Das eigentliche Theater oder Die Philosophie des Augenblicks - Gerhard Branstner - E-Book

Das eigentliche Theater oder Die Philosophie des Augenblicks E-Book

Gerhard Branstner

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Beschreibung

Wie fast immer kommt Branstner auch in dieser Auseinandersetzung mit dem Theater recht schnell auf eines seiner Lieblingsthemen zu sprechen. Dieses Thema ist die Heiterkeit: Das ursprüngliche und eigentliche Wesen des Menschen aber ist Heiterkeit. Und das Theater lebt mehr als alle andere Kunst von diesem Wesen des Menschen. Daher ist die Phase der Negation als das zweite Stadium der Vorgeschichte des Theaters auch sein finsterstes. Das ursprüngliche und eigentliche Wesen des Menschen sei Heiterkeit? Das ist zu belegen, sagt Branstner und fügt sogleich solche Belege aus vielen Teile der Erde an, von den Eskimo und Indianern Nordamerikas (damals durfte man sie offenbar noch so bezeichnen) bis zu den Schwarzafrikanern. Damit ist laut Branstner eine Grundstimmung ausgemacht. Von dort aus ist es auch nicht mehr sehr weit bis zum Kommunismus: Im Kommunismus wird nicht nur die allgemeine Funktion der Kunst erst eigentliche. In ihm erhält die Kunst auch erst ihren eigentlichen Inhalt. Wir hatten die auf sozialer Gleichheit beruhende Freiheit der Naturvölker als Voraussetzung ihrer Heiterkeit erkannt. Indem der Kommunismus diese Freiheit erneuert, erneuert er auch die Voraussetzung der Heiterkeit. Nur hat diese Heiterkeit eine höhere historische Qualität. Sie hat außer der sozialen auch die Freiheit gegenüber der Natur zur Voraussetzung, und sie hat die verkehrte Welt hinter sich. Die Welt der Klassengesellschaft kann, auch wenn sie historisch notwendig ist, nicht die eigentliche Geschichte der Menschheit, sie kann nur deren Vorgeschichte, nur die zweite Phase dieser Vorgeschichte sein. Könnte sie sonst die Heiterkeit, die schönste Form der menschlichen Wesensart, in ihr Gegenteil, in Ernst verkehren? Könnte sie sonst das Ende der Menschheit, den Untergang der Gattung Mensch auf die Tagesordnung setzen? (Allein die Kosten der Vorbereitung und Vermeidung eines Krieges bezahlt die Menschheit zunehmend mit ihren natürlichen und sittlichen Existenzbedingungen.) Und so definiert der Autor das Theater als eine spezifische Form des Spiels der heiteren Verstellung. Etwas später schreibt Branstner: In diesem Sinne ist das Theater Heiterkeit des Augenblicks. Auch das eigentliche. Nur ist die eigentliche Heiterkeit philosophische, daher ist seine Heiterkeit immer auch Philosophie des Augenblicks. Das macht den Unterschied. Daher muss das eigentliche Theater als Philosophie des Augenblicks definiert werden. Und als das ist es immer auch Augenblick der Philosophie.

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Impressum

Gerhard Branstner

Das eigentliche Theater oder Die Philosophie des Augenblicks

Ein Traktat - Ein Spiel - Ein Vergleich

Das Buch erschien 1984 im Mitteldeutschen Verlag Halle–Leipzig.

ISBN 978-3-96521-744-7 (E–Book)

Titelbild: Ernst Franta

© 2022 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E–Mail: verlag@edition–digital.de

Internet: http://www.edition-digital.de

Kurzgeschichte der Gesetze des Theaters

Das Wesen keiner Kunst ist so schwer zu fassen wie gerade dieser … aber fast alle Welt glaubt über das Theater reden und urteilen zu können

Ludwig Tieck

Alle bisherige Theorie des Theaters ist am Ende doch nur Theorie der Dramatik, der Stücke. Das führt zu dem folgenschweren Irrtum, das Stück nicht als Teil des Theaters, sondern das Theater als Reproduktionsanstalt von Stücken zu verstehen. „Spätestens seit Aristoteles“, konstatiert Rudolf Münz, „wird das Drama fast ausschließlich als literarische Erscheinung im Rahmen der Poetik betrachtet“, und das Theater selbst erscheint als „dienende Hilfskraft“ der Literatur.

Darstellungen „des Theaters als einer selbstständigen, eigengesetzlichen und schöpferisch-produktiven“ Kunst, resümiert Münz, „fehlen – soweit ich sehe – für den Gesamtbereich fast völlig“. Und Rudolf Penka fordert die Theaterwissenschaft auf, „nicht länger mehr eine ausschließlich idiografische“, beschreibende Wissenschaft zu sein, „die sich nur mit der Aufzeichnung von einmaligen, unwiederholbaren Ereignissen beschäftigt“, und stattdessen eine „Gesetze suchende“ Wissenschaft zu werden. Ohne Kenntnis der Gesetze einer Erscheinung haben wir nun einmal keine Wissenschaft von ihr. Das Schlimme ist nicht, dass wir keine Wissenschaft des Theaters haben – das Schlimme ist, dass wir glauben, wir hätten eine. Was man zu haben glaubt, das vermisst man nicht. Und man vermisst nicht, was man davon hätte, hätte man es.

Die Wissenschaft des Theaters kann nur die Geschichte seiner Gesetze: ihrer Ausbildung im Wechselspiel von Erfüllung und Verletzung sein. Allein die Gesetze des Theaters lassen uns sein seltsames Schicksal, seine Fortentwicklungen und Fehlentwicklungen, seine manchmal beglückende und oftmals bejammernswerte Erscheinung erkennen, – und seinen gegenwärtigen Zustand. Und sie lassen uns auch die Zukunft des Theaters voraussehen.

I. Theater einstmals

Eine Erscheinung, die von der Urgesellschaft über die Klassengesellschaft bis zum Kommunismus reicht, kann nicht aus einem Teil der Geschichte begriffen werden, will man nicht zu Kurzschlüssen kommen. Der Ethnologe Henri Morgan wusste um diese Gefahr, als er davor warnte, die Klassengesellschaft (von ihm Zivilisation genannt) zum Maß aller Dinge zu machen: „Die seit Anbruch der Zivilisation verflossene Zeit ist nur ein kleiner Bruchteil der verflossenen Lebenszeit der Menschheit; nur ein kleiner Bruchteil der ihr noch bevorstehenden.“ Ein kleiner Bruchteil kann nicht Maß des Ganzen, er kann nicht einmal Maß seiner selbst sein. Und wenn laut Marx die menschliche Gesellschaft ihre Vorgeschichte hat und die eigentliche ihr erst bevorsteht, so hat auch das Theater als eine Erscheinung dieser Gesellschaft seine Vorgeschichte, und auch dem Theater steht seine eigentliche Geschichte noch bevor. Daher müssen alle Bestimmungen des Theaters, die aus seiner bisherigen Geschichte abgenommen sind, „uneigentliche“ sein, wenn nicht verkehrte. Nämlich dann, wenn sie dem zweiten Stadium der Vorgeschichte, dem Theater der Klassengesellschaft, abgenommen sind.

