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Wir wissen, dass das Universum vor vielen Milliarden Jahren in einem gewaltigen Feuerball entstand – dem Urknall. Aber wie wird die Geschichte unseres Universums enden? Wird es in unvorstellbarer Hitze verglühen – oder in eisiger Starre vergehen? Wird es zu einem Klumpen unendlicher Dichte kollabieren, und wird das Ende wirklich das Ende sein – oder entsteht das Universum danach von Neuem? Die renommierte Astrophysikerin Katie Mack nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise zu den Grenzen von Raum und Zeit und zeigt auf unterhaltsame Weise, was die Wissenschaft über das Ende des Kosmos weiß.
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Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:www.piper.deFür meine Mutter,die von Anfang an dabei warDie Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel The End of Everything bei Scribner, New YorkCopyright © 2020 by Dr. Katie MackFür die deutsche Ausgabe:© Piper Verlag GmbH, München 2021Abbildungen: Nick JamesCovergestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenCovermotiv: Science Photo Library / Ritsch, HaraldKonvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.
Cover & Impressum
1 Einführung in den Kosmos
Willkommen in der Endzeit
Aufschauen
Das kosmischen Verhängnis quantifizieren
Spoilerwarnung
Manch einer sagt, in Feuer stirbt die Welt.Ein anderer, in Eis.Da vom Geschmack der Lust ich weiß,halt ich’s mit dem, der auf das Feuer zählt.Doch wenn es zweimal untergehen heißt,weiß ich vom Hass genug,dass die Zerstörung Eisgenauso tutund alles fällt.
Robert Frost, Feuer und Eis (1920)[1]
Die Frage, wie die Welt enden wird, war bei Dichtern und Denkern seit jeher Gegenstand von Spekulationen und Diskussionen. Dank der Wissenschaft kennen wir heute die Antwort: Die Welt wird in Feuer untergehen. In Feuer – definitiv. In etwa fünf Milliarden Jahren wird die Sonne zu einem sogenannten Roten Riesen anschwellen, den Merkur und vielleicht auch die Venus verschlingen und die Erde zu einem verkohlten, unbelebten, magmabedeckten Gesteinsbrocken machen. Auch der tote, schwelende Rest der Erde wird wahrscheinlich das Schicksal haben, in die äußeren Schichten der Sonne einzugehen und seine Atome in der aufgewühlten Atmosphäre des sterbenden Sterns zu verstreuen.
Also Feuer. Das wäre geklärt. Frost hat zum ersten Mal richtiggelegen.
Doch er hat nicht groß genug gedacht. Ich bin Kosmologin. Ich erforsche das Universum, und zwar als Ganzes, im größten Maßstab. Aus dieser Perspektive ist die Erdenwelt ein kleines sentimentales Staubkorn, das in einem gigantischen und vielgestaltigen Universum dahintreibt. Was mich interessiert, beruflich und privat, ist eine größere Frage: Wie wird das Universum enden?
Wir wissen, dass es einen Anfang hatte. Vor etwa 13,8 Milliarden Jahren verwandelte sich das bis dahin unvorstellbar komprimierte Universum in einen einzigen kosmischen Feuerball, zu einem sich allmählich abkühlenden fluiden Gemenge aus Materie und Energie, aus dem irgendwann die Sterne und Galaxien hervorgingen, die wir heute am Himmel sehen. Planeten bildeten sich, Galaxien kollidierten, Licht durchflutete den Kosmos. Ein felsiger Planet, der einen gewöhnlichen Stern nahe dem Rand einer Spiralgalaxie umkreist, brachte Leben hervor, zum Beispiel spindeldürre zweibeinige Säugetiere, die Computer benutzen, Politikwissenschaft treiben und zum Spaß Physikbücher lesen.
Aber wie geht es weiter? Wie wird die Geschichte enden? Der Tod eines Planeten, ja sogar der eines Sterns, könnte prinzipiell überlebt werden. Es könnte sein, dass die Menschheit in Milliarden Jahren in einer vielleicht nicht wiederzuerkennenden Form noch existiert, sich in ferne Weiten des Weltalls hinauswagt, eine neue Heimat findet und neue Zivilisationen hervorbringt. Der Tod des Universums wird jedoch das endgültige Ende sein. Was wird es für uns, für alles bedeuten, wenn es dazu kommt?
Obwohl es einige (höchst unterhaltsame) klassische Abhandlungen darüber in der wissenschaftlichen Literatur gibt, bin ich dem Begriff »Eschatologie«, der die Lehre von den »Letzten Dingen« bezeichnet, zum ersten Mal in Büchern über Religion begegnet.
Die Eschatologie – genauer: das Ende der Welt – bietet vielen Religionen die Möglichkeit, die Lehren der Theologie zu kontextualisieren und ihre Bedeutung den Gläubigen mit überwältigender Eindringlichkeit vor Augen zu führen. Trotz aller theologischen Unterschiede haben das Christentum, das Judentum und der Islam eine Vision von der Endzeit gemeinsam, wonach diese eine Erneuerung der Welt herbeiführen werde, in der das Gute über das Böse triumphiert haben würde und diejenigen, die in der Gunst Gottes stehen, belohnt würden.[1] Vielleicht dient die Verheißung eines Jüngsten Gerichts dazu, die unerfreuliche Tatsache auszugleichen, dass unsere unvollkommene, ungerechte, von Zufällen regierte physische Welt denjenigen, die richtig leben, kein gutes, erfülltes Leben garantieren kann. Wie ein Roman von seinem Schlusskapitel gekrönt, aber auch rückwirkend ruiniert werden kann, so scheinen viele religiöse Philosophien ein Ende der Welt, und zwar ein »gerechtes« Ende, zu benötigen, damit die Welt einen Sinn gehabt hat.
