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Ein Journalist auf der Suche nach dem ewigen Leben
Wohin gehen wir, wenn wir sterben? Und können die Toten von dort aus zu uns sprechen? Um diese Fragen zu klären, macht der Journalist Stéphane Allix einen außergewöhnlichen Test: Als sein Vater stirbt, legt Allix ihm heimlich fünf Gegenstände in den Sarg. Anschließend befragt er sechs ausgewählte Medien, die behaupten, Botschaften von Verstorbenen empfangen zu können. Werden sie mit seinem Vater in Kontakt treten und herausfinden können, um welche Objekte es sich handelt? Das ist das Experiment.
Am Ende kommt Allix zu einer atemberaubenden Erkenntnis: Mit denen, die wir lieben, können wir über den Tod hinaus kommunizieren.
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Seitenzahl: 362
Veröffentlichungsjahr: 2019
Stéphane Allix
Das Experiment
Ein Skeptiker auf der Suche nach Beweisen für ein Leben nach dem Tod
Die französische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Le test« bei Éditions Albin Michel in Paris, Frankreich. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Deutsche Erstausgabe Juni 2019
© 2019 Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Originalausgabe: © Éditions Albin Michael – Paris 2015
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München
Umschlagmotiv: FinePic®, München
Lektorat: Nadine Lipp, Berlin
JG ∙ Herstellung: cb
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-23501-7V001www.goldmann-verlag.de
»Nichts ist göttlicher,als der schöne Tod eines geliebten Menschen.«
Mischka
Einführung
Henry
Dominique
Christelle
Pierre
Loan
Florence
Nachwort
ANHANG
Tod, Trauerprozess und Medialität
Praxisorientiertes Gespräch mit Dr. Christophe Fauré
Ratschläge für eine gelungene mediale Sitzung
Dank
Als mein Vater gestorben ist, habe ich fünf Gegenstände in seinen Sarg gelegt. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Dann habe ich Medien befragt, die behaupten, mit den Toten kommunizieren zu können.
Werden sie herausfinden, um welche Gegenstände es sich handelt?
Das ist das Experiment.
Mein Vater, Jean-Pierre Allix, ist am 16. Juni 2013 im Alter von fünfundachtzig Jahren verstorben. Er war ein wunderbarer Vater, ich habe ihn geliebt, und ich liebe ihn immer noch. Er hat mich gelehrt, ein Mann zu sein, für den Aufrichtigkeit und Ehrgefühl über alles gehen. Er hat mich dazu angeregt, ein Mensch zu werden, der sich selbst und auch anderen gegenüber anspruchsvoll ist und der stolz auf seine Herkunft ist. Er hat mir beigebracht neugierig zu sein, meinen Verstand zu nutzen, aber auch zuzuhören, ohne voreilig zu urteilen. Er hat mir an seinem Beispiel gezeigt, dass das Leben erstaunlich ist, und dass eben diese Fähigkeit zu staunen, wie alt auch immer man ist, einen vor der Verzweiflung bewahrt. Er hat mir gezeigt, wie man sieht, liest, versteht und sucht. Ich habe durch ihn Tolstoi, Flaubert oder Stendhal entdeckt, und er hat mir eingetrichtert, wie wichtig es ist, Sätze zu bilden, die etwas aussagen, aber auch angenehm zu lesen sind. »Ein Text ist wie Musik«, sagte er.
Wenn Sie weiterlesen, werden Sie besser verstehen, warum ich glaube, dass mein Vater weit mehr ist, als nur eine Testperson für ein besonderes Experiment – sechs Medien habe ich diesem Test unterzogen, zwei Männer und vier Frauen. Er ist mein Partner, die unsichtbare, aber zentrale Figur dieses Buches, an dem er manchmal mühevoll, oft emotional und manchmal sogar mit Humor mitgewirkt hat.