Eine Erscheinung, die dem Gesetz der Negation der Negation folgt, verkehrt in der zweiten Phase, in der Phase der Negation, ihr ursprüngliches Wesen in das gerade Gegenteil, um es in der Negation der Negation als eigentliches zu gewinnen. Das ursprüngliche und eigentliche Wesen des Menschen aber ist Heiterkeit. Und das Theater lebt mehr als alle andere Kunst von diesem Wesen des Menschen. Daher ist die Phase der Negation als das zweite Stadium der Vorgeschichte des Theaters auch sein finsterstes. Das ursprüngliche und eigentliche Wesen des Menschen sei Heiterkeit? Das ist zu belegen.

Zunächst die Heiterkeit als ursprüngliches Wesen des Menschen. Beginnen wir mit dem nördlichsten der Naturvölker, den Eskimo. Von ihnen sagt Eva Lips, dass sie „die fröhlichsten und lachlustigsten unter den Völkern Amerikas“ seien. Sie konstatiert „eine Fröhlichkeit des Herzens … die kaum vorstellbar“ ist und bezeichnet die „Lachlust als anerkannte Hauptemotion der arktischen Menschen“.

Von den Indianern Nordamerikas sagt Georg Catlin: „Unter den Irrtümern, in die man … hinsichtlich der Wilden verfällt, ist wohl keiner allgemeiner verbreitet und falscher und zugleich keiner so leicht zu widerlegen als der, dass der Indianer ein mürrisches, verdrießliches, verschlossenes und schweigsames Wesen sei.“ Und nach seinen Erfahrungen mit den Mandanern, die „von den mannigfachen Leidenschaften und Begierden des zivilisierten Lebens noch unberührt geblieben sind“, berichtet Catlin, dass er „Zeuge der unerschöpflichen Scherze und des unauslöschlichen Gelächters“ sein konnte.

Diese Wesensart zeichnet auch die südamerikanischen Indianer aus, solange sie von der Zivilisation „unberührt geblieben“ sind. So charakterisiert Karl von Steinen die zentralbrasilianischen Bakairi als „heiter“ und Maximilian zu Wied-Neuwied die Botokuden als „lustig“.

Das gleiche gilt für die schwarzafrikanischen Naturvölker. Schon der Römer Galen wusste davon, wenn er die „Leute von Zendsch“ um 200 unserer Zeitrechnung wie folgt beschreibt: „Sie sind ausgelassen fröhlich. Nie sieht man einen Zendsch bekümmert. Der Kummer ficht sie nicht an, und die Freude umfasst sie alle.“ Die Heiterkeit der Naturvölker ist den „zivilisierten“ Menschen so ungewohnt, dass in Afrika tätige Naturforscher beispielsweise bei den Pygmäen noch heute „eine für uns Europäer unvorstellbare Heiterkeit“ antreffen. Da kann es einem vom Ernst geschlagenen Wissenschaftler, wie Johann Ludwig Krapf, passieren, diese Heiterkeit noch unerträglicher als eine Unbill der Natur zu „empfinden. „Ich war sehr froh, … abreisen zu können, da mir die empfindliche Nachtkälte, … noch mehr aber das lärmende Wesen der Wanika und Wakamba sehr zuwider war. Wenn die Leute nichts zu tun haben und in Sicherheit sind, so schwatzen und lachen sie und verüben alle möglichen Tollheiten, dass ein Europäer bei ihnen fast nicht aushalten kann.“

Die Heiterkeit der Südseeinsulaner ist uns geläufiger. Schon Adelbert von Chamisso berichtet von den Kanaken der Sandwichinseln: Das „Lachen hat hier nichts Feindseliges … jeder lacht über den anderen, König oder Mann, unbeschadet der sonstigen Verhältnisse.“ Und selbst von den heiligsten Kultveranstaltungen sagt er: Gegen „die Lustigkeit, mit der sie vollzogen wurden, könnte die Lustbarkeit eines unserer Maskenbälle für ein Leichenbegängnis angesehen werden.“ Nach einer Fülle gleichartiger Beobachtungen resümiert Chamisso: „Man findet den regsten Sinn und das größte Talent für den Witz unter den Völkern, die der Natur am wenigsten entfremdet sind.“ Und Georg Heinrich von Langsdorff spricht von den „immer frohsinnigen Menschen“ der Marquesasinseln. Ebenso Hermann Melville: „Ich hatte reichlich Gelegenheit, die Sitten der Eingeborenen zu beobachten … Eine von mir bewunderte Eigenart war die unablässige Heiterkeit.“

Heiterkeit war, um mit Eva Lips zu sprechen, unter den Naturvölkern die „Grundeinstellung zum Leben“. Sie entsprang der auf sozialer Gleichheit beruhenden Freiheit und war daher keine Laune oder individuelle Charaktereigenschaft, sondern gesellschaftliche Wesensart des Menschen, seine allgemeine und dauernde Stimmung, weshalb sie als Grundstimmung definiert werden kann. Daraus erklärt sich, dass auch die Kunst der Naturvölker heiter „gestimmt“ ist, Heiterkeit zum allgemeinen und dauernden Inhalt hat.

Die Kunst der Urgesellschaft ist noch unmittelbarer Ausdruck des Wesens des Menschen, seiner Heiterkeit. So können gleich mehrere Forscher von den „witzigen Trommeltänzen der Eskimo“ und den “Spottliedern“ berichten, die als „Gerichtssitzungen des verurteilenden Lachens … eine Institution des gesamten Eskimogebietes“ sind. (Gerichtsbarkeit in Form witziger Kunst ist wohl die menschlichste Form von Gerichtsbarkeit.)

