Das Erbe des Professors Pirello - Arno Alexander - E-Book

Das Erbe des Professors Pirello E-Book

Arno Alexander

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Professor Jacques Rivet und Dr. Jules Fauve sind die Assistenten des berühmten Pariser Krebsarztes Professor Pirelli gewesen. Professor Pirelli hat einst eine außerordentliche Entdeckung gemacht: Er fand einen Stoff, der mit tödlicher Sicherheit einen besonders aggressiven Magenkrebs auslöst. Bei seinen Untersuchungen kam er selbst mit dem Stoff in Kontakt und starb binnen weniger Wochen an Krebs. Auf seine Anweisung hin haben seine beiden Schüler alle Untersuchungsergebnisse und Informationen zu der krebsauslösenden Substanz vernichtet. Nun behandelt Rivet den Ministerialrat de Saint-Roch, den Vater seiner Verlobten Nicole, der an Magenkrebs erkrankt ist. Nach de Saint-Rochs Tod stellt Rivet fest, dass auch der Ministerialrat den tödlichen Stoff im Leib hat. Chefinspektor Daubree und der exzentrische Kommissar Siloque mit seinen ungewöhnlichen Methoden werden hinzugezogen. Es besteht kein Zweifel: Der Ministerialrat ist auf heimtückische Weise ermordet worden. Aber wie kann jemand außer Rivet und Fauve Kenntnis von der tödlichen Krebssubstanz haben? Oder steckt gar einer der beiden dahinter? Ein spannender, ungewöhnlicher Kriminalroman entfaltet seine atemberaubende Handlung, die den Leser bis zur letzten Seite nicht mehr loslässt.Arno Alexander ist das Pseudonym des deutschen Schriftstellers Arnold Alexander Benjamin (1902–1937). Der in Moskau geborene Autor veröffentlichte von 1929 bis zu seinem Tod rund zwanzig Romane, die unter anderem bei Goldmann in Leipzig und Münchmeyer in Dresden erschienen sind. Alexander schrieb vorwiegend Kriminalromane, aber auch utopisch-fantastische Romane ("Doktor X", 1929) und Frauenromane wie "Fremder Mann an der richtigen Tür" (1936). Viele seiner Werke wurden nach dem Zweiten Weltkrieg neu aufgelegt.-

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Seitenzahl: 213

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Arno Alexander

Das Erbe des Professors Pirello

Kriminalroman

Saga

Das Erbe des Professors Pirello

© 1957 Arno Alexander

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711626085

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1. Kapitel

Vielleicht war es nicht ganz in Ordnung, daß die Tochter des Ministerialrats de Saint-Roch durch Paris fuhr wie der Minister selbst. Zwei Polizisten in weißen Helmen und weißen Stulpenhandschuhen stürzten sich auf donnernden Motorrädern ihrer schwarzen Limousine voraus in das Gewühl auf der Place St. Michel. Der „Flic“ auf der Kreuzung hob seinen weißen Zauberstab steil in die Luft und streckte den Arm beschwörend gegen den Quai hin aus. Wie von einer unsichtbaren Luftmauer aufgefangen blieben alle Fahrzeuge in der Einmündung des Quais plötzlich stehen, und viele machten beim scharfen Bremsen eine kleine Verbeugung. Zwischen den Lippen des Verkehrspolizisten schrillte die Trillerpfeife. Der schwere Citroën mit dem Stander der Republik schoß über die Seinebrücke, quer über den Platz, der in Sekunden für ihn reingefegt war, und verschwand im Boulevard Saint Michel.

Viele Köpfe drehten sich. Die meisten sahen nichts. Der Trillerpfeifenton hörte auf, der Verkehr flutete auf den Platz zurück. Schwach vernahm man Hupen und Trillern weiter oben von der Kreuzung zum Boulevard Saint Germain. Die Kavalkade schien nach links abzubiegen. Einige hatten doch etwas gesehen.

„Eine junge Frau?“

„Jetzt schicken sie schon ihre Freundinnen unter Polizeibedeckung durch die Stadt.“

„Besser als wenn man sie so ans Steuer ließe —“

Frühlingssonne verklärte das in den letzten Wochen verregnete Paris. Ladenmädchen kurbelten mit Begeisterung die Markisen herunter, als glühe schon Sommersonne. Die jungen Männer gingen ohne Mantel, aber mit dicken, bunten Wollschals. Hier und da leuchteten zitronengelbe Damenhüte in Topfform, der Schlager des kommenden Sommers.