Zu seinen Lebzeiten haben wir öfter über den Tod gesprochen – bei einem Unfall in Afghanistan habe ich 2001 einen Bruder und er einen Sohn verloren –, das Thema war also allgegenwärtig in unserer Familie. Mein Vater und ich hatten besprochen, wie interessant der Versuch wäre, nach seinem Ableben die Frage nach dem Danach gemeinsam zu erforschen.
Als ich mich am Tag der Beisetzung, einige Minuten bevor der Sarg geschlossen und versiegelt wurde, allein in der Aufbahrungshalle befand, habe ich vier Gegenstände und einen Briefumschlag mit einer Nachricht hineingelegt, verborgen unter dem Stoff, der seinen Leichnam bedeckte. Von diesem Augenblick an, und bis der Sarg geschlossen wurde, bin ich in seiner Nähe geblieben und habe sichergestellt, dass niemand die Gegenstände neben seinem Körper sehen konnte. Ich habe die absolute Gewissheit, dass ich bis heute die einzige Person bin, die von diesen Gegenständen im Sarg weiß.
An jenem Samstagmorgen des 22. Juni 2013 habe ich Folgendes zu meinem Vater gelegt:
– einen langen dünnen Pinsel
– eine Tube weiße Acrylfarbe
– seinen Kompass
– ein Taschenbuch von Dino Buzzati, Die Tatarenwüste, eines seiner Lieblingsbücher
– ein Blatt Papier in einem naturweißen Umschlag, auf das ich ein paar Worte geschrieben hatte.
Ich habe daran gedacht, jeden Gegenstand zu fotografieren, kurz bevor ich ihn in den Sarg gelegt habe. Dann habe ich mich an meinen Vater gerichtet, wobei ich ihn nicht direkt angesehen habe, sondern eher die Leere über seinem Körper. Ich habe ihm erklärt, was ich mache und dass es nun seine Aufgabe ist, den Medien zu sagen, um welche Gegenstände es sich handelt. Etwas mehr als ein Jahr später habe ich mehreren Medien vorgeschlagen, an einem kleinen Experiment teilzunehmen, über das ich nichts Genaues gesagt habe …
Kann man wirklich mit den Toten sprechen? Viele behaupten es und machen daraus sogar ihren Beruf. Und einige von ihnen sind keine Scharlatane. Wer sind sie also? Das Ziel dieses Experiments ist es, sechs angesehene Medien auf die Probe zu stellen, die sich durch ihre Seriosität, ihre Ehrlichkeit und natürlich ihre Kompetenz auszeichnen.
In Frankreich gibt es mehr Personen, als man denken würde, die diese Fähigkeit, mit dem Jenseits zu kommunizieren, als Beruf gewählt haben. Tausende Menschen suchen sie auf, wenige sprechen darüber. Worum geht es bei Medialität genau? Was gilt es zu untersuchen? Sind diese Fähigkeiten real? Handelt es sich um ein gesellschaftliches Phänomen, das man auf eine Art Hochstapelei reduzieren könnte, für manche Medien unbewusst, aber für einige Betrüger ganz und gar bewusst? Hat man es mit einer Art kollektiver Illusion zu tun? Einer Form von Autosuggestion von Personen, die unfähig sind, den Verlust eines geliebten Menschen zu bewältigen? Oder handelt es sich um reale Verbindungen mit dem Jenseits? Ist es für jene, die diese Verbindungen herstellen können, eine Gabe oder ein Fluch? Eine Berufung oder ein Hirngespinst? Anhand der sechs Begegnungen, die ich Ihnen beschreiben werde, und der sechs Sitzungen, an denen Sie teilnehmen werden, versuche ich, gewissenhaft und objektiv auf alle diese Fragen zu antworten.
Medien behaupten, dass die Verstorbenen neben ihnen anwesend sind – sie sehen sie, spüren sie, sprechen mit ihnen –, und sie erhalten Informationen, weil die Verstorbenen mit ihnen reden! Sie werden feststellen, dass die Ergebnisse des Experiments die Wahrscheinlichkeit dieser Annahme bekräftigen: Ein Teil unserer Persönlichkeit oder unserer Identität bleibt nach dem physischen Tod in einer Form bestehen, die fähig ist, mit einem Medium zu kommunizieren.
