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Das Chaos im Leben der Studentin Mo ist nahezu perfekt: Mit einem Ex-Freund, zwei Brüdern und vier Mitbewohnern hat sie mehr Männer um sich, als eigentlich gut für ihre Nerven ist. Doch dann lernt sie Daniel kennen, der sehr energisch ein Date mit ihr fordert. Mo gerät in Panik und lehnt ab – immerhin kommt sie gerade frisch aus einer Beziehung, die bereits eine Geschichte für sich ist. Leider ist Daniel ein Freund ihres Bruders und heftet sich hartnäckig an ihre Fersen. Alle Bücher der Reihe sind in sich abgeschlossen. Gefühlvolle Handlung. Explizite Szenen.
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Seitenzahl: 443
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Copyright: Natalie Rabengut, 2013, Deutschland.
Korrektorat: Claudia Heinen – http://sks-heinen.de
Covergestaltung: Natalie Rabengut
Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist nachdrücklich nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.
Sämtliche Personen in diesem Text sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig.
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Nächster Band der Reihe: Die zweite Nacht
Über Natalie Rabengut
»Und was hast du jetzt genau vor?«, fragte Don, während er mir die Flasche reichte. Genau wie Kai-Uwe ließ er mich nicht aus den Augen.
Bevor ich antwortete, nahm ich einen Schluck Bier und spielte die Worte noch einmal in meinem Kopf durch. »Ich habe ein WG-Zimmer in Aussicht und suche mir einen Job, ist ja nichts dabei.«
Wie immer hatte mein ältester Bruder seine Mimik viel besser unter Kontrolle als Kai-Uwe, das mittlere Geschwisterkind, das es immer allen recht machen wollte. Er riss seine Augen auf und starrte mich entgeistert an. »Aber Mo! Du kannst doch nicht einfach so aufgeben.«
Ach ja, richtig. Der alte Romantiker in ihm kam wieder durch, das hatte ich ganz vergessen. Ich suchte nach der richtigen Antwort. Die Wahrheit lautete, dass Sebastian, mein Ex-Freund, leider schwul war – doch ich hatte ihm versprochen, dieses winzige Detail noch eine Weile länger für mich zu behalten, bis er sich wohl damit fühlte, an die Öffentlichkeit zu gehen. Da er nicht nur mein Ex, sondern auch mein bester Freund war, hatte ich vor, dieses Versprechen zu halten.
»Weißt du, ich glaube nicht, dass sich das lohnen würde. Unsere Beziehung war zuletzt doch recht … äh … eingeschlafen.« Nervös knibbelte ich an dem Etikett der Flasche und hoffte, dass diese Unterhaltung sich nicht mehr lange hinziehen würde. Für die Wahrheit war keiner meiner Brüder bereit und ich würde es nicht über mich bringen, sie einzuweihen. Abgesehen davon war ich nicht der Meinung, dass es sie überhaupt etwas anging.
Don lehnte sich nach hinten, stützte sich auf den Händen ab und ließ seinen Blick über den Himmel wandern. Mich konnte er allerdings nicht so leicht täuschen. Ich wusste genau, dass er mir gleich eine unangenehme Frage stellen würde.
Wir saßen, wie schon so oft, auf unserer Terrasse und tranken Bier. Früher waren es diese übersüßen Trinkpäckchen mit Orangen-Geschmack von Aldi gewesen, doch seit Kai-Uwe volljährig geworden war und ich das Alter von 16 erreicht hatte, hatte Don auch sein Bier mit uns geteilt. Ich konnte mich noch genau an die Aufregung beim ersten Mal erinnern. Vor lauter Nervosität hatte ich nicht einmal die Flasche aufbekommen – so stolz war ich gewesen, dass meine Brüder mit mir ein Bier trinken wollten.
Mein Blick wanderte über den Asphalt. Terrasse war dafür vielleicht etwas zu hoch gegriffen. Wir saßen am Ende der Straße, in der das Haus unserer Eltern stand. Mama hatte uns zum Essen herbeordert und mein Vater hatte uns einen halb leeren Kasten gereicht, bevor er verschwunden war. Dazu hatte er einen Kuss auf meinen Scheitel gedrückt und mir aufmunternd auf die Schulter geklopft. Dabei hatte ich es nicht einmal übers Herz gebracht, meine Eltern einzuweihen. Für sie war ich noch immer Mo, 25 Jahre alt und glücklich in einer Beziehung mit ihrem Freund Sebastian, mit dem sie zusammenwohnte.
Nun saß ich hier im Wendekreis am Ende der Sackgasse mit dem vielsagenden Namen »Am Feld« und hatte zumindest meinen Brüdern gegenüber schon die Beichte abgelegt. Die Beichte mit den unzähligen kleinen Notlügen.
Bevor Don zum Schlag ansetzen konnte, sagte ich: »Ursprünglich wollte ich Mama und Papa um einen kleinen Zuschuss bitten, aber dann habe ich die Mahnung von den Stadtwerken in der Küchenschublade gesehen. Also suche ich mir wohl doch besser einen Job.«
Kai-Uwe nickte und hielt mir seine Flasche zum Anstoßen hin, seine Version einer aufmunternden Geste. Mit einem leisen Klirren stießen die Flaschen gegeneinander und ich schöpfte etwas Mut. Es war zwar nicht gerade die beste Situation der Welt, aber ich war mir sicher, dass ich sie überleben würde.
»Hat Sebastian eine andere?«, fragte Don jetzt ziemlich beiläufig, bevor er die nächste Flasche Bier mit seinem Wohnungsschlüssel öffnete.
Eher einen anderen, dachte ich mir, schüttelte aber den Kopf. »Nein, hat er nicht. Wir haben uns schlicht und ergreifend entliebt. Ist das so unrealistisch?« Innerlich zuckte ich bei meinen Worten zusammen. Eigentlich liebte ich Sebastian noch immer, aber nun einmal bloß wie einen Bruder und das schon seit Jahren. Doch das war ein Teil des großen Geheimnisses zwischen ihm und mir.
»Und was für eine WG soll das sein?«, wollte Don jetzt wissen und ich verdrehte die Augen. Ich hasste es, wenn er den großen Bruder raushängen ließ und noch mehr, wenn er dabei Treffsicherheit bewies.
»Eine 5er-WG.« So tapfer ich es versuchte, ich wusste, dass meine ausweichende Antwort mir nicht helfen würde.
»Alles Klosterschülerinnen, nehme ich an.« Der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Sauer stellte ich meine Flasche ab. »Obwohl ich nicht der Meinung bin, dass ich hier irgendwem Rechenschaft schuldig bin: Es ist eine reine Männer-WG, alle vier sind Studenten in meinem Alter, die dank meiner kryptischen E-Mail-Adresse natürlich davon ausgehen, dass ich ein Mann bin. Sobald ich in ihrer Küche sitze, werde ich sie davon überzeugen, dass sie unbedingt mit mir zusammenwohnen wollen und dann habe ich ein Problem weniger.«
Kai-Uwe sah unsicher zu Don. Ich konnte ihm an der Nasenspitze ablesen, dass ihm meine Antwort genauso wenig gefiel wie meinem ältesten Bruder, doch im Gegensatz zu ihm traute Kai-Uwe sich selten, sich mit mir anzulegen.
Don hatte leider keine Hemmungen. »Du kannst doch nicht mit einem Haufen fremder Männer zusammenwohnen.«
»Appellierst du gerade an meine Moral?«, erkundigte ich mich vorsichtig.
Er nickte nachdrücklich und auch Kai-Uwe wagte es nun, ebenfalls wie wild zu nicken.
Zufrieden verschränkte ich meine Arme und warf ihnen einen tödlichen Blick zu. »Alles klar. Ich hatte zwar für einen Moment gedacht, dass wir im 21. Jahrhundert leben würden, aber ich sehe natürlich ein, dass ihr recht habt. Im Gegenzug komme ich dann wohl am Wochenende nicht zu euch spaziert, um die empörte Freundin zu geben, damit das jeweilige Betthäschen an eurer Seite schnell das Feld räumt.«
Kai-Uwe lief rot an und selbst Don hatte den Anstand, wenigstens den Kopf zu senken. »Ach, darauf wollt ihr nicht verzichten? Große Überraschung.«
Ich stand auf und klopfte mir die kleinen Steinchen vom Hosenboden. Ich trug Hotpants und ein blaues Shirt mit V-Ausschnitt. Der Farbton ließ meine grauen Augen leuchten – zumindest hatte Sebastian, mein selbst ernannter Styleberater, mir das versichert, bevor ich das Haus verlassen hatte.