Als die beiden weißbehelmten Motorradfahrer ihre schweren Maschinen zum Halten brachten, wie man durchgehende Pferde zügelt, lief sofort eine kleine Traube Neugieriger zusammen. Die schwarze Limousine hielt vor dem Portal der Privatklinik des Professors Riquet. Die Hälse reckten sich. Stieg ein Minister aus? Wollte er sich röntgen lassen? Etwa auf eine Infektion der politischen Richtung? Die Pariser sind seit tausend Jahren Spottvögel von unverminderter Qualität.

Eine junge Frau stieg aus, eher ein Mädchen, und ging mit raschen kleinen Schritten die sechs Stufen hinauf. Man sah nichts als ein schlichtes blaues Kostüm, ein Hütchen mit Schleier, schlanke Fesseln.

„Seht mal an! Der Minister!“

Aber sie verziehen es der Mademoiselle nicht ganz, daß sie ihr Gesicht verbarg. „Vielleicht hat sie eine krumme Nase.“

Nicole de Saint-Roch schlug auch in der kühlen, stillen Vorhalle des Krankenhauses den Schleier nicht gleich zurück. Sie hatte keine krumme Nase, wie die Spottvögel vermuteten, aber sie war totenblaß. Sie trat rasch auf die breite Gestalt zu, die lautlos im Hintergrund der Halle auftauchte. Die großen weißen Flügel an der Haube der Nonnenschwester schwammen durch das halbe Licht wie die Segel eines Schiffes. Nicoles Lippen formten eine schnelle Frage, aber sie sprach sie nicht aus. Die Schwester senkte das Haupt.

„Der Herr Professor erwartet Sie, Mademoiselle.“

Nicole lief die breite Treppe hinauf. Es war nicht angemessen, in diesem Haus zu laufen. Aber sie hielt es nicht mehr aus. Das Warten. Das Nichtwissen. Die stumme, kühle Feierlichkeit der Empfangshalle — wie in einem Krematorium.

Professor Riquet schien sie gehört zu haben. Er trat in die Tür seines Zimmers und sah ihr entgegen, als sie den Flur betrat.

Die Klinik von Professor Riquet an der Rue Claude Bernard gehörte nicht zu den großen und dennoch zu den berühmtesten Krankenhäusern von Paris. Seit der Krebsforscher Pirello selbst ein Opfer der Krankheit geworden war, die er sein Leben lang bekämpfte, gab es in Frankreich keine besseren Kenner des Krebses als Professor Riquet und Dr. Fauve, die beide seinerzeit Pirellos Assistenten gewesen waren. Beide lehrten heute an den Universitätskliniken. Daneben unterhielt Riquet seine Klinik und Fauve eine Privatpraxis.

„Nicole, da bist du!“

Der Professor streckte dem Mädchen beide Hände entgegen und zog sie in sein Zimmer. Er sah abgespannt aus. Hinter den Brillengläsern kniff er die klugen Augen ein wenig zusammen. Die breite, stattliche, etwas beleibte Gestalt hielt sich gebeugt. Heute sah man ihm nicht an, daß er ein ungewöhnlich junger Träger des Professorentitels war. Er neigte sich vor und küßte das Mädchen vorsichtig auf die Wange, trotz des Schleiers. Sie wandte das Gesicht zur Seite, als nehme sie den Kuß nur widerstrebend an. Sie entzog ihm ihre Hände.

„Sagen Sie schnell, Professor: er — lebt?“

Ein wenig schmerzte es ihn doch, daß sie ihn mit Sie ansprach. Es bedeutete nichts. Unter den Gebildeten Frankreichs sagen auch Eheleute in manchen Situationen Sie zueinander, ohne daß das einen Mangel an Sympathie oder an Liebe zu bedeuten braucht. Und Riquet und Nicole waren noch nicht Eheleute.

Riquet lächelte. „Natürlich. Ihr Herr Vater hat die Operation soweit glänzend überstanden —“

„Was heißt: soweit?“ fragte sie heftig.

„Es bedeutet nichts Besonderes. Es bedeutet nur, daß er noch schläft. Ich habe ihn noch nicht sprechen können —“

„Kann ich ihn sehen?“ Sie ließ ihn keinen Satz ganz zu Ende sprechen. Seine weithin bekannte Gelassenheit litt nicht darunter.