Natürlich verheißen nicht alle Eschatologien Erlösung, und nicht alle Religionen sagen eine Endzeit voraus. Während des Hypes um den Weltuntergang, der angeblich für den 21. Dezember 2012 zu erwarten war, wurde selten erwähnt, dass die Mayas eine zyklische Vorstellung von der Geschichte des Universums hatten, die als solche kein bestimmtes »Ende« vorsah. Die Hindus denken noch heute so. Die Zyklen in diesen Traditionen sind übrigens keine bloßen Wiederholungen, sondern sie enthalten die Möglichkeit, dass die Dinge beim nächsten Mal besser sein werden: Dein Leiden in dieser Welt ist schlimm, aber verzage nicht, eine neue Welt wird kommen, die nicht von den Ungerechtigkeiten der Gegenwart gezeichnet, sondern besser sein wird – vielleicht sogar infolge dieser Ungerechtigkeiten der Gegenwart. In weltlichen Geschichten vom Ende begegnen wir einer ganzen Bandbreite von Sichtweisen, von der nihilistischen Auffassung, dass letztlich das Nichts die Oberhand erlangen wird, bis hin zu der verwegenen Vorstellung von einer ewigen Wiederkehr, in der alles, was geschehen ist, auf genau dieselbe Weise immer wieder geschehen wird.[2] Diese beiden offenkundig konträren Theorien werden gemeinhin mit Friedrich Nietzsche in Verbindung gebracht, der sich, nachdem er den Tod eines jeden Gottes verkündet hatte, der im Universum Sinn und Ordnung stiften könnte, mit den Implikationen eines Lebens in einem Kosmos ohne finale Erlösung auseinandersetzte.
Natürlich hat nicht nur Nietzsche über den Sinn des Lebens nachgedacht. Aristoteles, Laotse, Simone de Beauvoir, Captain Kirk und Buffy der Vampir-Killer, um nur einige wenige zu nennen – sie alle haben sich irgendwann einmal gefragt: »Welchen Sinn hat das alles?« Und zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Buches haben wir noch immer keine gemeinsame Antwort gefunden.
Unabhängig davon, ob wir eine Religion oder Philosophie haben oder nicht: Es lässt sich kaum bestreiten, dass das Wissen um unser kosmisches Schicksal einen Einfluss darauf haben muss, wie wir über unsere Existenz denken – ja, wie wir leben. Wenn wir wissen wollen, ob das, was wir tun, letztlich einen Sinn hat, fragen wir als Erstes: Wozu führt das? Was kommt dabei heraus? Und wenn wir diese Frage beantwortet haben, stellt sich unmittelbar die nächste: Was bedeutet das jetzt für uns? Müssen wir immer noch nächsten Dienstag den Müll hinaustragen, wenn das Universum eines Tages sterben wird?
Ich habe theologische und philosophische Texte durchforstet und dabei viel gelernt, aber leider nichts über den Sinn des Lebens erfahren. Vielleicht bin ich dafür einfach nicht geschaffen. Am stärksten haben mich immer Fragen angezogen, die mit Mathematik, wissenschaftlicher Beobachtung und physikalischen Beweisen beantwortet werden können. So reizvoll es manchmal schien, die Frage nach dem Sinn des Lebens ein für alle Mal in einem Buch beantwortet zu finden – ich wusste, dass ich immer nur die Art von Wahrheit würde akzeptieren können, die ich mathematisch ableiten konnte.
In den Jahrtausenden, seit die Menschheit zum ersten Mal nach ihrem dereinstigen Schicksal fragte, haben sich die philosophischen Implikationen der Frage nicht geändert, wohl aber die Instrumente zu deren Beantwortung. Heute ist die Frage nach der Zukunft und dem Ende der gesamten Wirklichkeit eine rein wissenschaftliche Frage, deren Antwort in greifbarer Nähe liegt. Doch noch zu Robert Frosts Zeiten tobten in der Astronomie Debatten darüber, ob sich das Universum in einem stabilen Zustand befinde, in dem es unwandelbar bis in alle Ewigkeit existieren würde. Es war eine reizvolle Vorstellung, dass unser Kosmos dauerhaft und gastfreundlich sei: eine verlässliche Heimat, in der man alt werden könne. Die Entdeckung des Urknalls und der Tatsache, dass das Universum sich ausdehnt, schlossen dies jedoch aus. Das Universum verändert sich, und wir haben gerade erst begonnen, Beobachtungen zu machen und Theorien aufzustellen, die uns verstehen lassen, wie es sich verändert. Die Entwicklungen der letzten Jahre, ja der letzten Monate erlauben uns aber, ein Bild von der fernen Zukunft des Kosmos zu zeichnen.
Dieses Bild möchte ich mit Ihnen teilen. Mit den besten Messergebnissen, die wir haben, ist nur eine Handvoll apokalyptischer Szenarien vereinbar, von denen einige durch Beobachtungen, die wir gerade machen, vielleicht bestätigt oder aber ausgeschlossen werden können. Diese Szenarien verschaffen uns einen Einblick in die Arbeit der Wissenschaft an vorderster Front, und sie erlauben uns, die Menschheit in einem neuen Kontext zu sehen: in einem Kontext, in dem sich meiner Meinung nach selbst dem Wissen um die dereinstige totale Vernichtung etwas Positives abgewinnen lässt. Wir sind eine Spezies, die zwar um ihre letztliche Bedeutungslosigkeit weiß, aber die Fähigkeit besitzt, weit über ihre banale Existenz in die Leere hinauszudenken und die grundlegendsten Geheimnisse des Kosmos zu enthüllen.
Um es frei nach Tolstoi zu sagen: Alle glücklichen Universen gleichen einander, während alle unglücklichen auf ihre eigene Weise unglücklich sind. Ich lege in diesem Buch dar, wie kleine Korrekturen unseres heutigen, unvollständigen Wissens vom Kosmos zu sehr unterschiedlichen Voraussagen über die Zukunft führen können, von einem Universum, das kollabiert, über ein Universum, das zerreißt, bis hin zu einem Universum, das einem ebenso allmählichen wie unausweichlichen Untergang erliegt, indem es sich aufbläht. Ich werde die Entwicklung unseres modernen Verständnisses vom Universum und seinem Ende nachzeichnen, fragen, was dieses Ende für uns bedeutet, und Sie mit einigen der wichtigsten Konzepte der Physik bekannt machen, die nicht nur für kosmische Apokalypsen, sondern auch für die Physik unseres Alltagslebens aufschlussreich sind.
