Inhaltsverzeichnis
DAS BUCH
DIE AUTOREN
LIEFERBARE TITEL
Einleitung
Kapitel 1 – Die endliche Zeit des Friedens
Kapitel 2 – Brynja und das Herz aus Feuer
Kapitel 3 – Die Reise in die Nacht
Kapitel 4 – Der Weg in die neue Welt
Kapitel 5 – Hurgan und der Hof der Angst
Kapitel 6 – Das Jahrhundert des Drachen
Kapitel 7 – Getrennte Wege ins schwarze Reich
Kapitel 8 – Im Zentrum der dunklen Macht
Kapitel 9 – Sigfinn und der Wald der Nibelungen
Kapitel 10 – Neue Allianzen
Kapitel 11 – Die Burg des Drachen
Kapitel 12 – Ein letzter Kampf auf ledernen Schwingen
Kapitel 13 – Zurück an die Quelle der Zeit
Kapitel 14 – Krieg um Worms
Kapitel 15 – Entscheidung in Island
Kapitel 16 – Zu verteidigen, was war – und wieder sein könnte
Kapitel 17 – Das alte Jahrhundert, neu geschaffen
Epilog
Copyright
HEYNE<
DAS BUCH
Hundert Jahre sind in Frieden vergangen, seit Siegfried von Xanten den Drachen Fafnir tötete und die Macht der Nibelungen brach. Seine Nachfahren leben glücklich auf Island, und der junge Prinz Sigfinn träumt von einer Zukunft mit der schönen Brynja. Doch in einer Nacht wendet sich das Schicksal, und die Nibelungen überzeugen die Götter, in den Lauf der Zeit einzugreifen: Als Sigfinn und Brynja erwachen, finden sie sich in einem schwarzen Jahrhundert wieder, in einer Welt aus Leid und Drachenfeuer, die von dem grausamen und unsterblichen Hurgan regiert wird. Zusammen mit dem Rebellen Calder müssen Sigfinn und Brynja nicht nur Hurgan stoppen – sie müssen auch das Rad der Zeit zurückdrehen, damit geschehen kann, was geschehen muss. So stellen sie sich dem Tyrannen, seiner Armee aus Horden-Kriegern, und dem Flammenatem Fafnirs …
DIE AUTOREN
Wolfgang Hohlbein wurde 1953 in Weimar geboren. Mit seinen Romanen aus den verschiedensten Genres – Thriller, Horror, Science Fiction und historischer Roman – hat er mittlerweile eine große Fangemeinde erobert und ist einer der erfolgreichsten deutschen Autoren überhaupt. Er lebt mit seiner Frau Heike und den gemeinsamen Kindern in der Nähe von Düsseldorf.
Torsten Dewi, Jahrgang 1968, war lange Jahre als Journalist und TV-Development-Manager tätig, bevor er sich als Autor selbstständig machte. Er hat etliche Drehbücher sowie erfolgreiche Romane zu TV-Serien geschrieben. Er lebt in München.
LIEFERBARE TITEL
Der Ring der Nibelungen
Die Rache der Nibelungen
Einleitung
Ein Lied von hundert Jahren
Mein Name ist Regin. Ich gehöre nicht in diese Welt – und habe doch keine andere. Inmitten der Dinge, die geschehen, schaue ich nur von außen zu. Immer neue Namen, immer neue Gesichter – und doch immer dieselbe Geschichte. Was in Liebe beginnt, wird in Eifersucht getränkt, um dann als Hass zu enden, mit dem Tod als einzigem Vertrauten. Diese Geschichte will ich nun erzählen, zur Lehre und Warnung. Man verzeihe mir, wenn das Gedächtnis stockt, gar trügt, doch die Zeit hat so manche Erinnerung getilgt.
Ich weiß noch gut, wie es begann. Nicht zum ersten Mal, doch zum ersten Mal vor meinen Augen. Ein stolzer König, Siegmund, führte Krieg gegen den niederträchtigen Hjalmar von Dänemark. Der Preis sollte das Reich Xanten sein, bezahlt in Blut und Vernichtung. Inmitten der Schlacht entzogen die Götter Siegmund ihre Gunst, und sein gerechtes Schwert Nothung brach entzwei. In jener Nacht, bevor er der Klinge des Feindes unterlag, zeugte der König einen Sohn, und er schickte seine Frau fort, damit sie nicht sein Schicksal teile. Ihr zur Seite stand Laurens, der treue Vasall mit dem gebrochenen Schwert. Ihr Ziel war die kleine Hütte am Rhein, Heim und Werkstatt des weisen Waffenschmieds Regin. Und ja, das ist mein Name. Meine Erinnerungen sagen mir, ich sei es selbst gewesen, doch glauben mag ich es oft nicht mehr. Laurens gab mir das Schwert, es zu vergraben, und die Königin, sie zu beschützen. Dann ritt er davon, den Widerstand gegen den Thronräuber Hjalmar anzuführen.
Schützen konnte ich die Königin, doch nur, bis ihr Leib den Knaben gebar. Sie starb, als sei ihre letzte Aufgabe erfüllt, und ließ Siegfried in meiner Obhut. Ein stolzes Kind, mit Kraft und Mut, doch Leichtsinn auch, und dummer Kühnheit. Zum Schmied erzogen, aber zum König geboren, musste Siegfried unweigerlich dem Ruf seines Blutes folgen, und mein Bemühen, ihn aus dem Spiel der Götter zu halten, würde keine Früchte tragen. Und so traf er als Junge im Wald auf das Mädchen Brunhilde, das sich als Krieger tarnte und ihn mit Leichtigkeit verdrosch. Der Kampf sprühte dabei Funken aus Leidenschaft, die beider Herzen entflammten, und Brunhilde versprach, auf den mutigen Siegfried zu warten – als Prinzessin von Isenstein, Thronfolgerin des Insel-Reiches Island. Spitzte man in dieser Nacht die Ohren, konnte man die wuchtigen hölzernen Zahnräder des Schicksals hören, wie sie ineinandergriffen und sich ächzend zu bewegen begannen …
Siegfried zog es in der Folge nach Norden – zu Brunhilde und zum unruhigen Reich Xanten, wo Waffen gebraucht wurden und Krieger. Stattdessen nahm ich ihn mit auf die Reise nach Süden, dem Schicksal und dem Willen der Götter trotzend. Wir bekamen keine Kunde, dass Hakan von Island starb und seine Tochter den Thron bestieg – mit dem Schwur, nur den zu heiraten, der ihr auf dem Feld aus Eis und Feuer ebenbürtig war.
Den Rhein entlang führte unser Weg nach Burgund, in der Hoffnung, dort in Frieden Arbeit zu finden. Doch die Straßen waren dunkel getränkt mit Blut, und verkrustete Leichen sah ich unter verkohlten Bäumen. Das Reich der Sonne und des Weins, dem Gott der Christen geweiht, war in den Schatten der alten Mächte gefallen, und das Volk verkroch sich hinter den Mauern von Worms, betend und klagend. Der Drache Fafnir, den Schatz der Nibelungen bewachend, hatte Leid und Feuer über das Land gebracht, Ernten verbrannt, Vieh verschlungen und König Gundomar zum Gespött gemacht. Umgeben von Feindesreichen, die aus der Schwäche von Burgund Nutzen ziehen wollten, fanden wir als Waffenschmiede freundliche Aufnahme bei Hofe. Ich riet Siegfried, sich aus den Ränkespielen des Adels herauszuhalten, doch schon beim Anblick der edlen Prinzessin Kriemhild war sein Versprechen vergessen: er verliebte sich so närrisch und blind, wie es kaum ein Mann je zuvor getan hat – vergaß Stand, Anstand, sogar Brunhilde, die ihm ihr Herz gewidmet hatte. Doch die Flamme für Kriemhild war nicht die einzige Leidenschaft, die bei Hof brannte: der bedächtige Prinz Gernot fand Liebe ausgerechnet in der schwermütigen Elsa, der Tochter des verschlagenen Hagen von Tronje. Dessen schwarzes Herz, wenn es denn schlug, schlug für Burgund und für nichts sonst. Keine Pestilenz, keine Folter war zu schrecklich für jene, die er schädlich fand.
Um seine Macht im Reich zu stärken, entschloss sich König Gundomar, Kriemhild einem starken Prinzen zu geben und dadurch ein Bündnis zu besiegeln. So ist es seit Jahrhunderten Brauch und hat sich oft bewährt. Doch die törichte Prinzessin war dem jungen Schmied Siegfried verfallen und ließ daher Etzel, den Sohn des Hunnenführers Mundzuk, vergeblich freien. Der König und sein Berater Hagen waren außer sich, und der Schaden für das Reich war groß. Die Hunnen jenseits der Grenzen, der Drache Fafnir diesseits! Um Burgund vor dem Untergang zu retten, rief Gundomar seine besten Krieger zusammen, und auch die Söhne Giselher und Gunther. Drachentöter sollten sie werden, in mutiger Tat den Gegnern Respekt abverlangen. Doch nach drei Tagen kamen sie nicht mehr, um das Blut auf ihren Klingen glänzen zu lassen. Giselher war tot, Gunther verletzt, und der König rang mit dem letzten Atemzug, so der grausige Preis ihres Hochmuts.
