Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Dass braunes Gedankengut in Deutschland jemals wieder en vogue sein könnte und sich sogar eine rechte Partei dieses Gedankenguts bedient und Erfolg damit hat, hielt ich nach den entsetzlichen Erfahrungen der Nazidiktatur im Dritten Reich für ausgeschlossen. Ich hatte mich getäuscht und frage nun in diesem Buch, woran es liegt, dass eine braune Partei, die "BP", wie sie sich ehrlicherweise nennen sollte, deutliche Akzeptanz erfährt. Eine gültige Antwort darauf muss für mich bewusstseinsphilosophisch, nämlich beim erstarrten ideologischen Denken jeder Art , dem "Einen", ansetzen und Möglichkeiten entwickeln, dieses Denken in ein dialektisches Denken und damit zum "Anderen" zu überführen, das sich seinerseits gegen das "Anderesandere" alias ein existenziell dialektisches relativiert. Das rüttelt an den Grundfesten patriarchaler Strukturen und gibt den Ausblick auf ein zeitgemäßes Matriarchat frei. Dabei entfaltet sich der Text jedoch nicht philosophisch abstrakt, sondern sehr konkret am Beispiel persönlicher autobiographischer Erfahrungen bzw. Bewusstseinsentfaltungen, was ihn in überzeugender Weise authentisch macht. Martin-Aike Almstedt
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 264
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Martin-Aike Almstedt
Das Eine,das Andereund das Andersandere
autobiographische Reflektionen angesichts des Rechtswahns im Spiegel matriarchaler Prinzipien
Impressum
© 2020 Martin-Aike Almstedt
Herausgeber: Hartmut Büscher
Autor: Martin-Aike Almstedt
Umschlaggestaltung, Illustration: Hartmut Büscher, Henning Loeschke
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN:
978-3-347-10737-3 (Paperback)
978-3-347-10738-0 (Hardcover)
978-3-347-10739-7 (e-Book
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Abbildung auf der Titelseite: Gemälde von Henning Loeschcke (ohne Titel, mit Genehmigung des Malers )
Martin-Aike Almstedt
studierte Komposition bei Gunter Lege (Hannover), Musikwissenschaft, Kirchenmusik und Philosophie in Göttingen und Hannover und war über Jahre Hörer bei Karl Jaspers in Basel und Jiddu Krishnamurti in Saanen (Schweiz).
Weitere mehrjährige Kompositions-Studien schlossen sich in Darmstadt bei Karlheinz Stockhausen und György Ligeti sowie bei Olivier Messiaen Paris an. Bei Erhard Karkoschka studierte er in Stuttgart Notationskunde und nahm ferner - wiederum in Darmstadt - an Perkussionskursen von Christoph Caskel teil.
Seine erste Yogaausbildung erhielt er in der Ananda-Marga-Gruppe durch den Inder Karunananda. Von 1980 bis 1985 nahm er an den Seminaren von Jiddu Krishnamurti in Saanen / Schweiz teil und konnte in diesem Zusammenhang auch seine Yogakenntnisse und Fähigkeiten durch den zu dieser Zeit dort lehrenden indischen Yogalehrer Ravakan weiter entfalten. Seine Ausbildung als Heiler erfolgte durch den philippinischen Medium-Therapeuten und Bischof Benjamin Pajarillo, der ihm diese Ausbildung mit dem Certifikate of Authority als Medium Healer sowie als Reverend und Minister der Church of Christian Spiritists bestätigte.
Martin-Aike Almstedt ist schöpferisch tätig als Komponist, Pianist, Organist, Schriftsteller und Ki-Yoga-Lehrer.
160 Werke aller Gattungen vom Solostück bis hin zum Oratorium, der Oper, dem Intermedialwerk und dem Musikfilm sind bisher Frucht seiner kompositorischen Arbeit.
Sein schriftstellerisches Werk umfasst neben kompositions- und musikästhetischen Schriften bisher 16 bewusstseinsphilosophische Bücher, - u.a. vergleichende Studien über Karl Jaspers und Jiddu Krishnamurti -,ferner Gedichte, Konzert-Einführungsvorträge, sowie Texte und Vorträge zu dem von ihm über 40 Jahre entwickelten Ki-Yoga.
Gegenwärtig liegt seine Hauptarbeit als Schriftsteller im Bereich der Bewusstseinsphilosophie, deren empirische Basis seine KiYO-Praxis ist.
