Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Paul Hartungs Leben ist völlig aus den Fugen geraten, seit seine Frau Anna ihn nach fünfundzwanzig Ehejahren wegen seiner Affären verlassen hat. In dem verzweifelten Bemühen, Annas Vertrauen zurückzugewinnen, setzt er sich nicht nur mit seiner eigenen Vergangenheit auseinander. In dieser Lebenskrise ist es Paul selbst ein Rätsel, warum ihm die Worte seiner Mutter nicht mehr aus dem Sinn gehen: »Dein Großvater war Lehrer in Tsingtau.« Schließlich begibt er sich auf die Suche nach den Spuren seines Großvaters Ernst Hartung, den es drei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach China verschlagen hatte und dessen Schicksal im Dunkeln liegt. Doch Pauls Recherchen erweisen sich als schwierig, zu verwirrend sind die Spuren, die 1947 im Internierungslager Sachsenhausen zu enden scheinen. Am Ende fliegt Paul nach Shanghai und Qingdao, dem einstigen Tsingtau – und entdeckt ein geradezu unglaubliches Familiengeheimnis...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 205
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für meine Kinder,
die mein Firmament sind
Jemanden zu lieben bedeutet auch,
das Glück des Anderen zu wollen.
Françoise Sagan
Ernst Hartung, 1912
Shanghai, 22. Januar 2012
Chiemsee, Herbst 2011
Bodensee
Anna
Anna
Chiemsee, Dezember 2011
Shanghai, Dezember 2011/ Januar 2012
Anna
Shanghai
23. Januar 2012
Quellenverzeichnis
Liang rieb seine Hände aneinander, um sie ein wenig zu wärmen. Dann steckte er sie in die Jackentaschen und vergewisserte sich, dass er den Ladenschlüssel bei sich hatte. Es war ein kalter Wintertag in Shanghai und der ständige Dunst schien noch undurchdringlicher als in den letzten Tagen. Die schmalen Gassen der Altstadt, in denen die Garküchen noch weiteren Dunst erzeugten, wirkten fast unwirklich; Menschen und Häuser verschwanden wie hinter einem Vorhang, die Welt schien geschrumpft, auf einen winzigen Kosmos reduziert. Die vielen Dekorationen, die das morgen beginnende Drachenfest ankündigten, brachten kaum Farbe in die Düsternis.
Liang machte das trübe Wetter nichts aus, er war guter Dinge. Er hatte in den letzten Tagen redlich verdient in seinem kleinen Teegeschäft. Touristen und Einheimische hatten Geschenke gekauft, als würde es bald nichts mehr geben.
Liang schloss die Ladentür auf, schaute in die lichten Regale und begab sich in den hinteren Lagerraum, um neue Ware auszupacken. Er war bekannt in der kleinen Geschäftsstraße, durch die kaum ein Auto fahren konnte, weil sie durch die Karren, die Kochstellen vor den Läden und den ständigen Menschenstrom wie ein enges Labyrinth war. Die Besonderheit, die Liang auffallen ließ, war seine Größe. Er überragte die meisten Männer um eine Kopflänge und hatte hohe Wangenknochen, die ihm ein gutes Aussehen verliehen. Er war beliebt in dem alten Viertel, weil er mit seiner Frau den kleinen, altmodischen Laden nicht aufgab, um in der schnelllebigen Welt, die schon ein paar Straßen weiter als Hochhausskyline glänzte, ein moderneres Leben zu führen. Hier in den schmuddeligen Gassen lebte noch ein wenig die alte Tradition fort.
Viele Menschen waren auf dem Weg, das pulsierende Shanghai für ein paar Tage zu verlassen, um ihre Familien auf dem Land zu besuchen. Andere kamen mit Zügen oder Autos zu den Feierlichkeiten in die Stadt. Die chinesische Bevölkerung war in Bewegung, Firmen und Baustellen hingegen standen still für das traditionelle Fest. Wie jedes Jahr zum chinesischen Frühlingsfest, dem Wechsel in ein anderes Sternzeichen, war die Hölle los.