Der Drache regierte nun Burgund, und die Feinde des Reiches warteten geduldig, dass es fiel. Währenddessen verbrannte ein adeliger Freier nach dem anderen im Ring der Flammen, den Brunhilde von Island als Prüfung um ihr Schloss gelegt hatte. Nicht eine Sekunde schwand in ihr die Hoffnung, dass der mutige Siegfried kommen werde, sie zu seiner Frau und Königin zu machen.
Doch Siegfried war mit Herz und Auge nur bei Kriemhild, und um sie zu erobern, war er bereit, sich Fafnir zu stellen – der tote Drache sollte sein Geschenk an den neuen König Gunther sein. Regin – war ich es wirklich? – mühte sich, den Wahnsinn zu verhindern, doch die Rückkehr des alten Laurens, von jahrelangem Widerstand gegen Hjalmar verkrüppelt, nahm mir jede weitere Gelegenheit. Durch ihn erfuhr Siegfried von Nothung, mit dem das Untier zu besiegen war – und von seinem königlichen Blut, das ihn zum legitimen Bewerber um die Hand Kriemhilds machte. In finsterer Nacht rang er dem trunkenen Gunther das Versprechen ab, die Prinzessin heiraten zu dürfen, sofern er des Drachen Haupt und ein eigenes Reich vorweisen könne. Selten war ein Mann entschlossener als Siegfried, alles zu erreichen. Und für diese Gier nach Macht und Einfluss, die nun seine Seele verdunkelte, stach ich Laurens meine Klinge in die Brust.
Wie ein Tier drosch Siegfried fortan mit dem Hammer auf das alte Schwert, schärfte die Klinge neu, machte sich die Waffe der Götter untertan, bis er sie fast so führte, wie sie heimlich ihn führte. Er wurde zum Sklaven des Schwertes, ein Diener des Krieges. Ich sah nur zu – und entschied endlich, den Menschen den Rücken zu kehren. Mein Weg führte mich zurück in den Wald, Körper und Stimme zurücklassend. Mein Geist glitt in die Bäume, in den Boden, durch die Luft, und vereinte sich mit meinen Brüdern, den Nibelungen, die mich mit Häme begrüßten für den Narrengedanken, Siegfrieds Schicksal auf friedlichen Pfaden halten zu können.
Nun mochte der Weg dunkel sein, den Siegfried mit erhobenem Schwert beschritt, doch er tat es mit Geschick und Wagemut. Dem Drachen stellte er sich wie ein Krieger, und in einem langen Kampf besiegte er das geschuppte Untier, stach ihm vor seiner Höhle das Schwert Nothung durch den Gaumen in den Schädel. Vom Blut des Drachen war Siegfried benetzt, und wir Nibelungen konnten nur hilflos zusehen, wie er sich des Schatzes bemächtigte, den zu hüten uns die Götter geheißen hatten. Wir warnten Siegfried, drohten ihm, doch er nahm, was nicht sein war. Zum Gold noch den verfluchten Ring, zum Ring noch die Tarnkappe. Alles auf einen hölzernen Schlitten gepackt, darauf das Haupt Fafnirs, um in Worms als Held begrüßt zu werden. Zur feierlichen Krönung König Gunthers warf er den Schädel auf den Marktplatz und ließ sich vom Volk als Drachentöter feiern. Niemand hasste ihn mehr dafür als der knurrige Hagen, der die Liebe Burgunds zum König in Gefahr wähnte. Wer war denn der wahre Beschützer der Menschen – der Mann mit der Krone oder der Mann mit dem Schwert, der den verhassten Drachen erlegt hatte? So dachte er, und er dachte nicht falsch.
Trunken vor Freude machte Siegfried gleich den nächsten Fehler: mit dem Nibelungengold kaufte er die Dienste Gunthers und seiner Armee, um von Hjalmar sein Erbrecht zu fordern – das Reich Xanten. Dabei begehrte Siegfried nicht den Thron, nur Prinzessin Kriemhild, die er dann freien durfte. König Gunther, Freund Siegfrieds und doch in Furcht vor ihm, hatte kein Pfund, um zu wuchern, und willigte ein. Obendrauf versprach er dem ehemaligen Schmied die eigene Schwester, um die Reiche Burgund und Xanten aneinander zu binden. Hagen vermied es lange und wohlweislich, ihn darauf hinzuweisen, dass die Prinzessin nur heiraten durfte, wenn der König selbst eine Königin an der Seite hatte. So wollte er Zwietracht säen zwischen Gunther und Siegfried.
Wie Siegfried es versprochen hatte, blieb der blutige und lange Krieg zwischen Burgund und Hjalmars Xanten aus. In einem wüsten Duell nahm der Herausforderer dem Usurpator das Leben – und entdeckte, dass das Bad im Blut des Drachen seine Haut zu Eisen hatte werden lassen, die keine Klinge ritzen konnte. So überzeugte er erst das Heer, dann das ganze Volk, dass er als Siegmunds Sohn rechtmäßiger Erbe von Xanten sei. Er kehrte sodann mit Gunther als König zurück nach Burgund – und als Verlobter Kriemhilds, die ihn mit Sehnsucht erwartete. Zwar war sein Zorn groß, als er von dem alten Brauch erfuhr, nachdem es Gunther sein musste, der zuerst getraut wurde, doch zögerte er keinen Augenblick, seinen Freund nach Island zu begleiten – nicht ahnend, wer dort Königin war. Und was diese ihm einst bedeutet hatte.
Es ist leicht zu verstehen, welch Entzücken Brunhilde empfand, als Siegfried nach so vielen Jahren endlich ihren Hafen anlief – und wie groß der Schmerz war, als er für einen anderen warb. Gebrochen und doch von königlicher Größe, akzeptierte sie Gunther als Freier und forderte ihn zum Duell auf dem Feld aus Feuer und Eis. Nicht ahnen konnte sie, dass Siegfried, mit dem Tarnhelm für das Auge unsichtbar, seinem unterlegenen Freund beistand und ihren Arm beugte. So verlor sie den Kampf und damit das Recht, den König von Burgund als Gatten abzulehnen. Sie unterwarf sich ihm mit tiefen Schatten auf der Seele und reiste ab nach Burgund, den klugen Eolind als Statthalter auf Burg Isenstein lassend.
Gleich eine Doppelhochzeit nach christlichem Gebot wurde nun in Worms gefeiert – prachtvoll und glücklich für das Volk, doch schon zersetzt von Intrigen und Niedertracht. Weder konnte Hagen hinnehmen, dass Siegfried als Kriemhilds Gemahl nur einen Freundesmord vom Thron Burgunds entfernt war, noch ertrug Brunhilde den Gedanken, am Festtisch neben ihrem Mann, aber gegenüber ihrer wahren Liebe zu speisen. Kein Flehen Siegfrieds, die Dinge zu nehmen, wie die Götter es verlangten, konnte ihr Herz erreichen. Zurückgewiesen hasste sie Kriemhild bald wie den eigenen Mann. Schon in der Hochzeitsnacht hatte Gunther wieder Siegfrieds Hilfe und den Tarnhelm gebraucht, Brunhilde zu bändigen, und vielleicht war es diese schändliche Tat, die endgültig die Bande der Freundschaft zerschnitt: Gunther fand sich von Siegfried herabgesetzt, und Kriemhild konnte nicht verzeihen, was ihr Mann und König der Schwägerin angetan. In einem eitlen Streit mit Brunhilde wählte sie die falschen Worte, und schnell erkannte die Isländerin das kalte Spiel der Macht.
In seinem Bemühen, allen gerecht und gut Freund zu sein, hatte der glorreiche Siegfried sich Feind um Feind geschaffen, und in dieser Stunde gelang es Hagen, Gunther einzuflüstern, dass Burgund als Reich nur blühen könne, wenn es wieder aus dem Schatten Siegfrieds trete. Gunther, schwach und zweifelnd, gab Hagen die Erlaubnis, Siegfried heimtückisch zu ermorden, getarnt als Jagdunglück. Auch Brunhilde verlangte Siegfrieds Tod als Preis für ihr Schweigen. Im letzten Moment kamen Gunther doch christliche Zweifel, und er machte sich auf, Siegfried zur Seite zu stehen, wie es sich für einen Freund ziemte. Aber Hagen hatte die blutige Tat schon vollbracht, den Speer durch die einzige Stelle an Siegfrieds Körper gestoßen, die verwundbar war. König Gunther fand seinen Gefährten tot – und richtete mit dem Schwert seinen Ratgeber. Das Blut an seinen Händen kündete nicht nur von Schuld, sondern bald auch von Wahnsinn, denn Gunthers gute Seele konnte mit der eigenen Niedertracht nicht leben. Nicht einmal der erhoffte Friede mit Brunhilde war ihm vergönnt, denn die Isländerin verleitete ihn zu einem Kampf, um in sein Schwert zu fallen. Im Tode hoffte sie, an Siegfrieds Seite zu sein. Endlich und für immer. So gewann Gunther alle Ränkespiele – und verlor alles, was sein Leben bedeutet hatte. Trost fand er nicht einmal bei Kriemhild, die bald schon herausfand, dass ihr Bruder mitschuldig am Tode ihres Gatten gewesen war. Sie entschied sich, mit dem Gold der Nibelungen nach Xanten zu gehen – und mit dem Kind von Siegfried unter dem Herzen. Als Xantens Königin wollte sie Vergeltung für ihr erlittenes Unrecht üben.