Inhalt
Vorwort
Teil 1 Das Eine
Kapitel 1
1. Kindheitserinnerungen
2. Naziphrasen und Verbrechen
Kapitel 2
1. Das weiblich männliche Prinzip
2. Das weibliche Prinzip als Bezugspunkt in der menschlichen Gesellschaft
3. Die drei goldenen Wurzeln einer Kultur des Glücks oder der Kern des materpaklitistischen Denkens
4. Die Gefährdung der Familie durch schwarzbraune Ideologie
5. Die Heimat
Kapitel 3
1. Die Gegenkräfte zum materpaklitistischen Denken: Die Hauptkrankheit der Psyche heute und das kapitalistische Bildungssystem
2. Das weiße Band und das Grundgesetz
3. Der antichristliche, im Braunen sich verlaufende schwarze Konservatismus und die Staatsmacht
Kapitel 4
Lernen und Wachsen
Abschnitt 1
Kindheit und Jugend
1. Jesus
2. Eltern, Wald und Nazis
3. Tod des Vaters, Armut und Häme
4. Vergebliche Zuflucht
5. musikalische Erweckung
6. Die Gegenmacht zum Bösen
7. So etwas möchte ich auch komponieren
8. Die Nacktheit des Wahren
9. Sechs Einflüsse
10. Pfadfinder
Abschnitt 2
Vielgliedriges musikalisches Wachstum, Kampfund Förderer
1. Göttingen, Musiklehrerinnen und Musiklehrer
2. Hinterzarten, Kurt Thomas
3. Hannover, Gunter Lege
4. Werkeschreiben,daswollteich
5. „Illegales“ Hören, das fehlende Geld und die Rettung
6. Das AMU-Ensemble: Martin-Aike Almstedt, David Loewus, Dietmar Traeger, Dietburg Spohr, Uta Grünewald, Allen Praskin
7. Soloauftritte von Dietburg Spohr und David Loewus
8. Almstedt/Loewus-Duo und Projektensemble
9. Auftritte als Pianist und Organist
10. Eleonore Gördes-Faber, Ulla Fleck
11. Darmstadt: Karlheinz Stockhausen, György Ligeti, Die Brüder Kontarsky, Erhard Karkoschka, Helmut Lachenmann
12. Paris: Olivier Messiaen
13. Steffen Fahl
14. Hartmut Büscher
15. Thomas Körber
16. Dank
Abschnitt 3
Weitere Kräftigung - geistig, seelisch, körperlich
1. Karunananda
2. Jiddu Krishnamurti
3. Yehudi Menuhin
4. Benjamin Pajarillo
Abschnitt 4
Westliche Philosophie und Psychologie
1. Karl Jaspers
2. Hemmo Müller-Suur
3. Thomas Collmer
4. Bernhard Wutka
5. Der wahre und der falsche Weg zur geistigen, seelischen und körperlichen Bildung
Kapitel 5
Die "Ossis" und die "Wessis"
Kapitel 6
Was in der materpaklitistischen Kultur fehlen wird und was dazu gehört
1. Allgemeines
2. Ideologien und Paraformen
3. In-Sein, Mode und Rollen
Teil 2 Das Andere
Kapitel 7
Das Eine und das Andere
1. weiblich-männliche Polarität
2. Fixierung und Lösung
3. Kippfiguren im christlichen Denken und bei bekannten Dialektikern
Kapitel 8
Der Wandel zum materpaklitistischen Denken
1. Wie ist der Wandel zum materpaklitistischen Denken möglich?
2. Kippfiguren aus dem materpaklitistischen Kern
3. Merkmale und Menschen
4. Kontrollsätze
5. Kunst
6. Kleinkunst
Teil 3 Das Andersandere
Kapitel 9
Das Eine, das Andere und das Andersandere oder die existentielle Dialektik
1. Einführung
2. Aus den Lehrreden des Buddha
3. Ein Kamingespräch
zwischen der Ki-Yoga-Schülerin Adriana und Martin-Aike
Anhang:
Werkliste von Martin-Aike Almstedt
Vorwort
Dieses Buch verdankt sich ursprünglich dem Schock, den ich durch das erneute Aufkommen brauner Ideologie und Praxis in Deutschland zusammen mit vielen anderen Menschen erleide. Nach dem Krieg glaubte ich, es sei endgültig mit dem Nazitum vorbei. Aber nein: Nach vielen neuen braunen Ansätzen - wie z. B. der NPD - schafft es heute die AFD wieder, Menschen hinter sich zu bringen, die nicht grün oder rot, schwarz oder gelb, sondern braun wählen. Das ist entsetzlich. Da ich mich an die Nazizeit, die vor 86 Jahren begann, in ihrem schrecklichen Endstadium sehr gut erinnere, retraumatisiert mich und zweifellos auch andere Menschen das gegenwärtige braune Denken und Handeln.
Das Erstarken der „BP“ erinnert mich nicht nur an das entmenschte Morden wie in Babyn Jar und Auschwitz. Dieses ist für Deutschland mit seiner mörderischen Vergangenheit eine weltweite Riesenschande.
Wie ist es möglich, frage ich mich, dass nach den Erfahrungen mit dem menschheitsgeschichtlich Grauenhaftesten, das sich in Deutschland ereignete, viele Menschen wieder eine braune Partei wählen, die „BP“, wie sie sich ehrlich nennen sollte, denn Alternatives ist an dieser rückwärts ins faschistische braune Lager gerichteten Partei nun wirklich nicht zu entdecken.
Über die geläufigen Antworten auf die Frage hinausgehend, warum Menschen diesem Wahnsinn wieder zustimmen, versuche ich, vertieft Gründe dafür zu finden, und komme dabei auf das Phänomen unrelativierbarer faschistischer Ideologien verschiedenster Art. Dabei geht es nicht um politische, soziologische, überhaupt wissenschaftliche Untersuchungen, die meine Ausführungen vermutlich in vielem bestätigen, aber auch widersprechen und dazu Ergänzungsbedürftiges feststellen können. Dabei gilt letzteres vor allem hinsichtlich der Differenz zwischen dem hier fixierten persönlich Erlebten und den fortlaufenden gesellschaftlichen Veränderungen. Insofern ist dieses Buch an einigen Stellen schon beinahe ein historisches, dabei jedoch auch ein bleibend aktuelles hinsichtlich des roten Fadens einer inneren Befreiung, die meines Erachtens das Potenzial hat, im Sinne des pars pro toto zu gelten, was heutzutage immer weniger utopisch anmuten dürfte.
Worin besteht dieser rote Faden? In der Reform des Beziehungsgefüges zwischen dem weiblichen und dem männlichen Prinzip alias in der Frau/Mann-Diade. Diese auf das weibliche Prinzip zu zentrieren und damit dessen patriarchale Verzerrungen zu negieren bedeutet, diesen Beziehungstypus vom Kopf auf die Füße zu stellen und den natürlichen Gegebenheiten zur Wirksamkeit zu verhelfen.