Morgen würde das Jahr des Wasserdrachen beginnen. Im chinesischen Kalender war dies etwas Seltenes und Besonderes. Alle sechzig Jahre verband sich der neunte Himmelsstamm mit dem fünften Erdzweig, und dieses Mondjahr, durch das Glückszeichen des Wasserdrachen symbolisiert, stand nun bevor.
Liang mochten den Trubel nicht besonders, was er jedoch für sich behielt, weil das in China kein Mensch verstehen würde. Aber in diesem Jahr wollte er ausgelassen feiern. Seine Frau Shenmi würde ihm im Juni ein Kind gebären. Er war überglücklich, dass sich der lang ersehnte Wunsch gerade jetzt, im Jahr des Wasserdrachen, erfüllte. Liang arbeitete schnell, er wollte fertig sein, bevor seine Frau ins Geschäft kam. Er fragte sich immer wieder, ob sie die Geschenkartikel und Tees mit ihrem besonderen Lächeln oder über das liebevoll dargebrachte Tee-Zeremoniell so gut verkaufte, während er sich um die Tee-Plantage kümmerte. Nach dem Fest, so hatte Liang beschlossen, würde er seine Plantage verpachten, um in Shanghai zu bleiben und seiner Frau zur Seite zu stehen. Sie wäre sonst fast immer allein mit dem Kind und könnte den Laden nur mit Hilfe ihrer Eltern betreiben. Nein, er wollte anders leben, als es in den meisten chinesischen Familien üblich war. Ihm war es wichtig, das Kind mit Shenmi aufzuziehen und die Fürsorge nicht den Großeltern zu überlassen. Schließlich beherrschte er zwei Fremdsprachen und konnte als Übersetzer oder Dolmetscher etwas dazuverdienen. Das hatte ihm schon vor einigen Jahren gutes Geld eingebracht und würde seiner kleinen Familie das Auskommen sichern.
Der Dunst lichtete sich, die Luft tauschte sich aus und verscheuchte das Gefühl, irgendwann im Smog von Shanghai ersticken zu müssen. Die Sonne hing als matte Scheibe am Himmel und war nur zu erahnen.
Liang liebte seine Heimatstadt und besonders dieses Viertel, in dem das alte Brauchtum seine Bedeutung noch nicht verloren hatte. Er liebte ebenso seine Teeplantage, die Arbeit, das einfache Leben und die Zufriedenheit, die darin lag. Doch er wollte einen Schnitt machen, weil er davon überzeugt war, dass es nichts Schöneres gab, als mit Frau und Kind zusammen zu sein.
Vor einigen Tagen, als er noch nichts von der Schwangerschaft ahnte, hatte er eine besondere Begegnung, die sein Leben veränderte. Auf diesen fast unwahrscheinlichen Zufall hatte er nicht mehr zu hoffen gewagt. Dieses Ereignis war es, das Liang letztendlich auf die Idee brachte, die Plantage zu verpachten und für einen annehmbaren Preis den Tee von dort zu beziehen. Liang fühlte sich wie in einem wunderbaren Traum. Zuerst diese Zufallsbegegnung und wenige Tage später die frohe Botschaft von Shenmi. Seine Frau war zufällig, oder vielleicht ahnte sie etwas, bei einer befreundeten Ärztin gewesen. Ein leichtes Ziehen in den Leisten und in den Brüsten gaben keinen Grund zur Sorge. Die Ärztin untersuchte Shenmi und diagnostizierte die Symptome mit einem strahlenden Lächeln als Schwangerschaft im dritten Monat.
Liang räumte weiter die Regale ein, bis ihm eine der Geschenkschatullen in die Hände fiel, die er kürzlich seiner besonderen Begegnung als Andenken überreicht hatte. Er öffnete das verzierte Holzkästchen, nahm den Wasserdrachen aus Porzellan heraus, umschloss ihn zärtlich mit seinen Händen und hielt ihn, als wollte er eine Botschaft senden, zum Fenster. Bei den vielen schöne Gedanken, die er in diese Richtung schickte, kamen ihm die Tränen der Rührung.