Und von der Kunst der Indianer sagt Eva Lips: „Immer ist das Lachen das Mittel der Wirkung.“ So stellt sie bei den Nootka eine „Hinneigung zum Spaßmachertum“ fest: „Der Sinn für Späße ist schon in den Gemeinschaftstänzen der Nootka … In diesen Tänzen zeigt sich treffend das angeborene Komikertalent … Ähnliche Talente zeigen sie in den Spielen, die regelrechte Theatertitel tragen … Dabei werden neben anderen Späßen die Häuptlinge verhöhnt … Der Sinn für Spaß geht bei den Nootka so weit, dass sogar ein Kind es wagen darf, die heiligen Gesänge der Schamanen in spielender Lustigkeit karikierend nachzuahmen … Dass ein derart humorbegabtes Volk sich auch seinen Kulturheroen (den Helden, der alles Lebenswerte gebracht und gelehrt hat) nur als scherzhaften Charakter vorstellen kann, ist verständlich … und mit Recht wird die Großzügigkeit der Nootka-Kultur mit den Worten gerühmt: ‚Nicht in jeder Kultur ist es möglich, vor einem dankbar applaudierenden Publikum in fröhlicher Weise diejenigen Institutionen derb zu parodieren, die der Gemeinschaft heilig und teuer sind’.“ Und Catlin sieht, nachdem er das Gebiet der Indianer am Yellowstone als ein „wahres Land der Epikuräer“ kennengelernt hat, „diese Wildnis als die wahre Schule der Kunst“ an. Man betrachte ihre „Spiele und Unterhaltungen, die von unaufhörlichem Freudengeschrei begleitet sind, oder man gehe in ihre Wigwams und beobachte die um das Feuer versammelten Gruppen, wo Scherze und Anekdoten erzählt werden und fröhliches Gelächter erschallt – und man wird sich überzeugen, dass Lachen und Fröhlichkeit ihnen natürlich sind.“ Und bei den Sioux hat Catlin „so viele verschiedene Tänze“ gesehen, dass er „dieses Volk die ‚tanzenden Indianer‘ nennen möchte“. Einige dieser Tänze „sind ungemein grotesk und lächerlich und erhalten den Zuschauer in fortwährendem Gelächter“. Und von den Bakairi sagt Karl von Steinen, dass sie „mit lebendiger Pantomime“ zu spotten verstanden.

Die Heiterkeit der Kunst Schwarzafrikas belegt Eva Lips mit reichlichen Beispielen. So „dienen die in den Märchen auftretenden schalkhaften Tiere Afrikas einer geistvollen Lustbarkeit unter den Menschen und dienen außerdem im Palaver dem Beweis von Schuld oder Unschuld vor Gericht“. (Wenn nicht nur bei den Eskimo, sondern auch in Schwarzafrika Gericht in Form heiterer Kunst gehalten wird, kann das nicht aus dem Klima oder der Hautfarbe erklärt werden!)

Von den Polynesiern berichtet Chamisso: „Poesie. Musik und Tanz, die auf den Südseeinseln noch Hand in Hand, in ihrem ursprünglichen Bunde einhertreten, das Leben der Menschen zu verschönen, verdienen vorzüglich beachtet zu werden. Das Schauspiel der Hurra, der Festtänze der O-Waihier, hat uns mit Bewunderung erfüllt … Im wandelnden Tanze entfaltet sich … die menschliche Gestalt aufs Herrlichste, sich im Fortfluss leichter, ungezwungener Bewegung in allen naturgemäßen und schönen Stellungen darstellend … Welche Schule eröffnet sich dem Künstler, welcher Genuss bietet sich hier dem Kunstfreunde dar. Die schöne Kunst … ist die Blüte ihres Lebens, welches den Sinnen und der Lust angehört.“ Und zum gleichen Gegenstande: „So hingerissen und freudetrunken, wie die O-Waihier von diesem Schauspiel waren, habe ich wohl noch nie bei einem anderen Feste ein anderes Publikum gesehen.“ Und endlich: „Wahrlich, seit ich wiederholt die widrigen Verrenkungen anzuschauen mir Gewalt angetan habe, die wir unter dem Namen Balletttanz an unseren Tänzerinnen bewundern, erscheint mir, was ich … von der Herrlichkeit jenes Schauspiels gesagt habe, blass und dem Gegenstande nicht entsprechend! Wir Barbaren! Wir nennen jene mit Schönheitssinn begabten Menschen ‚Wilde’ … Ich habe es immer bedauert und muss hier mein Bedauern wiederholt ausdrücken, dass nicht ein guter Genius einmal einen Maler, einen zum Künstler Berufenen … auf diese Inseln geführt. – Es wird nun schon spät. Auf O-Taheiti, auf O-Waihi verhüllen Missionshemden die schönen Leiber, alles Kunstspiel verstummt, und das Tabu des Sabbats senkt sich still und traurig über die Kinder der Freude.“

Von den Insulanern auf Imeo berichtet Friedrich Gerstäcker: „Unter einem der größten Brotfruchtbäume … standen fünf Indianer mit Trommeln … einander gegenüber … Um sie her lagerten in bunten Massen – ich glaube alle Frauen, Mädchen und Kinder der ganzen Nachbarschaft. Die Männer trieben sich plaudernd und lachend zwischen ihnen herum, jeweils wenn die Trommeln ihren Marsch begannen, warfen sich ein paar der Mädchen wie im tollen, wilden Übermut in die Reihe, und führten teils einzeln, teils gegeneinander den wildesten Tanz aus, den sich menschliche Einbildungskraft nur denken oder ersinnen kann. Ich habe nie etwas gesehen, das zu gleicher Zeit so graziös und doch so kräftig, so natürlich und dabei so unanständig gewesen wäre, als dieser Cancan … Es schien, als wäre die ganze weibliche Bevölkerung von der Tarantel gestochen. Wilder und jubelnder wurde dabei der Tanz, je mehr sich die Tanzenden selber an der Glut desselben erhitzten; schärfer wirbelten die Trommeln, die Augen brannten, die Locken flogen, und wieder und immer wieder stürmten die tollen Mädchen wie rasende Bacchantinnen, wenn ich sie schon zu Tode erschöpft glaubte, immer aufs Neue zwischen die Trommeln, die einen zauberhaften Einfluss auf sie auszuüben schienen … Wär ich ein Maler, das Bild dieses Abends müsste ich auf der Leinwand haben … ,es war ein wildes herrliches Bild, und ich werde den Abend in meinem Leben nicht vergessen.“

Von den Gilbertinseln gibt uns Robert Louis Stevenson den Bericht eines fünftägigen Festes: „Die Sänger, hübsche Mattenschurze um die Lenden, in Ringe gesteckte Kokosfedern an den Fingern, die Köpfe mit gelbem Laub gekrönt, saßen gruppenweise auf dem Boden. Die Solisten erhoben sich jeweils, doch alle anderen wirkten mit … Es ist kaum zu glauben, wie viel Feuer und Kraft sie in die stampfenden Schlussstücke hineinlegten … Der Tanz, die Trommeln vereinten sich mit dem Gesang, dem Solo, dem Quartett, zu einem dramatisch in sich geschlossenen Ganzen in voll entwickelter Form … Die Hula, die der flüchtige Globetrotter in Honolulu zu sehen bekommt, ist ganz gewiss das langweiligste Machwerk menschlicher Erfindungsgabe … Aber die Tänze der Gilbert-Inseln gehen ins Blut, sie fesseln und erregen den Zuschauer und reißen ihn mit. Ihnen wohnte jene unerforschliche, zündende Kraft inne, die das Wesen aller echten Kunst ausmacht. Wo so viele Mitwirkende beteiligt sind, wo jeder in jedem Augenblick die richtige, oft ausgeklügelte, oft auch aus der Eingebung geborene blitzschnelle Bewegung ausführen muss, da geht dem Auftritt natürlich eine äußerst harte Zeit der Übungen und Proben voraus … Damit man nicht glaube, ich übertreibe in meinem Lob, sei hier eine Stelle aus dem Tagebuch meiner Frau angeführt. Sie zeigt, dass nicht ich allein so beeindruckt war. Mag sie das Bild abrunden ‚… Nach der Ouvertüre gab es eine Pause, und dann begann die eigentliche Oper – denn es war nichts anderes eine Oper, in der jeder Sänger zugleich ein hervorragender Schauspieler sein musste. Der Vortänzer, von Kopf bis Fuß ganz Leidenschaft, ganz Ekstase, schien entrückt. Einmal war es, als fegte eine Windsbraut über die Bühne. Die Arme, die gefiederten Finger verrieten eine Erregung, die an meinen Nerven rüttelte … Mir wurde heiß und kalt dabei. Tränen brannten mir in den Augen. Der Kopf schwirrte mir. Ich spürte ein schier unüberwindliches Drängen, mich zu den Tänzern zu gesellen. Ein Drama, so glaub ich, das ich fast ganz verstand …’“ Und Stevenson beschließt den Bericht: „Zur Krönung des Ganzen eröffnete die Kaingruppe einen wahrhaft unübertrefflichen Tanz … Etwas Lustigeres habe ich nie gesehen. Die Nummer hätte in jedem europäischen Theater das Publikum zu wahren Beifallsstürmen hingerissen. Auch hier krümmten sich die Menschen vor Lachen und brüllten vor Begeisterung.“