Was ist mit patriarchalen Verzerrungen des weiblichen Prinzips gemeint?
Das patriarchal schlecht Bestehende ist vor allem in Form von Ideologien wie die blutig todbringenden, ja weltvernichtenden gegeben. Dazu gehören vor allem die Naziideologie oder die marxistisch-stalinistische, die bis in die maoistische reicht. Aber auch die kirchliche u.a. als Krieg verursachende, Frauen und Sexualität unterdrückende, im Mittelalter und auch noch später sogar mordende Ideologie, ferner die bildungspolitische Ideologie - besonders hinsichtlich der Schulpraxis -, oder die alles überwölbende kapitalistische Ideologie. Aber auch die Paraformen wie Moden und Rollen gehören mit Abstrichen dazu. All das wird vom materpaklitistischen Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Empfinden her durchdrungen und in grundlegend lebenfördernd matriarchales Bewusstsein verwandelt.
Das scheinbar ausweglose Rotieren im ideologisch Einen wird dabei von der weiblich zentrierten (materpaklitistischen) Diade ausgehend dialektisch ins Andere geworfen, in dem sich männliches Denken, Fühlen und Empfinden durch weibliches relativiert und korrigiert.
Das ist schon viel, aber das Ergebnis ist unsicher, solange der nächste und wichtigste Schritt fehlt: Der existenziell dialektische, als Eintauchen in das Andersandere, die Sphäre aller Heilung.
Dass zum Anderen und besonders zum Andersanderen die Nacktheit des Wahren gehört, zeigt sich in diesem Buch nicht nur dadurch, dass alle patriarchal titeltragenden Personen, die in diesem Text auftauchen, immer ohne das Schutzschild ihres Titels genannt werden, sondern besonders auch darin, dass ich nur aus eigenem autobiographischen Erleben, alternativem Denken und den Reifestufen meines Bewusstseins schreibe.
Teil 1 Das Eine
Kapitel 1
1. Kindheitserinnerungen
Wenn ich als Kind durch die Lange Geismarstraße in Göttingen ging, um von Frau Renzihausen oder von Frau Schreiber Milch aus ihrer großen Aluminiumkanne unter dem Holztresen in meine emaillierte Ein-Liter-Blechkanne per Hand pumpen zu lassen, sah ich unterwegs immer wieder verkrüppelte Menschen. Zumeist waren es einbeinige Männer auf Krücken. Gelegentlich kam jedoch auch einer ganz ohne Beine, auf einem Brett mit Bollerwagenrädern, mit den Händen auf dem Steinpflaster sich immer wieder ruckartig voran stoßend, an mir vorbei gerollt. Wie andere sammelte auch er Zigarettenkippen, um sich mit dem Rest-Tabak daraus wild aussehende Rauchstengel des Trostes mit Hilfe von Zeitungspapier zu drehen. - Ach ja, die Mutter, das verlorene Paradies.
An den Häuserwänden zickzackten noch immer schwarz gemalte, nach unten gerichtete Pfeile, die schutzbietende Bunker anzeigten. Auch am Haus meiner Eltern waren solche Pfeile zu sehen, und oft hörte ich meine Tanten sagen, dass unser 20 Steinstufen tief liegender Gewölbekeller bombensicher sei. „Das hoffen wirjedenfalls“, flüsterten sie dann.
Immerhin, es gab wieder Milch. Im Krieg und auch noch später suchten meine Mutter und ich unsere Nahrung im Hainberg, unserem Stadtwald: Bucheckern, Brennnesseln, Löwenzahn, Himbeeren, Pilze, und was wir sonst noch fanden. Dazu kam zum Heizen und Kochen Fallholz vom Waldboden. Die Bucheckern waren das Wichtigste, denn daraus ließen sich kleine schmackhafte Fladen backen, oder es diente das aus ihnen gepresste Öl zum Braten von Waldgemüsen.
Viel war das nicht im Hunger-Frühling des Jahres 1945 und davor, aber es war im Rückblick frisch, fleischlos und von daher auch gesund im Gegensatz zu Vielem in der heutigen Zeit des Fleisch-, Konsum- und Konservierungswahns, wo Veggiday-Befürworter verhöhnt, ja sogar mit dem Leben bedroht werden und die Grünen sich plötzlich als Verbotspartei gebrandmarkt sehen.
Man musste sich zwar arg einschränken, aber wirklich schlimm war anderes: Zum Beispiel das regelmäßig den ganzen Körper durchzitternde Sirenengeheul, gefolgt vom entsetzlichen Motorengedröhn am Himmel, die rücksichtslose Hast, in einen Bunker zu gelangen, das Stolpern, das Krachen der Bomben, die Todesangst in völliger Bunkerdunkelheit.
Wenige Jahre später kamen dann die ersten Heimkehrer: auch meine über Jahre - wie ich später erfuhr - in russischer Kriegsgefangenschaft tausendfach vergewaltigte Tante Traudel, die immer ungreifbar lächelnd über dem Boden schwebte. Ich mochte sie deshalb gerne. Warum, ja warum? Alles war einfach furchtbar: Buchenwald- und Auschwitzgeflüster. Auch vom seitens meiner Tante Ulla miterlebten Untergang der Wilhelm Gustloff hörten wir einiges, und nicht weniger von der Flucht und dem Sterben dabei. Immer wieder Tod, Elend, auch Trauer um die verlorene Heimat. Wir Kinder hörten das durch verschlossene Türen, spürten das entsetzliche Leid sogar durch Wände und natürlich auch durch die allgemein aufgesetzten fröhlichen Masken der Menschen um uns herum, der Masken, durch die unentwegt leise das Grauen sprach.