„Ich bitte um Geduld. Sie dürfen keine Angst haben, Nicole. Es ist trotzdem lieb von Ihnen, daß Sie so früh kamen —“

„Der Minister gab mir seinen Wagen.“ Sie zog unruhig die Handschuhe ab, warf sie auf den Tisch und nahm den Schleier vom Gesicht. Der stark geschminkte kleine Mund glühte unnatürlich in dem blassen, feinen Gesicht. Sie erschrak. Lautlos war eine Schwester eingetreten. Sie flüsterte dem Professor etwas ins Ohr. Nicole verschlang sie mit Blicken.

„Wartest du bitte ein paar Minuten, Nicole? Ich werde gerufen —“ „Zu ihm?“

Riquet lächelte. „Zu ihm. Dein Vater ist aus der Narkose erwacht.“

*

Professor Jaques Riquet ging langsam und nachdenklich über den Korridor und schloß die Knöpfe seines weißen Mantels. Erst als er die Hand auf eine Türklinke legte, gab er sich einen kleinen Schwung, als komme er freudig und eilig herein, und brachte ein beinahe pfiffiges Lächeln auf seinem Gesicht zustande.

Aber als er die Schwelle überschritt, kostete es ihn doch eine Sekunde höchster Selbstbeherrschung, um sich ein neuerliches Erschrecken nicht anmerken zu lassen.

Auch der Kopf des Ministerialrats de Saint-Roch lächelte aus den weißen Kissen. Aber dieser verfallene Greisenkopf trug allzudeutlich die Zeichen, die ein erfahrener Arzt nicht mißversteht. Innerlich stellte sich für den Professor eine bestürzende Parallele zu diesem intelligenten, feurigen, jetzt so veränderten Gesicht mit der stark vorspringenden Nase her: Clemenceaus Totenmaske.

Aber der Arzt beherrschte sich gut. Fast gutgelaunt zog er einen Stuhl neben das Krankenbett. „Nun, mein lieber Patient, wie haben wir es überstanden?“

Er hatte selbst von diesem müden Mann eine schnelle Antwort erwartet, denn Saint Roch sprach sein Leben lang schnell und temperamentvoll. Aber jetzt stellten sich um die Augen des Kranken ganz allmählich die Fältchen eines fast belustigten Lächelns ein, und dann kamen leise, einzeln, tropfenhaft, sehr klare Worte: „Das — frage — ich — Sie!“

Riquet nahm sich zusammen. Beinahe etwas laut gab er Antwort: „Glänzend. Ich muß Ihnen ein Kompliment machen. Ich hätte es kaum für möglich gehalten, daß ein Mann Ihres Alters durch einen schweren Eingriff so wenig beeinträchtigt wird.“

Der Ministerialrat antwortete nicht und schloß die Augen. Es war hier etwas, das auch den Arzt schweigen hieß. Obwohl Riquet hier der Gesunde, Kräftige — und obwohl der alte Mann im Bett der Schwache, Todkranke war, hatte Saint-Roch ganz unbestreitbar die Herrschaft in den Minuten dieses Gesprächs. Der Arzt gehorchte. Er wartete. Dann sagte Saint-Roch, ohne die Augen zu öffnen:

„Ich habe Ihnen eine Frage zu stellen. Riquet, ich muß von Ihnen dreifach eine genaue Antwort darauf verlangen: als Mensch, als Vater und als Beamter. Im übrigen bin ich keine Memme. Die Frage lautet —“

Er machte eine kleine Pause und schlug die Augen auf: „Darf ich rauchen?“

Riquet verstand sofort. Die innere Eleganz dieses alten Ritters frappierte ihn aufs neue. Noch nie war einem Arzt die Frage aller Fragen auf eine so rücksichtsvolle Art gestellt worden. Es war unsinnig, einem Halbtoten, dessen Leben nur noch nach Stunden zählte, eine Zigarette zu verbieten. Und es war weder recht noch gut, einem Mann wie Saint-Roch die Wahrheit zu verbergen. Er wußte sie schon.

Riquet senkte den Kopf. „Ja, bitte!“ sagte er rauh.

Das Lächeln verschwand nicht aus dem Gesicht des Kranken. Er brauchte die Sekunden der Stille wohl nur, um neue Kraft zum Sprechen zu finden.