Und endlich bringt uns Eva Lips auf eine hochinteressante Fährte: „Aus dem vielfältig gefärbten Lachen der Völker, das im Witz, im Gleichnis, im Wortspiel, in der Situationskomik, im Missverstehen, im allzu guten Verstehen und auf Dutzende anderer Weisen sich äußert, entstieg nun – da das alles Menschenwerk ist – eine menschliche Gestalt, im bunten Kleid, mit schillerndem Geist, entzückend durch die Gabe der Improvisation und trächtig beladen mit dem Traditionsgut der Völker, die ihn schufen: der Clown. Wer ist er? Wo kommt er her? Warum finden seine Spuren sich überall auf der Erde? … Er ist das Lachen selber, das Menschengestalt gewann, … er sagt, was sonst nicht fein oder manierlich wäre zu sagen, aber gern gesagt würde, … gäbe es ihn nicht, das Nichtzuerwähnende bliebe wirklich unerwähnt.“ Er „regt die Menschen an, weil sie in seiner Verwegenheit ihre eigenen Wunschträume erkennen … Er darf alles, auch was seine Zuschauer nicht dürfen, er spricht es aus, er tut es, und sei es im geheiligsten Augenblick, wo es sich am wenigsten gehört. Er ist die Überraschung, ist das Natürliche, das über Pathos und Ritual triumphiert … Damit haben wir die Geschichte seiner Herkunft, die uralt ist und universell … Dass er so alt ist wie das Lachen, das heißt so alt wie die Menschheit selbst, daran kann kein Zweifel bestehen … er gehört zum Menschsein wie das Bedürfnis nach Aufatmen dazu gehört.“ Nachdem Eva Lips konstatiert hat, „dass das Menschsein gewisse elementare Bedürfnisse in sich einschließt, die allen Wesen dieses Namens eigen“ sind, und dass zu diesen elementaren Bedürfnissen die „Gestalt des Spaßmachers, des Clowns, unbedingt gehört“, weist sie auf die Völkergruppe der Orokaiva auf Neuguinea hin: „Sie sind Liebhaber theatralischer Vorführungen von bemerkenswerter Vielfalt; und jedes dieser ihrer Lieblingsstücke ist als ‚die Aufführung eines Witzes‘, charakterisiert worden … Kein Wunder also, dass der Clown oder seine Mehrzahl die tragenden Figuren dieser Stücke sind.“ Und die Itelmenen von Kamtschatka nennt sie, auf den Beobachtungen Stellers fußend, ein „Volk von Clowns, mit einem Clown als Gott“.

So heiter waren die Naturvölker, und so heiter war ihre Kunst. Gegenbeispiele sind da kein Gegenbeweis. Auch in der Urgesellschaft gab es Unglück und Leid des einzelnen oder der Gemeinschaft. Und auch der aus Unwissenheit entspringende Aberglaube konnte die Heiterkeit trüben, auch die Heiterkeit der Kunst. Aber diese Trübungen sind keine Beispiele von Freiheit und können daher nicht gegen das Gesetz zeugen, nach dem Freiheit zu Heiterkeit führt. Heiterkeit ist die natürliche Form der Freiheit. Und sie ist ihre menschliche Form. Wie die Freiheit des einzelnen nur in der Gemeinschaft verwirklichbar ist, so ist sie auch nur in der Gemeinschaft genießbar. Ihr höchster Genuss aber ist die gemeinsame Heiterkeit. Und diese Heiterkeit kultiviert sich in Form der Kunst. Kunst ist anfänglich und endlich nichts anderes als eine Form der Heiterkeit. Gemeinsame Heiterkeit als höchster Genuss sucht sich die Form, in der dieser Genuss wiederholbar ist: die Kunst. Und die dem Genuss gemeinsamer Heiterkeit dienlichste Kunst ist das Theater. Das ist das originäre Gesetz allen Theaters. Wo es diesem Gesetz folgt, haben wir Theater, das ein Publikum „berauscht“ und „freudetrunken“ macht in einem Maße, dass ihm „heiß und kalt“ wird: Theater, das seine Akteure in „wilden, tollen Übermut“ versetzt. Theater dieser Art und Wirkung ist uns nur erklärlich, wenn wir es als Ausdruck einer Freiheit verstehen, die in Form der Heiterkeit zum höchsten Genuss geworden ist. Theater dieser Art und dieser Wirkung ist nur möglich, wenn die Heiterkeit Grundstimmung und diese Grundstimmung Inhalt der Kunst ist.

Wir sind schreckliche Ignoranten, wenn wir Theorien über Theorien aufstellen und darüber grübeln, wie Theater zu machen sei und es auch noch machen, ohne nachzusehen, was Theater anfänglich war, als was es anfing, was die Naturvölker uns an Theater vorgemacht haben.

II. Theater dereinst

Wir sind schreckliche Ignoranten, wenn wir Theorien über Theorien aufstellen und darüber grübeln, wie Theater zu machen sei und es auch noch machen, ohne vorauszusehen, was Theater endlich sein wird, was es zum eigentlichen Theater, zum Theater in der eigentlichen Geschichte der Menschheit macht. Die Voraussetzungen der Voraussicht sind uns in der marxistischen Theorie und Methode gegeben. Vorzüglich die Gesetze der Negation der Negation und der Identität der Gegensätze geben uns die Mittel an die Hand, die Kunst der Zukunft und mit ihr das eigentliche Theater uns in den wesentlichen Zügen vorzustellen.