Siegfried und Brunhilde wurden Seite an Seite verbrannt, wie es Sitte des alten Glaubens war. Hagens Leichnam warf man in den Rhein, in Schande und Verachtung. Seine Tochter Elsa, die nun keinen Platz bei Hofe mehr beanspruchen konnte, wollte Burgund verlassen, fand aber endlich ihr Herz bei Prinz Gernot. Ihre war die einzig reine Liebe in dieser schwarzen Zeit.
In Xanten wurde der Knabe geboren, den Kriemhild Siegfried nannte, zum Gedenken an den gefallenen Vater. Obwohl sie das Reich mit Umsicht regierte und Wohlstand herrschte überall, konnte sie vom Gedanken an Rache nicht lassen. Sie ließ den Etzel zu sich rufen, dessen Krieger stark und entschlossen waren. Ihm gab sie sich zur Ehefrau und zog nach Gran, weit im Osten. Dort richteten die beiden ihre Hochzeit aus, ganz im Brauch der Steppenvölker. Der Hof von Burgund wurde zur Feier geladen, und mit großem Gefolge kam Gunther über die Donau. Er hoffte, die Zeit habe seine Schwester milde gestimmt – auch wenn der tote Hagen, in seinen wirren Augen ständig zugegen, ihm Vorsicht einflüsterte.
An einem lauen Abend, bei einem großen Gelage, dem friedlichsten seit langem, tranken Hunnen, Xantener und Burgunder auf die Freundschaft – und Kriemhild gab das Signal, alle Männer ihres Heimatreiches aus Rache für den Verrat an Siegfried abzuschlachten. Die Klinge gegen ihren Bruder führte sie selbst, und sie starb mit ihm zusammen. Etzel konnte nur zusehen, wie seine Frau dem Fluch der Nibelungen erlag, die niemals vergessen hatten, wer mit ihrem Gold sich schmückte. Der Hunnenkönig nahm das Kind Siegfried, übergab es dem entsetzten Prinz Gernot und schickte ihn heim nach Burgund. Noch über Generationen erzählten sich die Hunnen am Feuer von der Bluthochzeit und der rachsüchtigen Königin Kriemhild von Xanten.
Gernot kehrte tatsächlich nach Xanten zurück – doch nicht, um den Thron zu besteigen. Stattdessen gab er den Nibelungen ihr Gold zurück und nahm die wunderbare Elsa zur Frau. Gemeinsam zogen sie mit Jung-Siegfried nach Island. Weit weg von Burgund, von Xanten, von den Nibelungen. Weit weg vom Spiel der Götter.
So dachten sie.
Siebzehn Jahre lang sahen die alten Götter zu, wie Elsa und Gernot Island in Liebe und christlichem Glauben führten, wie sie die eigene Tochter Lilja bekamen, während sie Siegfried unter dem Namen Sigurd als eigenes Fleisch und Blut aufzogen. Doch der Junge war von der Seele her wie der Vater, den er nie kennengelernt hatte. Es trieb ihn zu Abenteuern in die Welt hinaus, und auch die vielen Jagden mit seinen Freunden Jon und Gelen konnten ihn nicht genug ermüden, um davon abzulassen. Während Gernot einsah, dass Sigurd den Kontinent bereisen musste, um ein Mann zu werden, war Königin Elsa von ganzem Herzen dagegen. Im Traum war ihr die Walküre Brunhilde auf dem Flammenross erschienen und hatte für Sigurd die Freiheit gefordert, sein Erbe anzutreten. Nichts hatte Elsa je mehr geängstigt, und sie war entschlossen, einer neuen Generation Leid und Elend zu ersparen.
Doch ein junges Herz passt in keinen Käfig, und so machte sich Sigurd gegen den Willen seiner Eltern auf ins dänische Fjällhaven, wo er von willigen Weibern und Weinfässern im Überfluss gehört hatte. Die Männer fanden, was Männer suchen, und schlugen sich im Trunk vergnügt mit rauflustigen Langobarden, bis der Wirt sie aus der Taverne warf und die junge Schankmagd Liv dem Sigurd im Heu das Feuer seiner Lust löschen half.
So wäre es vielleicht ein paar Monate oder ein Jahr gegangen, bis Sigurd nach Island zurückgekehrt wäre und er seine Eltern um Verzeihung gebeten hätte. Er konnte nicht ahnen – und es war im Sinne der Götter, dass er es nicht ahnen konnte -, dass Wulfgar, der finstere König von Xanten, mit seinem Heer übergesetzt hatte, um das kleine Island zu unterwerfen. Es war sicher nicht das Schwert Sigurds, das zur Verteidigung von Burg Isenstein fehlte, und schnell war der Königssitz belagert. Auf keinen Verbündeten konnte König Gernot setzen, auf keinen kleinen Pfad, der die Familie ins Exil hätte retten können. Um Erniedrigung und Folter zu entgehen, entschieden sich Gernot und Elsa, Wulfgar mit einem letzten Trank die Genugtuung zu nehmen, das Königshaus Island gemeuchelt zu haben. So starb Sigurds Familie, während er in Fjällhaven zechte und durch die Nacht hurte.
Woher ich all das weiß? Wir Nibelungen sind überall und nirgends, und wenn der Wald auch unsere Heimat ist, so sehen unsere Augen von den Wolken herab, hören unsere Ohren aus dem Gras unter deinen Füßen. Wir sprechen mit den Göttern – und wir hadern mit der Walküre Brunhilde, die uns den letzten Triumph über die Blutlinie Siegfrieds nicht gönnen mag.
Wo war ich? Ach ja. Island war gefallen. Es war der alte Eolind, der Sigurd endlich in Fjällhaven fand und in die Heimat zurückbrachte. Nach schwerer Überfahrt fand der Junge die Burg unter fremder Flagge und das Volk unterjocht. Sogleich wollte er Wulfgar an die Kehle, doch Eolind öffnete ihm die Augen und zeigte ihm einen anderen Weg auf – den einzigen Weg, wirklich Rache an Wulfgar zu nehmen und den geknechteten Königreichen einen gerechten Herrscher zu geben. Er erzählte Sigurd von seiner wahren Herkunft, von seinem Vater Siegfried, von seinem Anrecht auf den Thron Xantens. Er erzählte auch vom Schatz der Nibelungen als Schlüssel zur Macht wie zur Rache. Es war die Nacht, in der Sigurd das Erbe seines Vaters annahm – und seinen Namen. Er befahl Jon und Gelen, sich verborgen zu halten und die Regentschaft Xantens in Island nach Kräften zu hintertreiben. An den Rhein wolle er selber reisen, um sich die Insignien der Macht zu sichern.
Die Götter mögen grausam sein und in hämischer Freude das Leben der Menschen heimlich führen, doch ihre Spiele benötigen immer auch die Möglichkeit, sich ihnen zu widersetzen. Wo wäre der Kitzel, gäbe es nicht wenigstens einen Einsatz, den der Mensch verspielen könnte? Und so hatte Odin Xandria geschaffen und als Tochter des Wüterichs Wulfgar auf die Erde gebracht. Schön, zerbrechlich und von wildem Herzen, kümmerte sie sich um das verfallende Xanten, während ihr Vater mit seinem Heer andere Reiche überfiel. Sie hasste ihn und sehnte sich nach einem Mann, der sie von ihm und ihrer Einsamkeit befreite. Es war nicht schwer zu erraten, wen die Götter dafür ausersehen hatten …
Bei einem Sturm, der sein kleines Boot zerschellen ließ, wäre die Überfahrt des Sigurd, der sich nun Siegfried nannte, fast schon zu Ende gewesen. Natürlich beansprucht die Walküre Brunhilde das Verdienst, ihn vor den Göttern und den Nibelungen beschützt zu haben, damit er ans rettende Ufer gelange. Und doch frage ich mich: tat sie nicht aus immer noch brennender Liebe zu Siegfried genau das, was die Götter sowieso im Sinn hatten? Was hätten sie gewonnen, wenn der Krieger ertrunken wäre? Nein, nein, je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, dass Brunhilde nicht etwa den Plan der Götter durchkreuzte – indem sie Siegfried rettete, erfüllte sie ihn.
An der Küste Britanniens landete Siegfried schließlich, mehr tot als lebendig. Ein seltsamer Kauz war es, der ihn aufnahm: Haare so dunkel wie die Augen, die Haut wie von Oliven und mit seltsamen Zeichen bemalt. Nazreh nannte er sich, und er kam von so weit aus dem Osten, wie nicht einmal die Nibelungen zu reisen wagten. Viele Bücher verwahrte er in seiner Hütte, und er las geduldig am Feuer, während Siegfried in wilden Träumen fieberte, immer wieder die Hand nach Walhalla ausstreckend. Doch Odin wollte ihn nicht, und so gewann er seine erste Schlacht: er besiegte die Krankheit und lernte bei Nazreh so manchen klugen Gedanken über Krieg und Frieden. Nach einigen Monaten war Siegfried genug genesen, um weiterzuziehen, und Nazreh beschloss, seinen heißblütigen jungen Freund zu begleiten. Die Reise ging erneut übers Wasser, bis an die Küste des Kontinents, wo der Rhein sich ins Meer ergoss.