»In einer halben Stunde muss ich in der Altstadt sein und mich vorstellen. Mein Pfefferspray ist in der Tasche und ich verspreche, dass ich sofort anrufe, wenn ich wieder draußen bin. Das sind nur harmlose Studenten und keine Serienmörder.«
Don betrachtete kritisch meine Beine und sagte: »Darum mache ich mir keine Sorgen.«
Ich konnte es mir nicht verkneifen, ihn noch weiter zu ärgern. »Um alles andere brauchst du dich auch nicht zu sorgen. Immerhin nehme ich die Pille. Passt ihr lieber selber auf, wo ihre eure Schniedel reinhaltet. Die komische Rothaarige vom letzten Wochenende sah aus, als würde sie hervorragend eine besessene Stalkerin abgeben.«
Don schluckte und ich drehte mich auf dem Absatz um. Nachdem ich meine Umhängetasche in den Fahrradkorb geworfen hatte, trat ich in die Pedale, ich wollte schließlich nicht zu spät kommen.
Vor der roten Backsteinfassade legte ich den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Ich war beeindruckt, zumindest von außen sah das Haus sehr gepflegt aus und die Fenster wirkten frisch geputzt. Bei vier Männern hatte ich fast schon Gestank erwartet, der bis auf die Straße drang.
Allerdings konnte ich bei meinen finanziellen Mitteln im Moment nicht wählerisch sein und die WG lag nur einen Steinwurf von der Uni entfernt. Bis ich meinen Abschluss in Biochemie haben würde, war das nun mal die größte Priorität in meinem Leben. Ich musste nur noch drei Monate überbrücken, dann konnte ich beginnen, meine Abschlussarbeit zu schreiben, und den Job im Labor antreten. Nicht zum ersten Mal verfluchte ich Sebastian dafür, dass er nach über sieben Jahren nicht noch die paar Monate hatte warten können, bevor er mein Leben durcheinanderbrachte.
Schnell zog ich den kleinen Spiegel aus meiner Tasche und überprüfte mein Äußeres. Mein Vater hatte schon immer zu mir gesagt, dass ich etwas aus meinem hübschen Gesicht machen sollte. Das hier hatte er sich vermutlich nicht vorgestellt, aber ich brauchte nun einmal eine Bleibe.
Da meine Lippen etwas trocken wirkten, wühlte ich nach dem Pflegestift und strich dann meine Haare nach hinten. Schließlich streckte ich meinen Finger aus und drückte auf den Klingelknopf.
Obwohl bis gerade Stille im Inneren geherrscht hatte, erwachte das Haus nun zum Leben. Eine dunkle Stimme rief: »Ey! Antreten, Mo ist hier.«
Lautes Gepolter verriet mir, dass wirklich nur Männer hier wohnten. Keine Frau würde jemals so die Treppe hinunterlaufen. Selbst Kai-Uwe, der nur knapp 75 kg wog, klang nach mindestens 120 kg, wenn er nach unten rannte.
Mit meinem besten Lächeln sagte ich: »Hi, ich bin Mo.«
Zwei vollkommen entgeisterte Gesichter starrten mich an und ein drittes tauchte hinter ihnen auf – es war dem ersten Gesicht identisch, offenbar handelte es sich um Zwillinge. Ich nutzte ihre Verblüffung und schob mich ins Haus, bevor sie es sich anders überlegen konnten. Ein Mann saß bereits am Küchentisch und auch er bekam eine Kostprobe meines Charmes. Sofort setzte ich mich auf einen der freien Stühle. Mein Plan war es ohnehin gewesen, ihnen gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen.
»Ich weiß, ihr hattet sicher einen Typen erwartet, aber ich bin wirklich die viel bessere Wahl.« Ich holte noch einmal Luft und gab ihnen kurz Zeit, meine ersten Worte auf sich wirken zu lassen.
Bis jetzt sahen sie alle vier noch überfordert aus und keiner wusste so recht, was er sagen sollte. Zwei von ihnen wechselten einen Blick, den ich nicht deuten konnte, aber ich beeilte mich, weiterzusprechen: »Ich bin mit Männern groß geworden und habe zwei ältere Brüder. Man bemerkt mich kaum, wenn ich zu Hause bin, und ich bin pflegeleicht. Keine hysterischen Ausbrüche, keine Weinkrämpfe, keine Beziehungsdramen und keine anhänglichen Freundinnen, die euer Bad stundenlang belegen. Überhaupt bin ich in weniger als 20 Minuten aus dem Bad raus und ich wasche und bügele. Alles.«
Ich hatte mittlerweile begonnen, meine Vorzüge an den Fingern abzuzählen, und hielt sie hoch, um zu verdeutlichen, wie umwerfend ich war. Den Blonden, der ganz rechts saß, hatte ich direkt auf meine Seite gezogen, als ich das Waschen erwähnt hatte; das konnte ich sehen. Bei dem Dunkelhaarigen, der mir gegenüberhockte, war ich mir ziemlich sicher, dass er mich attraktiv fand.
»Ich höre ausschließlich über Kopfhörer Musik und meine Brüder haben mich außerordentlich gut erzogen: Ich kann Reifen wechseln, Bierflaschen an der Tischkante aufmachen, ohne die Platte zu verkratzen, und ich bin prima dafür geeignet, morgens in der Zimmertür aufzutauchen und die zu früh nach Hause gekommene Freundin zu geben.«
Mit einer hastigen Bewegung strich ich mir die Haare zurück, riss die Augen auf und legte theatralisch die Hand auf die Brust. »Jonathan! Wer ist das?« Am Ende des Satzes überschlug meine Stimme sich sogar ein bisschen. Ich wusste nur die Namen der Jungs, aber nicht, wer welcher war.
Ich hatte Glück, denn Jonathan war der Blonde, der vorher schon begeistert gewesen war. Jetzt zuckten seine Hände – vielleicht wollte er mir Beifall spenden.
Nun schwieg ich und überlegte, welche positiven Eigenschaften ich noch anführen konnte. Vier Paar Augen sahen mich an. Einen letzten Appell musste ich noch loswerden: »Ich mache in drei Monaten meinen Abschluss. Bitte, ich brauche wirklich dringend eine neue Bleibe.«
Als wäre ich gar nicht da, steckten die Zwillinge den Kopf zusammen und führten eine leise, aber eindringliche Verhandlung, die für meine Ohren nur nach Zischlauten klang. Der Dunkelhaarige schenkte mir ein verführerisches Lächeln, das ich mit einem freundlichen Grinsen erwiderte. Er war überaus attraktiv, aber ich wollte hier wohnen und nicht bloß mit ihm schlafen. Den Sex konnte er sich gleich aus dem Kopf schlagen.
Die Zwillinge, die ich vielleicht ein bis zwei Jahre älter als mich schätzte, richteten sich wieder auf. Puh, die beiden waren sicher hervorragende Poker-Spieler, ihre Mienen waren absolut undurchdringlich. Schließlich drehte der eine sich um und öffnete die Kühlschranktür. Junge, Junge, gesprächig waren sie aber nicht gerade.
Neugierig sah ich zu, wie er fünf Flaschen Bier auf den Tisch stellte, dazu holte er kleine Schnapsgläser und eine Flasche Korn aus dem Kühlfach. Mein Magen rebellierte schon bei dem Anblick. Er schob mir die Flasche hin, wies mit dem Kinn darauf und sagte: »Dann lass mal sehen.«
Während ich die Augen verdrehte, griff ich bereits nach der ersten Flasche. Klar, das wäre das natürlich das Erste, was ich bei einem neuen Mitbewohner auf Richtigkeit überprüfen würde.
Es ist beinahe unmöglich, eine Flasche an einer Holzkante zu öffnen, ohne dass eine Macke im Tisch zurückbleibt. Wieder einmal dankte ich meinem Vater für seine unkonventionelle Erziehung. Wie fast alles, was er mir beigebracht hatte, war es ein simpler Taschenspielertrick. Da ich mir hatte denken können, dass die Jungs zu neugierig waren, lag der schmale Öffner schon in meiner Handfläche. Solange man schnell und effizient vorging, waren die Zuschauer zu sehr mit Staunen beschäftigt, um den Trick dahinter zu sehen.