„Bitte schicken Sie mir in einer Stunde meinen Notar. Danach kommen Sie mit meiner Tochter zu mir. Gegen Abend schicken Sie den Geistlichen. Ich danke Ihnen, Professor!“

Der Ministerialrat schloß die Augen. Riquet spürte, daß der Kranke die Anwesenheit des Arztes nicht mehr empfand. Er hatte auch für die letzten Stunden seine Anweisungen mit der gewohnten Sicherheit und Klarheit gegeben und wünschte keine weiteren Kommentare. Riquet erhob sich langsam und ging hinaus.

*

Das tausendjährige Paris hat mehr Gräber als Wohnungen, aber es ist zu lebensvoll, um sich mit dem Tode lange aufzuhalten. Wer durch seinen Tod für eine Stunde zum Gespräch der Stadt werden soll, muß schon ein Filmstar oder ein Nationalheld sein. Den temperamentvollen Ministerialrat de Saint-Roch hatten nicht viele gekannt. Aber als er gestorben war, entdeckten die Pariser plötzlich, daß er ein Held war, und betrauerten ihn. Der Reichtum dieses Mannes, der jetzt erst bekannt wurde, beeindruckte die Pariser nicht einmal so sehr; die Gesellschaften, deren Aufsichtsräten er angehört hatte, widmeten ihm Anzeigen, die allein ein kleines Vermögen kosteten. Aber es erschienen Artikel darüber, daß hier der Letzte eines alten Geschlechts dahingegangen war. Sein Name stand schon in den Annalen der Kreuzzüge, und das begeisterte Paris. Er wurde beigesetzt in der Familiengruft auf dem Montmartre-Friedhof, wo Alexander Dumas und mancher andere Liebling Frankreichs liegt und wo man ohne Erbbegräbnis längst schon keinen Platz mehr haben kann. Er hinterließ eine junge und schöne Tochter. Und es war noch eine besonders ergreifende Geschichte für sich, daß der alte Ritter ausgerechnet unter dem Skalpell seines zukünftigen Schwiegersohns, des Professors Jaques Riquet, das Todesurteil des Geschicks hatte hinnehmen müssen. Das alles zusammen machte Louis de Saint-Roch noch nach dem Tode für einen Tag zum Helden aller Pariser, was bei diesem unsentimentalen Volk mancher noch so berühmte Mann nicht zu Lebzeiten erreicht.

Für Nicole de Saint-Roch aber war diese unvermutete Anteilnahme der Öffentlichkeit eine fast unerträgliche Belastung. Die Neugier des unübersehbaren Trauergefolges, die Zudringlichkeit der Pressefotografen, ihre trotz aller Ablehnung wiederholten Bitten um ein Interview brachten das Mädchen zur Verzweiflung. Sie erschien auf dem Friedhof am Arm des Professors, stumm und starr wie eine Marionette, tief verschleiert und tränenlos. Es war ihr nicht möglich, ihren Schmerz vor diesen Menschen zu zeigen.

Dann bat sie Riquet, sie nach Hause zu fahren. Dort sah er erstaunt, daß sie ihre Koffer hatte packen lassen. Sie sagte:

„Jaques, die leere Wohnung und das alles — ich kann nicht mehr. Ich überlasse alles der Wirtschafterin. Wenigstens für eine Woche —“

„Wohin, Nicole?“

„Vaters Häuschen in Cannes.“

Er nickte. Im Grunde war er erleichtert, denn auch er hätte nicht gewußt, wie er sie in Paris über die bittersten ersten Tage hinwegbringen sollte. Er wußte daß ihr Vater ein hübsches Haus in Cannes, an der Mittelmeerküste, besessen hatte. Er wußte auch, daß sie dort durch das Gärtnerehepaar vorzüglich betreut sein würde.

„Du bist sehr klug, Nicole“, sagte er und brachte sie an die Bahn.

*

Zwei Tage nach der Beisetzung des Ministerialrates starrte ein junger Assistenzarzt in Riquets Klinik kopfschüttelnd in ein zylinderförmiges Standgefäß. In dem Glas schwamm in einer Flüssigkeit, aufgehängt an einem Goldfaden, ein Stückchen Gewebe.

Der Arzt nahm eine starke Lupe zu Hilfe und betrachtete den kleinen grauen Körper eingehend. Dann stand er rasch auf, nahm das Glas mit und lief hinüber in den Vorraum zu Riquets Privatraum.

„Ist der Chef da?“

Überrascht sah die Sekretärin von ihren Krankenberichten auf.

„Was haben Sie denn da entdeckt?“ fragte das Mädchen neugierig.