Natürlich sind kosmische Apokalypsen für einige schon heute täglich Grund zur Sorge.
Ich erinnere mich genau an den Moment, in dem mir klar wurde, dass das Universum jeden Augenblick sterben könnte. Ich saß mit dem Rest meines Astronomiekursus in Professor Phinneys Wohnzimmer auf dem Fußboden, während der Professor auf einem Stuhl saß und seine dreijährige Tochter auf dem Schoß hielt. Er sagte, die plötzliche, Raum schaffende Ausdehnung des frühen Universums, die kosmische Aufblähung, sei noch immer ein so großes Rätsel, dass wir nicht den Schimmer einer Ahnung hätten, warum sie begann und warum sie endete, und wir könnten nicht sicher sein, dass sie sich nicht wieder ereignen könne, vielleicht schon im nächsten Augenblick. Niemand könne garantieren, dass das Weltall nicht in diesem Wohnzimmer, während wir arglos unsere Kekse aßen und unseren Tee tranken, anfangen würde zu zerreißen – ein Geschehen, das wir natürlich nicht überleben würden.
Ich war völlig geschockt und hatte das Gefühl, keinen festen Boden mehr unter den Füßen zu haben. Und für immer eingebrannt in mein Gehirn hat sich der Anblick des kleinen Kindes, das dort saß und in einem plötzlich instabil gewordenen Kosmos selbstvergessen herumzappelte, während der Professor leicht schmunzelte und zu einem anderen Thema überging.
Heute, als etablierte Wissenschaftlerin, verstehe ich sein Schmunzeln. Es kann auf eine morbide Weise verführerisch sein, über Prozesse nachzudenken, die mächtig und unaufhaltsam, aber mathematisch genau beschreibbar sind. Die möglichen Zukünfte unseres Kosmos sind auf der Grundlage der besten verfügbaren Daten skizziert, berechnet und nach Wahrscheinlichkeit gewichtet worden. Wir wissen vielleicht nicht mit Sicherheit, ob es im nächsten Augenblick zu einer gewaltigen neuen kosmischen Aufblähung kommen könnte oder nicht, aber wenn es dazu kommt, haben wir die Gleichungen parat. In gewisser Weise ist das ein Gedanke, der stolz machen kann: Wir armseligen, hilflosen menschlichen Wesen haben zwar keine Chance, ein Ende des Kosmos zu beeinflussen (oder zu bewirken), wir können aber anfangen, es zumindest zu verstehen.
Die unermessliche Weite des Kosmos und die unbegreifliche Stärke der Kräfte lassen viele Physiker kalt – man kann das alles ja auf Mathematik reduzieren, kann einige Gleichungen anpassen und dann zur Tagesordnung übergehen. Mich aber haben der Schock und das Schwindelgefühl und meine Ohnmacht angesichts der Unverlässlichkeit von allem geprägt. Die Dinge aus dieser kosmischen Perspektive zu betrachten hat etwas Beängstigendes, weckt aber auch Zuversicht: Es ist, wie ein Neugeborenes im Arm zu halten und die prekäre Balance zwischen der Bedrohtheit des Lebens und dem Potenzial noch ungeahnter Größe zu empfinden. Es heißt, dass Astronauten, die aus dem Weltraum zurückkehren, eine veränderte Sicht auf das Leben mitbringen und dass ihnen, nachdem sie die Erde von oben gesehen haben, dank des sogenannten Overview-Effekts klarer bewusst ist, wie fragil unsere kleine Oase ist und wie einig wir als Spezies, als vielleicht einzige denkende Wesen im Kosmos, sein sollten.
Für mich ist das Nachdenken über die endgültige Vernichtung des Universums eine ähnliche Erfahrung. Es ist ein intellektueller Luxus, über die am weitesten entfernten Bereiche der Tiefenzeit sinnieren zu können und außerdem die Mittel zu haben, um darüber kohärent zu sprechen. Wenn wir fragen, ob »das alles« ewig fortbestehen kann, evaluieren wir implizit unsere eigene Existenz, verlängern sie in der Vorstellung endlos weit in die Zukunft, ziehen Bilanz und geben uns Rechenschaft von unserem Vermächtnis. Die Anerkenntnis, dass alles einmal endgültig zu Ende sein wird, versetzt uns in einen Kontext, verschafft uns Bedeutung – ja, sie macht uns Mut und ermöglicht uns, unsere kleinlichen Alltagssorgen zu vergessen und mehr im Augenblick zu leben. Vielleicht kann dies der Sinn sein, den wir suchen.
Unabhängig davon, ob die Welt heute politisch zerfällt oder nicht, wissenschaftlich gesehen leben wir in einem Goldenen Zeitalter. In der Physik können wir dank Entdeckungen aus jüngster Zeit und mit neuen technologischen und theoretischen Instrumenten Sprünge machen, die zuvor unmöglich waren. Während wir unser Verständnis vom Anfang des Universums schon seit Jahrzehnten verfeinern, macht die wissenschaftliche Erforschung der Frage, wie das Universum enden könnte, erst jetzt Fortschritte. Doch wir kommen einer Antwort definitiv näher. Topaktuelle, mithilfe von leistungsstarken Teleskopen und Teilchenbeschleunigern gewonnene Erkenntnisse haben ebenso aufregende wie erschreckende neue Möglichkeiten aufgezeigt und unsere Einschätzung verändert, was als Entwicklung des Kosmos in ferner Zukunft wahrscheinlich ist und was nicht. Auf diesem Gebiet werden unglaubliche Fortschritte gemacht, die uns die Möglichkeit geben, am Rande des Abgrunds zu stehen und in die tiefste Finsternis zu spähen. Wir können allerdings keine genauen Zahlen nennen.