Shenmi kam in den Laden. Sie lächelte und umarmte Liang.
»Dein Großvater war in China Lehrer, in Tsingtau, am Gelben Meer.« Diese Worte, die Pauls Mutter in der letzten Zeit wiederholte, gingen ihm nicht aus dem Kopf. Was sollte das? Jahrzehntelang war in der Familie keine Rede von diesem Mann gewesen und jetzt ließ ihm das Leben des Großvaters keine Ruhe, so als wäre seine Seele zurückgekehrt.
Paul konnte sich kaum darauf konzentrieren, den kleinen Koffer für die Reise zu packen. Er irrte durch sein Haus, das für ihn allein viel zu groß war. Ständig suchte er Gegenstände und hätte viel dafür gegeben, wieder in seine alte Verfassung zurückzufinden. Er fand kein Konzept, weil er sich weder in seinen Sachen noch in seinem Leben zurechtfand.
Er wollte in seine Heimat fahren, seinen Geburtsort Soest in Westfalen besuchen, vielleicht einen neuen Anfang für sich finden und nach den Spuren seines Großvaters suchen. Möglicherweise war es kein Zufall, dass die Veränderungen in Pauls Leben mit der Suche nach der Vergangenheit seines Großvaters einhergingen.
Noch vor ein paar Monaten hätte er nicht gedacht, dass das Leben an seinen Grundmauern rütteln würde. Seine Frau Anna hatte ihn nach fünfundzwanzig Jahren Ehe wegen seiner Affären verlassen. Die Kinder waren aus dem Haus und sein Geschäft hatte er weitgehend einem Nachfolger übergeben, nur einige Kunden betreute er noch selbst.
Die Veränderung seiner Lebenseinstellung verlief anders als der Prozess der unfreiwilligen Akzeptanz des Alterns oder die Anpassung nach einem Ortswechsel oder in einen anderen beruflichen Wirkungskreis. Es war, als suchte er nach einem anderen, vielleicht verlorenen Teil in sich, mit dem er die Lücke füllen könnte. Der schmerzliche Verlust des Vertrauten an seiner Seite brachte ihn dazu, Weichen zu stellen und andere Einschätzungen in seinem Leben zuzulassen.
Wenn er an Anna und die Kinder dachte, fürchtete er, dass sein Bemühen vielleicht zu spät war. Das war der Preis für sein langes Zögern und all die Lügen.
Gleichzeitig war ihm rätselhaft, warum sein Großvater, den er nur von Bildern kannte und dessen Vergangenheit im Dunkeln lag, für ihn nun so wichtig war. Als hätte sein Großvater eine magische Hand auf seine Schulter gelegt, um ihm verständlich zu machen, was er in seinem Leben übersehen hatte. Als wollte er ihm zu verstehen geben, dass er das, was er am meisten liebte, mit Füßen getreten hatte. Es fühlte sich an, als wollte sein Großvater ihm eine neue Richtung geben. Manchmal waren Paul seine eigenen Gedanken geradezu unheimlich.
Das Interesse an seinem Vater hatte sich weniger entwickeln können. Paul wollte immer anders sein als sein strenger und pedantischer Vater. Doch mit zunehmendem Alter entdeckte er stattdessen Verhaltensweisen an sich, die denen seines Vaters glichen. Die eingeimpften Eigenschaften wie Ordnungsliebe, strukturiertes Arbeiten, Gewissenhaftigkeit und Ausdauer hatten zu seinem beruflichen Erfolg beigetragen. Die Strenge des Vaters hatte er stets verinnerlicht und sie ließ sich nicht einfach abschütteln wie das Wasser aus dem Fell eines Hundes. Paul setzte hohe Maßstäbe an sich und seine Mitmenschen. Als wäre es eine genetische Formel, übertrugen sich diese Eigenschaften in ähnlicher Form auf seine Kinder. Paul war nicht preußisch streng wie sein Vater, doch auch die Kinder stellten hohe Anforderungen an sich selbst und andere.