„Ein Barthaar des Staatspräsidenten“, sagte der Arzt herzlos, „es gedeiht ausgezeichnet.“ Dann stürmte er in das Zimmer seines Professors.

Riquet sah ihn fragend, aber nicht ungnädig entgegen. „Na?“ fragte er.

Anstelle einer mündlichen Antwort setzte der junge Mann das Standglas dem Professor vor die Nase, mitten auf das Aktenstück, das auf dem Schreibtisch lag. In seinen Augen stand so etwas wie ein Triumphblitz.

Professor Jaques Riquet schob die Brille auf die Stirn und beugte sich dem Glas zu. Zuerst entzifferte er die Zeilen auf dem angeklebten Etikett. „Saint-Roch?“ sagte er verwundert und runzelte die Stirn. Dann betrachtete er den Inhalt des Glases.

Eine halbe Minute war es totenstill.

Dann fuhr der Professor mitsamt seinem Stuhl heftig zurück. „Wie sind Sie auf die Idee gekommen, das Gewebestück noch hierzubehalten?“ Seine Stimme klang streng. Aber der Arzt fühlte sich jetzt kühn. Er überlegte nur, ob er jetzt „Der Herr Ministerialrat“ sagen sollte oder „Ihr Herr Schwiegervater“.

„Monsieur de Saint-Roch hätte sich bei seiner Form des Krebses schon mindestens drei Monate früher über starke Schmerzen beschweren müssen“, erklärte der Assistenzarzt. „Das fiel mir auf.“

„Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie die Sache untersuchen wollten?“

„Sie hätten mich ausgelacht, Professor, denn zweifellos haben Sie schon dasselbe erwogen und verworfen.“ Der junge Mann wurde plötzlich rot.

Riquet lächelte. „Das stimmt“, sagte er. „Mir fiel zwar auch auf, daß sich die Geschwulst hier ganz ungewöhnlich schnell entwickelt haben mußte. Aber dann sagte ich mir, daß mein — daß Monsieur de Saint-Roch ein Mann von Eisen war, ein Mann von einer ganz ungewöhnlichen Selbstbeherrschung, der wahrscheinlich nur viel später zu uns gekommen ist, als jeder andere es getan hätte.“

Er schob abermals die Brille auf die Stirn und betrachtete das Gewebestück. Dann murmelte er: „Aber das hier —“

Der junge Arzt schwieg. Riquet erhob sich nach einer schweigsamen Minute und begann, im Zimmer hin und her zu wandern. Einmal blieb er stehen und zählte an den Fingern einer Hand. Der Assistenzarzt folgte aufmerksam und begriff, daß Riquet noch einmal genau die Zahl der Tage nachrechnete, die seit der Operation verstrichen waren. Es war noch nie geschehen, daß eine Krebsgeschwulst in so unheimlicher Geschwindigkeit wuchs, wie an dem Gewebestück in diesem Standglas.

Riquet blieb stehen. Seine Stimme klang verändert. „Zuweilen hat unser Beruf etwas Unheimliches“, sagte er. „Der Patient wurde vor zwei Tagen begraben. Aber hier lebt ein Stück von ihm weiter.“

„Es lebt nicht nur, es erzählt sogar“, sagte der Assistent.

Riquet drehte sich um. „Was erzählt es? Haben Sie eine Vorstellung? Verstehen Sie?“

Der junge Mann zuckte ablehnend mit den Schultern.

„Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?“ fragte der Professor und zeigte auf das Glas.

„Nein, Chef.“

Langsam ging Riquet ans Fenster und sah in den Garten des Krankenhauses hinaus. Dann sagte er leise und rätselhaft: „Aber ich.“

Der junge Mann hinter ihm zog die Augenbrauen hoch. „So? Ist denn ein derartiger Fall schon einmal in der Literatur beschrieben worden?“

Riquet gab keine Antwort. Erst nach einer Weile sagte er: „Bitte machen Sie Aufnahmen und reichen Sie mir Kopien herein. Und beobachten Sie weiter.“ Er wandte sich nicht um, als der Arzt mit dem Standglas davonging.