Ein paar Jahre später schlug die Schule mittels meist kriegsverletzter, mit Rohrstöcken schlagender Lehrer in meine Kindheitsseele. Zwei sich in allen meinen Zellen verankernden Schulfilme über die Auschwitz-Befreiung und Babyn Jar brachten allerdings den unkurierbaren Tiefschlag. Schockstarre legte sich über uns Kinder, als wir die Leichenberge sahen, die mit Schaufelbaggern zusammengeschoben wurden. Und dann das beinahe noch größere Entsetzen: Babyn Jar, wo viele tausende zwangsentkleidete, völlig nackte Menschen, Frauen, Männer und Kinder von deutschen Männern, Nazis, totgeprügelt und erschossen wurden. Das Entsetzen in den Augen, die Scham, die Qual, das Blut, das Schreien fuhren in mich, keine Zelle blieb unberührt, wurde zu meinem eigenen Schreien, das qualvoll stecken blieb - irgendwie bis heute unerlöst.
Durch in den Klassenraum gebrüllte Worte wie „look“ oder „guck hin“ waren wir gezwungen, die Augen offen zu halten. Einige Lehrer weinten. An Flucht war nicht zu denken: Bewaffnete Gls standen vor der Klassentür und bewachten die von amerikanischer Seite verordnete Kur. Die Hölle war da und kroch durchs Klassenzimmer. Inmitten der Stadt hatte sie sich in den Schulen seelenfressend festgesetzt. Das entmenschte Film-Erlebnis trieb mich über Tage in den Hainberg. Wahrscheinlich suchte ich dort Trost, gar Heilung; nicht bei den Menschen - wozu die imstande waren, hatte ich gesehen -, nein bei den Tieren im Gras zwischen Bäumen, im Wald, der uns in Kriegszeiten und noch danach ernährt hatte. Ich wollte kein Mensch mehr sein. Das war der Augenblick, in dem ich unwiederbringlich zum unvereinnahmbaren Einzelgänger wurde.
2. Naziphrasen und Verbrechen
Über all das und noch viel mehr sind aus unterschiedlichen Perspektiven viele Bücher geschrieben worden: historische, psychologische, philosophische, Romane, Gedichte; es wurden auch Filme darüber gedreht und in die Welt gesetzt. Wir wissen das alles, und es muss dem nicht weiter nachgegangen werden. Hier geht es um einen persönlichen Erlebnisbericht.
Als Kind bereits tröstete ich mich mit dem Gedanken: Hitler ist gottseidank tot, der Krieg ist gottseidank verloren, und so etwas wie die Nazizeit kommt nie wieder. Aus diesem Entsetzen haben sicher alle Deutschen unumkehrbar gelernt. Wie sollte es auch anders sein, denn jede Katze, die sich einmal die Pfoten verbrannt hat, tut das nicht ein zweites Mal.
Aber nein, bei Menschen mit ihren verfluchten Ideologien ist das anders: Die alten Naziphrasen, die so viele zu Unmenschen, ja zu Mördern gemacht hatten, die die Wurzel des Krieges und von Auschwitz, Babyn Jar waren und - wovon ich erst im Erwachsenenalter erfuhr - vielen anderen Großverbrechen, wie z. B. die Ermordung der Bevölkerung in St. Petersburg (damals Leningrad) durch Aushungern, diese Phrasen sind heute wieder en vogue. Und das, obwohl so viele pazifistisch und demokratisch denkende Menschen auch in Deutschland - nicht zuletzt mein Großonkel Herman Sudermann besonders mit seinem Theaterstück „Die Ehre“ – in vielen Schriften bereits vor und während der Hitlerzeit eindringlich zeigten, wohin die Schreckensreise geht, die dann in aller Wirklichkeit bis zum Untergang des sogenannten dritten Reichs auch stattfand.
Mit solchen naziideologisch aufgeladenen Phrasen ködern die heutigen äußersten Rechten bzw. Neonazis erneut Menschen: Männer, deren Väter und Großväter zu Mördern oder auch Opfern wurden und elend verreckten und leider auch Frauen, obwohl deren Mütter und Großmütter damals oft als vielfach Vergewaltigte auf ihre Männer angstvoll warteten, immer wieder nach Friedland in banger Hoffnung hin zu den Heimkehrertransporten fuhren - mit meinen Freunden Erhard und Volker habe ich das oft miterlebt - , bis diese Frauen nicht mehr konnten, und sich neu liierten. Aber dann kamen einige der vermissten Männer doch zurück, nicht selten als Krüppel, als Kranke und schwer Gestörte, ja als Verrückte. Welche Freude, welch ein Entsetzen, welch unlösbare Konflikte, welch ein Meer der Verzweiflung, welch ein Meer seelischen Zerbrechens! Der Vater meiner Freunde kam nie wieder und ebenso wenig der Mann meiner Tante Ursel, die auf ihn jahrelang wartete.
Noch einmal: Zu all solchem Elend kam es durch die allgemein begrüßten naziideologischen Phrasen, die schließlich ins mörderische Abseits führten und nun nach 70 Jahren vom erstarkenden rechten Rand der Bevölkerung wieder zu hören sind. Was ist mit den Leuten los? Sind die irre? Folgen die tatsächlich dem Lenin-Spruch, nach dem der Kapitalist seinem Henker auch noch den Strick verkauft?
Allein dem Naziton hörend oder lesend wieder zu begegnen, retraumatisiert viele Menschen - auch mich, die den grausamen Wahnsinn der Nazizeit noch miterlebt haben.