Außerdem hatte ich oft genug geübt – ein Evergreen sozusagen. In weniger als zwanzig Sekunden standen die Flaschen geöffnet auf dem Tisch. Die Jungs griffen danach und der andere Zwilling bedeutete mir großzügig, die fünfte zu nehmen.
Es war nicht einmal 18 Uhr und ich war schon beim dritten Bier, der Gedanke ließ mich grinsen. Dann goss der Dunkelhaarige die Korngläser voll und verteilte sie. Ich hätte die erste Runde zwar gern ausgesetzt, aber leider hatte ich die volle Aufmerksamkeit und konnte den Schnaps nicht wie geplant in die kleine Topfpflanze kippen, die auf der Fensterbank neben mir stand.
Nun sprach zum ersten Mal einer der Zwillinge. »Den Trick mit den Bierflaschen kenne ich, aber geschickt gemacht. Ich sage Ja.«
Erleichterung durchflutete mich. Der zweite Zwilling wollte ansetzen, doch der Blonde konnte sich vor Begeisterung kaum noch auf dem Stuhl halten. »Ja, ja, ja! Ich bin Jonathan.«
Jonathan war offensichtlich Amerikaner und hatte einen unfassbar bezaubernden Akzent, der mir ungewollt ein Lächeln entlockte. Sofort musste ich an meine beste Freundin Sanne denken. Sie würde ausflippen, wenn ich ihr davon erzählte.
Der andere Zwilling runzelte missbilligend die Stirn und nickte dann nur knapp in meine Richtung. Egal, was der Dunkelhaarige sagen würde, es standen bereits drei Meinungen gegen ihn.
Doch er stimmte zu – mit einer Stimme, die mir einen angenehmen Schauer über den Rücken rieseln ließ. »Jakob. Ich habe nichts dagegen«, stellte er sich vor.
Vor lauter Triumphgefühl schlug mein Herz fast schmerzhaft schnell gegen meine Rippen und ich musste erst einmal schwer schlucken, bevor ich antworten konnte. »Das freut mich wirklich sehr, aber ich muss noch einige Dinge festlegen.«
Jetzt sahen sie mich skeptisch an. »Ich weiß, dass ich nicht so aussehe, aber sollte einer von euch mir krumm kommen, breche ich ihm die Nase, bevor ich meine Brüder auf ihn hetze. Selbst wenn ich als einzige Frau hier einziehe, bin ich noch lange keine Selbstbedienungstheke für Sex. Außerdem werde ich weder putzen noch kochen. Ich gehe gern einkaufen und wasche Wäsche für alle, aber das war’s.«
Die Lippen aufeinandergepresst wartete ich auf ihre Reaktionen. Ich konnte den Korn in meinem Mund schmecken und hoffte, dass meine Botschaft angekommen war.
Jetzt sprach zum ersten Mal der stumme Zwilling. »Gefällt mir, gefällt mir richtig gut. Mein Name ist Johannes.« Mit diesen Worten schraubte er die Kornflasche auf und schenkte eine weitere Runde aus.
Mir fiel es bereits schwer, meine Hand ruhig zu halten, als ich sie nach dem Glas ausstreckte. Aber das war auch kein Wunder, auf mein Wahnsinnsgewicht von 56 kg waren heute lediglich ein wenig Rollbraten von meiner Mutter und zwei Kartoffeln verteilt worden. Für mehr war ich schlicht und ergreifend zu aufgeregt gewesen, obwohl ich das gut verbergen konnte. Darauf waren allerdings drei Bier und der erste Korn gefolgt.
Ich wartete, bis ich mir sicher war, dass keiner mich beachtete, und kippte den Korn in die Blume, bei der ich mich in Gedanken entschuldigte. Bevor ich hierherzog, musste ich unbedingt ein paar Topfpflanzen kaufen, auf die ich den Alkohol, der hier offensichtlich konsumiert wurde, gleichmäßig verteilen konnte.
Jakob sah mich an und ich stellte mein leeres Glas auf den Tisch. »Hast du einen Freund?«, wollte er von mir wissen.
»Ich hoffe, du fragst nicht, weil du auf Lärmbelästigung durch heiße Sexspiele hoffst.« Ich warf ihm einen missbilligenden Blick zu, dem er nicht standhalten konnte.
Jonathan gluckste und griff zu meinem Entsetzen bereits wieder nach der Schnapsflasche. Die kleine Grünpflanze würde diesen Abend nicht überleben. »Deutsche Mädchen sind klasse, so schlagbereit.«
Julian grinste und verbesserte ihn liebevoll: »Es heißt schlagfertig.«
Ich konnte leider nichts sagen, weil ich bei Jonathans Akzent bereits wieder dahingeschmolzen war. Wie putzig er Määätschän sagte.
»Ich habe nur aus Neugier gefragt, damit ich weiß, wer hier demnächst so zu Besuch kommt«, maulte Jakob beleidigt.
In diesem Moment fiel mir zum ersten Mal auf, dass ich gerade in eine WG mit vier Männern gezogen war, deren Namen alle mit J anfingen – und ich hatte ohnehin schon ein grausiges Namensgedächtnis.
»Mein Freund und ich haben uns getrennt, deswegen brauche ich ein neues Dach über dem Kopf. Aber keine Sorge, es wird keine nächtlichen Versöhnungsversuche geben und ich werde nicht lautstark schluchzend meine Interpretation von Whitney Houston zum Besten geben.«
Johannes, der zweite Zwilling, klopfte Jakob gutmütig auf die Schulter und sagte: »Sie kommt frisch aus einer Beziehung und wird hier wohnen. Das kannst du dir gleich aus dem Kopf schlagen.«
Jakob verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Um die Situation aufzulockern, grinste ich in die Runde. »Mein voller Name ist übrigens Morielia, aber ich würde Mo wirklich bevorzugen.«
Ein voller Erfolg, alle starrten mich an. Jonathan murmelte: »Weird name.«
»Das kannst du laut sagen. Meine Mutter hat sich den Namen ausgedacht und ist der Meinung, das habe einen Hauch von Shakespeare und sei ein furchtbar schicker Name.«
Auf den Schreck schenkte Johannes eine weitere Runde ein und hob sein Glas zu einem Toast. »Auf Mo! Willkommen im Irrenhaus.«
Eine knappe Stunde später brummte mein Kopf und ich war froh, dass ich an der frischen Luft stand. Zwei weitere Gläser Korn hatte ich noch trinken müssen, da ich keine Gelegenheit gefunden hatte, sie in der Blume zu entsorgen.
Sobald der Bürgersteig sich nicht mehr drehte, würde ich auf mein Fahrrad steigen, nach Hause radeln und morgen meine bereits gepackten Kartons in mein neues Zimmer schaffen. Die Kopie des Mietvertrags steckte in meiner Handtasche.
Um mir noch ein wenig Zeit zu verschaffen, bevor ich auf das Fahrrad kletterte, rief ich Don an. »Ich lebe noch.«
»Hätte mich auch gewundert. Hatten sie sehr viel Angst vor dir?«, wollte er wissen.
Schnaubend atmete ich aus. »Sehr witzig. Ich habe meine besten Manieren vorgeführt und mindestens zwei von ihnen unter den Tisch getrunken. Morgen ziehe ich um.«
»Brauchst du Hilfe mit deinem Krempel?«, fragte er wie der große Bruder, der er war.
»Das wäre vermutlich nicht schlecht.«
»Kein Problem.« Er schwieg und ich ahnte gleich, dass er einen speziellen Gefallen von mir wollte und sich gerade nicht traute, zu fragen.
»Wirklich? Schon wieder?«, witzelte ich und erlöste ihn gleich darauf. »Ich bin gegen 11 Uhr da und bringe Brötchen mit.«
»Du bist die Beste, Mo!« Er klang ehrlich erleichtert und ich brummte etwas Zustimmendes, bevor ich auflegte. Dann wählte ich Kai-Uwes Nummer.
»Du lebst noch«, stellte er leicht enthusiastisch fest und mich wunderte es kein bisschen, dass wir Geschwister waren. Immerhin hatte ich genau das Gleiche zu Don gesagt.