*

Professor Riquet und Dr. Jules Fauve waren fast gleichaltrig, beide knapp über die Vierzig hinaus. Beide waren Assistenten des Krebsforschers Pirello gewesen und zählten seither zu den ersten Kennern dieser Krankheit, und beide waren in relativ jungen Jahren zu großem medizinischen Ruf gelangt. Das aber war alles, was sie verband. Aus der früheren Zusammenarbeit war nie eine rechte Freundschaft geworden, wahrscheinlich waren ihre Temperamente zu verschieden dazu. Auch Fauve dozierte zwar, aber im Grunde lag ihm die akademische Laufbahn mit ihrer Regelmäßigkeit und ihrem beamtenhaften Zwang nicht. Deshalb war der Professorentitel bisher auch nur seinem stetigeren Kollegen zuteil geworden.

Als Assistenten bei Pirello hatten sie sich geduzt, jetzt aber, wenn sie sich trafen, verwendeten sie ein höfliches und herzliches Sie. Sie hatten nichts gegeneinander und waren beide klug genug, um eine zuvorkommende Bekanntschaft für nützlicher zu halten, als eine Freundschaft, die wahrscheinlich doch zu Unstimmigkeiten geführt hätte.

Jules Fauve hielt in seiner vornehmen Praxis am Quai Voltaire nur an zwei Tagen der Woche je zwei Stunden allgemeine Sprechstunde ab. Zu ihm wagten sich gewöhnlich nur Patienten, die ein außergewöhnliches Honorar auf den Tisch legen konnten, obwohl es bekannt war, daß Fauve auch schon an armen Schluckern die schwierigsten Operationen ausgeführt hatte, ohne einen Sou zu nehmen.

Am späten Vormittag eines dieser Maitage fuhr sein Finger noch einmal prüfend über eine junge, sehr appetitliche Schulter. „Also“, sagte seine stets ein wenig heisere Stimme, „es wäre wirklich beängstigend —“

Zwei kreisrunde blaue Augen starrten ihn entsetzt an und füllten sich mit Tränen. „Mon Dieu, Docteur, es ist doch nicht etwa ...“

„... wenn Sie sich erkälten würden, gnädige Frau“, vollendete Fauve, und die tiefen Falten auf seiner gebräunten Stirn vollführten einen vergnügten Tanz. „Deshalb ziehen Sie sich bitte wieder an.“

Wie ein geängstigtes Hühnchen flatterte die Patientin hinter einen Wandschirm. Von dort kam ihre verschüchterte Stimme: „Und Sie meinen wirklich, es ist eine harmlose Sache, Doktor?“

Fauve hatte sich an den Schreibtisch gesetzt und kritzelte auf seinem Rezeptblock. „Ich glaube kaum, Verehrteste, daß alles an Ihnen so harmlos ist, wie diese kleine Geschwulst“, sagte er. Fauve wußte genau, was er sich als Arzt der Pariser Gesellschaft leisten durfte, ja was er sich an kleinen Frechheiten zuweilen sogar leisten mußte, wenn er in Mode bleiben wollte. Er hatte recht — nicht ein Protest, sondern ein Kichern war hinter dem Wandschirm zu hören.

„Wir nehmen ganz einfach einen Tee“, dozierte er. „Reinigt das Blut, ohne es abzukühlen. Und in vierzehn Tagen —“

Er brach ab. Seine Assistentin war auf lautlosen Kreppsohlen eingetreten und hatte eine Visitenkarte vor ihm niedergelegt. Dr. Fauve zog seine ungemein bewegliche Stirnhaut bis in das tief ansetzende dichte schwarze Haar hinauf. Seine Augen sahen dabei aus wie die gemalten Augen eines Clowns. Es waren übrigens seltsam helle, graue Augen. Man hätte bei dem zierlichen, drahtigen, schwarzhaarigen und braunhäutigen Mann eher dunkelbraune Augen erwartet.

„Riquet? Na sowas!“ sagte Fauve respektlos.

„Und in vierzehn Tagen?“ flötete eine Stimme, und ein apartes Persönchen schwebte hinter dem Wandschirm hervor.

„Da sehen wir noch einmal nach. Bonjour, Madam!“ Fauve sprach zerstreut, ohne den Blick von dem Kärtchen zu heben, und so sah er auch nicht die schmollende Oberlippe seiner Patientin, die mit einem giftigen Seitenblick auf die Assistentin davonschwebte.

Fauve ließ sogleich Riquet bitten; die junge Dame war die letzte Patientin des Tages gewesen.