Das Leben nach dem Tod ist heute eine rationale Annahme. Und es sind wissenschaftliche Forschungen über Medialität, die es ermöglichen, dies zu bestätigen.
Ein Medium ist eine Person, die sich mit einem oder mehreren Verstorbenen verbindet und so Informationen – manchmal intime – über einen Menschen erhält, dem sie nie zuvor begegnet ist. Und das ist in der Tat einer der geheimnisvollsten Aspekte der Medialität, denn bis heute gibt es keine konventionelle Erklärung, wie so etwas möglich sein kann.
Wenn das Medium einem Klienten gegenübersitzt, den es nicht kennt und für gewöhnlich zum ersten Mal sieht, ist es fähig, ihm eine mehr oder weniger umfangreiche Anzahl an faktischen Informationen zu übermitteln, die es offenbar von verstorbenen Personen empfängt. Die Frage ist: Woher kommen diese Informationen? Es gibt seit mehreren Jahrzehnten Forschungen zu diesem Thema, insbesondere von Wissenschaftlern wie Gary E. Schwartz1 oder in jüngster Zeit Julie Beischel2 vom Windbridge Institute. Diese Forschungen bestehen darin, die Art der Informationen zu untersuchen, die Medien während strengstens kontrollierter Versuche erhalten können.
Die gängigen Möglichkeiten, Informationen über eine Person zu erhalten, die man nicht kennt, sind in erster Linie Betrug oder Täuschung: Das Medium könnte im Vorfeld Informationen über den Klienten oder den Verstorbenen erlangt haben. Die Wissenschaftlerin Julie Beischel erklärt, dass ihr Forschungsprotokoll diese Möglichkeit ausschließt, da das Medium während der gesamten Dauer des Experimentes nur den Vornamen der verstorbenen Person kennt. Eine weitere konventionelle Erklärung, sagt sie, sei das Cold Reading, wenn das Medium visuelle oder auditive Hinweise verwendet, die es beim Klienten wahrnimmt, um dann Informationen zu offenbaren, die auf ihn zutreffen. Das nennt man auch Mentalismus. Um dies bei Julie Beischels Experimenten zu verhindern, befindet sich die Person, die die Rolle des Klienten spielt, nicht in demselben Raum wie das Medium. Und die Person, die das Experiment leitet, weiß nichts über den Klienten oder in Betracht kommende Verstorbene. Letzte mögliche Erklärung: Die Information, die das Medium übermittelt, kann so allgemein sein, dass sie auf jeden zutrifft. Um diese letzte Möglichkeit auszuschließen, bittet Julie Beischel das Medium auf vier spezifische Fragen über den Verstorbenen zu antworten: Beschreibung des Aussehens, der Persönlichkeit, Hobbys oder Tätigkeitsbereiche und Todesursache.
Die Ergebnisse, die im Laufe der zahlreichen aufeinanderfolgenden Experimente erhalten wurden, schließen die üblichen Erklärungen wie Betrug, richtungweisende Befragungen oder Suggestion definitiv aus. Mit diesen Versuchsprotokollen haben Forscher wie Julie Beischel oder Gary Schwartz sämtliche konventionelle Erklärungen ausgeschaltet.
Wie erhalten Medien also Informationen über die Lebenden und Verstorbenen, über die sie nichts wissen? Die Forscher stehen vor zwei Hypothesen, um die erzielten Ergebnisse zu erklären: Entweder die Medien kommunizieren tatsächlich mit den Verstorbenen, oder es handelt sich um eine Form von Telepathie, und diese Erklärung ist an sich bereits außergewöhnlich. In letzterem Fall wäre das Medium fähig, die Gedanken des Menschen, der ihn aufgesucht hat, zu lesen. Das Medium würde also nicht mit einem Geist reden, sondern die Informationen aus dem Kopf seines Gegenübers pflücken, das diese Informationen kennt.