»Es ist dein Glückstag, Don gibt morgen das Frühstück aus, danach dürft ihr mir beide beim Umzug helfen.«
»Klasse. Heißt das, du gibst morgen bei Don die Freundin und nicht bei mir?«
Vergnügt lachte ich und traute mich dabei, probehalber ein paar Schritte auf mein Fahrrad zuzugehen. »Genau. Das heißt, dass du dein Luder ausnahmsweise selbst entsorgen musst. Um elf bei Don, also für dich viertel nach. Wäre peinlich, wenn du zuerst da wärest.«
Angetrunken, wie ich war, lachte ich über meinen eigenen Witz und legte auf. Herausfordernd betrachtete ich mein Fahrrad. »Okay, ich schaffe das.«
Tatsächlich schaffte ich es wohlbehalten und in meiner üblichen Geschwindigkeit nach Hause. Die Wohnung war leer, als ich aufschloss. Ich ging direkt an den Kühlschrank. Meine Tasche hing noch über meiner Schulter und auch die Schuhe hatte ich noch an, als ich das kalte Mineralwasser direkt aus der Flasche trank. Dabei bildete ich mir ein, dass ich sofort spürte, wie mein Kopf klarer wurde.
Ich hatte die Flasche noch nicht wieder zugedreht, da klimperte Sebastians Schlüssel im Flur. Er hatte die nervtötende Angewohnheit, seinen Schlüsselbund über den Zeigefinger zu stülpen und damit zu klimpern, während er auf die Tür zuging. Der einzige Vorteil war, dass man ihn so schon zwei Minuten vor seiner eigentlichen Ankunft hörte.
Die Tür schwang auf und er stiefelte herein. Ich sah sofort, dass er sich mit seinem Lover in die Haare bekommen hatte, und machte mich auf Weltuntergangsstimmung gefasst. Überrascht nahm er zur Kenntnis, dass ich schon zu Hause war, und grummelte: »Männer.«
»Das kannst du laut sagen.«
Er warf seine Sachen in die Ecke neben die Kommode, kam zu mir geschlurft und küsste mich auf die Wange, die ich ihm schon entgegenhielt. Das würde ich vermissen, diese Vertrautheit und die ganzen Gewohnheiten, die wir im Lauf der letzten Jahre entwickelt hatten. Schnell sog ich den vertrauten Geruch von Diors Eau Savage ein. Seit der Duft erschienen war, liebte Sebastian ihn heiß und innig. Zuletzt hatte ich ihm zu Weihnachten eine neue Flasche geschenkt.
»Was guckst du so, Mori?« Er war der Einzige, der mich so nennen durfte, ohne dass ich ihm den Kopf abriss – allerdings auch nur, wenn wir alleine waren.
»Ich habe den Platz in der WG bekommen, Don und Kai-Uwe helfen mir morgen beim Umzug.«
Sofort schossen Tränen in Sebastians Augen. Seufzend streckte ich die Arme aus und er schmiegte sich schluchzend hinein. Ein Grund mehr, warum ich ausziehen musste – irgendwann in den letzten Jahren war Sebastian das Mädchen geworden und ich der Junge, so konnte es wirklich nicht weitergehen.
Als er sich wieder halbwegs beruhigt hatte, verkündete er: »Auf den Schock brauche ich eine Pizza!« Er marschierte sofort in Richtung Telefon und ich rief geistesgegenwärtig: »Nimm eine ohne Knoblauch!«
Dann griff ich meine Tasche und ging in mein Zimmer. Erschöpft lehnte ich mich von innen gegen die geschlossene Tür. Wann war mein Leben so chaotisch geworden? Die Antwort kannte ich leider nur zu gut: Seit es schwierig geworden war, die Lüge aufrechtzuerhalten. Immerhin konnten wir nicht auf ewig so weitermachen.
Sebastian hockte bereits auf dem Sofa, im Hintergrund flimmerte irgendeine Castingsendung über den Bildschirm, der Ton war abgedreht. Erschrocken sah ich, dass er bereits eine Packung Kosmetiktücher auf den Tisch gestellt hatte. Wir würde also vermutlich den ganzen Abend »Kannst du dich noch an das eine Mal erinnern, als ...« spielen. Großartig.
Ich ließ mich neben ihn auf das Polster fallen und sagte: »Dir ist klar, dass ich es Don und Kai-Uwe beichten musste. Also zumindest den Teil mit der Trennung.«
Betreten sah Sebastian auf den Boden, dann nickte er schnell.
»Wenn du morgen nicht mitkommen willst, um bei dem Umzug zu helfen, kann ich das verstehen.«
Sebastian rang mit sich, das war deutlich zu sehen, und so sagte ich schnell: »Du kannst es dir ja noch überlegen. Keine Eile.«
Er griff bereits nach dem ersten Tuch und schnäuzte kräftig hinein. »Kannst du dich noch an unseren ersten Abend hier erinnern?« Seine Stimme klang verschnupft.
»Natürlich. Wir haben damals auch Pizza bestellt und nach dem Rotwein, den es gratis zu dem Essen gab, einen weiteren erbärmlichen Versuch unternommen, hier vor dem Kamin Sex zu haben.«
Sebastian gackerte leise und strich mir mit dem Daumen über die Wange. »Erbärmlich trifft es ganz gut.«
Ich lehnte mich seiner Hand entgegen und schmunzelte. Für Sebastians Geschmack war ich einfach nicht männlich genug und ich fand, dass er mich nicht hart genug anfasste. Bei der Erinnerung an unsere Sexversuche miteinander, begannen meine Ohren zu glühen.
Er streichelte noch immer mein Gesicht und sah dabei merkwürdig schwermütig aus. »Es tut mir leid, dass ich nicht der richtige Mann für dich bin.«
»Was soll ich denn sagen? Deinen Eltern hier gehört immerhin das Haus. Ab jetzt muss ich Miete bezahlen!«
Sein Lachen erleichterte mich. Ich hätte unmöglich den ganzen Abend seinen Trübsinn ertragen können. Gerade, als ich überlegte, wie ich ihn dezent fragen konnte, ob er vielleicht irgendwann wieder seine Hand von meiner Wange nehmen wollte, erlöste mich die Klingel.
Ich wollte aufspringen und zur Tür eilen, doch Sebastian hielt mein Handgelenk fest. »Lass, ich geh. Dich einzuladen ist ja wohl das Mindeste, was ich tun kann.«
Er verschwand und ich fragte mich, wie emotional der Abend noch werden würde. Verheulte Augen konnte ich morgen wirklich nicht gebrauchen und aufgrund des Alkohols, den ich schon intus hatte, war ich sowieso aufgewühlt.
»Ich kann nicht glauben, dass das hier unsere letzte Pizza ist.«
Selten hatte ich so viel Wehmut in einem einzigen Satz gehört. Energisch schlug ich ihm auf die Schulter. »Jetzt mach aber mal halblang! Letzte Pizza – bringst du mich morgen zum Tierarzt, um mich einschläfern zu lassen, oder was?«
Zerknirscht rieb er sich über die Schulter und öffnete den Karton. Der verführerische Duft ließ meinen Magen hörbar knurren. Entsetzt starrte Sebastian mich an. »Hast du etwa nichts gegessen? Aber ich kann doch den Alkohol riechen.«
Ich winkte ab. »Krieg dich wieder ein, du Moralapostel.«
Er hasste es, wenn ich etwas trank, ohne vorher anständig gegessen zu haben. Nicht, weil ich mich danebenbenehmen würde oder so. Nein, er hatte einfach dauernd Angst um mich und sah hinter jeder Ecke Männer lauern, die mich ausnutzen wollten. Als ob ich mich nicht verteidigen könnte.
»Die Jungs wollten mit einem Korn auf meinen Einzug anstoßen.« Gierig schlang ich bereits das erste Stück Pizza hinunter.
»Ich finde es immer noch nicht gut, dass du direkt mit vier wildfremden Typen zusammenziehst«, maulte Sebastian jetzt beleidigt.
»Worüber beschwerst du dich hier eigentlich? Ich mache Platz für dich und deinen Tobi, und trotzdem meckerst du die ganze Zeit. Als ich noch hier gewohnt habe, wolltest du auch nicht, dass ich dir jeden Typen vorstelle, mit dem ich geschlafen habe.«
»Das war was anderes«, murrte er.