Natürlich hatten wir, die Nibelungen, mit Siegfried gerechnet. Es lag in seinem Blut, den Besitz seines Vaters zu verlangen, und wie sein Vater scherte er sich nicht um den Fluch, der mit dem Gold verbunden war. Doch der erste Siegfried, der Vater, war von mir unterrichtet worden, und trotz allen Ungestüms war er ein großer Krieger. Es fiel uns keinen Augenblick lang ein, dass es dem Sohn gelingen könne, den Schatz an sich zu bringen. Vielleicht ist es unser Schicksal, vielleicht auch ein Trick der Götter, dass wir in unserer Macht zur Überheblichkeit neigen. Der zweite Siegfried, der unseren Wald betrat, war von starkem Geist und noch stärkerem Willen. Wir setzten Trugbilder in seinen Kopf, die alle seine Träume erfüllten – seine Eltern gaben wir ihm, sein Reich und alle Zeit der Welt. Doch er wählte die Wahrheit, wählte den Schmerz, die Rache. Und so gelangte er an den Schatz, der ihm die Macht geben sollte, Xanten zu erobern. Wir sahen, wie er mit dem Gold davonzog, und wussten nicht, was zu fühlen richtig war – Wut, weil unser Besitz erneut geraubt worden war, oder Freude, weil das kommende Leid unermesslich sein würde.
Derweil trachtete Xandria danach, den Zwist mit Wulfgar auf ihre Weise zu beenden. Sie rührte dem Vater Gift in den Wein, um sich und das Land von ihm zu befreien. Doch in seiner Bösartigkeit war Wulfgar sehr robust, und zusammen mit einem halben Schwein kotzte er sein Todesurteil wieder aus. Er wusste nun, dass Xandria nicht mehr zu trauen war. Die Prinzessin wollte daraufhin Hand an sich legen, doch Brunhilde erschien ihr und zeigte ihr Bilder vom jungen Siegfried, der kommen würde, sie zu seiner Königin zu machen – und zu seiner Frau. Xandria begehrte den Herausforderer ihres Vaters augenblicklich, mit den Lenden so sehr wie mit dem Herzen.
Siegfried war der Sohn seines Vaters – und mit dessen Gold hatte er rasch viele Freunde, ganz besonders unter den Römern, deren Imperium zerfallen war und die sich nach und nach über die Alpen zurückzogen. Der schlachtenerfahrene Thelonius rekrutierte ein Söldnerheer für den rechtmäßigen Erben Xantens – Männer, die nicht für ein Land, sondern für ein Goldstück ihr Leben zu geben bereit waren.
Vielleicht wollte Brunhilde das Massaker verhindern, vielleicht fürchtete sie auch nur, Siegfried könnte einem verirrten Pfeil zum Opfer fallen, weil er nicht die Unbesiegbarkeit seines Vater besaß – jedenfalls erschien sie auch ihm, um seine Leidenschaft mit einer Vision der schönen Prinzessin Xandria zu entfachen.
Wie dem auch sei: Siegfrieds Heer belagerte bald Xanten, und in wochenlangem Stellungskrieg ging es nicht vor und nicht zurück. Es gab keinen Sieg, aber viele Opfer: Xanten hungerte, und jenseits der Burgmauern verreckten die einfachen Menschen, deren gerechter König Siegfried sein wollte, am Wegesrand. So traf er sich mit Wulfgar, um diesem zu erlauben, unblutig die Waffen zu strecken und ins Exil zu gehen. Doch der Usurpator des Xantener Throns dachte keinen Augenblick daran, sich zu beugen – auch nicht, als er erkennen musste, dass Siegfrieds Anspruch berechtigt war. Sie trennten sich mit dem Schwur, einander bis auf den letzten Mann zu bekämpfen.
Es war die Nacht der misslungenen Diplomatie, in der sich Xandria ins Zelt von Siegfried schlich. Es drängte beide aufs Lager, um sich einander hinzugeben, aber die Prinzessin war gekommen, Siegfried das Leid zu zeigen, das seine Belagerung auslöste. Und so, auf Schleichwegen und ohne Eskorte, sah der stolze junge Feldherr Hunger und Verzweiflung als Preis von Krieg und Herrschsucht. Das Volk von seinem Blut am Boden – es brach Siegfried das Herz fast so wie den Mut. Doch wie sollte ohne Wulfgars Einsicht eine blutige Schlacht verhindert werden?
Es war Nazreh, Siegfrieds fremdländischer Freund und Vertrauter, der die Bürde auf sich nahm und in nächtlicher Mission die Xantener Burg betrat. Mit Geschick und Trickserei fand er den Weg zum König und beendete seine grausame Herrschaft mit scharfer Klinge. Dann lief er nicht davon, suchte das Heil nicht in der Flucht. Er ließ sich von den Wachen ergreifen und in den Kerker werfen, auf dass jeder wisse, wer Wulfgar meuchelte. Nicht Siegfried, der Herausforderer, sondern ein Fremder von irgendwo her, vielleicht gedungen von den Franken oder Langobarden. Als letzten Freundschaftsdienst erlaubte Nazreh noch dem Gefährten, ihn in scheinbarer Rache zu töten. So wurde Xandria neue Königin von Xanten und Siegfried der Vergelter übler Tat am alten König. Alles, was noch zwischen ihnen stand, war Siegfrieds fehlender Beweis, selber Anspruch auf den Thron zu haben, den er mit Xandria zu teilen beabsichtigte. Sein Wort würde kaum reichen, damit das Volk den Belagerer zum Herrscher nahm.
Wulfgars Tod brachte auch auf Island die Wende: Jon und Gelen schürten den Aufstand gegen die führungslosen Xantener Soldaten, und es war ein Blutgericht der Rache landesweit. Sogar der alte Eolind griff zum Schwert, um den von Wulfgar eingesetzten Statthalter zu richten. Der nächste Morgen fand Island wieder frei – ohne König zwar, doch frei.
In der Hoffnung, Siegfried eine Zukunft in Frieden zu ermöglichen, wies ihm Brunhilde den Weg nach Ballova, dem Reich des Götterschmieds Wieland, in dessen Feuer schon Thors Hammer Mjölnir gehärtet worden war. Er allein konnte Nothung wieder schmieden und damit Siegfrieds Erbrecht auf Xanten beweisen. Schweren Herzens von Xandria lassend, machte sich Siegfried auf die lange und beschwerliche Reise, an deren Ende er eine Welt fand, flach und rund wie eine Scheibe, durchzogen von einem kleinen geraden Bach, in der Mitte nur ein Schmiedefeuer und das Werkzeug des Wieland, der ihn freundlich aufnahm. Hier, zwischen Midgard, Utgard und Asgard, verweilte Siegfried ohne Zeit, während der stete Hammerschlag des Schmieds die bleierne Luft erfüllte.
Doch weder die Götter noch die Nibelungen waren zufrieden, was Brunhildes Einmischung in Siegfrieds Schicksal anging. Auf die Schlacht zwischen dem Söldnerheer und Xanten hatten sie schon verzichten müssen, das friedliche Glück von Xandria und Siegfried war ihnen ein Gräuel. Wo keine Gier mehr war, kein Hass, kein Schicksal, da drohte das Rad des Lebens zum Stillstand zu kommen, und nichts langweilt die Götter mehr, als der Mensch in Friedenszeiten. Den bedächtigen Siegfried in die Raserei zu treiben, das war ihr erklärtes Ziel – und um es zu erreichen, schickten sie die schwarzen Horden aus Utgard. Widerliche kleine Gestalten, mit fleischigen Mündern, schmutzigen Leibern und leeren Seelen, vor denen sich selbst die Nibelungen in Ekel abwandten. Sie fielen über die Burg her wie die Pest, ließen Leichen an jeder Ecke zurück und nahmen die Prinzessin mit ins Reich der Unterwelt, als Pfand und Gegenstand grausamer Spiele. Was Siegfried tun würde, um seine Geliebte zu retten, war nicht die Frage – sondern was würde er nicht tun? Die Horden zerrten grob an Xandria, vergingen sich an ihrem zarten Leib und kratzten ihr Wunden, ohne den Lebensfunken selbst anzutasten. Es galt, den Helden Siegfried zum grausamen Unhold zu machen, zum Rachegeist, damit das Rad sich weiter drehen konnte …
So kam Siegfried mit Nothung nicht in seine Heimat zurück, sondern in ein verbranntes Reich ohne Leben, mit faulenden Toten und hungerndem Vieh. Er fand die Burg verlassen, von seiner Xandria keine Spur. Einzig Brunhilde stand ihm traurig Rede und Antwort, berichtete vom neuesten Verrat der Götter, die sich nicht darum scherten, Siegfrieds Taten gerecht zu entlohnen. Und Siegfried tat, was die Götter sich erhofft hatten: er nahm Brunhildes Flammenross und ritt durch die Erdscheibe nach Utgard, um Xandria zu retten. Ungeheuer warteten dort, Trugbilder, falsche Versprechen, doch nichts konnte ihn täuschen oder aufhalten. Mit Nothungs Klinge bahnte sich der Erbe Xantens den Weg durch die Unterwelt, die bald von Wehklagen ob seiner Gnadenlosigkeit erfüllt war. In Tagen fand er seine Königin – nur um zu entdecken, dass in dieser freudlosen Welt Jahre vergangen waren. Jahre, in denen Xandria auf das schändlichste misshandelt worden war, ohne Hoffnung und Trost. Ihren Körper hatten die Horden gebrochen, irgendwann ihre Seele – und schließlich ihren Geist. Das Wesen, das Siegfried befreien konnte, war nur noch eine wahnsinnige Furie, jedes menschlichen Funkens entleert. Trotzdem nahm er sie in die Arme, presste sie an sich und brachte sie zurück auf die Burg Xanten, die nun ihre hätte sein sollen. Er saß eine letzte Nacht bei ihr, und im Morgengrauen umarmte er sie so fest, dass ein letzter Atem ihre Lungen verließ. Es war der einzige Liebesdienst, den er ihr noch erweisen konnte.