Von den Verursachern, also auch den Millionen Mitläufern, vor allem aber vielen ihrer Nachkommen heute, suchen jetzt wieder Tausende ihr Heil nicht nur bei Konservativen, - das wäre nicht das Schlimmste - sondern bei den neuen Rechtsextremen. Wie um Gotteswillen ist das möglich? Wie kann Nazi-Ideologie nach den entsetzlichen Erfahrungen des Gewesenen inmitten einer Demokratie Menschen wieder den Kopf verdrehen? Da fragt man sich: Gibt es eine vor einer neuen Nazi-Diktatur schützende Demokratie eigentlich noch hierzulande?
Nein! Das Wort „Demokratie“ bedeutet bekanntermaßen „Volksherrschaft“ alias „Es herrsche das Volk“. Demokratie bedeutet nicht „Es herrsche der Kapitalismus“ bzw. „Es herrsche der Kapitalist und mit ihm der Konservative, oder gar der braune Rand.“
Vor dem braunen Rand, der seinen Radius ständig vergrößert, kann man heute Angst haben. Das Problem der Demokratie ist, wie Kant oder Adorno es wussten, unter anderem die fehlende „Mündigkeit“ vieler Menschen, der Wahlberechtigten. Soll man die Braunen von der Wahl ausschließen? Wir lassen die Frage hier undiskutiert. Denn schlimmer noch als die Rechtsradikalen, die die Demokratie, ja ganz Europa zerstören wollen, ist, was sie letztlich lenkt, und wofür rechte Ideologie allgemein besonders offen ist: das Geld und seine Kanalisierung durch die Superkrake der allherrschenden 40 Megaverdiener dieser Welt und dadurch scheinbar unkorrigierbar Mächtigen.1 Das vor allem zerrüttet den demokratischen Abwehrwall gegen Ausbeutung und Vernichtung.
Leben wir nicht jetzt schon in der Diktatur einer lobbyistisch getarnten riesigen Geldmacht, an der Politiker und eben besonders die Rechten scheinbar wie Marionetten hängen? Ich glaube: Ja. Man denke nur an die Spendenskandale.
Und ist Demokratie nicht dadurch schon jetzt derart geschwächt, dass sie sich gegen die ideologische Pest des neuen, sich in demokratische Mäntel hüllenden Nazitums nicht mehr wehren kann? Beginnt sich nicht, anders als Marx es sich dachte, Hand in Hand mit dem Großkapital eine Diktatur des braunen Proletariats zu etablieren, eine Diktatur der Unmündigen, wie Kant es ausdrückte, eine Diktatur der scheindemokratischen Neo-Nazis Hand in Hand mit dem unsäglichen Reichtum der Mächtigen unter uns?
Welche Naziphrasen, die heute wieder zu hören sind, meine ich genau? Schon in meiner frühen Jugend war ich Organist. Während ich - wie allsonntäglich - in der Kirche an der Orgel mein Eingangsstück spiele, trampeln, sich bitteren Ernst in ihre Minen zwingende Männer zur Orgelempore hoch. Mit Kyffhäuser Riesenbannern decken sie die gesamte Empore zu. Es ist Heldengedenktag. Der heißt nun seit einiger Zeit „Volkstrauertag“, aber am Ritus scheint sich nicht viel verändert zu haben. Dazu gehört auch der Ort: die Kirche. Und hier erlebe ich, dass dieser Soldaten- bzw. Veteranenbund aufs Beste bedient wird. Es geht nicht um Jesus oder Gott, es geht um den Patriotismus, dem auch Frauen anhängen „dürfen“ als Feigenblatt sozusagen, es geht um den guten Patrioten, und es geht ums Vaterland, es geht um die Ehre, um die Kriegs-Helden, das Volk, die Heimat, die reine deutsche Familie, die Ehe, das todbringende Schützen von Frauen und Kindern usw., um Themen also, die sowohl von den Konservativen bis hin zu den Neonazis agitatorisch vorgebracht werden.
Die Massenmorde in Babyn Jar oder Auschwitz, Buchenwald, Leningrad und in anderen Stätten des Grauens werden nicht thematisiert, obwohl die Männer der Wehrmacht hier todbringend agierten, ja nicht einmal eingestanden, dass der Krieg ein deutscher imperialer Angriffskrieg und als solcher ein internationales Riesenverbrechen war.
Aber auch selbst das ehrenvolle Bemühen der „Bekennenden Kirche“ wird nicht angesprochen. Wie auch? Der Pfarrer hätte in solchen Gottesdiensten dann ja sagen müssen, wogegen sich diese aufrechten Leute wandten. Die sträflichen Auslassungen, all das, was am sogenannten Heldengedenktag unerwähnt blieb, tragen dazu bei, der Kriegslüge der hitlerindoktrinierten Traditions-Soldaten in zweiter, ja dritter und vierter Generation Fortbestand zu sichern. Warum tun Pastoren das? Damit es keinen Skandal in großen Teilen unseres noch immer rechtskonservativen Landes gibt, das sich rechtskonservativ erhalten möchte, und damit nicht noch die letzten Kirchgänger meinen, der Kirche im Falle ehrlicher, vermeintlich linker Predigten den Rücken kehren zu müssen, oder weil diese Pastoren selbst rechts stehen.
Und natürlich bleiben auch die braunen Kriminellen der Kirche selbst, die mit den Nazis Hand in Hand mordeten, unerwähnt und damit zwangsläufig auch die wahren Helden und Heldinnen, die sich dagegen stellten, wie z. B. meiner Tante Irmgard Almstedt.