Mit der Heiterkeit haben wir, auch wenn wir sie vorerst nur in ihrer vorgeschichtlichen Form, als Grundstimmung gefunden haben, den allgemeinen Inhalt der Kunst gefunden. Was aber ist ihre allgemeine Funktion? Die allgemeine Funktion der Kunst ist es, dem Gesetz der Anpassung zu dienen. Das erscheint unbegreiflich und unästhetisch nur, solange die Anpassung allein als biologisches Gesetz oder moralische Unanständigkeit, nicht aber als gesellschaftliche Form eines Naturgesetzes begriffen wird.

Wie alles Leben folgt auch der Mensch dem Gesetz der Anpassung an die Natur, nur folgt er ihm auf seine Weise: Er organisiert sich als gesellschaftliches Wesen. Die gesellschaftliche Organisation ist nur zu verstehen, wenn sie als das dem Menschen eigene Organ der Anpassung verstanden wird. Das ist die natürliche Funktion der gesellschaftlichen Organisation. Und diese Organisation gibt der Anpassung ihre Spezifik: Die Anpassung des Menschen an die Natur spezifiziert sich als Anpassung der Natur an den Menschen. Damit erhält aber die Notwendigkeit der Anpassung die Form der Freiheit. Diese spezifische Form verwirklicht sich als historischer Prozess und ist erst in der eigentlichen Geschichte des Menschen vollendet. Die Vollendung dieser Form der Anpassung ist das Zeichen dafür, dass die Menschheit in ihre eigentliche Geschichte eingetreten ist, ihre Vorgeschichte hinter sich gelassen hat. Das aber setzt die Vollendung der gesellschaftlichen Organisation als Organ der Anpassung voraus. Darin hat diese Organisation ihr natürliches Kriterium. Alle anderen Kriterien sind, wo nicht verkehrte, nur sekundäre, da sie keine Naturnotwendigkeit enthalten.

Als „Aneignung der Wirklichkeit“ hat die Kunst immer der Anpassung gedient. Sie diente ihr, indem sie dem Organ der Anpassung, der gesellschaftlichen Organisation des Menschen diente. Anders wäre sie nicht entstanden, und anders hätte sie sich nicht entwickelt. Aber sie hat dieser Funktion immer nur spontan, unvollkommen gedient, ohne Erkenntnis der gesellschaftlichen Organisation als Organ der Anpassung, also vorgeschichtlich. Und sie hat immer nur einer gesellschaftlichen Wirklichkeit gedient, die auf diese Funktion der Kunst nicht eingerichtet war.

Die vollendete Anwendung eines Organs ist die freie, spielende, spielerische. Frei ist der Mensch erst, wenn ihm die Mittel seiner Existenz zu Spielmitteln geworden sind. Das Spiel mit seinen Mitteln ist die höchste Form der Freiheit des Menschen, weil erst jetzt die Mittel sich nicht mehr zum Selbstzweck verselbstständigen und den Menschen zu ihrem Mittel machen. Das freie Spiel mit den Mitteln seiner Existenz ist das Spiel des als Gattungswesen erwachsenen Menschen und damit das Kriterium seines Erwachsenseins. Also muss ihm die gesellschaftliche Organisation, die gesellschaftliche Wirklichkeit als Organ der Anpassung zum Spielmittel werden. Und die Kunst dient der Anpassung aktiv, indem sie das Spiel mit der Wirklichkeit (in Kenntnis der wirklichen Gesetze) vorahmt. Als das hebt sie die Nachahmung als passive Form der Anpassung in sich auf. Die allgemeine Funktion der Kunst ist die Vorahmung des Spiels mit der Wirklichkeit. Und dieser Vorahmung kann die gesellschaftliche Wirklichkeit uneingeschränkt nur dann folgen, wenn sie auf das Spiel mit ihr eingerichtet ist.

Wie? Die Wirklichkeit soll auf das Spiel mit ihr eingerichtet werden? Ist das nicht absolut utopisch? Das ist nicht utopischer als das kommunistische Verteilungsprinzip: Jedem nach seinen Bedürfnissen. Im Gegenteil: Ohne die Einrichtung der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf das Spiel mit ihr wäre dieses Verteilungsprinzip Utopie. Die Produktionsverhältnisse sind bekanntlich Entwicklungsform oder Fessel der Produktivkräfte. Weniger bekanntlich, aber vor allem sind sie Form oder Fessel der Bedürfnisse. Und wenn sie Fessel der produktivsten Bedürfnisse sind, werden sie gesprengt. Umgekehrt ausgedrückt: Nur die Produktionsverhältnisse setzen sich durch, die das produktivste, das triebkräftigste Bedürfnis in Freiheit setzen. Hier findet eine natürliche Auslese statt. Jedes Bedürfnis drängt nach seiner Verwirklichung. Aber selbst das natürlichste, vernünftigste, menschlichste, verbreitetste kann sich nicht durchsetzen, wenn es nicht das im gegebenen Falle produktivste ist. Und selbst das unnatürlichste, unvernünftigste, unmenschlichste, aparteste setzt sich durch, wenn es das produktivste ist. So waren beispielsweise die kapitalistischen Produktionsverhältnisse die Form, die das Profitbedürfnis als das beim gegebenen Stand der Produktivkräfte (der Vergesellschaftung der Produktion) produktivste Bedürfnis in Freiheit setzte und zum dominierenden machte, auch wenn es das unmenschlichste und überdies ein apartes Bedürfnis, das Bedürfnis einer Minderheit war. Was aber ist das als Triebkraft der Produktion effektivste Bedürfnis im Kommunismus? Das natürlichste und menschlichste Bedürfnis, daran besteht kein Zweifel, ist das Bedürfnis auf Arbeit. Die Frage ist nur, ob die Arbeit das effektivste und dominierende Bedürfnis werden kann. Sie wird es, wenn sie die Form des Spiels erhält. Und mit dieser Form die Eigenschaften des Spiels: Freiwilligkeit und Beliebigkeit, Kreativität und Selbstbestätigung, aber auch Zusammenspiel und vereinbarte Spielregeln. In dieser Form des Spiels wird die Arbeit zum obersten Lebensbedürfnis und dieses Bedürfnis zur produktivsten Triebkraft. Also muss die Arbeit, wie die gesellschaftliche Wirklichkeit als ganze, auf das Spiel mit ihr eingerichtet werden. Diese Einrichtung ist eine ökonomische Notwendigkeit.