Als Disziplin der Physik ist die Kosmologie nicht auf Sinnfindung aus, sondern darauf, fundamentale Tatsachen aufzudecken. Durch präzise Messung der Form des Universums, der Verteilung von Materie und Energie in ihm und der Kräfte, die seine Entwicklung bestimmen, finden wir Hinweise auf die Tiefenstruktur der Wirklichkeit. Entgegen der Annahme, große Fortschritte in der Physik basierten auf Experimenten in Laboratorien, verdankt sich vieles von dem, was wir über die Fundamentalgesetze der Natur wissen, nicht den Experimenten selbst, sondern dem Verständnis von deren Beziehung zu Himmelsbeobachtungen. So mussten die Physiker, um den Aufbau des Atoms zu bestimmen, die Ergebnisse von Experimenten mit Radioaktivität mit den Mustern der Spektrallinien im Sonnenlicht in Zusammenhang bringen. Ein anderes Beispiel: Das von Newton aufgestellte allgemeine Gravitationsgesetz postulierte, dass die gleiche Kraft, die einen Klotz eine schiefe Ebene hinabgleiten lässt, den Mond und die Planeten auf ihren Bahnen hält. Dies wurde später durch Einsteins allgemeine Relativitätstheorie korrigiert, eine spektakuläre Neuformulierung des Gravitationsgesetzes, deren Gültigkeit nicht durch Messungen auf der Erde, sondern durch Beobachtungen der ungewöhnlichen Bahn, die der Merkur um die Sonne zieht, und der scheinbaren Positionen von Sternen während einer totalen Sonnenfinsternis bestätigt wurde.
Heute stellen wir fest, dass die Modelle der Teilchenphysik, die wir durch jahrzehntelange rigide Tests in den besten Labors entwickelt haben, unvollständig sind, und wir stellen es fest aufgrund von Hinweisen, die uns der Himmel gibt. Das Studium der Bewegungen und der Verteilungen von Galaxien – kosmischen Konglomeraten, die unserer Milchstraße gleichen und Milliarden oder gar Billionen von Sternen enthalten – hat uns auf große Lücken in unseren Theorien der Teilchenphysik aufmerksam gemacht. Wir wissen noch nicht, wie diese Lücken zu schließen sind, aber man kann darauf wetten, dass unsere Erkundungen des Kosmos dafür von Bedeutung sein werden. Das Zusammenführen von Kosmologie und Teilchenphysik hat uns bereits ermöglicht, die Grundform der Raumzeit zu vermessen, eine Bestandsaufnahme der Komponenten der Wirklichkeit vorzunehmen und in eine Zeit vor der Existenz von Sternen und Galaxien zurückzublicken, um unseren Ursprüngen nicht nur als Lebewesen, sondern als Materie auf die Spur zu kommen.
Natürlich profitieren beide Wissenschaften von der jeweils anderen. Wie die moderne Kosmologie unser Verständnis des winzig Kleinen beeinflusst, so geben Teilchentheorien und -experimente uns Aufschluss über das Universum im Großen. Diese Kombination eines Top-down- und eines Bottom-up-Ansatzes entspricht dem Wesen der Physik. Während die Populärkultur Sie glauben machen möchte, dass es in der Wissenschaft um Heureka-Momente und spektakuläre konzeptionelle Umschwünge gehe, kommen Fortschritte in unserem Verständnis in Wirklichkeit häufiger dadurch zustande, dass wir bestehende Theorien auf die Spitze treiben und beobachten, wo sie versagen. Als Newton Kugeln einen Hügel hinabrollen ließ oder das langsame Vorrücken der Planeten am Himmel beobachtete, konnte er nicht ahnen, dass wir eine Gravitationstheorie benötigen würden, die auch den Krümmungen der Raumzeit in Sonnennähe und den unvorstellbar großen Gravitationskräften im Innern schwarzer Löcher gerecht würde. Er hätte sich nicht träumen lassen, dass Physiker eines Tages versuchen würden, die Wirkung der Schwerkraft auf ein einzelnes Neutron zu messen.[3] Glücklicherweise ist das Universum so groß, dass es eine Menge extremer Umgebungen enthält, die wir beobachten können. Wir können sogar das frühe Universum studieren, das eine einzige extreme Umgebung war.
Eine Anmerkung zur Terminologie. Kosmologie ist der wissenschaftliche Allgemeinbegriff für die Erforschung des Universums als Ganzes – von Anfang bis Ende, einschließlich seiner Bestandteile, seiner Entwicklung sowie der physikalischen Fundamentalgesetze, denen es unterliegt. In der Astrophysik studieren Kosmologen Dinge, die sehr weit entfernt sind, nämlich (1) räumlich und (2) zeitlich, da räumlich weit entfernte Dinge in der Astronomie tief in der Vergangenheit liegen (das Licht, das uns von ihnen erreicht, ist seit langer Zeit unterwegs – oft seit Milliarden von Jahren). Manche Astrophysiker studieren die Entwicklung oder die Frühgeschichte des Universums, während sich andere auf ferne Objekte (Galaxien, Galaxienhaufen usw.) und deren Eigenschaften spezialisieren. In der Physik kann die Kosmologie in eine Richtung gehen, die viel theoretischer ist. So arbeiten manche Kosmologen in den Fachbereichen für Physik (also nicht für Astronomie) an alternativen Formulierungen der Teilchenphysik, die für das erste Milliardstel einer Milliardstelsekunde der Existenz des Universums zutreffend gewesen wären. Andere befassen sich mit Modifikationen von Einsteins Gravitationstheorie, die für hypothetische Objekte wie nur in höheren Dimensionen des Weltalls mögliche schwarze Löcher gelten könnten. Wieder andere entwerfen sogar, um einen Einblick in die mathematische Struktur von Theorien zu gewinnen, die sich eines Tages als relevant erweisen könnten,[4] ganze hypothetische Universen, also solche, die mit dem unseren nicht identisch sind – Universen, in denen der Kosmos eine völlig andere Form, eine andere Anzahl von Dimensionen und eine andere Geschichte hat.