Ich zog nur spöttisch die Augenbraue hoch und fügte hinzu: »Sie sind wirklich nett und ich habe gleich klargestellt, dass innerhalb des Hauses nichts laufen wird. Wenn die Wogen sich geglättet haben, kannst du sie ja mal kennenlernen. Du wirst sie sicher auch mögen.«
Er zog noch immer eine Schnute, aber die Neugier war ihm an der Nasenspitze abzulesen. Während ich schon nach dem nächsten Stück griff, sagte ich: »Nur zu, frag schon.«
»Sehen sie gut aus?« Er spuckte mir die Frage förmlich entgegen.
»Und wie. Außerdem ist einer von ihnen Amerikaner und hat den süßesten Akzent, den ich in meinem Leben je gehört habe.«
»Boa! Das ist so gemein. Ich will auch mit vier Männern zusammenwohnen. Das ist einfach nicht fair! Ich bekomme nicht einmal den einen Mann in den Griff und du marschierst los und hast in weniger als einer Viertelstunde gleich vier um den Finger gewickelt. Wie machst du das?«
Endlich schwieg er und stopfte sich auch Pizza in den Mund. Gott sei Dank, ich war mir schon fast verfressen vorgekommen. Vielsagend sah ich nach unten auf meine Brüste und drückte demonstrativ den Rücken durch, dazu klimperte ich mit den Wimpern und sagte mit hoher Stimme: »Wie jetzt? Ich glaube, ich verstehe die Frage nicht.«
Sebastian stöhnte. »Unfair, sage ich doch!«
»Schatz, ich bin früher nach Hause gekommen!« Deutlich hörbar warf ich den Schlüssel in die Schale, die auf der Kommode neben der Tür stand. Neidlos musste ich wieder einmal anerkennen, dass Dons Wohnung wundervoll eingerichtet war. Es wurde echt Zeit, dass er eine Frau traf, die ihm ebenbürtig war.
Aus dem Schlafzimmer waren bereits hektische Geräusche zu hören. Anfangs hatte ich noch Hemmungen gehabt, den armen Frauen einen solchen Schreck einzujagen, und Don hatte mich dafür verspottet. Er hatte mit mir gewettet, dass es den Frauen egal sei, selbst wenn er verheiratet wäre. Da ich noch an mein eigenes Geschlecht glaubte, hatte ich mich geweigert, ihm das abzukaufen. Also hatte er kurzerhand einen Ehering aufgetrieben und war mit mir und Kai-Uwe ausgegangen. Fassungslos hatte ich zugesehen, wie die Frauen ihn trotz Ehering und meiner Anwesenheit umschwärmt hatten.
»Ich habe frische Brötchen mitgebracht, deine Lieblingssorte.« Den letzten Teil des Satzes flötete ich schon fast. Dann verschwand ich in der Küche und rumpelte hörbar mit den Tellern im Schrank. Nebenbei schaltete ich die Kaffeemaschine an. Gurgelnd und zischend begann sie mit dem Vorwärmen. Im Wohnzimmer wurde leise eine Tür geöffnet und wieder geschlossen, dann spazierte Don gut gelaunt in die Küche.
»Hast du wirklich meine Lieblingsbrötchen mitgebracht?«
»Klar, wenn deine Lieblingssorte ›Werd erwachsen und such dir endlich eine Freundin‹ heißt, habe ich hier eine ganze Tüte für dich.«
Er verdrehte die Augen und ging zum Kühlschrank. Den Orangensaft trank er direkt aus der Packung. Als es klingelte, verschluckte er sich fast vor Schreck.
Mein Lachen konnte ich mir nicht verkneifen. »Keine Sorge, das ist nur der andere Frauenheld.« Dann ging ich zur Tür und ließ Kai-Uwe herein.
Wir saßen am Tisch und ich strich Marmelade auf mein Brötchen. »Lange mache ich das übrigens nicht mehr – nur dass ihr das wisst. Egal, was ihr sagt, die Frauen tun mir leid.«
Kai-Uwe tätschelte meinen Handrücken und sagte in einem mitleidigen Tonfall: »Ach Mo, du verstehst das nicht. So lange, wie du jetzt in einer Beziehung warst.«
Ich verkniff mir die Antwort und biss wütend in mein Brötchen. Natürlich verstand ich das. Aber ich fragte wenigstens die Männer, die ich abschleppte, ob sie alleine wohnten und Single waren, und dann stahl ich mich im Morgengrauen davon. Doch das ging meine klugscheißenden Brüder überhaupt nichts an.
»Das ist mir total egal, ich habe ehrlich gesagt keine Lust mehr. Ich möchte auch am Wochenende mal ausschlafen – und vielleicht fange ich ja jetzt an, mit wildfremden Männern mitzugehen, aus deren Wohnung ich dann vertrieben werde.«
Ihre entsetzten Gesichter waren geradezu Gold wert und ich lehnte mich nach hinten, um den Moment vollkommen auszukosten. Dann tat Don, was jeder anständige Mann getan hätte, und wechselte einfach das Thema. »Wie viele Kartons erwarten uns denn?«
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, die paar Lehrbücher zur Biochemie ...«
Kai-Uwes Mundwinkel sanken nach unten und ich goss mir einen Kaffee nach. »Keine Sorge, so viel ist es nicht. Zum einen habe ich nicht viel Krempel und zum anderen war ich bereits ein paar Mal in der Wohnung. Bei der Gelegenheit habe ich schon einiges mitgenommen.«
»Lernen wir deine Mitbewohner kennen?«, erkundigte Don sich viel zu beiläufig. Würde er irgendwann aufhören, den großen Bruder zu spielen?
»So wie ich es verstanden habe, sind die Zwillinge und Jonathan da, Jakob wohl nicht.«
Kai-Uwe stieß mich mit dem Ellenbogen an, während er mit der anderen Hand sein Nutella-Brötchen balancierte. »Und welcher von denen steht auf dich?«
Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Keiner.«
Kai-Uwe glaubte mir sofort, Don blieb skeptisch. Was war denn nur los mit den beiden? Glaubten sie, jetzt die Beschützer raushängen lassen zu müssen, weil ich frisch aus einer Beziehung kam? Vermutlich.
Die Mühe, nach Sebastian zu rufen, machte ich mir erst gar nicht, denn ich wusste, dass er nicht da war. Seine Sorge, meine Brüder könnten ihm etwas antun, war zu groß gewesen. Ich bemerkte Dons finsteren Gesichtsausdruck und legte ihm eine Hand auf den Arm. Überrascht sah er mich an.
»Ist alles okay? Du wirkst angespannt.«
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und sagte: »Ich war auf das hier irgendwie nicht vorbereitet. Ihr wart ein süßes Paar und habt immer zufrieden gewirkt. Und dann geht alles auf einmal so plötzlich, letzte Woche erzählst du uns erst von der Trennung und heute holen wir schon die Kartons ab.«
Verständnisvoll nickte ich und fragte mich flüchtig, wer hier eigentlich wen tröstete. »Das kann ich verstehen. Ich hatte einfach viel mehr Zeit, um damit abzuschließen. Aber du scheinst mir ein bisschen aggressiv zu sein.«
»Sebastian hat meiner kleinen Schwester wehgetan«, stieß er aufgebracht hervor.
Wir beide ignorierten Kai-Uwe, der bereits zum zweiten Mal einen Karton trug und sich dabei ereiferte: »Lasst euch Zeit. Eigentlich brauche ich keine Hilfe. Mit dem mittleren Geschwisterkind kann man es ja machen.«
Mit einem hypnotischen Rhythmus streichelte ich Dons Arm und versuchte irgendwie, ihn zu besänftigen. »Weißt du, zwischen Sebastian und mir war es ein stiller, einvernehmlicher Prozess des Entliebens. Wir haben uns nicht gestritten oder uns irgendwie wehgetan. Es ist passiert und er ist trotz allem noch mein bester Freund. Es ist einfach besser für unser seelisches Gleichgewicht, wenn wir nicht mehr zusammenwohnen.«
Don nickte, aber an seiner Nasenspitze konnte ich ablesen, dass er mir nicht einmal richtig zugehört hatte. Also schnipste ich mit den Fingern vor seinem Gesicht. Verwirrt starrte er mich an. »Finger weg von Sebastian! Du und Kai-Uwe habt mir in eurer Funktion als große Brüder emotional bedeutend mehr zugesetzt als mein Ex-Freund, verstanden?«
Kurz flackerte Schuldbewusstsein über Dons Gesicht, dicht gefolgt von Sturheit und Kapitulation. Er nickte langsam. »Und du bist dir sicher?«
Ich nickte energisch und ging dann voran in mein Zimmer, um die restlichen Kisten zu holen. Eigentlich machte ich mir keine Sorgen, dass meine Brüder Sebastian etwas antun würden. Mein eigentlicher Grund zur Beunruhigung war die Vermutung, sie könnten meinem Vater davon erzählen und er würde dann etwas aushecken. Also drehte ich mich sicherheitshalber um und flüsterte: »Und kein Wort zu Papa!«
Ertappt verbarg Don sein Gesicht vor mir und griff nach dem nächstbesten Karton.