Leider war das Vertrauen seiner Kinder in ihn als Vater erschüttert, weil er sich nicht an das gehalten hatte, was er über Jahre lauthals als eine für ihn wichtige Eigenschaft propagierte: Ehrlichkeit.
Paul ertappte sich hin und wieder dabei, dass er begann Selbstgespräche zu führen, bei denen er sein Verhalten verfluchte. »Was bist du nur für ein Narr. Deiner Eitelkeit bist du zum Opfer gefallen und hast dich einlullen lassen. Warum hattest du übersehen, dass du Anna, Sara und Lisa verlieren könntest?«
Bei den Streitgesprächen mit Anna fühlte er sich stets im Recht und suhlte sich in einer vermeintlichen Überlegenheit.
»Paul, hör auf damit, ich werde dich verlassen.« Wenn Anna ihm mit diesem Satz der Verzweiflung drohte, wollte er es nicht glauben.
Jetzt, wo er es geschafft hatte, die Familie zu vertreiben, blieb ihm nur die Vergangenheit seines Großvaters. Dahinter konnte er sich gut verstecken und den Schmerz des Verlustes für kurze Zeit vergessen.
Er war nicht besser als sein Vater, der seine Probleme allerdings mit Schweigen besiegelte. Paul erinnerte sich an die eingerahmte Liebeserklärung seines Vaters für seine Frau Magdalena. In schönster Schrift und mit Zeichnungen umrandet hingen diese Worte im goldenen Rahmen und unbeachtet in jeder Wohnung seiner Eltern, Wolfgang und Magdalena Hartung, über dem Telefon.
Die Worte waren vermutlich, wenn er an die Ehe seiner Eltern dachte, nicht mehr wert als das Papier, auf dem sie geschrieben wurden.
Er holte das Memorandum aus dem Keller, um die Zeilen, die zur Hochzeit der Eltern entstanden waren, einmal bewusst zu lesen. Er war überrascht über die fast kitschigen und eigenartig formulierten Worte seines Vaters. Was hatte seinen Vater so verändert, dass Paul meinte, eine andere Person gekannt zu haben?
Zum 15. Februar 1947
Heute ist nun der Tag in unseren zwei Lebenswegen, an dem sie sich, nachdem sie bereits geraume Zeit nebeneinander parallel herlaufen, vereinigen, um in der Zukunft auf einem guten Weg weiter zu gehen.
Als ich im Jahr 1943 hier im schönen Soest diente, kam an einem schönen Frühlingstag ein junges schönes, ein wenig blasses Mädchen mit ihrer Freundin zur Funkstation, um dort zur Feier des Tages am Labskausessen teilzunehmen. Dazu gab es auch eine Flasche Bier und eine saure Gurke, letztere hatte wohl am meisten zum Kommen gereizt.
Jedenfalls sah ich dieses liebe Geschöpf zum ersten Mal, als ich, beim Wachtmeister in Ungnade gefallen, Geschirr spülen mußte. Und der Anblick genügte, daß der Aufwasch im Nu bewältigt war. Bei einem Tänzchen kamen wir uns näher und bei einer Fahrt zum Mond (bis zum siebten Himmel kamen wir nicht) hatte ich das geliebte Wesen zum ersten Mal im Arm, denn ich dachte mir: Die oder keine!
Nach einigen Tagen fanden wir uns dann. Doch da schlug es gleich dazwischen. Eine Versetzung trennte uns, und ich mußte das mir lieb gewordene Soest verlassen. Auf dem Kursus, auf den ich kommandiert war, war mir dieses alles nur ein Ansporn, die Briefe, welche täglich hin und her gingen, machten mich stark.
Einen Wochenendurlaub verlebten wir an einem herrlichen Maientag an der Möhne. Dort gelobten wir auf Grund unserer Liebe, ewig einander treu zu sein, treu bis in den Tod. Und die Sonne und der blaue Himmel waren die einzigen, welche sahen, wie zum ersten Mal die goldenen Ringe an unseren Fingern blinkten und zwei glückliche Menschenkinder sich in tiefster Liebe küßten.