„Seiner Funktion nach“, schreibt Günther K. Lehmann, „geht das Spiel der Arbeit voraus … Das Spiel ist Vorbereitung, Vorübung der Arbeit. Das ist sein Nutzeffekt …“ Nur macht das die Arbeit noch nicht zum Bedürfnis. Sie muss selbst die Form des Spiels annehmen. Und diese Form erhält sie wie alle andere gesellschaftliche Wirklichkeit in Nachahmung der Kunst. Selbstredend im Prozess der Wechselwirkung, denn die Arbeit ist nicht von vornherein perfekt, das Spiel der Kunst nachzuahmen, wie die Kunst nicht von vornherein perfekt ist, der Arbeit das Spiel vorzuahmen. Als Ergebnis dieser Wechselwirkung erhält die Arbeit einen ästhetischen Gebrauchswert, der sie zum Bedürfnis macht. Und mit dem ästhetischen Gebrauchswert der Arbeit erhalten auch die Produkte einen ästhetischen Gebrauchswert. Wonach die Verteilung nach den Bedürfnissen erfolgen kann, denn die Bedürfnisse folgen jetzt der Ästhetik. (Der natürliche Vorgang, die Arbeitsproduktivität voll in reale Gebrauchswerte umzusetzen, wird, nachdem er durch die Klassengesellschaft zunehmend verkehrt worden war, auf höherer Ebene wieder hergestellt. Die Überlegenheit des Kommunismus über den Kapitalismus verwirklicht sich primär nicht in einer höheren Arbeitsproduktivität, sondern in einer höheren, sinnvolleren Verwertung der Arbeitsproduktivität.)

Erst die Einrichtung der Wirklichkeit auf das Spiel mit ihr macht das kommunistische Verteilungsprinzip zu einem verwirklichbaren Prinzip. Die Verteilung nach den Bedürfnissen wäre früher als allgemein gedacht möglich, setzte sie nicht die Arbeit als Bedürfnis voraus. Da aber die Arbeit nur oberstes Bedürfnis wird, wenn sie auf das Spiel mit ihr eingerichtet ist, was nur gemeinsam mit der Einrichtung der gesamten gesellschaftlichen Wirklichkeit auf das Spiel mit ihr möglich ist, wird die Verteilung nach den Bedürfnissen später als allgemein gedacht Wirklichkeit werden.

Und doch wird die Arbeit, auch wenn sie die Form des Spiels annimmt, niemals Kunst. Wie die Kunst niemals Arbeit wird. Die Arbeit wird nicht zu einem Drama, wie eine Reise nicht zu einem Roman und ein Kuss nicht zu einem Gedicht wird. Sie nimmt in Nachahmung der Kunst nur deren allgemeine Form an. Und sie behält auch in dieser Form ihren spezifischen Gebrauchswert, worin sie durch nichts zu ersetzen ist. Die Arbeit bleibt auch in Form des Spiels immer die Produktion der Existenzgrundlage des menschlichen Lebens, sie erlangt in Form des Spiels nur ihre höchste Produktivität. Jetzt arbeitet jeder nach seinen Bedürfnissen (das kommunistische Verteilungsprinzip muss richtig nicht jedem, sondern jeder nach seinen Bedürfnissen heißen), wodurch sich die Identität von Wollen, Können und Dürfen herstellt. Und diese Identität ist nicht nur von höchster Produktivität, sie ist auch das höchste menschliche Glück.

Wie die Arbeit trotz ihrer neuen Form ihren ursprünglichen Inhalt behält, so auch alle übrigen Erscheinungen der Wirklichkeit. Das Spiel ist nur die Form, in der sie miteinander harmonieren, auf menschliche Weise miteinander auskommen können, es ist nur die Form, die sie beherrschbar, zum Spielmittel macht.

Nichts ist absolut. Auch wenn das menschliche Leben die Form der Kunst annimmt, nimmt nicht alles diese Form an – und manches nimmt nicht nur die Form an, sondern wird zu Kunst. Das ist nicht neu. Eva Lips vermerkt, dass bei den Naturvölkern „ganz selbstverständlich jeder Gebrauchsgegenstand ein Kunstwerk und jedes Kunstwerk ein Gebrauchsgegenstand“ ist. Und bei den Eskimo wie bei den Schwarzafrikanern hatte das Gerichthalten nicht nur die allgemeine Form der Kunst, die Form des Spiels, sondern eine spezielle Kunstform angenommen.

In der Einrichtung der Wirklichkeit auf das Spiel mit ihr wird die Arbeit zum Bedürfnis und die Kunst zur Bedingung dieser Einrichtung. Daher ist der Kommunismus nicht nur eine ökonomische, er ist auch eine ästhetische Notwendigkeit. Und er ist eine Naturnotwendigkeit, er ist die letzte Form der Verwirklichung des Naturgesetzes der Anpassung. Entweder erweist sich die Menschheit fähig, dieses Gesetz zu vollenden, oder sie findet ihr Ende. Kommunismus oder Untergang: eine andere Alternative gibt es nicht. Das Einrichten der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf das Spiel mit ihr ist eine ungemein tief gehende Revolution. Und es bleibt, auch wenn es im Wesen vollendet ist, die ständige Form ihrer Entwicklung. Sobald die allgemeine Form der Kunst zur allgemeinen Form des Lebens wird, wird sie zum generellen Beruf des Menschen, was seine speziellen Berufe nicht aufhebt. Wie auch die Kunst spezieller Beruf bleibt.

Ist aber Kunst in einer Gesellschaft ohne Klassenkonflikte überhaupt möglich, ist dramatische Kunst im Kommunismus möglich? Diese Frage kann nur aufkommen, wenn die Konflikte der Klassengesellschaft als Stoff der Kunst verabsolutiert werden und ihre Verabsolutierung zur Theorie gemacht wird. Die Kunst der Naturvölker beweist, dass wie alls übrige auch die dramatische Kunst Klassenkonflikte nicht nötig hat.

Die Zukunft des Menschen ist der Mensch. Nicht die Maschine. Auch nicht die Beziehung zwischen Mensch und Maschine, sondern die Beziehung zwischen den Menschen. Die Zukunft des Menschen liegt in der Kultur des menschlichen Zusammenlebens. Die Kultur in den Beziehungen zwischen den Menschen ist die wesentliche Form der Kultur, ihr Herzstück. Sie ist das Kriterium aller übrigen Kultur. Und das Spiel ist die gemäße Form. Erst indem der Mensch spielend mit seinesgleichen umgeht, geht er menschlich mit ihm um, ist er als Gattungswesen erwachsen. Sobald aber die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen die Form des Spiels annehmen, wird das Spiel zum Gesellschaftsspiel. Dieses Gesellschaftsspiel ist die höchste Form der Vergesellschaftung des Menschen. Und eben dieses Spiel kann das Theater wie keine andere Kunst vorahmen. Als die dem Genuss gemeinsamer Heiterkeit dienlichste Kunst hat es keine Klassenkonflikte, hat es nicht die Feindschaft zwischen den Menschen zur Voraussetzung, sondern deren Potenz, die Vorahmung des Gesellschaftsspiels nachzuahmen. Und wenn das Gesellschaftsspiel zur höchsten Form der Beziehungen zwischen den Menschen geworden ist, wird der Spielverderber als der verdorbenste Mensch angesehen werden.