»Wow, das Zimmer ist größer, als ich erwartet habe«, verkündete Kai-Uwe, nachdem er sich umgesehen hatte.
»Und sauberer, als ich bei einem reinen Männerhaushalt geschätzt hätte«, fügte Don hinzu.
»Autsch. Wir haben auch Gefühle, Mann!«, rief Julian empört. Wie erwartet hatten meine neuen Mitbewohner sich schon im Flur herumgedrückt, als wir angekommen waren. Unter dem Vorwand, mir natürlich mit den schweren Kisten helfen zu wollen, hatten sie meine Brüder begutachtet und waren jetzt noch damit beschäftigt, den Schock zu verdauen.
Ich hatte in der Zeit Kaffee gekocht. Wenn fünf Männer sich darum rissen, meine Kartons zu schleppen, von denen ich gerade einmal sieben mitgebracht hatte, wäre ich ja verrückt gewesen, einen Finger krumm zu machen. Jetzt saßen wir um den Küchentisch und Jonathan starrte uns an. »Fascinating«, murmelte er dabei.
Den Eindruck von uns als Familie ließ ich erst einmal sacken. Obwohl wir Geschwister waren und jeder für sich irgendwie Ähnlichkeit mit unseren Eltern hatte, sahen wir wie bunt zusammengewürfelt aus. Don war mit 1,90 Meter der Größte in der Familie und bestach mit seinem vollen, braunen Haar, das er von unserer Mutter hatte. Kai-Uwe und ich waren auf den Millimeter genau gleich groß, dafür hatte er deutlich mehr Gewicht auf den Rippen, das allerdings in Form von Muskeln untergebracht war. Nachdem er jahrelang Judo trainiert hatte, war er danach zum Gewichtheben übergegangen und dabei geblieben. Außerdem war er erstaunlich flexibel und konnte auf den Händen laufen. Die Frauen liefen ihm wegen seiner blonden Haare hinterher, die ihm den Charme eines Surferboys verliehen.
Meine eigenen Haare waren farblich zwischen denen meiner Brüder angesiedelt, in großzügigen Momenten bezeichnete ich sie als Hellbraun. Einzig die grauen Augen hatten wir alle gemeinsam und von unserer Mutter geerbt. Zwischen dem muskulösen Kai-Uwe und dem großen Don wirkte ich noch schmaler und zerbrechlicher – ein echter Vorteil auf Familienfotos.
»Okay, okay«, sagte Julian. »Jetzt noch einmal zum Mitschreiben: Du bist Mo, du heißt Don und du Kai-Uwe.«
Kai-Uwe grinste und antwortete: »Kai-Uwe mit Bindestrich.«
Julian schüttelte fassungslos den Kopf und wandte sich an seinen Bruder Johannes. »Da haben wir ja fast noch Glück gehabt.«
Dons Mundwinkel zuckten bereits und ich fragte vergnügt: »Darf ich? Darf ich? Bitte, Don, darf ich?«
Don nickte milde und meine Mitbewohner sahen mich erwartungsvoll an. Also ließ ich die Bombe platzen. »Don ist die Abkürzung für Donald.«
Für einen Moment herrschte absolute Stille in der Küche und voller Unglauben starrten sie uns an. Um es noch einmal zu verdeutlichen, sagte ich: »Gestatten, Morielia, Kai-Uwe mit Bindestrich und Donald Wischnewski. Und wir lieben unsere Eltern trotzdem.«
Zwei Sekunden später brüllten alle vor Lachen und konnten sich kaum auf den Stühlen halten. Meine Brüder und ich lehnten uns zurück und tranken unseren Kaffee. Wir kannten das Spektakel immerhin schon zur Genüge.
Endlich konnte ich mich entspannen. Meine Mitbewohner schienen nett zu sein und selbst meine Brüder gaben sich versöhnlich und von ihrer besten Seite.
»Mo, wir wollten so eine Art Willkommensparty für dich veranstalten, aber hier ist dafür nicht genug Platz. Was hältst du davon, wenn wir nächste Woche alle zusammen ins Starfox gehen? Kennst du das?«
Ich nickte und fühlte mich gleichzeitig geschmeichelt. Die Jungs gaben sich echt Mühe, mich nett aufzunehmen. Julian drehte sich zu meinen Brüdern. »Ihr könnt natürlich gerne mitkommen, das wird sicher lustig.«
Bei so etwas musste man meine Brüder nicht lange bitten, sofort stimmten sie zu. Ich räusperte mich. »Allerdings erst Samstag, ich gehe Freitag bei Kochs probearbeiten.«
Überrascht hob Don die Augenbraue. »Die Kneipe am Campus?«
»Genau. Als ich am Mittwoch in der Bibliothek war, habe ich den Aushang am Schwarzen Brett gesehen. Mal sehen, wie ich mich als Kellnerin schlage«, verkündete ich.
Glücklicherweise hatte ich am Dienstag darauf gleich ein Vorstellungsgespräch für eine Vertretungsstelle in einem Labor. Eine temporäre Vertretung für eine Frau, die in Mutterschutz ging – für mich wäre das natürlich die ideale Stelle, um die Zeit bis zum Abschluss zu überbrücken. Ein wenig Geld hatte ich noch auf meinem Sparbuch, aber mit einem Job würde ich mich sicherer fühlen – jetzt, wo ich tatsächlich Miete zahlen musste.
Am Freitag vergaß ich in der Bibliothek fast die Zeit – nicht, weil die Arbeit so spannend war, ganz im Gegenteil. Ich wachte mit dem Abdruck der Laptop-Tastatur auf meiner Stirn auf und befand wieder einmal, dass ich mich lieber durch unzählige Petri-Schalen mit Schimmelsporen wühlte und meine Zeit im Labor verbrachte, als meine Ergebnisse mit seitenlangen Fußnoten aus wissenschaftlicher Literatur zu untermauern.
Erschrocken sprang ich auf und raffte meine Sachen zusammen, ich wollte ja nicht schon am ersten Tag zu meiner Schicht im Kochs zu spät kommen. Meine Tasche warf ich in den Fahrradkorb und wollte gerade aufsteigen, da klingelte mein Handy. Ich fummelte es aus der Hosentasche und sah, dass es Sanne war. Oh je. Da fiel mir ein, dass ich sie schon die ganze Woche lang hatte anrufen wollen.
»Hallo? Hallo? Ist ja jemand? Bist du wirklich noch am Leben?«, wollte Sanne, die eigentlich Susanne hieß, von mir wissen.
»Es tut mir leid«, gestand ich zerknirscht. Eine Gruppe Studenten ging an mir vorbei und grinste mich dabei breit an. Sofort zuckte meine Hand nach oben und ich rieb zum wiederholten Mal über den Tastenabdruck auf meiner Stirn. »Ich wollte dich wirklich anrufen und einladen, aber dann habe ich es wohl vergessen.«
»Das habe ich gemerkt«, lautete ihre trockene Antwort. Im Hintergrund knirschte das altersschwache Gelenk ihres Schreibtischstuhls.
»Arbeitest du auch immer noch?«, erkundigte ich mich mitfühlend.