Das Leben ging weiter. Beseelt von der Liebe ging ich hinaus, Flandern, Frankreich, aufs U-Boot, nach Italien, dort unter dem ewig blauen Himmel des Südens, überall war ich voller Liebe und war dem Himmel dankbar, daß er mir diesen lieben Menschen zur Gefährtin gegeben hatte.
Nicht immer war junge ungestüme Liebe am Platze. Durch den Kriegseinsatz hatte ich mir eine ernste Krankheit zugezogen, welche manche schwere Stunde mit sich brachte. Mit ganzer Hingabe stand sie mir unermüdlich zur Seite, pflegte mich und hoffte mit mir, daß diese Krankheit mich nicht ewig quälen würde. Und so ist es auch geworden. Daß ich bei guter Gesundheit dieses Fest feiern kann, welches uns auf ewig miteinander verbindet, habe ich doch nur meiner Magdalena zu verdanken.
Und heute ist es nun soweit, wonach wir uns schon lange sehnten. Viele schöne Stunden des Zusammenseins durfte ich im gastlichen Hause der lieben Schwiegereltern erleben, denen ich hiermit von ganzem Herzen danken möchte. Und wenn Gott will, werden wir nach den Jahren der Unruhe bald in den eigenen vier Wänden wohnen.
So hoffe ich, daß Magda und ich den weiteren Lebensweg, und sei er in dieser Zeit noch so steinig, gemeinsam in Einigkeit und steter Liebe gehen können, um dann in späteren Jahren zurückschauen zu dürfen auf ein Zusammenleben, welches voll war von Freude und Stunden, wie es die heutigen sind.
An der Seite war das Papier mit einem seidenen Band durchzogen, das unten mit einem roten Siegel befestigt war. Daneben hatten die anwesenden Gäste unterschrieben.
Warum hatte Paul als Kind Angst vor einem Mann, der in so unbeholfener Form romantische Texte schreiben konnte?
Paul war gerührt, weil er diese sentimentale Seite seines Vaters nur selten erlebt hatte. Was hatte diese Seite verschüttet?
»Wolfgang Hartung, warum habe ich nicht den Mut gehabt, mit dir zu reden?«, fragte sich Paul.
Gerne hätte er seine Eltern so erlebt. Wo war die Schnittstelle, an der das geschriebene Wort keinen Wert mehr hatte? Seine innere Stimme quälte ihn.
»Wann trat der Wendepunkt ein, an dem ich begann, Anna zu belügen? War es auch das Asthma wie bei meinem Vater, durch das ich mich vielleicht als halber Mann fühlte, oder war es die im Alltag vernachlässigte Zuneigung? Warum habe ich die Anerkennung anderer Frauen gesucht? Hatte ich zu wenig Mut zur Liebe, zu wenig Achtung vor mir selbst? Quatsch, Schluss mit den billigen Ausreden, ich wollte einfach alles haben.«
Der Alltag hatte vieles verschlungen, auch die Treue, an die jeder glaubte und vor dem Traualtar wünschte und versprach.
Eine Stunde war vergangen und der Koffer unvollständig gepackt. Paul stellte das eingerahmte Schriftstück in sein Arbeitszimmer, um es nach der Reise abzuschreiben und Mutter beim nächsten Besuch vorzulesen. Er ergänzte sein Reisegepäck, verstaute alles im Kofferraum des Autos und fuhr los in Richtung Westfalen.
***
Paul klappte den Kragen seines Jacketts hoch. Die Kälte und Feuchtigkeit der nebeligen Luft drangen durch seine Kleidung. Seine Schritte hallten auf dem Kopfsteinpflaster der alten Gassen seiner Heimatstadt Soest, die er trotz unwirtlichem Wetter wieder als wärmend und schön empfand.