Brunhilde war das Herz schwer, weil der Sohn ihres Geliebten keine Ruhe fand. Die Unsterblichen ergötzten sich an dem Gedanken, was Siegfried nun tun würde, wie er, vom Leben verraten und gehärtet, jeden Gegner gnadenlos vernichten würde.
Doch in diesem Moment, im größten Schmerz, fand Siegfried von Xanten seinen eigenen Weg, jenseits aller Ränkespiele.
Er verzichtete.
Auf Xanten, auf das Schwert, auf die Rache. Stattdessen verbrannte er den Leichnam seiner Xandria und schwor dem Schicksal ab. Nicht mehr Werkzeug der Götter, nicht mehr Spielzeug. Wo ein Mann nichts mehr sucht, ist er auch nicht mehr zu verführen.
Mit erstaunlich leichtem Herz verließ Siegfried das Reich, das ihm versprochen war. Sollte ein anderer König es sich nehmen, ein anderes Heer es erobern.
Ohne Hast, ohne Drang ritt Siegfried nach Fjällhaven, um von dort nach Island überzusetzen. Nicht als König, nicht als Eroberer, sondern als Sohn Islands, den es zurück in die Heimat trieb. Die wilde Flamme, die ihn noch vor einem Jahr als Jüngling in die Welt getrieben hatte, war erloschen, und seine Seele wärmte sich an ihrer ruhigen Glut. So fand er auch die Zeit, nach Liv zu fragen, der jungen Schankmagd, die er am Hafen verlassen hatte, ohne ihr eine Rückkehr zu versprechen. Groß war seine Überraschung, als sie ihm seinen Sohn mitbrachte. Nicht mit Anspruch, nicht mit der Bitte um Gold für das Kind – Liv war von jener bescheidenen Natur, die es nicht nach Einfluss drängte. Und so war sie doch genau die Frau, die Siegfried an seiner Seite wissen wollte. Er nahm sie und das Kind in seine Obhut, ohne darum gebeten worden zu sein, und zwischen den aufbrechenden Knospen eines warmen Frühlingsmorgens schritt er mit ihnen zum Boot, um die Heimat zu suchen, in der er Frieden zu finden hoffte.
Das ist die Geschichte, wie ich mich an sie erinnere und wie ich sie immer und immer wieder erzähle. Sie war auch das Ende der größeren, ewig gleichen Geschichte, die von den Göttern so geliebt wird, weil sie die Menschen so sehr leiden lässt. Fast hundert Winter hat die Welt seither erlebt. Siegfried starb noch vor Liv, doch alt und zufrieden, ihre vielen Kinder spielten am Hofe Islands glücklich in Frieden. Das Christentum versprach den Menschen Einigkeit, Stille und Bescheidenheit. Mit seiner wachsenden Macht verloren die alten Götter an Einfluss, knurrend mit sich selbst beschäftigt, schwindende Erinnerungen in den Köpfen immer weniger Menschen. Eine neue Zeit, eine neue Welt.
Doch es ist nicht weise, den Gang der Dinge für selbstverständlich zu erachten, oder die Ruhe in Asgard für ewig. Wie der Wolf nur genug Hunger leiden muss, um auch dem größten Bären die Zähne zu fletschen, so brauchten die Nibelungen nur genügend Gier, um erneut das Schicksal zu fordern. Ich weiß es, bin ich doch einer von ihnen. Und obwohl wir eins sind, wie wir viele sind, ist mir nicht wohl dabei, was nun geschehen wird. Mag sein, dass ich zu lange unter den Menschen war, mir ihr Mitgefühl und ihre Herzlichkeit leichtfertig zu eigen gemacht habe. Aber mich schaudert, und die Seele wird mir schwer. Das Geschlecht Siegfrieds von Xanten wird ein weiteres Mal geprüft. Vielleicht zum letzten Mal, vielleicht zur letzten Schlacht.
Das Erbe der Nibelungen ist das Ende der Geschichte …
1
Die endliche Zeit des Friedens
Wir sollten zurück in den Hafen segeln«, schrie Bo ran, und der Wind riss ihm die Worte mit salzigem Wasser von den Lippen. »Sonst wird das Meer unser Boot verschlingen!« Wie zur Bestätigung hob die wütende See das kleine Fischerboot mit dem zerrissenen Segel in die Höhe, in Richtung pechschwarzer Wolken, und blitzte es herrisch an. Wellen und Gewitter zerrten und zogen am Holz, ließen es immer wieder splittrig bersten. Im Norden war Island nicht weit entfernt – in diesem Moment jedoch in unendlicher Ferne. Es war heller Tag, aber finster wie in tiefster Nacht.
Sigfinn lachte, als habe er seinen Gefährten nicht gehört. »Lasst uns ein letztes Mal das Netz auswerfen!« Den Bauch des Schiffes hatten sie schon mit Fischen von allerlei Art gefüllt, und im Reich herrschte wahrlich kein Hunger, aber Prinz Sigfinn ging es auch nicht um das hehre Handwerk – es ging um die Herausforderung. Je größer, desto besser. Je gefährlicher, desto ehrenvoller.
Die Männer, die den Prinzen auf diesem Ausflug begleiteten, befolgten seinen Befehl, wenn auch kopfschüttelnd und skeptisch. Das grobe Netz war bei so einem Wetter wie ein überschwerer Anker, der dem Meer diente, das Schiff in die Tiefe zu ziehen. Für vernünftigen Fischfang waren die Strömungen vor der Küste viel zu stark.
»Dieses eine Mal noch, und heute Abend veranstalte ich ein Festmahl, das Geschichte schreiben wird!«, rief Sigfinn, dem ein Splitter eine Wunde in die Schulter gerissen hatte, aus der unter einem groben Streifen Leinenstoff Blut in den Regen floss. Es scherte ihn nicht.
»Mein Prinz, das kann ich nicht zulassen!«, protestierte Boran. »Im Namen Eures Vaters, des Königs, verlange ich die Heimkehr nach Burg Isenstein!«
Es überraschte Sigfinn, dass der bärenstarke und kugelrunde Boran sich so hasenfüßig gab. Hatten die Jahre bei Hofe ihn weich gemacht? Fürchtete er das Meer schon wie ein feindliches Heer? Als das Boot in ein Tal zwischen zwei riesigen Wellen stürzte, wurde ihm flau im Magen, doch der Prinz gab sich zuversichtlich: »Der Fang muss meiner würdig sein – und bisher haben wir nur Fisch, der allenfalls zur Suppe taugt, nicht aber für den Stecken über dem Feuer! Die edle Brynja soll sich nicht beschweren müssen.«
Ungefähr ein Dutzend Männer mühten sich derweil, das schwere Netz zu halten, welches das Meer ihnen aus den schwieligen Händen reißen wollte. Drei Mann packten das Ruder. Zwei standen am Bug, lotsten ihre Gefährten mit ausschweifenden Armbewegungen an Felsen vorbei, die oft nur knapp unter der Wasseroberfläche lauerten.
Plötzlich griff das Netz zu, und wo es eben noch geschmeidig durch die Strömung geglitten war, spannte es sich nun wie ein Gitter aus Eisen. Das Boot wurde herumgerissen, die Männer torkelten schreiend über Deck, und Sigfinn presste es die Luft aus den Lungen, als er gegen die Bordkante geschleudert wurde. Oben wurde unten, eine Welle schwappte über ihn, vor seinen Augen war nur noch Schwarzgrau. Er rappelte sich auf die Füße und warf einen Blick über Bord: das Netz hatte sich an einer Felskante verhakt und zog das Boot in gefährliche Seitenlage.
»Kappt das Netz!«, brüllte Boran, nicht mehr auf das Kommando des leichtsinnigen Prinzen wartend. »Wir müssen das Schiff befreien!«
Sigfinn war geneigt, ihm zuzustimmen, zumal seine Schulter schmerzte und vor seinen Augen immer noch träge Wirbel tanzten. Er hatte Manneskraft und Entschlossenheit genug bewiesen.