Allerdings hat sich erwiesen, dass diese Form der Telepathie eine passive Handlung darstellt: In diesem Fall empfängt das Medium Bilder, sogenannte Flashs, doch die Medien erzählen von interaktiven Gesprächen bei der Kommunikation mit Verstorbenen. Und was noch entscheidender ist: In vielen Fällen sind die Informationen, die vom Medium überliefert werden, dem Tester, der im Versuch als Klient fungiert, unbekannt. Gary Schwartz erläutert das folgendermaßen: »Oft melden sich Verstorbene, die der Tester zwar kennt, aber nicht erwartet hat. Dann wieder bekommen wir Informationen, die der Tester als falsch bezeichnet oder die ihm nicht bekannt sind, und später stellen sie sich als richtig heraus.«
Das ist ein faszinierender Faktor, denn eine telepathische Übertragung könnte niemals den Gedanken des Klienten widersprechen, an den sich das Medium ja »angezapft« hat. Julie Beischel weist außerdem darauf hin, dass zahlreiche Medien mit telepathischen Praktiken vertraut sind. Sie können, so sagen sie, problemlos zwischen Telepathie und Kommunikation mit Verstorbenen unterscheiden: Die Empfindung, die mit der jeweiligen Situation einhergeht, ist anders. Darüber hinaus haben sie seit der Kindheit Erfahrungen damit gemacht. Das werden wir noch genauer ergründen.
Für Julie Beischel kommt die wissenschaftliche Annäherung an Medialität zu dem Ergebnis, dass »das abnorme Empfangen von Informationen eine Tatsache ist, wir aber nicht bestimmen können, wie es entsteht. Die Daten bekräftigen die Hypothese eines Überlebens des Bewusstseins, eines Lebens nach dem Tod. Ein Teil unserer Persönlichkeit oder Identität bleibt über den physischen Tod hinaus bestehen, in einem Zustand, der es möglich macht, mit einem Medium zu kommunizieren. Die Daten sprechen ebenfalls für andere Hypothesen, die keinerlei Zusammenhang mit dem Überleben des Bewusstseins haben: Hellsichtigkeit, Telepathie oder Präkognition könnten es den Medien ermöglichen, Informationen zu erhalten, ohne mit Verstorbenen zu kommunizieren. Doch nach Auswerten der Daten unserer medialen Experimente tendieren wir dazu zu glauben, dass das Überleben des Bewusstseins die wahrscheinlichste Erklärung ist.«
Aufgrund dieser durchgeführten Forschungen und jener, die ich selbst während der letzten Jahre angestellt habe,3 ist meiner Meinung nach das Leben nach dem Tod weit mehr als eine stichhaltige Hypothese. Ich recherchiere nun seit über zehn Jahren in der ganzen Welt und bin dabei Wissenschaftlern, Ärzten, Männern, Frauen und Kindern begegnet, die unglaubliche Erfahrungen mit Verstorbenen gemacht haben. Seit Jahren habe ich im Zusammenhang mit meiner Arbeit Kontakt zu Medien. Immer bin ich in meiner strikten und objektiven Funktion als Journalist geblieben. Und genau diese Haltung führt mich heute dazu, das Offensichtliche zu erkennen: Der Tod ist nicht das Ende des Lebens.
Mit diesem Buch möchte auch ich unanfechtbare Ergebnisse zu dieser Debatte beisteuern, die Sie auf den nächsten Seiten entdecken werden. Aber ich wollte nicht nur einfach beweisen, dass das Leben nach dem Tod weitergeht, sondern auch erforschen, wie diese Kommunikation zwischen zwei Welten zustande kommt. Zwischen den Lebenden und den Toten. Ich habe die Medien unermüdlich befragt: Was wird aus uns, nachdem der Körper zu Staub geworden ist? Was passiert mit uns als Individuum nach dem Tod? Man fährt fort zu sein, davon bin ich heute überzeugt, ich wiederhole es. Aber was zu sein? Genau dieselbe Person, die man im Erdenleben war? Oder entwickelt sich unsere Individualität? Was passiert in den ersten Wochen nach unserem Ableben? Wohin kommen wir? Wem begegnen wir?