Als Vorahmung als Probe und Muster des Spiels mit der Wirklichkeit wird die Kunst aber zur höchsten Instanz der Wirklichkeit. Sie spielt dem Menschen die ihm gemäße „Natur“ und die ihm gemäße Anpassung der Natur an ihn vor. Erst in der Form des Spiels erlangt das Naturgesetz der Anpassung seine höchste Form. Erst in Form des Spiels kommt der Mensch näher an die Natur und näher an die Kunst. Alles ist letzten Endes Anpassung, und alle Anpassung ist letzten Endes Spiel. Die spielerische Form der Anpassung ist Kriterium des Eintritts der Menschheit in die eigentliche Geschichte. Die Anpassung ist kein äußeres Gesetz, und die Kunst erfüllt keine äußere, ihr fremde Funktion, wenn sie als Vorahmung des Spiels mit der Wirklichkeit generell Funktion der Anpassung ist. (Was spezielle Funktionen nicht ausschließt.) Als natürliches Grundgesetz der Gesellschaft gibt die Anpassung allen Erscheinungen der Gesellschaft und ihrem Verhältnis zueinander ihre Funktion und ihren Sinn, einen Sinn und eine Funktion von objektiver Gesetzmäßigkeit. Die Vollendung dieses Gesetzes ist das Gesetz der Menschlichkeit. Und das Spiel ist die Form der Vollendung dieses Gesetzes.

Das Spiel ist das Geheimnis des menschlichen Wesens, sein letzter Sinn und Grund. Alle menschliche Geschichte führt zum Spiel, auch zum Spiel mit der Geschichte. Der Grad dieses Spiels ist der Grad des Menschen als historischer Souverän, als historisches Subjekt. Und der Grad der Vorahmung dieses Spiels ist der Grad des historischen Standes der Kunst.

Soll die Kunst uns nur das Spiel mit der Wirklichkeit vorahmen? Wollen wir in der Kunst nicht vielmehr die Wirklichkeit selber genießen? Der höchste Genuss der Wirklichkeit ist aber das Spiel mit ihr. Daher ist dieses Spiel eine Grundsehnsucht des Menschen. Und daher ist die Kunst, die ihm dieses Spiel vorahmt, von tiefstem Reiz – und das Theater als die spielerischste Kunst ist die reizendste.

Sobald der Mensch das Spiel mit sich und seinen Mitteln als Verwirklichung seines Gattungswesens betreibt, wird er der Kunst Partner auf eine Art, die wir nur denken, uns aber nicht vorstellen können. Was Kunst vermag, die „Macht der Kunst“ ist ohne Voraussicht ihrer eigentlichen Geschichte nicht zu verstehen. Sie ist nicht zu verstehen, wenn wir nur das zweite Stadium ihrer Vorgeschichte sehen. Die Behauptung von der „Ohnmacht der Kunst“ zeugt nur von der Ohnmacht, historisch zu denken. Diese Ohnmacht verabsolutiert einen „kleinen Bruchteil“, einen verkehrten dazu, zum absoluten Maßstab. Und dieser Verabsolutierung, so geistig armselig sie auch ist, begegnen wir allenthalben. Und sie hält sich für besonders welterfahren.

Kunst und Wirklichkeit sind in ihrem Verhältnis nur als dialektisches und als historisches Verhältnis zu begreifen. Dieses Verhältnis folgt dem Gesetz der Identität der Gegensätze und dem Gesetz der Negation der Negation: Kunst und Wirklichkeit bilden in der ersten Phase ihres Verhältnisses eine Einheit von unausgebildeten Gegensätzen, wogegen sie sich in der zweiten Phase verselbstständigen, sich tendenziell exklusiv zueinander verhalten, zum Extrem tendieren (die Gesellschaft wird kunstfeindlich oder macht die Kunst zur Dienstmagd der Politik – die Kunst wird gesellschaftsfeindlich oder l’art pour l’art). Zugleich bilden in dieser Phase die Gegensätze sich als Gegensätze, bildet einer im Gegensatz zum anderen seine Eigenart aus und damit die Vorbedingung ihrer erneuten Einheit. Und erst in dieser dritten Phase treten die Gegensätze in das produktive Wechselspiel, wo sie ihre Eigenart als Gegensätze und zugleich ihre Identität vollenden können, wo der Gegensatz Bedingung der Identität und die Identität Bedingung des Gegensatzes ist, wo das eine nicht ohne das andere sein kann, weil das eine das andere ist: die Kunst Form der Wirklichkeit und die Wirklichkeit Inhalt der Kunst. Erst jetzt sind Kunst und Wirklichkeit sie selbst, erst jetzt bedürfen sie einander wirklich. Erst jetzt tritt die Kunst in die eigentliche Phase ihrer Bedingung und Wirkung ein: Ohne eigentliche Kunst keine eigentliche Geschichte – ohne eigentliche Geschichte keine eigentliche Kunst.

Der Kommunismus ist das Unglaubliche. Aber ein anderer ist nicht zu haben. Und ein anderer ist nicht zu beweisen. Nur der beste Kommunismus ist möglich, und nur der mögliche ist beweisbar. Entweder dieser oder keiner. Demjenigen, der einen verkehrten Bruchteil der Geschichte zum Maß der Geschichte, zum Maß des Menschenmöglichen macht, muss er allerdings utopisch erscheinen. Und dabei hat er das schönste an ihm noch nicht erfahren.

Im Kommunismus wird nicht nur die allgemeine Funktion der Kunst erst eigentliche. In ihm erhält die Kunst auch erst ihren eigentlichen Inhalt. Wir hatten die auf sozialer Gleichheit beruhende Freiheit der Naturvölker als Voraussetzung ihrer Heiterkeit erkannt. Indem der Kommunismus diese Freiheit erneuert, erneuert er auch die Voraussetzung der Heiterkeit. Nur hat diese Heiterkeit eine höhere historische Qualität. Sie hat außer der sozialen auch die Freiheit gegenüber der Natur zur Voraussetzung, und sie hat die verkehrte Welt hinter sich. Die Welt der Klassengesellschaft kann, auch wenn sie historisch notwendig ist, nicht die eigentliche Geschichte der Menschheit, sie kann nur deren Vorgeschichte, nur die zweite Phase dieser Vorgeschichte sein. Könnte sie sonst die Heiterkeit, die schönste Form der menschlichen Wesensart, in ihr Gegenteil, in Ernst verkehren? Könnte sie sonst das Ende der Menschheit, den Untergang der Gattung Mensch auf die Tagesordnung setzen? (Allein die Kosten der Vorbereitung und Vermeidung eines Krieges bezahlt die Menschheit zunehmend mit ihren natürlichen und sittlichen Existenzbedingungen.)