Dieses habe ich als Kind miterlebt: In der Mariengemeinde in Göttingen gab es einen Pastor namens Bruno Benfey. Er war allgemein beliebt. Und meine Tante Irmgard, die damals dort Gemeinde-schwester war, nahm mich oft mit in die Kirche, weil ich von der großen Mahrenholz-Orgel mit ihren schönen Kupferpfeifen damals sehr fasziniert war. Anlässlich solcher Besuche traf ich auch Pastor Benfey, einen von Herzen freundlichen kleinen Mann. Aber ich sah auch seinen teuflischen Widersacher, den Superintendenten Runte, einen Erznazi und SA-Mann.
Der brachte es fertig, seinen Pastor ins KZ Buchenwald bringen zu lassen, weil die Eltern dieses christlichen Pastors vom Juden- zum Christentum konvertiert waren und Benfey demnach jüdische Wurzeln hatte.2
Dabei vergaß der Kirchennazi Runte offenbar nicht nur die Liebesgebote Jesu sondern sogar, dass das ganze Christentum im Judentum wurzelt. So sehr hatte ihn die Naziideologie verblendet.3
Diese Ungeheuerlichkeit ließ meine Tante über sich hinauswachsen. Ich erinnere mich noch genau, wie sie an ihrer Eintasten-Mignon-Schreibmaschine - ich halte das Gerät noch heute in Ehren - unablässig schrieb. Wie ich bald nach dem Krieg erfuhr, hatte sie - natürlich geschickt getarnt - mit der Widerstandsbewegung in Holland korrespondiert. Mit Erfolg: Zusammen mit dem Sohn Pastor Benfeys wurde es möglich, diesen armen Menschen aus dem KZ zu befreien. Ich sah ihn, wie er zu seiner Wohnung in der Gartenstraße stolpernd von zwei Frauen aus der Gemeinde beinahe getragen wurde. Als lebendes Skelett konnte er nicht mehr allein gehen.
Einen späten Nazi-Gruß aus dieser Gemeinde erhielt ich, als ich mich um die frei gewordene Organistenstelle in der Marienkirche viele Jahre später bewarb. Gerne wäre ich Organist an der schönen kupfernen Mahrenholz-Furtwängler Orgel geworden, die mich als Kind schon angelockt hatte. Die Nazizeit ist vorbei, und die alten Auguren sind nicht mehr an der Macht, dachte ich naiverweise. Alles schien gut zu sein, und scheinbar freute man sich, mich als Organisten gewinnen zu können. Doch dann kam die Wende: In einem Gespräch mit einem der dortigen neuen Kirchenobern fragte dieser, plötzlich misstrauisch geworden, nach meinem Namen. „Almstedt“, sagte ich. Er fragte nach: „Wirklich Almstedt?“ „Ja, Martin-Aike Almstedt“. Die Mine des Kirchenchristen wurde grau und gerann zu einer fröhlich lächelnden Maske. „Gut,“ sagte der Gottesknecht, „es ist ja alles gesagt.“ und ging grußlos. Ein paar Stunden vor meinem Antrittsgottesdienst als Organist erhielt ich die Aufforderung, ein mir völlig unbekanntes Chorkonzert mit einem mir völlig unbekannten Chor vom Blatt zu dirigieren. Konnte ich mir das Zutrauen? Noten dafür hatte ich nicht und sie wurden mir auch nicht gegeben. Vom Blatt also! Ich dachte: „Versuchen kann ich es ja, trotz meiner geringen Erfahrung als Chorleiter.“ Aber dann waren die Noten für mich plötzlich gar nicht zur Verfügung, - und da endlich kapierte ich: Die grundruhmreiche Vergangenheit meiner Tante hatte ihren Neffen eingeholt.
Für mich ist die Mariengemeinde in Göttingen seit dem ein braunes Nest. Für meine Tante - und das schätze ich als ihren größten Sieg - war es das nach dem Krieg nicht mehr. „Allen Sündern muss man vergeben, nicht „7 mal, sondern 70 mal 7 mal“ zitierte sie oft Jesus4. Rechte Ideologie ist allerdings vermutlich nicht nur dort bis heute anzutreffen. Das jedenfalls legt die unsägliche Hetzschrift AFD-treuer Anhänger „Warum Christen AFD wählen“ nahe.
Bei meinen Kindheits-Erinnerungen an die Mariengemeinde in Göttingen fehlt noch manches, besonders aber dieses ist mir stark im Gedächtnis geblieben:
Jahre nach dem Krieg hatte ich eine Begegnung mit Superintendent Runte zufällig in der Gartenstraße nahe der Marienkirche. Ich erkannte ihn wieder und er scheinbar mich. Ein großer schlanker Mann mit den Augen eines Greifvogels und den lächelnden Zügen eines todverteilenden Inquisitors. „Benfey umzubringen haben Sie nicht geschafft. Nun predigt er doch wieder in der Marienkirche“ sagte ich. Er zwang ein noch falscheres Lächeln in sein böses Gesicht und hob seinen rechten Arm. Wollte er den Hitlergruß zeigen, wollte er sich mit der Geste des Segnens versündigen? Ich weiß nicht mehr, ob er etwas sagte, ich lief einfach weg, nur weg von dieser Höllenerscheinung, der auch meine aufrechte christliche Tante, die Gott sei Preis und Dank aus der Kirche inzwischen ausgetreten war, vielleicht ganz zum Opfer gefallen wäre, wenn die Nazizeit noch länger angedauert hätte. Denn der Mörderbande war das Mörderhandwerk selbst nach dem Krieg nicht sofort zu legen. Die perverse Mordlust beherrschte lange noch viele dieser Wahnsinnsfiguren. Mit Sondererlaubnis der Besatzer, wie z. B. auch noch unter des Prinzen Segen in Holland, durften SS-Nazis Standgerichte und Erschießungen abhalten und taten das auch.