Die Kosmologen verbinden also Verschiedenes mit dem Begriff der Kosmologie. Es kann sein, dass ein Kosmologe, der die Entwicklung von Galaxien erforscht, kein Wort versteht, wenn ein Kosmologe, der sich damit befasst, wie schwarze Löcher gemäß der Quantenfeldtheorie verdampfen könnten, mit ihm über seine Arbeit spricht – und umgekehrt.
Mich interessiert das alles brennend – alles! Von der Kosmologie habe ich erstmals, als ich ungefähr zehn Jahre alt war, durch Bücher und Vorträge von Stephen Hawking erfahren. Hawking sprach und schrieb über schwarze Löcher und die gekrümmte Raumzeit und den Urknall und alles Mögliche, sodass ich das Gefühl hatte, mein Gehirn mache Rückwärtssalti. Ich konnte nicht genug bekommen. Und als ich erfuhr, dass Hawking sich als Kosmologe bezeichnete, wusste ich, dass ich das auch werden wollte. Später habe ich über Themen des ganzen Spektrums geforscht, bin zwischen den Fachbereichen für Physik und für Astronomie hin- und hergependelt, habe mich mit schwarzen Löchern, Galaxien, intergalaktischem Gas, der Komplexität des Urknalls, Dunkler Materie und der Möglichkeit befasst, dass das Universum plötzlich aufhören könnte zu existieren.[5] In meiner vergeudeten Jugend habe ich mich sogar eine Weile in experimenteller Teilchenphysik versucht, habe in einem Atomphysiklabor mit Lasern gespielt (entgegen dem, was in den Protokollen stehen mag, war ich an dem Feuer nicht schuld!) und bin mit einem Schlauchboot in einem 40 Meter hohen, mit Wasser gefüllten unterirdischen Neutrinodetektor umhergepaddelt (auch die Explosion habe nicht ich auf dem Gewissen!).
Heute bin ich Theoretikerin, was wahrscheinlich für alle das Beste ist. Das heißt, ich führe keine Beobachtungen oder Experimente durch und analysiere keine Daten, treffe allerdings häufig Voraussagen in Bezug auf die Ergebnisse künftiger Beobachtungen oder Experimente. Ich arbeite hauptsächlich auf einem Gebiet, das von den Physikern als Phänomenologie bezeichnet wird und zwischen der Entwicklung neuer Theorien und dem Bereich liegt, in dem diese Theorien getestet werden. Meine Aufgabe ist es, kreative neue Wege zu finden, um die Hypothesen, die die Fundamentaltheoretiker in Bezug auf die Struktur des Universums aufstellen, mit dem zu verbinden, was die beobachtenden Astronomen und Experimentalphysiker in ihren Daten zu sehen hoffen. Ich muss über alles eine Menge lernen,[6] was aber verdammt viel Spaß macht.
Dieses Buch ist für mich ein Vorwand, um zu fragen, wohin die Reise geht und was wir über unser Universum erfahren können, indem wir die erste Frage stellen. Es gibt auf sie keine allgemein akzeptierte Antwort – die Frage nach dem Schicksal allen Seins ist immer noch offen und ein Gebiet aktiver Forschung, auf dem sich unsere Schlussfolgerungen dramatisch ändern können, wenn wir die Daten nur ein klein wenig anders interpretieren. Ich werde fünf Möglichkeiten untersuchen, die ich aufgrund ihrer Bedeutung für die gegenwärtigen Diskussionen professioneller Kosmologen ausgewählt habe, und die stärksten Indizien darstellen, die für oder gegen eine jede von ihnen sprechen.
Meine fünf Szenarien der Apokalypse unterscheiden sich fundamental, da sie auf fundamental unterschiedlichen physikalischen Prozessen basieren. Sie haben aber eines gemeinsam: Sie besagen, dass es ein Ende geben wird. Ich habe in der aktuellen kosmologischen Literatur keine seriöse These gefunden, dass das Universum unverändert für immer fortbestehen könnte. Nach übereinstimmender Meinung aller Kosmologen wird es zumindest einen Übergang geben, der alles zerstört und wenigstens die beobachtbaren Teile des Kosmos für organisierte Strukturen unbewohnbar macht. Daher werde ich auch einen solchen Übergang als Ende bezeichnen (wobei ich mich bei allen zeitweilig empfindungsfähigen Ausbrüchen zufälliger Quantenfluktuationen[7] entschuldige, die dies lesen). Einige Szenarien schließen nicht völlig aus, dass sich der Kosmos auf die eine oder andere Weise erneuern oder seine Geschichte sogar noch einmal durchlaufen könnte, aber ob ein schwacher Anklang an frühere Iterationen von Dauer sein könnte, ist ebenso Gegenstand einer intensiven Debatte wie die Frage, ob prinzipiell so etwas wie ein Entkommen denkbar ist, wenn eine kosmische Apokalypse eintritt. Am wahrscheinlichsten scheint, dass das Ende unserer kleinen Insel der Existenz, das Ende des beobachtbaren Universums, wirklich das Ende sein wird. Ich möchte Ihnen sagen – unter anderem –, wie es dazu kommen könnte.
Damit alle auf dem gleichen Stand sind, beginne ich mit einer kurzen Rekapitulation der Geschichte des Universums von den Anfängen bis heute. Danach geht es mit der Vernichtung weiter. Ich werde in jedem der fünf Kapitel eine Möglichkeit des Endes darstellen: wie es zustande kommen könnte, wie es aussehen würde und wie unser sich veränderndes physikalisches Wissen über die Wirklichkeit uns von einer Hypothese zur nächsten führt. Beginnen werde ich mit dem »Big Crunch« (»großes Knirschen«), dem spektakulären Kollaps des Universums, der eintreten würde, wenn es wieder zu einer Kontraktion des gegenwärtig expandierenden Kosmos käme. Es folgen zwei Kapitel über Apokalypsen, die von Dunkler Energie verursacht werden – sei es, dass das Universum sich endlos ausdehnt, langsam entleert und verfinstert; sei es, dass es buchstäblich zerreißt. Danach behandle ich den Vakuumzerfall, die spontane Entstehung einer Quantenblase des Todes,[8] die den Kosmos verschlingt. Für die fünfte und letzte Möglichkeit begebe ich mich auf das spekulative Gebiet der zyklischen Kosmologie, mit Theorien von zusätzlichen Raumdimensionen, in denen unser Kosmos durch eine Kollision mit einem Paralleluniversum ausgelöscht werden könnte – und zwar immer wieder. Das Schlusskapitel bringt ein Update und beruft sich dafür auf Experten, die derzeit an der vordersten Front der Frage arbeiten, welches Szenario am plausibelsten erscheint und was neue Teleskope und Experimente dazu beitragen können, die Frage ein für alle Mal zu klären.