Diesmal waren es nicht Sentimentalität und Sehnsucht, die ihn hierher zurückführten. Es war die Geschichte seines Großvaters, Ernst Hartung, aus der väterlichen Linie, die ihn zu dieser längst überfälligen Reise trieb. Paul musste einfach den Spuren der Vergangenheit folgen und das Geheimnis lösen. Er hoffte, dass seine Tante Irmgard, genannt Irma oder Imsch, die jüngere Schwester seiner Mutter, noch etwas aus dieser Zeit erzählen konnte.
Die Chancen waren gering, da sein Großvater nur wenige Besuchstage in Soest verbracht hatte. Doch seine Tante hatte vielleicht einiges in besserer Erinnerung als seine Mutter mit ihren einundneunzig Jahren.
Paul hatte seinen Großvater nicht erlebt, er wusste zu wenig von ihm.
Leider gab es für die Geschehnisse, die zum Ende des Lebens von Ernst Hartung führten, keine eindeutigen Hinweise. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er in Gefangenschaft, dann galt er lange als vermisst und kam nicht zurück.
Würden die meisten Fragen unbeantwortet bleiben?
Hätte sein Großvater eine Ahnung gehabt, dass fünfundsechzig Jahre nach seinem angenommenen Todesjahr sein Enkelsohn Paul nach ihm forschen würde, hätte er ihm vermutlich mehr Zeichen seines Lebensverlaufs hinterlassen.
Er erinnerte sich, dass er als Kind manchmal dachte, dass sein Großvater abgehauen war und nicht, wie vermutet, im Konzentrationslager vergiftet wurde. Immer wieder spielte er mit diesem Gedanken, vor allem, wenn seine herrische Großmutter gegen ihn und seine Mutter intrigierte. Paul konnte seine kindliche Wut und seine Gefühle nur in die Richtung lenken, dass er dem Großvater Fantasiegeschichten mit einem anderen Leben in fernen Ländern andichtete, damit er nicht zu seiner bösen Frau zurückkehren musste.
Wie die Wirklichkeit war, wusste Paul nicht, er wollte nach verbliebenen Bruchstücken und Ansatzpunkten suchen. Ihn ließ das Bedürfnis nicht los, möglichst viel zu erfahren. Er wollte ein Kapitel vervollständigen, das sein bisheriges Leben nur an der Peripherie berührte. Es war so, als könnte der Lebenslauf seines Großvaters den Teil seines Lebens wieder gutmachen, den er am liebsten löschen würde.
Leider brachte der Besuch bei seiner Tante Irma, die seit einiger Zeit im Altenheim lebte, in keiner Weise die Erkenntnisse, die er sich erhofft hatte. Ein Teil ihrer Erinnerungen war von Altersdemenz umnebelt. Sie konnte ihm wenig aus dieser Zeit erzählen. Er versuchte sich nach und nach bis zu den Jahren vor 1947 vorzutasten, gab sich Mühe, ihr wenigstens etwas zu entlocken, aber die Erinnerung war entrückt.
Sie freute sich, Paul zu sehen, vom Leben ihrer Schwester am Bodensee etwas zu erfahren und mit ihrem Neffen ein Zigarettchen im Garten paffen zu können.
»Paul, wie geht es deiner Mutter in Konstanz? Besuchst du sie oft?«
»Ja, sooft ich kann. Ihr geht es gut im Pflegeheim.«
»Besucht dein Bruder sie? Thomas hat sie ja vorher selten gesehen.«
»Ja, er kommt täglich und sie wird gut betreut. Das Essen schmeckt ihr, das freut sie besonders. Die Knochen spielen nicht mehr mit, aber der Kopf ist fit.«
»Bei mir ist es umgekehrt. Magda war immer schlauer als ich.