Riquets Eintritt verdeutlichte ohne ein Wort die große Verschiedenheit der einstigen Kameraden. Der junge Professor trug einen sehr dezenten dunkelgrauen Anzug. Er behielt einen schweren Spazierstock vorläufig am Arm und legte seinen steifen grauen Hut vorsichtig auf Fauves Schreibtisch. Dieser seriöse Aufzug ließ ihn wie fünfzig erscheinen. Jules Fauve dagegen, der stets in modischen Anzügen und wenn möglich mit einem Strohhut herumlief — oder besser gesagt in einem offenen gelben Jaguar herumfuhr — wurde zuweilen trotz seiner Stirnfalten für fünfunddreißig angesprochen.

Temperamentvoll sprang der Hausherr auf, um seinen Gast zu begrüßen. „Nun, das ist einmal etwas, Sie hier zu sehen! Sie haben doch das bessere Teil erwählt. Sie haben soviel Zeit, daß Sie sogar alte Knaben wie mich besuchen. Ich dagegen muß versuchen, hysterische junge Damen möglichst lange in ihrer Hysterie zu erhalten. — Louise!“ Er rief übertrieben laut ins Nebenzimmer hinüber. „Gehen Sie nach Hause, die Sonne scheint. Vorher bringen Sie uns einen Whisky. Oder lieber Cognac, Professor? Sie sind so angenehm konservativ.“

Riquet lächelte über den herzlichen Redeschwall des Kollegen. „In England ist gerade der Whisky konservativ.“

„So ist es immer. Was in einem Lande gerade letzte Mode ist, war im andern vor fünfhundert Jahren alte Sache. Zur Zeit haben alle jungen Frauen von Paris Schmerzen an der Seele. Neurosen. Wenn sie wüßten, daß etwas ganz Ähnliches schon zu Paracelsus’ Zeiten der letzte Schrei war, würden sie es sofort bleiben lassen. Aber ich werde es ihnen nicht verraten. Also doch Whisky?“

Man mußte es Fauve lassen, daß er einen guten Whisky besaß, und das war in Paris eine Sensation. „Und nun, Professor?“ fragte er. „Soll ich Sie untersuchen? Es würde mir ein Vergnügen sein, Sie in Stücke zu schneiden und so wieder zusammen zu nähen, daß nicht einmal Ihre Frau — Pardon!“ Eine große Verlegenheit breitete sich plötzlich auf seinem Gesicht aus. „Ich bin ein Tölpel. Ich wollte Sie nicht kränken. Im Gegenteil. Ich wollte gerade nicht davon sprechen —“

„Schon gut“, sagte Riquet gerührt. Er verstand dankbar, daß Fauve ihm Beileidsbekundungen hatte ersparen wollen und daß ihm das Verhältnis des Professors zu Nicole de Saint-Roch zu spät eingefallen war. „Machen Sie sich nichts daraus, Fauve. Ich wollte Ihnen etwas zeigen.“

Professor Riquet brachte aus seiner Brieftasche drei medizinische Fotografien zum Vorschein, die er bedächtig und nacheinander seinem Gastgeber hinüberreichte. Jules Fauve zog ein Monokel aus der Westentasche und klemmte es ins rechte Auge.

„Sie tragen ein Einglas?“ wunderte sich der Professor.

„Seit Jahren.“

Er wandte seine Aufmerksamkeit den drei Bildern zu und betrachtete sie flüchtig. Dann sah er fragend auf:

„Offen gestanden, auf den ersten Blick finde ich da nichts.“

„Das ist klar“, sagte Riquet ruhig. „Dazu müssen Sie erst wissen, daß diese Aufnahmen vom gleichen Gewebestück in Abständen von zwei Tagen aufgenommen sind, alle drei also in vier Tagen —“

„Was?“ rief Fauve. „Riquet! Sind Sie sicher? Pardon! Natürlich sind Sie sicher. Aber das ist ja —“

Seine Stimme wurde leiser und heiserer. Er brach ab und legte die Fotos langsam auf den Tisch. Das Gebirge seiner Stirnfalten wanderte zu den schwarzen Haaren hinauf. Dabei fiel das Monokel heraus. Aber das war ein berechneter Effekt, Fauve fing es mit der Hand auf und ließ es verschwinden. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er den Professor an.

Riquet erwiderte den Blick ebenso starr. Sein Mund hatte sich zu einem Strich zusammengepreßt. Es war eine Verständigung zwischen ihnen vorgegangen, über die sie kein Wort zu verlieren brauchten.