Da sah er den Fisch.
Ein Fisch, wie er noch keinen zuvor gesehen hatte. Vom Leibe her unglaubliche sechs, sieben Meter lang. Dabei nicht elegant und schlank, sondern massig und mit breitem Kopf, an dessen Seiten tief liegende schwarze Augen saßen. Die mächtige Flosse hatte sich im Netz verfangen, und nicht Verzweiflung schien das Tier zappeln zu lassen, sondern Zorn und Empörung.
Sigfinn wischte sich den Regen aus den Augen, um sicherzugehen, dass er keinem Trugbild aufgesessen war. Doch dieser Koloss des Meeres verschwand auch im klaren Blick nicht, und als er den Kopf zur Seite legte, schien er den Prinzen direkt anzusehen. Kalt, wütend, herausfordernd.
»Halt!«, schrie Sigfinn gegen den Sturm zu seinen Leuten. »Kappt nicht das Netz!«
Boran kämpfte sich über das schwankende Deck zu seinem Prinzen. »Eure Hoheit, wir müssen! Sonst bricht der Rumpf, und wir dürfen in die Heimat schwimmen!«
Sigfinn deutete auf das unruhig peitschende Wasser und das Untier, das im Netz hing: »Ich will ihn haben.«
Borans Augen wurden groß, und er bekreuzigte sich hastig, wobei er fast über Bord fiel. »Herrgott! Was ist das für eine Bestie?«
»Können wir ihn einholen?«
Der von einem wilden Leben vernarbte und von einem mächtigen Vollbart überwucherte Krieger schüttelte den schweren Kopf. »Bei dieser Größe kommen wir gegen ihn nicht an. Und würden wir warten, bis er stirbt, nähme er uns mit in die Hölle. Die Zeit und der Sturm sind gegen uns. Wir müssen das Netz kappen.«
Sigfinn gönnte sich ein paar Augenblicke, um über die Lage nachzudenken. Was für ein Fang! Was für eine Trophäe! Die konnte er unmöglich dem Meer überlassen!
Mit einer raschen Bewegung legte der isländische Kronprinz den Gürtel mit seinem Schwert ab, zog den Dolch aus seiner kurzen Scheide und sah seinen Freund durchdringend an. »Gib mir nur eine Minute.« Dann steckte er sich die Klinge zwischen die Zähne.
Boran versuchte noch, ihn am Wams zu packen, aber Sigfinn war zu schnell – mit einem Satz sprang er über Bord ins Wasser zu dem sich immer mehr verheddernden Netz, das das Boot nun wie mit Ketten an den Felsen zerrte.
Natürlich hatte Sigfinn die Strömungen unterschätzt, und kaum hatte das Meer ihn in seiner Gewalt, warf es ihn spielerisch hin und her, als wollte es ihn verspotten. Die Klinge riss es ihm beiläufig aus dem Mund, wobei sie seine Lippen schnitt. Seine Hände streiften das Netz, ohne es halten zu können, und es war gar nicht daran zu denken, die Wasseroberfläche zu durchstoßen, um seinen Lungen Luft zu gönnen. Die Strömung drückte ihn nun gegen den Felsen, das Wams riss an seinem Rücken auf, Stein kratzte das Fleisch roh. Sigfinn meinte, durch Sturm und Meer aufgeregte Stimmen zu hören, doch sein Geist mochte ihm etwas vorspielen.
Es war an der Zeit, sich zu wehren. Der Prinz trat sich mit den Füßen frei, zwang seine brennenden Augen, nach Lichtreflexen zu suchen, und ruderte mit den Armen auf sie zu. Zuerst einmal musste er sein eigenes Leben retten.
In alten Schriften hatte er von Rammböcken gelesen, mit denen feindliche Heere Burgtore durchbrachen. Als die seltsame Fischbestie, die zu erlegen er ins Wasser gesprungen war, mit dem Kopf in seine Seite stieß und ihn damit wieder unter Wasser drückte, fühlte sich Sigfinn an diese Geschichten erinnert. Es war, als hätte ein Baumstamm seine Rippen getroffen, und bis in seinen Schädel hörte er sie hässlich knacken. Trotz des wilden Wassers konnte er Blutfahnen erkennen, die im Strudel zerfaserten.
Es waren seine eigenen …
Kari eilte durch die in den schwarzen, kalten Fels von Island gehauene Burg Isenstein, ein Tross von Dienerinnen hinter sich, die aufgeregt schnatterten. Sie waren es nicht gewohnt, dass die Königin so in Eile war und so besorgt. Besonders die treue Renata versuchte, mit der Herrin Schritt zu halten. »Meine Königin, er ist nur fischen. Wenn Ihr Euch um sein Wohl sorgt, so haltet stilles Zwiegespräch mit dem Herrgott in der Kapelle …«
Kari von Island ließ sich nicht aus dem Tritt bringen. »Ich suche meinen Seelenfrieden lieber in der Tat, vielen Dank.«
Wächter ohne Waffen – denn wer sollte Island schon übelwollen? – standen an der doppelflügeligen Holztür, die vom Westen her in den großen Thronsaal führte. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig, an den schmiedeeisernen Ringen zu zerren, damit die Königin bei ihrem Eintritt ihre Schritte nicht verlangsamen musste.
König Christer saß mit seinen Beratern zusammen, am großen Ratstisch, über dem das Banner Islands hing und gleich daneben das Kreuz des Christentums. Auf seinen Thron setzte sich der Regent nur noch, wenn es Gäste zu empfangen gab. Und das kam nicht allzu häufig vor. Islands Wetter galt als deutlich unfreundlicher als seine Herrscherfamilie.
Christer sah auf, als er seine vor Gott Angetraute hereineilen sah. Erfreut, vom öden Tagesgeschäft Islands erlöst zu werden, verlangte er nicht Duldsamkeit von ihr, sondern beendete die Beratungen. »Nichts drängt, wie es scheint. Lasst uns morgen weitersprechen.«
Seine Ratgeber zogen sich ebenso leise zurück wie die Dienerinnen der Königin. König Christer war ein stattlicher Mann, auch wenn das Wohlleben der Friedenszeit ihn mehr in die Breite als in die Höhe hatte wachsen lassen. Seine langen blonden Haare, zu einem Zopf gebunden, verloren ihre Farbe, wurden von Monat zu Monat weißer. Seine Fähigkeiten, Island in Wohlstand zu führen, waren weithin geachtet. Das glich seine Unerfahrenheit auf dem Schlachtfeld aus – Christer hatte nie ein Heer führen müssen, das Reich nie mit dem Schwert verteidigt.
»Was treibt dich um, meine Königin?«, fragte er, denn Karis Gesichtsausdruck war düster und dem nasskalten isländischen Herbst durchaus angemessen.
»Sigfinn ist mit seinen Mannen auf das Meer gefahren!«, sprach seine Gattin unangemessen laut, in ihrer vogelgleichen Zierlichkeit ein seltsamer Kontrast zum wohlbeleibten König. »Der Hafenmeister sagt, er wollte fischen.«
Christer erhob sich mit einem leichten Ächzen, das dem Alter geschuldet war, ging zu einem der Fenster und öffnete den Laden, so dass die Kälte in den Thronsaal drang. Er sah über den von einem Felsring geschützten Hafen von Island auf das Meer hinaus, wo die Naturgewalten ein beträchtliches Spektakel veranstalteten. »Bei diesem Wetter?«
»Ich möchte, dass du dem Jungen verbietest, sich solchen Gefahren auszusetzen!«
Christer musterte seine Frau. Er wusste, dass er nicht auf seine königliche Autorität pochen konnte, um diesen Zwist zu beenden. »Sigfinn ist ein Mann von sechzehn Jahren. Er will sich beweisen. Missgönne es ihm nicht.«
Kari trat zu ihm, entschlossen, ihre Furcht nicht auf dem Altar von Christers Weisheit zu opfern. »Er ist unser einziger Sohn, unser einziges Kind – unser einziger Thronfolger! Wenn er bei einer solchen Narretei sein Leben lässt, was dann?«
Der König nahm sie in den Arm und drückte ihren zarten Leib fest an sich. »Christus wird unseren Sigfinn schon beschützen. Vertraue unserem Herrn.«
»Du weißt, dass ich dir keinen weiteren Sohn geben kann«, flüsterte Kari, und es lag Trauer in ihrer Stimme. »Wenn ihm etwas zustößt, musst du eine neue Königin wählen, eine Jüngere.«
Christer schob sie von sich, um ihr ernst in die Augen zu sehen. »Kari, nun schweig! Es wird Sigfinn nichts geschehen, und ich werde mir keine neue Königin suchen. Der Himmel weiß, diese eine macht mir schon genügend Mühe.«
Kari zwang sich zu einem Lächeln. »Entschuldige meine Torheit, aber ich … ich …«
Der König strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die unter ihrem Kopftuch keck hervorschaute. »Ich weiß, Kari. Aber hadere nicht mit dem, was nicht zu ändern ist. Bereite lieber die Feier zu Brynjas Ehren vor. Ihre Ankunft wird Sigfinn gewiss auf andere Gedanken bringen. Und dich auch.«
Kari wusste, dass Christer Recht hatte – der Besuch von Sigfinns Cousine würde genügend Abwechslung, Geschenke und Geschichten bringen, so dass Sigfinn für Wochen die Burg nicht verlassen musste. Das Mädchen vom Hofe Edelrieds war immer ein gern gesehener Gast, seit Jahren schon. Es war nicht weniger als angemessen, sie mit einem rauschenden Fest zu empfangen.