Was das Ende des Universums für uns Menschen bedeutet, die wir unser kleines Leben in diesen uns gegenüber vollkommen gleichgültigen Weiten leben, ist eine ganz andere Frage. Im Nachwort stelle ich eine Reihe von Perspektiven vor und schneide die Frage an, ob Bewusstsein etwas hinterlassen könnte, was über unsere Vernichtung hinaus Bestand hat.[9]
Wir wissen noch nicht, ob das Universum verbrennen, vereisen oder auf eine ganz und gar ausgefallene Weise enden wird. Was wir aber wissen, ist, dass es unermesslich, wunderschön und wahrhaft überwältigend ist und dass es sich lohnt, sich die Mühe zu machen, es zu erforschen – solange wir noch können.
Ein Anfang impliziert und erfordert ein Ende.
Ann Leckie, Die Maschinen[2]
Ich liebe Geschichten über Zeitreisen. Es ist zwar verständlich, wenn Leute über die physikalischen Grundlagen von Zeitmaschinen den Kopf schütteln oder mit den Paradoxien, die sich unvermeidlich ergeben, nichts zu tun haben wollen. Aber die Vorstellung, es könnte einen Trick geben, der es uns erlauben würde, aus dem außer Kontrolle geratenen, unaufhaltsam auf ein unbekanntes Ziel zurasenden Zug des »Jetzt« auszusteigen und in der Vergangenheit eine Weiche anders zu stellen, hat etwas Anziehendes. Die lineare Zeit ist so restriktiv in Bezug auf die Möglichkeiten, die sie geradezu verschwenderisch eröffnet: Warum sollten wir all diese Möglichkeiten und damit all die Zeit für immer verloren haben, nur weil die Zeiger der Uhr ein paar Grad weitergerückt sind? Vielleicht haben wir uns an die rigorose Unterdrückung durch die Chronologie gewöhnt; einverstanden mit ihr müssen wir nicht sein.
Zum Glück kann die Kosmologie helfen. Natürlich nicht in einem praktischen Sinn – die Kosmologie ist ein immer noch relativ esoterischer Zweig der Physik, der es Ihnen niemals ermöglichen wird, den Regenschirm, den Sie gestern im Zug vergessen haben, wiederzubekommen. Sie kann aber in dem Sinn helfen, dass Ihr Leben zwar bleibt, wie es ist, dass aber ausnahmslos alles andere sich für immer anders darstellt.
Für uns Kosmologen ist die Vergangenheit nämlich keine unerreichbare, für immer verlorene Welt, sondern eine Welt, die als die beobachtbare Region des Kosmos noch existiert; wir verbringen in ihr den größten Teil unseres Arbeitstags. Entspannt am Schreibtisch sitzend, können wir den Verlauf astronomischer Ereignisse beobachten, die sich vor Millionen oder gar Milliarden von Jahren zugetragen haben. Ermöglicht wird uns das nicht durch einen kosmologischen Trick, sondern durch ein Strukturmoment des Universums, in dem wir leben.
Gemeint ist die Tatsache, dass Licht Zeit braucht, um im Raum voranzukommen. Und Licht ist zwar schnell, es legt pro Sekunde ungefähr 300 000 Kilometer zurück, aber es legt sie eben nicht »im Nu« zurück. Auf alltägliche Entfernungen übertragen: Wenn Sie eine Taschenlampe einschalten, braucht das austretende Licht für 30 Zentimeter etwa eine Nanosekunde, und genauso lange braucht das von dem angestrahlten Objekt reflektierte Licht für je 30 Zentimeter, um zu Ihnen zurückzukehren. Wenn Sie einen Gegenstand sehen, ist er selbst schon ein wenig gealtert, wenn sein Bild, also das von ihm ausgehende Licht, Ihr Auge erreicht. Sie sehen die Person, die Ihnen im Café gegenübersitzt, so, wie sie vor einigen Nanosekunden war. Alles, was Sie sehen, liegt in der Vergangenheit. Wenn Sie zum Mond aufschauen, sehen Sie ihn dort, wo er vor etwas mehr als einer Sekunde stand. Die Sonne sehen Sie dort, wo sie vor acht Minuten und 20 Sekunden war. Und die Sterne, die Sie am Nachthimmel sehen, liegen tief in der Vergangenheit, seien es nur wenige Jahre, seien es Jahrtausende.
Diese Ihnen vielleicht schon bekannte Lichtgeschwindigkeitsverspätung hat zur Folge, dass wir Astronomen in den Himmel schauen und die Entwicklung des Universums von seinen Anfängen bis heute beobachten können. Wir machen von der Einheit »Lichtjahr« in der Astronomie nicht nur deshalb Gebrauch, weil sie praktischerweise sehr groß ist (etwa 9,5 Billionen Kilometer), sondern auch, weil sie uns sagt, wie lange es her ist, dass das Licht das Objekt, das wir betrachten, verlassen hat. Einen Stern, der zehn Lichtjahre entfernt ist, sehen wir, wie er vor zehn Jahren war. Eine Galaxie, die zehn Milliarden Lichtjahre entfernt ist, sehen wir, wie sie vor zehn Milliarden Jahren war. Da das Universum nur etwa 13,8 Milliarden Jahre alt ist, kann uns diese zehn Milliarden Lichtjahre entfernte Galaxie etwas über die Bedingungen unseres Universums verraten, als es noch jung war. In diesem Sinn ist der Blick in den Kosmos gleichbedeutend mit einem Blick in unsere Vergangenheit.