»Erinnere mich bloß nicht dran, in zwei Wochen ist Abgabe und mir geht der Arsch gehörig auf Grundeis. Immerhin habe ich schon ganze vier Seiten fertig. Vier Seiten, kein Grund zur Panik, die Arbeit muss am Ende ja nicht mindestens 60 Seiten lang sein. Ich schaff das schon.«
Obwohl ich mir das Lachen verkneifen musste, stimmte ich eine tiefe, meditative Atmung an, die am Ende in ein schnelles Hecheln überging. Sanne stieg direkt mit ein und klang danach zumindest wieder belustigt.
»Ich habe einen Vorschlag. Früher oder später musst du ohnehin eine Pause machen. Meine Mitbewohner wollen morgen feiern gehen, Don und Kai-Uwe kommen ebenfalls mit. Möchtest du dich nicht einklinken? Dann kommst du vorher zu mir, wir hübschen uns total übertrieben auf und als Bonus, weil ich eine grauenvolle Freundin bin, stelle ich dir den charmanten Single Jonathan vor.«
Sanne klopfte sich hörbar mit dem Kugelschreiber gegen die Unterlippe, ich konnte sie förmlich vor mir sehen. Diese Angewohnheit hatte sie schon in der Schulzeit gehabt. »Aber dabei arbeite ich samstags am Abend doch so gerne.« Sie kicherte. »So ein Quatsch. Ich bin dabei!«
»Cool. Ich muss jetzt leider los, ich habe den Abdruck meines Laptops auf der Stirn und muss mich für die Arbeit umziehen.« Dann fiel mir ein, dass ich Sanne noch nichts davon erzählt hatte.
»Arbeit? Freitagabend?«, echote es mir aus dem Handy entgegen.
»Ja, ich kellnere bei Kochs zur Probe.«
Meine beste Freundin lachte lauthals. Schließlich wurde es mir zu bunt und ich legte einfach auf. Damit ich es nicht vergaß, tippte ich direkt eine SMS an sie. Sei morgen um 18 Uhr da. Und: Das bisschen Kellnern werde ich ja wohl schaffen.
Ihre Antwort las ich erst zu Hause, weil ich bereits auf dem Fahrrad gesessen hatte, als das Handy vibrierte. Davon bin ich überzeugt. NICHT! Ich höre mir dann morgen das Ausmaß der Katastrophe an ...
Was hatte ich eigentlich für Freunde, die so unglaublich unterstützend waren und an mich glaubten? Sebastian hatte sich auch schlapp gelacht, als ich ihm von dem Job bei Kochs erzählt hatte. »Süße, du kannst vielleicht mehrere Reagenzgläser auf einmal tragen – aber den ganzen Abend kellnern?«, hatte er gesagt und gegrinst.
Ich schob das Fahrrad in die Garage und fragte mich zum wiederholten Male, worauf sie eigentlich alle hinauswollten. Es war ja nicht so, als ob ich wahnsinnig tollpatschig war. Egal, ich war viel zu spät dran, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen.
In meinem Zimmer sprang ich aus der Shorts, die ich getragen hatte, und wechselte stattdessen in eine schwarze Jeans und eine weiße Bluse. Ich fand mich sehr zeitlos gekleidet. Im Badezimmer verpasste ich mir noch eine zusätzliche Schicht Mascara, dann griff ich nach meiner Tasche und hechtete wieder in den Flur. Glücklicherweise konnte ich zu der Kneipe laufen, denn sie lag nicht weit vom Haus entfernt.
Jakob saß am Küchentisch und brütete über einem Lehrbuch für Ringmoduln, er studierte Mathematik und schien es im Moment eher zu bereuen. Ich schnappte mir aus dem Kühlschrank einen gekühlten Kaffee im Becher, vermutlich mit zu viel Zucker, aber den konnte ich gerade vertragen. Er hob den Kopf und sah mich an. »Ich dachte, du würdest kellnern gehen.«
Ich hatte die Finger schon an der Folie des Bechers, um sie abzulösen, und sah irritiert an mir herunter. »Das hatte ich eigentlich vor. Ehrlich gesagt bin ich schon ziemlich spät dran.«
Seine Antwort hätte mir beinahe eine Gänsehaut verursacht. »Oh.« Das war alles, was er sagte, bevor er wieder eilig die Nase in seine Unterlagen steckte.
Energisch stellte ich den Kaffeebecher auf den Tisch und stützte die Hände in die Seiten. »›Oh‹? Was bitte soll das denn heißen?«
Noch immer schaute er nicht zu mir hoch, aber seine Ohrenspitzen glühten verdächtig rot. »Nichts, nichts. Viel Glück.«
Ich stützte mich auf den Tisch und legte die Hand auf das aufgeschlagene Buch. »Mach die Zähne auseinander, Freundchen.«
Jakobs Gesicht leuchtete heller als ein Kamin. »Wenn ich das jetzt sage, klinge ich wie der letzte Arsch.«
Spöttisch hob ich eine Augenbraue, um ihm zu signalisieren, dass mir das herzlich egal war. Entmutigt ließ er die Schultern sinken. »Das soll ja nicht irgendwie machohaft klingen, aber an deiner Stelle hätte ich mich in einen kurzen Rock geworfen und eine enge Bluse oder so etwas. Du willst doch sicher Trinkgeld abstauben, oder nicht?«
Ich Idiotin! Natürlich hatte er recht und ich stand verdattert da. Ein Blick auf die Uhr versicherte mir, dass ich es vermutlich eh nicht mehr rechtzeitig schaffen würde, da konnte ich mich noch kurz umziehen. Wie gut, dass ich mir erst gestern den Luxus einer ausgiebigen Rasur gegönnt hatte – aber nur, weil ich kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt hatte, mir den After-Work-Party-Donnerstag zunutze zu machen und irgendwo einen Mann aufzulesen. Stattdessen war ich mit einem Buch auf der Brust und offenem Mund eingeschlafen.
Mein Leben war in letzter Zeit wirklich aufregend. Ich schüttelte den Kopf und überlegte, was ich anziehen sollte. Jakob musterte mich, vermutlich durch mein Schweigen verunsichert. »Bist du sauer?«
»Was? Nein, Quatsch. Du hast vollkommen recht. Ich überlege nur gerade, was ich anziehen kann und wie viel zu spät ich kommen werde.«
»Ich kann dich eben schnell mit dem Auto bringen. Eine Pause wäre mir sehr willkommen, mir raucht der Kopf.« Er sah mich aus großen Augen an und ich nickte begeistert. Auch wenn ich eher den Verdacht hatte, dass sein Angebot aus der Angst entstanden war, dass er mich verletzt haben könnte.
Auf dem Weg nach oben nahm ich zwei Stufen auf einmal. Wenn ich jetzt in einen Rock schlüpfte, konnte ich meine bequemen Nike-Treter wohl vergessen. Ich besaß nur zwei Paar hohe Schuhe: Die einen waren schwindelerregend hohe Pumps, die schon aufgrund der Tatsache ausfielen, dass ich darin maximal zehn Meter gehen konnte, und die anderen High Heels mit Riemchen in schwarzer Lackoptik. Obwohl ich schon ahnte, dass ich mich dafür am Ende des Abends hassen würde, schlüpfte ich in die Riemchenschuhe mit den gut sechs Zentimeter hohen Absätzen. Die Bluse würde ich anlassen, aber zwei Knöpfe konnte ich ruhig noch aufmachen, entschied ich.
Dann wühlte ich durch meinen Schrank. Zu Hause hatte mein schwuler, bester Freund mir immer ungefragt komplette Outfits herausgelegt – ich hatte nicht gedacht, dass ich ausgerechnet das so schnell vermissen würde.
Ich hatte die Wahl zwischen einem dunkelblauen Jeansrock und einem kurzen, schwarzen Faltenrock. Der Faltenrock war wirklich winzig, gewann die Wahl aber trotzdem, weil ich nicht den ganzen Abend in dem superengen Jeansrock herumlaufen wollte. Die Betonung lag hier auf Laufen, denn ich nahm an, dass ich sicherlich etliche Meter zurücklegen würde.
Schnell eilte ich die Treppe nach unten – so schnell, wie die hohen Hacken, wie meine Mutter immer sagte, es zuließen. Dann blieb ich in der Küchentür stehen. »Würdest du mir so Trinkgeld geben?«, fragte ich Jakob kokett und stellte mich spielerisch in Pose.
Er sah mich an und nickte anerkennend. »Trinkgeld und meine Telefonnummer.« Den Autoschlüssel hatte er schon in der Hand und obwohl ich so tat, als würde ich es nicht merken, spürte ich seinen Blick deutlich auf meinen nackten Beinen.