Die Königin stellte sich auf die Zehenspitzen, um an ihrem Mann vorbei durch das Fenster auf das Meer zu sehen. Christer zog den schweren Laden zu, damit der Anblick des Gewitters sie nicht noch nervöser machte. »Sei unbesorgt, meine Liebe. Sigfinn ist nicht in Gefahr, da bin ich ganz sicher.«
Sigfinns Körper war nicht mehr bereit, sich gegen den Schmerz und das kalte Meerwasser zu wehren, nur sein Geist strampelte noch verzweifelt, trat um sich, verlangte Tat und Widerstand. Ein vielleicht letztes Mal riss er die Augen auf – und schaute ins Angesicht des riesigen Fischwesens, das ihn so gierig wie leichtsinnig hatte ins Meer springen lassen, um es zu erlegen. Das Maul des Fischs öffnete sich, und in drei Reihen umstanden daumendicke Zähne eine fleischige Zunge. Selbst in der Nähe der Bewusstlosigkeit fiel Sigfinn beruhigend ein, dass Fische keine Menschen fraßen, zumindest nicht in den Gewässern rund um Island.
»Bald«, sagte der Fisch.
Aber das war sicher nur Einbildung, dachte Sigfinn mit immer bleierner werdenden Gedanken, während die letzte Luft aus seinem hilflos treibenden Körper schwand. Fische konnten nicht reden.
Etwas ruckte um ihn herum, ein zerschnittenes Seil streifte sein Bein, schlängelte sich weg von seinem Fuß, gab ihn frei.
»Was ist, muss sein«, sagte der Fisch nun, ohne dabei erkennbar das Maul zu bewegen.
Eine Faust bohrte sich in Sigfinns Rücken, griff die Reste seines Wamses und zerrte ihn in Richtung Wasseroberfläche.
»Was ist, muss immer sein«, wiederholte der Fisch.
Sigfinn dachte darüber nach, ob er etwas erwidern solle, aber es erschien ihm unvorsichtig, im schäumenden Meer seinen Mund zu öffnen.
Borans starker Arm zog den Prinzen erst aus dem Wasser, dann auf das Boot. Die harte Landung auf dem Holz holte Sigfinn schneller in die Wirklichkeit zurück, als er für möglich gehalten hatte, und er erbrach einen Schwall Salzwasser auf das Deck. Dabei gaben seine Arme nach, und sein Oberkörper sackte nach vorne. Das aufgequollene Holz unter seinen Händen war ihm in diesem Moment heilig. Es war fester Boden in einer Welt, in der nur Narren sich dem Meer hingaben. Er wollte es küssen, es liebkosen, ihm tausend Male danken.
Sein treuer Retter hatte sich schon wieder den Männern zugewandt, die damit beschäftigt waren, das Boot mit langen Stangen so gut es ging vom Fels abzustoßen, während andere mit Schwertern das Netz kappten.
»Ich … Boran … ich …«, krächzte Sigfinn mühsam hervor, den Geschmack bitterer Galle noch auf der Zunge.
»Lasst gut sein, Prinz«, beschied ihn sein Beschützer und zog ein beeindruckendes Langschwert aus einer kleinen Truhe, die fest auf das Deck genagelt war. »Wenn wir das Biest schon nicht nach Island bringen können, so wird sein Kadaver wenigstens Zeugnis ablegen von Eurer Heldentat.«
Sigfinn kannte das schon – Boran würde dafür sorgen, dass jeder Mann auf dem Schiff davon berichtete, wie der Prinz mit Mut und Stärke das schreckliche Ungetüm erlegt hatte. Niemand würde es infrage stellen. Es hatte auch keiner einen Vorteil davon.
Mühsam kam Sigfinn auf die Füße, gerade rechtzeitig, um Boran erschöpft in den Schwertarm zu fallen. »Lass es, treuer Freund! Mit unserem Schwert wird heute keine Ehre errungen.«
Er blickte über Bord und sah den seltsamen Fisch, der sich mühte, die Reste des Netzes von sich zu schütteln. Der Prinz nahm das Schwert nun selbst und hackte jene Stränge durch, die das Tier noch hielten. Ruckartig schwappte das Boot zurück in die aufrechte Position, und was immer sie noch zum Fels gedrängt hatte, ließ davon ab.
Ein letztes Mal durchbrach der Fisch die Wasseroberfläche direkt unter der Stelle, an der Sigfinn stand. Er öffnete das Maul, als wäre noch etwas zu sagen – tauchte dann aber doch wortlos ab und verschwand in der Dunkelheit des Meeres.
Boran kratzte sich den Bart. »Welche Zauberkraft war hier am Werk, mein Prinz?«
Sigfinn hatte keine Antwort. Er entschied, niemandem von den Worten des Tieres zu erzählen, die er sich vermutlich nur eingebildet hatte. Stattdessen legte er den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel. Die Wolken streckten sich nun dünner, heller, und der Regen hatte nachgelassen. Auch das Meer hatte sich beruhigt. Der Prinz entspannte sich – und spürte schlagartig die Schmerzen von den vielen Verletzungen, die er in den letzten Stunden erlitten hatte. Sein rechtes Bein knickte ein, und Boran musste ihn stützen. »Können wir nun endlich wieder in die Heimat segeln, Prinz Sigfinn?«
Der Thronfolger Islands nickte.
Heimat. Heim.
Der kleine Raum der Burg, in dem sich die Kapelle befand, war früher eine Speisekammer gewesen. Christers Vater hatte ihn einrichten lassen, als seine Frau zu krank gewesen war, um die geweihte Kirche in Görand aufzusuchen. In christlicher Bescheidenheit war die Kapelle spartanisch eingerichtet, mit einer Holzplatte auf dem Vulkanboden, auf der in stillem Gebet zu knien war. Zwei Kerzen erleuchteten den Raum nur spärlich, aber durch sie warf ein kaum stuhlhohes Kreuz einen riesigen, Ehrfurcht gebietenden Schatten an die Wand.
Es war der Ort, an dem die Königsfamilie Islands zum dreifaltigen und einzig wahren Gott betete, seit sie den alten Göttern abgeschworen hatte. Und es war der Ort, den Kari mied, wenn niemand sie beobachtete. Dann, wie gerade jetzt, eilte sie an der schweren Eichentür vorbei, eine steinerne Treppe hinunter und durch einen der ältesten Gänge der Burg weit in den Vulkan hinein, wo die Wände sich schon warm anfühlten. Hier fand sie eine Tür, deren Schloss von alter Kunst erzählte und zu dem nur sie den Schlüssel besaß. Dahinter das, was Karis Amme immer »das andere Betzimmer« genannt hatte. Wo sie als Kind die Geschichten gehört hatte von Odin und Asgard, den Walküren und Nibelungen, den Kriegen und Toten in ihrem Namen. Vielleicht weil Kari ein Kind von altem Blut war, hatte sich das Christentum in ihrem Herzen nie verankert.
Der Raum für die alten Götter war rund aus dem Fels gehauen, die Wände mit goldenen Fackelhaltern verziert, der Boden mit feinem Sand bestreut. In seiner Mitte zischte eine Quelle heiß und bitter, ein natürliches Bad mit schwefligem Geruch. Kari ließ das Gewand von den Schultern gleiten, legte das Kopftuch ab und stieg nackt in das dampfende Wasser. Es schmerzte, biss an den Knöcheln, fraß sich die Schenkel hinauf, aber sie war es gewöhnt. Bis zu den Schultern tauchte sie ein, so dass ihre Haarspitzen nass wurden. Im Gestein um die Quelle herum konnte sie nun die alten Runen erkennen, die eine Brücke zwischen den Welten bauten.
Nur kurz schloss Königin Kari die Augen, dann hörte sie das leise Schleifen, mit dem die Seherin aus den Schatten trat. »Meine Königin.«
Es war nicht klar, ob die Ansprache bedeutete, dass die Seherin sich der Königin verpflichtet fühlte oder sie als ihr Eigentum betrachtete. Kari hatte die Angst vor der dürren Gestalt lange verloren. Mochte ihr Auftritt in der schwarzen Robe, mit den schwarzen Haaren, dem rußgeschwärzten Gesicht und den toten Augen auch düster sein, so waren ihre Prophezeiungen doch oft genug von unschätzbarem Wert gewesen.