1 Jean Ziegler,Was ist so schlimm am Kapitalismus?, Bertelsmann 2019
2 HNA (Hessische / Niedersächsische Allgemeine) vom 10. Nov. 2013: Schülerinnen erinnern an Progromnacht und Pastor Benfey
3 Der Umgang der Landeskirche Hannovers mit den „getauften Pfarrern“ während der NS-Zeit,Examensarbeit von Leif Rocker zum Ersten theologischen Examen (Kirchengeschichte), Göttingen 2018, S. 25 ff.
4 Matthäus 18, 22
Kapitel 2
1. Das weiblich männliche Prinzip
In Platons Symposion kommt die Fabel vom Kugelmenschen vor. Dieses Wesen hatte vier Arme und vier Beine und bestand aus einer Einheit von Mann und Frau. Das gab ihm unermessliche Kraft, worüber sich Zeus empörte und in seinem Zorn den Kugelmenschen entzwei schlug. Seither suchen die männliche und die weibliche Hälfte nach Vereinigung.
Der Mythos kann als Hinweis auf jene Urformen des Lebens gelesen werden, in denen es eine weiblich/männliche Teilung noch nicht gab bzw. gibt, wie z. B. bei Einzellern, aber auch bis heute z. B. bei Wasserflöhen oder bei Bienen, wo Vermehrung auch durch Parthenogenese alias Jungferngeburt geschehen kann. Das aber ist die Ausnahme. In der Regel sind quer durch die gesamte Natur zueinander dringende Kräfte angelegt, die in ihrer Vereinigung neues Leben ermöglichen. Im Falle des Menschen bewirken diese Kräfte unterschiedliche Körper: den weiblichen und den männlichen in einer Fülle von Variationen. Diese Unterschiedlichkeit ist anhand typischer Merkmale beschreibbar als Unterschiedlichkeit der primären inneren und äußeren Fortpflanzungsorgane sowie der sekundären äußeren Geschlechtsmerkmale wie Haarwuchs, Brüste und Gestalt. Aber das ist nicht alles. Auch die Gehirne unterscheiden sich bei männlichen und weiblichen Menes schen bereits im Mutterleib, wie die Hirnphysiologin Brizendine5 in ihren Büchern ausführt. Nicht weniger gilt das für die die hormonelle Ausstattung.
Es fällt auf, dass die Natur in all dem Ergänzungsverhältnisse angelegt hat, wobei dies für die Fortpflanzungsorgane am offensichtlichsten ist. Allerdings gilt bereits für diese scheinbar unverrückbare Aussage, dass zwischen körperlicher Realität und ihrer Beschreibung große Unterschiede bestehen können, wie Menschen mit androgyn ausgelegten Körpern in einer Fülle von Variationen zeigen. Verallgemeinernd kann man sagen, dass das, was an Merkmalen, die gewöhnlich als männliche gelten, normalerweise auch bei Frauen auftreten können, und das, was an Merkmalen, die gewöhnlich als weibliche gelten, auch bei Männern zu erkennen sind, was allerdings im körperlichen Bereich hinsichtlich der Ausstattung zur Gebär- und Stillfähigkeit nicht austauschbar ist. In dieser Hinsicht findet die Variationsbreite der möglichen gemeinsamen Merkmale in Bezug auf Männer und Frauen eine unüberschreitbare Grenze. Frauen sind in dieser Hinsicht nur Frauen und Männer nur Männer.
Zweifellos bewirkt die Verschiedenartigkeit weiblicher und männlicher Körper in Männern und Frauen unterschiedliche körperliche Empfindungen, seelische Gefühle und darauf aufbauend Selbst- und Weltbilder, wobei die Sozialisation ein weiterer unzählige Varianten erzeugender Faktor ist, der mitunter sogar die von der Naturgegebenen Faktoren überdeckt.
Gehen wir die Frage nach dem weiblichen und dem männlichen Prinzip dialektisch an und stellen dazu willkürlich folgende Begriffspaare auf:
- geben / empfangen
- gestalten / nehmen
- strukturieren / kommen lassen
- logisch denken / intuitiv denken
- zielgerichtet / offen
- fokussiert / ausdehnend
- kämpferisch / nachgiebig
- draufgängerisch / vorsichtig
- ausbeutend / bewahrend
- bestimmend / hingebend
- spaltend / versöhnend
- erschaffend / repetierend
- materiell / spirituell
- kraftvoll / schwach
- verbrauchend / behütend behaltend
- hart / weich
- stur / diplomatisch
etc.
Betrachtet man diese Begriffspaare, so fällt auf, dass die einzelnen Begriffe kaum alleine bestehen können, sondern ihre Bedeutung nur in Kombination mit dem jeweils anderen Begriff erhalten. Des Weiteren wird klar, dass einige dieser Paare nicht nur enger zusammengehören wie 2, 3, 4, 5, sondern alle dieser - und unzähliger weiterer - Paare einem Prinzip folgen, das im Urprinzip des Nur-Weiblichen bzw. Nur-Männlichen und damit in der Geschlechtlichkeit bzw. Fortpflanzung alias Lebenserhaltung wurzelt.