Plötzlich sprang Fauve auf und lief im Zimmer hin und her. Und wie um die Wiederholung der Ereignisse zu vervollständigen, wiederholte Riquet die Frage, die er seinem Assistenten gestellt hatte: „Haben Sie das schon einmal gesehen?“

Fauve blieb stehen. „Warum fragen Sie?“ sagte er. „Wollen Sie mich fragen, ob ich den Test auf Pirellos Injektion noch beherrsche?“

Riquet schwieg. Er saß steif, als hätte er ein Rückgrat van Gußeisen. Fauve lief quer durch das Zimmer und blieb vor ihm stehen. „Von wem ist das Gewebestück?“

„Von Monsieur de Saint-Roch“, sagte Riquet kalt.

„Mann! Wissen Sie, was das bedeutet?“ Abermals schoß Jules Fauve davon.

Riquets Lippen öffneten sich nur um einen Spalt. Dann sagte er: „Warum fragen Sie?“

„Sie meinen“, sprach Fauve mühsam beherrscht von der Tür her, „wir sollten die Exhumierung des Ministerialrates beantragen. Denn anders ist der Test nicht durchzuführen.“

Riquet zog stumm die Schultern hoch.

Allmählich schien Fauve seine Erregung zu meistern. Er setzte sich wieder, trank seinen Whisky aus, schenkte sich ein neues Glas ein und stürzte es hinterdrein. „Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen?“

„Der Patient kam viel zu spät zu uns. Eigentlich hätte er drei Monate früher Schmerzen haben müssen. Mir fiel das zwar auf, aber schließlich stirbt heute jeder sechste Franzose an Krebs, und was wir darüber wissen, ist herzlich wenig. Einer meiner Assistenten hat sich dafür interessiert und den Fall beobachtet. Kurz und gut: ich habe Tausende von Fällen gesehen. Aber eine so sprunghafte Entwicklung der Geschwulst kenne ich nur durch — Pirello. Haben Sie Ihre Aufzeichnungen von damals noch?“

Fauve fuhr handbreit auf seinem Stuhl in die Höhe. „Natürlich nicht: Ich habe sie genauso vernichtet wie Sie! Das wissen Sie! Und niemand außer Ihnen und mir —“

„Niemand? Wirklich?“ fragte Riquet.

Ein Schweigen trat ein, das wohl eine Minute dauerte. In dieser Minute ging eine sonderbare Veränderung mit Fauve vor. Sein Gesicht wurde hart, starr. Man hätte sagen können, daß er plötzlich Riquet ähnlicher wurde. Nach einer Minute sagte er: „Könnten Sie sich morgen nachmittag eine Stunde Zeit nehmen?“

Jetzt war es der Professor, der verwundert den Kopf hob. „Ja — und?“

„Es ist da eine sehr merkwürdige Geschichte. Eine überaus merkwürdige Geschichte“, sagte Fauve dunkel. „Sie liegt ein Vierteljahr zurück. Ob sie mit diesem Fall etwas zu tun hat, weiß ich nicht. Aber auf jeden Fall hat sie etwas mit Professor Pirello zu tun. Die Sache ist so ernst, daß ich sie Ihnen jetzt und hier nicht schildern kann. Ich möchte das morgen tun. Aber im Beisein eines Rechtsanwaltes. Oder noch besser eines Kriminalbeamten. Oder am allerbesten gleich beider.“

„Was sagen Sie da?“ Professor Riquet beugte sich in maßlosem Erstaunen etwas vor und starrte seinem Gegenüber ins Gesicht.

Aber Dr. Fauve schien sein volles Gleichgewicht wiedergefunden zu haben. Nur wirkte er jetzt bedeutend sachlicher und betonter als sonst. Er zündete sich eine Zigarette an. Dann nickte er.

„Ja. Wenn Sie diese sonderbare Geschichte morgen hören, werden Sie mich verstehen. Es muß nicht zu meinem Schutz so sein, sondern vielleicht ebenso zu Ihrem Schutz. Vielleicht sogar mindestens ebenso zu Ihrem Schutz. Das hat nicht das Geringste mit einem mangelnden Vertrauen Ihnen gegenüber zu tun. Sie werden das morgen sofort sehen. Ich kann Sie bis dahin nur bitten, mir zu glauben.“

„Ich habe nicht den geringsten Anlaß, Ihnen nicht zu glauben“, sagte Riquet, und es klang, wahrscheinlich unbewußt, etwas frostig. Er stand auf. „Wollen Sie mich bitte Zeit und Ort wissen lassen?“

2. Kapitel