Was machen eure Kinder?«
»Sara studiert Jura in München und Lisa macht ein Praktikum in Shanghai. Seitdem erzählt mir deine Schwester immer wieder, dass mein Großvater in China Lehrer war. Fällt dir wirklich nichts zu ihm ein?«
»Du weißt doch, dass ich zu der Zeit immer und überall unterwegs war, und meine ernsthafte Schwester hat mich nicht interessiert. Sie ist drei Jahre älter als ich und wir waren so unterschiedlich wie Feuer und Wasser. Trotzdem haben wir uns verstanden. Nach dem Krieg hatte jeder auf seine Weise etwas nachzuholen. Ich war kein Kind von Traurigkeit. Ich wusste nicht, ob mein Mann Jupp aus der Gefangenschaft zurückkommt. Ich konnte nicht nur brav zu Hause sitzen.«
Das hatte Paul nicht vergessen, es war genau diese fröhliche Art mit ihrer ansteckenden Lebensfreude, was er besonders an ihr mochte.
»Ist schon gut, Tante Irma, ich weiß«, sagte Paul lachend und nahm sie in den Arm, bevor er sich in seinen Gedanken verlor.
Paul hatte die anstehende Reise zu seiner Mutter verschoben, in der Hoffnung, mehr zu finden als die Aussagen, die seiner Mutter immer wieder in den Sinn kamen. Tsingtau! Lehrer! Gefangenschaft! Wo sollte er suchen? Seine eigenen Erinnerungen basierten nur auf den spärlichen Erzählungen, die er als Kind gehört und nicht verinnerlicht hatte. Es musste doch mehr aus dieser Zeit geben.
Wenn er es so bedachte, wurde über seinen Großvater früher kaum geredet und Paul fragte sich, warum er in Vergessenheit geraten war.
»Er war eine Seele von Mensch.« Diese Worte hatte Paul früher von seinen anderen Großeltern, Elisabeth und Franz Dörner, gehört. Das alles reichte nur für eine verschwommene Vorstellung. Die Bilder in den Fotoalben, an die sich Paul dunkel erinnerte, zeigten seinen Großvater als schlanken, fast aristokratisch wirkenden Herrn mit Schnauzbart. Auf den schmalen Lippen war meist ein Lächeln, das Haar kurz und exakt gescheitelt und die Beine hatte er übereinandergeschlagen, wenn er im Sessel fotografiert wurde.
Er versuchte zusammenzufassen, was er glaubte, von Ernst Hartung zu wissen.
Die Zeit in China musste vor dem ersten Weltkrieg gewesen sein. Nach seiner Rückkehr wohnte er in Weißenfels an der Saale, in seiner Heimatstadt. Aus dem Zweiten Weltkrieg kam er unbeschadet zurück, wenn er überhaupt Soldat war. Er wurde jedoch kurze Zeit später von einem sowjetischen Kommando verhaftet.
War der Großvater nicht auch bei der Marine gewesen wie sein Vater? Auf den Hochzeitsbildern der Eltern war er nicht zu sehen, überlegte Paul. Das war am 15. Februar 1947 gewesen. War er damals noch in Gefangenschaft? Oder war er da bereits tot?
Die menschliche Art seines Großvaters konnte er sich schwer vorstellen. Die Schätze, die er aus seiner Lehrerzeit in China mitgebracht hatte, erzählten wenig von seinem Leben. Sie waren nur Beweise seiner Existenz und schöne Objekte eines Lebensabschnittes in der Ferne. Paul konnte sich noch an Fotos und Erzählungen seiner Mutter erinnern, als sein Großvater kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges nach Soest zu Besuch kam, um die zukünftige Frau seines Sohnes und ihre Familie kennenzulernen. Pauls Mutter sollte damals mit ihm nach Weißenfels reisen. Die verzweifelten Bitten ihres Vaters hielten sie zurück, ihren zukünftigen Schwiegervater zu begleiten.
»Bleib hier, Kind«, sagte ihr Vater damals unter Tränen, »die Zeiten sind noch zu unsicher.«
Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Soest wurde Ernst Hartung vor seiner Haustür in Weißenfels verhaftet.
Warum wurde er verhaftet?
Warum brachte man ihn in ein Konzentrationslager?
Warum war er offensichtlich vergessen, auch von seiner Frau Elli?
War der Kampf um das eigene Überleben so hart, dass so wenig an ihn gedacht wurde?
