen bleiben musste, um Atem zu holen, war sie so unglücklich wie zuvor. Sie begriff, dass es kein Davonlaufen geben konnte. Sie musste den Kampf durchstehen. Langsam, mit schleppenden Schritten, trat sie den Heimweg an.
Als sie die Wohnungstür öffnete, trat ihr Ralph in der kleinen Diele entgegen.
Mit lächelnder Unschuldsmiene fragte er: »Schon zurück?«
»Es hat den Anschein.«
Er lachte. »Na, jedenfalls hast du deinen Sinn für Humor wiedergefunden.«
»Ich weiß nicht, was an meiner Situation komisch sein sollte.«
Er half ihr aus dem Mantel. »Einiges … wenn du es als Außenstehender betrachten könntest.«
»Aber das kann ich eben nicht. Ich stecke mittendrin.«
»Das tun wir alle. Wir stecken immer in irgendwelchen Konflikten. Ist dir das noch nicht aufgefallen?«
»Ich glaube nicht, dass das sein muss.«
»Doch, Julia. So ist das Leben.«
Sie sah ihn an. »Wieso bist du noch nicht fort?«
»Ich hab’s mir anders überlegt.«
»Und dein Freund?«
»Den habe ich versetzt.«
»Ist das nicht ziemlich … unhöflich?«
»Wenn es um Sein oder Nichtsein geht, spielen Manieren kaum eine Rolle. Außerdem habe ich ihm abgesagt.«
»Vielleicht hast du recht«, sagte sie müde.
»Bestimmt sogar.«
Sie warf einen Blick in den Garderobenspiegel. Ihre Wangen waren leicht gerötet, und ihr Haar hatte sich zerzaust, aber ihre Augen hatten den Glanz verloren; sie wirkten sehr dunkel und abgrundtief traurig.
Ralph blickte ihr über die Schulter. »Wir könnten Geschwister sein, wie?«
»Nein!«, erwiderte sie kurz und fügte mit sanfterer Stimme hinzu: »Möchtest du etwas essen?«
»Robsy und ich haben uns gedacht, dass du Hunger haben würdest. Wir haben schon alles gerichtet.«
Der Tisch im Wohnzimmer war gedeckt, mit den hübsch gestickten Sets, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Kerzen brannten in gläsernen Haltern, und sogar die Butter in der offenen Dose war zu einer vielblättrigen Rose geformt worden.
»Hübsch«, sagte sie, ohne Begeisterung.
»Robsys Werk.«
»Und wo steckt sie?«
»Hat sich hingelegt.«
»Schon?« Julia blickte auf ihre Armbanduhr. »Es ist noch keine neun.«
»Sie war müde. Nach all den Aufregungen. Wahrscheinlich hat sie die letzte Nacht kaum geschlafen.«
»Kann sein.«
Er zog, ganz Kavalier, den Stuhl zurück, damit Julia sich setzen konnte, und nahm ihr gegenüber Platz.
»Du hast doch hoffentlich nichts dagegen, dass ich eine Flasche Wein aufgemacht habe?« Er hatte sie tatsächlich in den silbernen Kübel gestellt, den Julia seit Jahren nicht mehr benutzte. »Mit Wein schmeckt alles besser. Findest du nicht auch?« Er schenkte sich zuerst einen Schluck ein, nahm die Kostprobe und sagte mit Kennermiene: »Ganz ausgezeichnet!« Dann erst füllte er ihr und dann sein Glas, hob es ihr entgegen: »Auf unsere Liebe!«
Sie stieß mit ihm an, ohne jedoch den Trinkspruch zu erwidern. All die kleinen Happen, die sie für seinen Besuch und das Wochenende vorbereitet hatte – Fleischsalat, Zunge, eingelegte Pilze, Scampis und verschiedene Käse – schmeckten ihr wie Stroh, während er selber mit gutem Appetit und scheinbar unbekümmert aß.
Als sie abräumen wollte, sagte er rasch: »Lass nur! Das mache ich!« Mit der Geschicklichkeit eines Kellners stapelte er das gebrauchte Geschirr auf ein Tablett.
»Pack die Reste wieder ein, und tu sie in den Eisschrank!«
»Na klar Julia! Für was hältst du mich?«
In wenigen Minuten war er zurück. Julia saß immer noch am Esstisch. Er nahm die Kerzenleuchter, stellte sie auf den niedrigen Tisch in der Sitzecke und räumte auch die Gläser und den Kübel mit der Weinflasche um. Sie rührte sich nicht vom Fleck.
»Nun komm schon, Julia!«, drängte er mit überlegener Freundlichkeit. »Machen wir es uns doch gemütlich.«
»Mir ist nicht nach Gemütlichkeit zumute.«
Er ließ sich in den Lieblingssessel seines Vaters sinken. »Aber wir können schlecht miteinander reden, wenn du da drüben sitzt und ich hier.«
»Das ist ein Komplott«, sagte sie.
»Was soll das heißen?«
»Das weißt du genau. Du und Robsy, ihr habt ein Komplott gegen mich geschmiedet. Du bist hiergeblieben und verwöhnst mich, um mich weichzukochen.«
»Aber, Julia!«, sagte er mit mildem Vorwurf. »Wie kannst du so etwas Hässliches von uns denken? Du und Robsy, ihr habt Krach, und da ist es doch wohl meine Pflicht als Sohn und Bruder, die Wogen wieder zu glätten.« Er stand auf, ging zu ihr hin und zog sie vom Stuhl hoch. »Nun komm schon, liebe Julia, sei nicht trotzig!«
»Du sprichst mit mir, als wäre ich ein Kind.«
»In mancher Beziehung bist du es auch.« Er nahm sie fest in seine Arme. »In mancher Beziehung bist du ein bisschen weltfremd, das solltest du selber wissen.«
Seine Nähe tat ihr wohl, und am liebsten hätte sie den Kopf an seine Brust gelegt – er war inzwischen ein gutes Stück größer als sie – und hätte sich ausgeweint. Aber sie fürchtete, dass er genau darauf spekulierte und nahm sich zusammen.
»Vergiss nicht, ich habe einige Jahre mehr auf dem Buckel als du«, sagte sie und löste sich von ihm.
»Aber was für Jahre! Du hast doch gelebt wie in einem Schneckenhaus.«