Hier ist jedoch ein wichtiger Vorbehalt zu machen: Streng genommen können wir unsere Vergangenheit nämlich keineswegs sehen, sondern nur die frühe Vergangenheit einer anderen, weit entfernten Galaxie.
Wie können wir dann aber etwas Nützliches über unsere eigene Vergangenheit erfahren? Die Antwort gibt ein Prinzip, das für den Kosmos so zentral ist, dass es wörtlich als das kosmologische Prinzip bezeichnet wird. Einfach ausgedrückt, handelt es sich um die Vorstellung, dass das Universum im Wesentlichen überall gleich ist. Nach menschlichen Maßstäben trifft dies offenkundig nicht zu – die Erdoberfläche unterscheidet sich stark von den Tiefen des Weltraums etwa oder vom Zentrum der Sonne, und das ist auch gut so –, aber nach astronomischen Maßstäben, nach denen ganze Galaxien als uninteressante Flecken verbucht werden können, sieht das Universum in jeder Richtung gleich aus und besteht überall aus demselben Stoff.[10] Diese Vorstellung ist dem kopernikanischen Prinzip verwandt, der im 16. Jahrhundert von Nikolaus Kopernikus formulierten, damals ketzerischen These, wonach wir keinen »besonderen Ort« im Kosmos einnehmen, sondern uns an einer ganz und gar gewöhnlichen Stelle desselben befinden, die auf Zufall beruhen könnte. Wenn wir also eine Galaxie betrachten, die eine Milliarde Lichtjahre von uns entfernt ist, und sie so sehen, wie sie vor einer Milliarde Jahren war, in einem Universum, das eine Milliarde Jahre jünger war, als unser Universum hier und jetzt ist, dann können wir ziemlich sicher sein, dass die Bedingungen hier vor einer Milliarde Jahren sehr ähnlich waren. Das ist sogar bis zu einem gewissen Grad durch Messungen bestätigt worden. Untersuchungen über die Verteilung der Galaxien im gesamten Kosmos haben gezeigt, dass die vom kosmologischen Prinzip behauptete Gleichartigkeit in allen Regionen besteht, in die wir geschaut haben.
Abbildung 1: Lichtlaufzeiten. Wir geben Entfernungen manchmal in Lichtsekunden, Lichtminuten oder Lichtjahren an, weil dadurch auch klar wird, wie lange das Licht zu uns unterwegs war, wie weit wir also in die Vergangenheit blicken. (Diese Grafik ist wie auch die folgenden nicht maßstabsgetreu!)
Wenn wir also etwas über die Entwicklung des Universums und über die Bedingungen erfahren wollen, unter denen unsere Milchstraße wurde, was sie ist, dann brauchen wir nur etwas weit Entferntes zu betrachten.
Das heißt auch, dass es in der Kosmologie keinen eindeutigen Begriff des »Jetzt« gibt. Genauer, dass das »Jetzt«, das Sie erleben, sehr spezifisch ist für Sie, für den Ort, an dem Sie sich befinden, und für das, was Sie tun.[11] Was bedeutet die Aussage »diese Supernova explodiert jetzt«, wenn wir jetzt das Licht des Sterns sehen, ihn also jetzt explodieren sehen können, wenn sein Licht aber schon Millionen Jahre unterwegs ist? Was wir sehen, liegt vollständig in der Vergangenheit. Dagegen ist das »Jetzt« dieses explodierten Sterns für uns nicht sichtbar, und wir werden Millionen Jahre lang keine Kenntnis davon erhalten, sodass es für uns nicht im »Jetzt«, sondern in der Zukunft liegt.
Wenn wir uns das Universum als in der Raumzeit existierend vorstellen – die Raumzeit ist eine Art allumfassendes universales Raster mit den drei Dimensionen des Raumes und der vierten der Zeit –, dann können wir uns Vergangenheit und Zukunft als entfernte Punkte im selben Gefüge vorstellen, das sich von den Anfängen des Kosmos bis zu seinem Ende erstreckt. Für jemanden, der sich an einem anderen Punkt in diesem Gefüge befindet, könnte ein Ereignis, das für uns in der Zukunft liegt, längst vergangen sein. Und das von einem Ereignis ausgehende Licht, das wir erst in Jahrtausenden sehen werden, strömt bereits »jetzt« durch die Raumzeit auf uns zu. Liegt dieses Ereignis in der Zukunft oder in der Vergangenheit oder vielleicht in beiden? Das hängt von der Perspektive ab.
So verwirrend das ist, wenn Sie gewohnt sind, in einer 3-D-Welt zu denken[12] – für Astronomen ist die nicht unendlich große Lichtgeschwindigkeit ein fantastisch nützliches Werkzeug. Dank ihr können wir, statt nach bloßen Spuren, nach Relikten der fernen Vergangenheit des Kosmos zu suchen, ihn einfach selbst betrachten und können beobachten, wie er sich mit der Zeit verändert hat. Wir können sehen, wie das Universum im Alter von drei Milliarden Jahren war, während der Renaissance der Sternenbildung, als die Galaxien zwar nicht Kunst und Philosophie, wohl aber Licht im Überfluss hervorbrachten, und wir können sehen, wie dieser Glanz in den Äonen seither verblichen ist. Wir können sogar noch weiter zurückblicken und sehen, wie in einem Universum, das weniger als 500 Millionen Jahre alt war – zu einer Zeit, da das Licht von Sternen gerade erst begonnen hatte, die Dunkelheit zwischen den Galaxien zu durchdringen –, Materie in supermassive schwarze Löcher hineingesogen wurde.