Sollte es ein Vergessen durch Schweigen geben?
War Ernst Hartung ein Nazi gewesen?
Paul konnte sich das nicht vorstellen, wenn er an die Fotos in den Alben dachte.
»Paul, wo bist du mit deinen Gedanken? Ich muss jetzt kochen. Jupp kommt bald aus der Schule und du wolltest noch durch die Stadt gehen.«
Paul hatte es fast vergessen, dass seine Tante nur manchmal klare Momente hatte.
Irma betrachtete ihn liebevoll und stand langsam auf. Sie gingen durch die langen Flure des Pflegeheims und verabschiedeten sich vor ihrer Zimmertür.
Der Nebel in den Straßen passte zu den Bildern, die in seinem Kopf umherwanderten. Paul spürte die Kälte kaum noch, als er, zunächst ziellos, mit immer schneller werdenden Schritten die Gassen durchquerte. Nur das bunte Herbstlaub gab dem tristen Grau in Grau etwas Farbe. Er wollte gedanklich die Wege seiner Kindheit noch mal gehen und einige Orte besuchen, als könnten sie eine Hilfe sein bei der Suche nach vergangenen Zeiten.
Das laute Klingeln seines Handys in der Seitentasche seines Jacketts ließ ihn zusammenzucken und riss ihn in die Gegenwart zurück.
Das Display zeigte eine unbekannte Nummer. Er wagte nicht, den Anruf anzunehmen. Vermutlich war es seine langjährige Geliebte, die immer wieder versuchte, mit ihm in Kontakt zu bleiben. Paul gab sich die Schuld an ihrer Hartnäckigkeit. Zu lange hatte er dem Kapitel seines Lebens eine Wichtigkeit gegeben, die er heute selbst nicht mehr verstand.
Trotzdem war er wütend, dass diese Frau auch nach endlosen Aussprachen nicht akzeptieren wollte, dass sein Leben jetzt eine andere Richtung hatte.
Wäre er vorher konsequent gewesen, könnte er mit seiner Frau Anna noch zusammen sein.
Er drückte die rote Taste.
Paul hoffte, dass nicht wieder endlose Nachrichten in Form von SMS-Texten folgen würden. Er wollte die Schatten der Vergangenheit loswerden.
Er ging weiter, folgte erneut seinen Gedanken und befand sich nach einigen Metern am »Großen Teich«, an dessen Ufer er sich auf eine Bank setzte.
Solange er denken konnte, gab es diesen idyllischen Ententeich, schon fast ein See, nahe dem Zentrum seiner Heimatstadt. Er war groß in seiner Erinnerung und, ebenso wie seine Kindheit, von einer Steinmauer umgeben. Über die schützende Mauer hatten sie sich als Kinder bäuchlings gelegt, um kleine Fische zu fangen, die sich natürlich nicht fangen ließen. Samt Schulranzen war sein Bruder Thomas hineingefallen. Den Schrecken und die Angst vor der Strafe, die vielleicht folgte, vergaß er bis heute nicht.
Eine schmale Gasse aus dem Stadtzentrum führte von einer Seite direkt in diese Parkidylle mit eindrucksvollen Bäumen, deren Größe eine lange Vergangenheit bezeugten. Die Enten liefen herum, als wäre ihnen das Wasser langweilig geworden. Obwohl sie eine kleine Insel mit einem windschiefen Entenfachwerkhaus für ihre Ausflüge hatten, fanden sie die Umgebung des Parks interessanter. Sie hatten sich an die Besucher gewöhnt und watschelten sogar bis in die Gassen.
Paul lief gemächlich in die Stadt zurück. Die Zeit schien hier nicht in Eile vorbeigerauscht zu sein wie das Leben. Er fand vieles wieder, was seine Erinnerung an die Kindheit weckte. Nicht nur die historischen Fachwerkhäuser, die aussahen, als hätten sie sich nur für ihn herausgeputzt. Auch die meisten Geschäfte stammten noch aus der Zeit vor fünfzig Jahren, als er diesen Ort verlassen musste.