Nun wäre es zweifellos falsch, die linke Seite dieser Paare männlichen und die rechte Seite weiblichen Menschen in feststellender Weise zuzuordnen und sie dabei möglicherweise auch noch einer Wertung im Sinne von gut oder schlecht zu unterziehen. Beide Seiten sind für das menschliche Leben nötig und finden einander ergänzend im jeweils anderen ihr Korrektiv, was Dialektik im Sinne von These, Antithese und Synthese bedeutet und zugleich das Grundgesetz jedes guten Ergänzungsverhältnisses zwischen Frauen und Männern ist.
Bis auf die naturgegebene evolutionäre Urkraft, die einander geradezu magisch anziehende weibliche und männliche Körper zwecks Fortpflanzung hervorbringt, können alle diese Merkmale alias Eigenschaften sowohl an Frauen wie an Männern festgestellt werden, wobei die Eigenschaften der rechten Seite verständlicherweise eher an Frauen auftauchen als an Männern. Aber natürlich können auch Männer z. B. weich, behütend, bewahrend, nachgiebig, vorsichtig, intuitiv etc. sein, aber dann immer in männlicher Weise, was sie dem weiblichen Sein näher bringt. Und Frauen können wie Männer primär logisch denken, können hart, ja grausam, spaltend, kämpferisch, zielgerichtet etc. sein, aber dann nur in weiblicher Weise, was sie dem Verständnis männlichen Seins näherbringt. Dass diese Möglichkeit variabel einsetzbar oder aber auch in fixierter Weise besteht, verdankt sich der Tatsache, dass in jedem Mann eine Frau steckt und in jeder Frau auch ein Mann (s.u.), was die uralte einzellige Eingeschlechtlichkeit wieder in den Blickpunkt rückt.
Da Frauen und Männer sich aus dem Tierstadium seit Jahrtausenden heraus entwickelt haben (was nicht bedeutet, dass dieses Stadium überwunden ist), gilt seit langem deutlich hervortretend die Einteilung Körper, Seele und Geist, wobei zwischen diesen Bereichen ein enges Beziehungsgeflecht im Sinne von Wechselwirkungen besteht. Aber das ist nicht alles. Wie bereits angesprochen kommt es vor, dass Menschen mit männlichem Körper weiblich fühlen und denken und Frauen mit weiblichem Körper männlich fühlen und denken. Und nicht nur das: Es gibt - wie im nächsten Unterkapitel noch weiter auszuführen ist - weibliche und männliche körperliche Merkmale in androgynen Menschen mit ebenfalls mehr männlicher oder weiblicher Psyche. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich dieses scheinbare „Durcheinander“ als evolutionärer Schritt in Richtung neuer Menschenwesen ankündigt, was Platon mit seiner Idee vom Kugelmenschen vielleicht schon ahnte.
2. Das weibliche Prinzip als Bezugspunkt in der menschlichen Gesellschaft
Aus dem männlichen Samen und dem weiblichen Ei entsteht der Mensch jeweils in einer Frau. Alle Menschen haben insofern ihre Wurzeln im weiblichmännlichen Prinzip und sind so gesehen von Natur aus androgyn angelegt.
Das gilt hinsichtlich der Ausgewogenheit dieser Pole jedoch bei den meisten Menschen nur für den Lebensanfang. In der weiteren Entwicklung verändert sich die Ausgewogenheit dieser Pole sehr bald schon zugunsten des männlichen oder des weiblichen Pols.
Das ist jedoch nicht immer so. Es gibt wie bekannt auch androgyn gleichstark ausgeprägte erwachsene Menschen, die männliche und weibliche Merkmale in körperlicher und seelischer Hinsicht aufweisen. Aber in der Regel dominiert im Laufe der Entwicklung des Menschen bereits im Mutterleib das weibliche oder das männliche Prinzip, und es entstehen Mädchen und Jungen, aus denen später mit der Geschlechtsreife Frauen bzw. Männer werden6. Das ändert jedoch nicht, dass der erwachsene Mann wie auch die erwachsene Frau noch immer androgyn veranlagt ist. Entscheidend allerdings ist dabei, dass dies in unterschiedlichem Maße der Fall ist: Entweder dominiert der weibliche Pol stärker oder schwächer vor dem männlichen oder der männliche vor dem weiblichen. D.h.: Die androgyne Anlage des Menschen ist meistens mehr oder weniger stark eine unausgeglichene.
Wie alles Unausgeglichene in der Natur nach Ausgleich strebt, so auch die Unausgeglichenheit der androgynen Anlage beider Geschlechter.
So streben, um eine androgyne Balance zu erlangen, die Frau zum Mann und der Mann zur Frau. Das Gefühl und die Empfindung dabei ist die biologische Grundlage für das, was „Liebe“ genannt wird. Diese ist schon in den frühen Stadien der menschlichen Entwicklung deutlich vorhanden, wird aber erst mit der Geschlechtsreife zusätzlich als sexuelle spezifiziert. Diese Spezifizierung ist dabei jedoch keine zwangsläufig fixierte. Das androgyne Streben nach Ausgleich besteht mit und ohne den Sexualtrieb weiter und kann sich mit diesem unterschiedlich stark bis hin zur Dominanz oder aber auch Bedeutungslosigkeit verbinden. So ist es möglich, dass eine Frau einen Mann ohne sexuelles Bedürfnis liebt und ebenso ein Mann eine Frau. (Ob eine solche Beziehung dann die Charakteristika einer Freundschaft erfüllt, kann sein, muss es aber nicht.)
Dieses Hinstreben zum anderen Geschlecht ist jedoch bei Frauen hochgradig anders ausgelegt als bei Männern - und bei Männern anders als bei Frauen. Das liegt daran, dass alle Menschen in Frauen entstehen und nicht in Männern. Alle sind durch das weibliche Blut,