Kari sah die Seherin an, und sie erschauerte trotz des heißen Wassers, in dem sie saß, ein wenig. »Ich wünsche einen Blick in das Reich der alten Götter.«
Die Seherin trat vor die Quelle, streckte die magere Hand aus und legte sie Kari auf die Stirn. »Was du wissen sollst, das weißt du.«
»Ich weiß zu wenig.«
»Es gibt nichts zu wissen, was du noch wissen willst.«
Kari wurde unruhig, schluckte zweimal, bevor sie weitersprach. »Was steht uns bevor? Was ist der Weg?«
Die Seherin lachte, rau und stockend, ihr fauliger Atem tränkte die Luft. »Die Götter denken nicht über das nach, was sein wird. Schon lange nicht mehr. Sie starren aus glühenden Augen auf das, was war, zupfen eitel und griesgrämig am Stoff, aus dem die Welt gewirkt ist.«
Obwohl es in der Quelle fast unsagbar heiß war, lief kalter Schweiß den Rücken der Königin hinunter. Sie hatte die Seherin noch nie so reden gehört.
So düster. So ungewiss. So … endgültig.
Brynja war froh, dass der Sturm nachgelassen hatte. Sie fühlte sich auf See nicht wohl, war eine Tochter von Wald und Bergen. Es war ihr sehr recht, dass ihr Vater ein schnelles Schiff zur Verfügung gestellt hatte, um sie in möglichst kurzer Zeit vom Kontinent nach Island zu bringen. König Edelried war wohler dabei, seine Tochter sicher am Hofe von Island zu wissen. Dort herrschte ein fast hundertjähriger Frieden, der dem Rest der Welt auch gutgetan hätte. Doch mit der Vertreibung der Römer, dem Zerfall ihres Imperiums und dem Vormarsch wilder Völker aus dem Norden und Osten waren unruhige Zeiten eingekehrt. Die Franken waren die neue Macht im Zentrum, doch im Süden waren die Westgoten von den Mauren überrannt worden, und die brachten ihren ketzerischen neuen Glauben mit. Was die Kirche der Christen an irdischer Macht besaß, ballte sich in Konstantinopel, doch einige Berater des Königs zweifelten, dass die Stadt den Arabern auf ewig Widerstand leisten konnte.
Brynja wusste von diesen Entwicklungen. Zuerst heimlich, dann mit dem Wohlwollen ihres Vaters hatte sie Geschichte studiert, Politik und Philosophie. Die klügsten Köpfe des Kontinents hatte Edelried geladen, seine Tochter zu bilden. Mittlerweile sprach Brynja vier Sprachen, viele Dialekte und las flüssig aus alten Manuskripten. Sie konnte Heilsalben anrühren und das Schwert führen.
Eigentlich durfte der Gedanke, Monate im langweiligen Island zu verbringen, sie nicht mit Begeisterung erfüllen. Kaum Bücher gab es dort, die Tischgespräche waren von begrenztem Anspruch, und die Kultur der Isländer war auf das Notwendigste beschränkt. Um wenigstens die einheimische Küche zu ertragen, hatte Brynja eine ganze Schatulle mit feinsten Gewürzen im Gepäck.
Aber sie freute sich doch. Mit Island verband sie Erinnerungen an Kindheit und Freiheit, an raue Tage mit seltsamen Bräuchen, an mutiges Versteckspiel in scheinbar endlosen, schwarzen Gemäuern. Trotz seiner oberflächlichen Langeweile war Island für sie immer … Abenteuer gewesen.
Und Sigfinn.
Er war kaum jünger als sie, und mochte er auch weniger an Reife haben, so waren sie doch von gleicher Seele. Kein Geheimnis hatte es je zwischen ihnen gegeben, und kein Mensch konnte je zwischen ihnen stehen. Sie waren nicht Cousin und Cousine, sondern Bruder und Schwester, die linke und die rechte Hand eines einzigen Geistes. Wie oft hatten sie einander die Ewigkeit geschworen? Sie konnte es nicht mehr zählen. Für Brynja war Sigfinn Island, und Island war schön.
»Wie lange wird es noch dauern?«, fragte sie den Kapitän des Schiffes, einen Langobarden.
»Einen guten Tag noch«, bekam sie zur Antwort. Brynja zog sich den doppelt genähten Schal, der sie wärmen sollte, fester um die Schultern.
War diesmal etwas … anders?
»Einen Tag noch«, flüsterte Brynja. Bis Island. Bis Sigfinn.
Das Boot des Prinzen legte im kleinen Hafen vor der Zitadelle an, und Boran nickte seinem Herrn zu. »Ihr solltet Eure Eltern wissen lassen, dass der Sturm Euch lebend zurückgegeben hat.«
Sigfinn, auf einen seiner Diener gestützt, verzog das Gesicht bei jedem Schritt. »Keinesfalls! Ich sehe aus, als hätte ich es allein mit dem fränkischen Heer aufgenommen. Bringt mich zum Heiler Einar. Erst mit seinem Segen, seinen Kräuterpasten und einem neuen Wams werde ich meinem Vater unter die Augen treten.«
Der Thronfolger hatte Mühe, auch nur einen einzigen Teil seines Körpers zu nennen, der nicht schmerzte, und es war nicht die Sorte Schmerz, die sich mit ausreichend Wein vertreiben ließ. Das war umso ärgerlicher, da er sich auf Brynja freute und auf ihre gemeinsamen Ausflüge durch das Reich. Er mochte nicht an die Qualen denken, die es ihm bereiten würde, auch nur auf einem Pferd zu sitzen, geschweige denn, es zu reiten.
Einar richtete die Schulter eines Bauern, als die Männer vom Hof den Prinzen hereinbrachten. Sogleich schickte er den Patienten davon, um sich seinem Herrn zu widmen. Der Heiler war ein alter Mann ohne Jahreszahl, dessen immer noch erstaunlich kräftige Finger schon Sigfinns Großvater ein ums andere Mal gebogen, gebrochen, geschient und genäht hatten. Sigfinn bedeutete seinen Dienern, ihn mit dem Heiler allein zu lassen. Er setzte sich auf eine erhöhte Pritsche und versuchte mühsam, die Überreste seiner edlen Kleidung vom Oberkörper zu streifen. Einar ging ihm eilig zur Hand. »Mein Prinz, habt Ihr es mit einer Herde Dryks aufgenommen? Oder seid Ihr ihnen nur unter die Hufe gekommen?« Sigfinn versuchte zu lachen, hustete aber stattdessen etwas Blut. »Fischen waren wir, nichts weiter.« Mit fast schon kindlicher Neugier drückte Einar auf die blau herausstechenden Rippen des Prinzen, woraufhin dieser sich vor Schmerzen krümmte. »Welcher Fisch verdrischt Euch, als hättet Ihr ihn in der Taverne um sein Geld betrogen?«
»Das soll deine Sorge nicht sein, guter Einar. Meine Zukunft ist deine Aufgabe, nicht meine Vergangenheit. Was geschehen ist, ist geschehen.«
»Die Zeit«, murmelte Einar und öffnete einen steinernen Tiegel mit einer grünen, entsetzlich stinkenden Paste. »Nach hinten wie Eisen so unzerbrechlich, nach vorne wie Nebel so unbegreiflich, und im Moment wie der Blitz, hell und gleich vorbei.«
Sigfinn wollte nicht darüber sprechen, wollte sich vom Schmerz ablenken, der ihn nun erwartete, aber er konnte nicht anders, als sich an die Worte des Fisches zu erinnern. Sie schienen auf verdächtige Weise den Worten des Heilers zu spotten. Wie konnte etwas, das war, nicht sein?
Mit den Augen und Ohren überall, hatten die Nibelungen gesehen, was Sigfinn widerfahren war. Da sie derzeit keine Macht außerhalb des eigenen Waldes hatten, konnten sie nur kreischen und fluchen, als das Netz den Sohn Islands wieder freigab und sein Blut nicht üppig floss, um ihre Gier zu befriedigen. In den Wellen hatten sie ihn umtanzt, unsichtbar, ohne Stimme in sein Ohr geflüstert. Giiib dich hiiinnn … bleib im Meeeer … Die wütende See war ihr Verbündeter gewesen, die Hoffnung auf ein Opfer ihr Antrieb.
Und dann hatte dieser Fisch gesprochen.
Dieser … Fisch.
Welcher Fisch konnte sprechen? Nicht im Rhein hatten sie das erlebt, nicht in der Donau. Nicht im Meer, und nicht im See. Es war Trickserei, fauler Zauber, gedacht dazu, den Nibelungen ins Handwerk zu pfuschen. Doch wer? Wer konnte wissen, was sie, in Jahren vorbereitet, bald zum Abschluss bringen wollten?
Wie ein fein gewebtes Tuch hatten sie die Intrige gesponnen, über Generationen hinweg, mit wechselnden Allianzen, geheimen Absprachen, ermüdender Diplomatie. Der Durst nach Rache war so groß wie einst, vielleicht größer noch. Die Nibelungen konnten nicht vergessen, wollten nicht vergeben. Die Schmach durch Siegfried, die Schmach durch seinen Sohn, die schwindende Macht in blühenden Ländern.
Von Utgard bis nach Asgard riefen sie, forderten Rechenschaft und die Demaskierung des Verräters. Doch ihre Stimmen hallten durch das leere Walhalla, wurden nicht von Göttern oder Walküren gehört. Die Festung am Ende der Regenbogenbrücke war leer und blieb ihnen verschlossen.