Was kann Heiterkeit nach dieser Verkehrung sein? Gewiss nicht naive, sondern historisch erfahrene. Sie hat ihre Verkehrung erfahren und diese Verkehrung aufgehoben. Sie wurde vom Ernst negiert und hat jetzt den Ernst negiert. Der Ernst als bestimmende Seite schließt Heiterkeit aus. Die Heiterkeit als bestimmende Seite schließt Ernst ein. Sie vollendet ihn in der Identität der Gegensätze. Mit seiner Aufhebung verliert der Ernst seine Exklusivität, seine unmenschliche Verabsolutierung und seine bestimmende Rolle. Diese Rolle übernimmt ihr rechtmäßiger Inhaber, die Heiterkeit. Wonach beide in produktive Wechselwirkung treten und sich voll entwickeln können. Der Ernst wird erst jetzt eigentlicher Ernst: er dient nicht mehr der Unfreiheit. Und auch die Heiterkeit wird erst jetzt eigentliche, denn erst jetzt weiß und genießt der Mensch sich in ihr als historisches Wesen. Daher kann diese Heiterkeit nicht mehr als Grundstimmung, sie muss als Grundhaltung definiert werden.

Wie die Bewusstheit nicht ohne Spontanität sein kann, kann die Grundhaltung nicht ohne Grundstimmung als unmittelbarer Ausdruck der auf sozialer Gleichheit beruhenden Freiheit sein. Und auch diese Grundstimmung kann getrübt werden. Auch wenn der Mensch weiß, was er hinter sich hat und weiß, dass er das ein und für allemal hinter sich hat, so hat er doch nicht alles hinter sich. Das aus Unglück, aus Krankheit oder Tod rührende Leid kann den einzelnen übermannen. Doch dieses Leid kann immer nur individuell oder partiell sein und nur die Grundstimmung, nicht aber die Grundhaltung als Ausdruck des historischen Gattungswesens treffen. Im Gegenteil stabilisiert die Grundhaltung die Grundstimmung. Nicht zuletzt durch die Kunst, indem sie durch die Grundhaltung als ihrem allgemeinen Inhalt den Bezug zum Gattungswesen des Menschen herstellt.

Die Anpassung ist weder ernst noch heiter. Sie ist ein Naturgesetz. Als das muss sie ernst genommen werden. Die Verwirklichung dieses Gesetzes aber in Form des Spiels mit der Wirklichkeit hebt den Ernst in Heiterkeit, die Notwendigkeit in Freiheit auf. Als Vorahmung dessen ist die Kunst höchste Notwendigkeit. Heiterkeit ist emotionale und rationale Voraussetzung des Spiels mit der Wirklichkeit – und sie ist der Sinn dieses Spiels. Die Natur kann dem Menschen nur menschlich angepasst werden, wenn sie seinem Gattungswesen angepasst wird. Und das Gattungswesen des Menschen ist heiter.

Die Heiterkeit als Grundhaltung ist vollkommener Ausdruck des menschlichen Gattungswesens. Als das kann sie, ohne das eigentliche Wesen des Menschen aufzuheben, nicht aufgehoben werden. Und als das wird sie zum eigentlichen allgemeinen Gegenstand der Kunst. Heiterkeit ist als Form der Freiheit deren Vollendung und Genuss. Sie ist das schöne Gefühl der Freiheit. Also der schöne Gegenstand. Sie ist das Gattungswesen des Menschen als ästhetischer Gegenstand, und also der allgemeine Gegenstand der Kunst. Heiterkeit ist die wesentliche Form der Poesie, weil das poetische Gattungswesen des Menschen. Indem die Kunst diese Heiterkeit zu ihrem allgemeinen Inhalt macht, erfasst sie das poetische Wesen des Menschen, ist höchste Verallgemeinerung und folglich höchste Wahrheit. Als das muss der allgemeine Inhalt der Kunst aber nicht bei jedem Kunstwerk neu gewonnen, sondern nur konkret gefasst werden. Heiterkeit als historische Verallgemeinerung ist das Bleibende, Ruhende, Dauernde „in der Flucht der Erscheinungen“.

Die Heiterkeit der Naturvölker war unmittelbar allgemeiner Inhalt der Kunst. Der allgemeine Inhalt der eigentlichen Kunst, der eigentliche allgemeine Inhalt der Kunst setzt als höchste Verallgemeinerung die Philosophie der Heiterkeit voraus. Erst als philosophische Heiterkeit kann die Grundhaltung historische Verallgemeinerung sein. Nur die ihre Philosophie in sich auf hebende Heiterkeit ist wahr. (Wie nur die in Heiterkeit aufgehobene Philosophie poetisch ist.)

Während wir die Heiterkeit in der ersten Phase als Grundstimmung und in der dritten als Grundhaltung haben, ist sie in der zweiten Phase zur Grundsehnsucht verkehrt und verdammt. Und als das ist sie nicht mächtig, allgemeiner Inhalt der Kunst zu sein, sodass die Kunst in dieser Phase gemeinhin ohne allgemeinen Inhalt ist, was man wissen muss, will man wissen, was die Kunst in dieser Phase ist. Und man muss wissen, dass die Kunst, wo ihr der allgemeine Inhalt, die Heiterkeit fehlt, nicht um die Heiterkeit kämpft, sondern um deren Bedingung, die Freiheit. Das ist folgerichtig und kommt dem allgemeinen Inhalt der Kunst näher als alle künstliche Heiterkeit, auch wenn der Kampf um die Freiheit ernst ist. Die Heiterkeit, ob nun Grundstimmung, Grundsehnsucht oder Grundhaltung, ist niemals als persönliche, sondern immer als soziale Heiterkeit zu verstehen. Nur als das kann sie allgemeiner Inhalt der Kunst sein oder ihr als allgemeiner Inhalt mangeln. Wie das Theater gleich aller anderen Kunst im Kommunismus seine allgemeine Funktion als eigentliche erhält, so erhält es im Kommunismus auch seinen eigentlichen allgemeinen lnhalt. Und erst jetzt kann es die ihm zukommende Rolle unter den Künsten spielen.

III. Die Technik der Kunst

In der Vorahmung des Spiels mit der Wirklichkeit haben wir die allgemeine Funktion der Kunst und in der sozialen Heiterkeit ihren allgemeinen Inhalt gefunden. Folglich ist das heitere Spiel die allgemeine Form der Kunst. Als Form der Kunst kann dieses Spiel aber nicht ohne künstlerische Technik sein. Diese Technik ist die der heiteren Verstellung. Das dieser Technik folgende Spiel ist die der Kunst gemäße Form des Spiels.

Die Technik der heiteren Verstellung zeigt sich da am sinnfälligsten, wo sie zum Genrespezifikum geworden ist, zum Beispiel in der Tierfabel. Hier ist der Mensch durch das „Tier“ verstellt. Diese Verstellung ist unmissverständlich, also auch die Aufforderung zur Richtigstellung. Und wir folgen dieser Aufforderung auch prompt und stellen den Menschen an die Stelle des Tieres. Wozu dann aber erst die Verstellung? Des Spaßes halber. Warum soll die Kunst keinen Spaß machen? Hier findet der Spaß des Versteckens und Entdeckens statt. Oder der des Rätselaufgebens und Rätsellösens. Die heitere Verstellung ist ein Spiel mit „Maske“, aber auch ein Spiel mit der „Maske“, ein Spiel um des Spiels willen.