Bald werden wir mit neuen Weltraumteleskopen in der Lage sein, einige der ersten Galaxien zu beobachten, die sich im Kosmos bildeten – zu einer Zeit, als das Universum erst einige Hundert Millionen Jahre alt war. Aber was sehen wir, wenn wir weiter zurückblicken? Können wir in eine ferne Vergangenheit schauen, in der es noch keine Galaxien gab? Wir haben jedenfalls vor, das zu tun. Radioteleskope, die derzeit noch im Bau sind, werden vielleicht das Material sehen können, aus dem durch zufällige Wechselwirkung zwischen Licht und Wasserstoff die ersten Galaxien entstanden. Wenn wir den Wasserstoff fokussieren, können wir möglicherweise beobachten, wie sich im Universum die allerersten Strukturen bildeten.
Abbildung 2: Licht, das sich durch die Raumzeit bewegt. In diesem Diagramm vergeht die Zeit von unten nach oben, und vom Raum sind statt der drei Dimensionen nur zwei dargestellt. Die Positionen von vier ortsfesten Objekten im Weltall sind durch die vertikalen gestrichelten Linien dargestellt, die jeweils denselben Ort zu verschiedenen Zeitpunkten markieren. Der »Lichtkegel« ist der Bereich der Vergangenheit, den wir vom Observatorium aus sehen können – er enthält alles, was uns so nahe liegt, dass das Licht seit seiner Emission genug Zeit hatte, uns zu erreichen. Wir können eine Galaxie, die eine Milliarde Lichtjahre entfernt ist, sehen, wie sie vor einer Milliarde Jahren war, wir können aber nicht sehen, wie sie »jetzt« ist, weil die »Jetzt«-Version dieser Galaxie außerhalb unseres Lichtkegels liegt.
Was aber, wenn wir noch weiter zurückblicken? Wenn wir in die Zeit vor der Entstehung der Sterne, der Galaxien, des Wasserstoffs zurückblicken? Können wir den Urknall sehen?
Ja, das können wir.
Ein populäres Bild des Urknalls stellt diesen als eine Art Explosion dar – als Großbrand aus Licht und Materie, der, plötzlich von einem einzigen Punkt ausgehend, im gesamten Universum auflohte. Aber so war es nicht. Der Urknall war keine Explosion innerhalb des Universums, sondern er war eine Expansion des Universums. Und er ereignete sich nicht an einem einzigen Punkt, sondern an jedem Punkt. Alle Punkte im heutigen Universum – ein Punkt am Rande einer fernen Galaxie, ein ebenso ferner Punkt des intergalaktischen Raumes in der anderen Richtung, ein Punkt in dem Raum, in dem Sie geboren wurden –, all diese Punkte lagen am Anfang der Zeit gleichsam unmittelbar nebeneinander, rissen sich aber im selben ersten Augenblick rasch voneinander los.
Die Logik der Urknalltheorie ist ziemlich einfach. Das Universum expandiert – wir können sehen, dass die Räume zwischen den Galaxien größer werden, was bedeutet, dass sie einst kleiner waren. Wir können die Expansion, die wir beobachten, in einem Gedankenexperiment rückgängig machen, indem wir über Milliarden von Jahren zurückrechnen, bis wir einen Augenblick erreichen, in dem die Abstände zwischen den Galaxien gleich null gewesen sein müssen. Das beobachtbare Universum, das alles umfasst, was wir heute sehen können, muss in einem viel kleineren, dichteren und heißeren Raum enthalten gewesen sein. Das beobachtbare Universum ist aber eben nur der Teil des Kosmos, den wir heute sehen können. Wir wissen, dass das Weltall viel größer ist. Ja, ausgehend von dem, was wir wissen, können wir es für durchaus möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich halten, dass das Universum unendlich groß ist. Was bedeutet, dass es auch am Anfang unendlich groß war – nur in extremer Verdichtung.
Es ist nicht leicht, sich das vorzustellen. Ja, streng genommen sind Unendlichkeiten immer unvorstellbar. Was bedeutet es, unendlich viel Raum zu haben? Was bedeutet es, dass ein unendlich großer Raum sich ausdehnt? Wie wird unendlich großer Raum noch größer?
Ich fürchte, ich kann es Ihnen nicht erklären.
Es ist eben nicht leicht, in einem endlich großen Gehirn unendlich viel Raum unterzubringen. Was ich sagen kann, ist, dass Mathematik und Physik über Möglichkeiten verfügen, mit Unendlichkeiten umzugehen, die sinnvoll sind und nichts kaputtmachen. Als Kosmologin gehe ich davon aus, dass das Universum mit Mathematik beschrieben werden kann; und wenn diese Mathematik funktioniert und neue Probleme lösen hilft, dann bediene ich mich ihrer.[13] Genauer gesagt, wenn die Mathematik funktioniert und eine andere, weniger einfache Hypothese (z. B. dass das Universum zwar nicht unendlich ist, aber doch so groß, dass wir seine Grenzen niemals werden sehen können) ebenfalls funktioniert, ohne dass sie für unsere Erfahrung oder irgendetwas, was wir messen können, einen Unterschied macht, dann können wir vorerst bei der einfacheren Hypothese bleiben. Also, das Universum ist unendlich groß. Damit können wir arbeiten.
Über den Urknall sagen wir jedenfalls Folgendes: Aus unseren Beobachtungen der gegenwärtigen Expansion und aus deren Geschichte können wir schließen, dass es eine Zeit gab, in der das Universum überall viel heißer und dichter war als heute.[14] Diese Zeitspanne, die ungefähr 380 000 Jahre dauerte, wie wir heute wissen, wird manchmal als »heißer Urknall« bezeichnet.[15]
Wir können sogar quantifizieren, was »heiß und dicht« bedeutet, und die Geschichte des Universums zurückverfolgen, vom angenehm kühlen Kosmos, dessen wir uns heute erfreuen, bis zu einem Dampfkochtopf-Inferno, das so extrem war, dass es unser Verständnis der physikalischen Gesetze erschüttert. Das ist aber mehr als eine theoretische Übung. Es ist eines, die Expansion mathematisch zu berechnen und höhere Drücke und Temperaturen abzuleiten, und ein anderes, dieses Infernoversum[16] zu sehen.
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