»Du alter Charmeur«, wiegelte ich ab und griff nach dem Becher Kaffee.
Schnell stürzte ich den Inhalt hinunter und eilte hinter Jakob her. Während er den Motor startete, sagte er: »Ich bin den ganzen Abend zu Hause. Ich muss dringend für eine Klausur nächste Woche lernen. Wenn du magst, kann ich dich gerne wieder abholen.«
»Das ist nett und meine Füße danken dir im Voraus. Ich melde mich, wenn ich Hilfe in der Not brauche.«
Er lachte und drehte den Oberkörper, um nach hinten zu sehen und rückwärts aus der Einfahrt zu fahren. Dabei legte er den rechten Arm um den Beifahrersitz. Ich weiß nicht warum, aber ich fand diese Geste schon immer überaus männlich und sexy. Zum ersten Mal nahm ich mir Zeit, Jakob genauer zu betrachten.
Mit seinen dunklen Haaren und dem energischen Kinn samt Grübchen war er alles andere als unattraktiv, aber ich hatte ein ganz gutes Gespür und konnte mir daher schon denken, dass er absolut nicht in mein Beuteschema fiel.
Ganz am Anfang, als wir uns noch Mühe gegeben hatten, sogar uns selbst eine normale Beziehung vorzugaukeln, war der Sex mit Sebastian für mich genauso frustrierend gewesen wie für ihn. Aber ich wollte Sebastian nicht verunsichern, damals waren wir uns beide noch nicht sicher, was wir wollten. Als er mir dann endlich beichtete, dass es gar nicht an mir lag, sondern an ihm, war ich zwar erleichtert gewesen – mir aber trotzdem sicher, dass es zum Teil eben doch an mir lag.
Normalen Sex fand ich einfach langweilig und es dauerte eine Weile, etliche Bücher und Pornos, bis ich ein Konzept entwickelte, woran das lag. Die schlichte Wahrheit war, dass ich eine recht stark ausgeprägte devote Ader hatte.
Nachdem wir uns mit unserer merkwürdigen Beziehung arrangiert hatten, gingen wir beide auf Männerfang – allerdings unabhängig voneinander und wir sprachen nicht darüber. Sebastian suchte sich schwule Männer und ich mir dominante.
Leider war ich mir ziemlich sicher, dass Jakob nicht in diese Kategorie gehörte. Immer wieder schielte er auf meine Beine und sagte dann: »Ich hoffe, ich habe dir da keinen blöden Rat gegeben. Wenn du doof angemacht wirst, ist das jetzt irgendwie meine Schuld.«
Da musste ich grinsen. »Keine Sorge, ich gehe nicht auf den Straßenstrich oder strippen oder so. Du weißt selbst, dass Kochs ein total harmloser Laden ist. Und sollte doch irgendetwas sein, habe ich ja deine Handynummer und du holst mich ab.«
Er nickte eifrig und sah zu, wie ich ausstieg. Durch seine Hilfe war ich sogar wirklich pünktlich da. »Danke, Jakob. Du hast mir praktisch das Leben gerettet. Bis später!«
Erst, als ich durch die Tür war, startete er wieder den Motor.
Koch, der Namensgeber der Kneipe, saß noch bei einem Kaffee im Hinterzimmer und war offensichtlich zufrieden mit meinem Outfit. Er zeigte mir den Feuerlöscher und den hinteren Notausgang. Dann erkundigte er sich, ob ich die Nummer der Feuerwehr wüsste.
»Klar. 112«, antwortete ich irritiert.
Koch nickte. »Wunderbar, damit hätten wir die Sicherheitsschulung hinter uns gebracht. Willkommen an Bord!« Er hielt mir seine kräftige Pranke hin und sagte gleichzeitig: »Die Schuhe wirst du in ein paar Stunden schon bereuen, Mädchen.«
Schuldbewusst sah ich nach unten. »Ich weiß, auf die Schnelle hatte ich nichts anderes.«
Koch zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, dass es nicht seine Füße waren. Er zeigte mir den Bereich hinter der Theke und ließ mich ein Bier zapfen. Das konnte ich glücklicherweise schon und er entließ mich mit den Worten: »Dann kann ja nichts mehr schiefgehen.«
Drei Stunden später lehnte ich im kleinen Badezimmer für Mitarbeiter meine Stirn gegen den kühlen Spiegel und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Mit mir waren noch zwei Mädels da, die alles spielend meisterten, während ich vollkommen überfordert war.
Ich konnte noch nicht einmal sagen, woran es lag. Schon allein durch die Tatsache, dass ich kurz vor dem Uni-Abschluss stand, war ich mir sicher, dass ich nicht blöd war, und trotzdem war ich nicht in der Lage, mir eine simple Getränkebestellung zu merken, geschweige denn, wer welches Getränk bestellt hatte.
»Hoffnungslos« war das Wort, das mir heute schon unzählige Male durch den Kopf geschossen war.
Die Tür ging auf und Claudia, eine der anderen Kellnerinnen, stand vor mir. Mitleidig sah sie mich an und klopfte mir auf die Schulter. »Kopf hoch, das ist echt kein Job für jeden. Ist doch nicht so schlimm.«
Toll, sie gab sich nicht einmal Mühe, so zu tun, als wäre das nur ein Anfängerproblem. Nein – offensichtlich lag es an mir. Schulterzuckend sagte ich: »Da hast du recht.«
»Machst du die Schicht noch zu Ende?«, erkundigte sie sich eine Spur zu beiläufig und ich wurde hellhörig.
»Wieso? Bin ich so grauenvoll?« Ein Hauch von Panik schwang in meiner Stimme mit und Claudia lachte.
»Um Himmels willen, natürlich nicht. Aber ich könnte es verstehen, wenn du überwältigt bist. Vor allem in den Schuhen.« Vielsagend sah sie nach unten. Wenn ich das heute noch einmal hören würde – keine Ahnung, was ich dann tun würde.
»Nein, ich ziehe den Abend durch und hoffe, dass Koch wenigstens genug Mitleid mit mir hat und mich bezahlt.«
»Okay, so furchtbar bist du jetzt auch wieder nicht. Aber ich hätte einen Vorschlag für dich. Du siehst aus, als könntest du dich mühelos durchsetzen.« Sie machte eine kleine Pause und faltete die Hände. Hatte ich doch gewusst, dass sie etwas von mir wollte. Aber ihr Anfang war schon nicht schlecht. Nach dem Kompliment war ich durchaus geneigt, sie anzuhören.
»Ich kellnere oben gerade bei einem Junggesellenabschied und eigentlich ist es simpel, sie trinken alle nur Bier und Korn.«
»Okay, der Wink mit dem Zaunpfahl ist angekommen. Ich bin eine miserable Kellnerin, aber das sollte selbst ich hinbekommen.« Wollte Claudia mir ihren Bereich anbieten? Meine Hoffnung wuchs, wenigstens nicht komplett zu versagen.
»Also, ich würde gern mit dir tauschen, muss dir aber fairerweise sagen, dass ein paar Typen da oben lange Finger machen. Bisher hat mir nur einer auf den Hintern geklopft, aber das hat mir ehrlich gesagt schon gereicht.«
»Sind sie sehr betrunken?«
»So sehr, dass sie recht viel Trinkgeld geben, aber ich habe einen sehr eifersüchtigen Freund, und wenn der zufällig hier vorbeikommt und mich da oben sieht, bekommt er einen Anfall.« Ihre Wangen hatten sich leicht gerötet und ich begriff, dass sie sich schäbig fühlte. In ihren Augen zog sie mich gerade über den Tisch und nutzte meine Unerfahrenheit aus. Das konnte sie sich getrost sparen, bei dem Wort Trinkgeld war ich schon Feuer und Flamme gewesen.
Kurzerhand nickte ich nur und fragte: »Meinst du, dass Koch etwas dagegen hat?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn zuerst gefragt. Danke, dass du das machst. Ehrlich.«
Mit der Hand machte ich eine wegwerfende Bewegung. »Kein Thema. Hauptsache, du knöpfst mir nicht nachher das einzige Trinkgeld ab, das ich jemals in meiner glänzenden Laufbahn als Kellnerin verdienen werde.«