Wer ist das Wesen, das mein Vater nach seinem Tod geworden ist und das mit mir kommuniziert hat?
Ich lade Sie ein mitzuerleben, was ich in monatelangen Nachforschungen erkennen durfte. Es ist atemberaubend. Jedes der sechs folgenden Kapitel widmet sich dem Porträt eines Mediums und beinhaltet die entsprechende vollständige Test-Sitzung. Noch nie bin ich in Gesprächen so weit vorgestoßen. Sie werfen ein unvergleichliches Licht auf das Ende des Lebens, den Tod, das Leben danach und die Kommunikation mit den Verstorbenen. Im Anhang erläutert der in Sterbebegleitung spezialisierte Psychiater Christophe Fauré die Besonderheiten des Trauerprozesses und gibt uns einige Ratschläge rund um den Tod und die Medialität.
Dieses Buch zu schreiben hat mein Leben verändert. Vielleicht wird es auch das Ihre verändern.
1 Gary E. Schwartz: The Afterlife Experiments, Atria Books 2002.
2 Julie Beischel: Among Mediums. A Scientist’s Quest for Answers, Windbridge Institute, LLC 2013.
3 Stéphane Allix: La mort n’est pas une terre étrangère, Albin Michel 2011, J’ai lu 2014; Enquêtes extraordinaires, Staffel 1 und 2, Les signes de l’au-delà und Ils communiquent avec les morts, Dokumentarfilme in Zusammenarbeit mit Natacha Calestrémé, DVD, Ed. Montparnasse 2011 und 2014.
Ich bin sehr angespannt vor dieser Sitzung. Ich kenne Henry Vignaud seit Jahren, und eine echte Freundschaft verbindet uns. Ich bin ihm zum ersten Mal im November 2006 begegnet und habe ihn bereits damals getestet, mit einem Foto meines Bruders, der fünf Jahre zuvor in Afghanistan ums Leben gekommen war. Das Ergebnis dieser ersten Sitzung war beeindruckend.4 Er wusste nichts über mich, und an diesem Tag hat Henry ohne Zweifel mit meinem Bruder kommuniziert.
Und dennoch hatte ich haufenweise Zweifel. Hin- und hergerissen zwischen Fassungslosigkeit und Widerstand kam ich damals aus der kleinen Wohnung, in der er mich empfangen hatte. Ich war fassungslos, weil er mir eine unglaubliche Anzahl von sehr präzisen Details über meinen Bruder gegeben hatte, über sein Leben, seinen Charakter, die besonderen Umstände seines Todes und so weiter. Details, die er objektiv gesehen nur von einer einzigen Person erfahren konnte: von meinem Bruder selbst, der seit fünf Jahren tot war! Und ich fühlte einen Widerstand, weil mein Verstand das, was so eindeutig war – mein Bruder hat nach seinem Tod zu mir gesprochen –, noch nicht bereit war zu akzeptieren.
Dieser Widerstand ist hartnäckig und klammert sich am geringsten Zweifel fest, am geringsten Anlass, der sich ihm bietet. An diesem Tag im November 2006 störte mich zum Beispiel, dass Henry zu keinem Zeitpunkt erwähnt hat, dass mein Bruder Thomas hieß. Er hatte ganz genau beschrieben, wie er damals bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, seine Kopfverletzung, den Ort, an dem es passierte, aber er hatte seinen Namen nicht genannt. Das schien mir paradox. Henry behauptete, dass mein Bruder sich mit uns im Raum befand, wieso sagte er also nicht ganz einfach: »Ach, übrigens, sag ihm, dass ich Thomas heiße.«? Das schien mir unbegreiflich, unlogisch, und diese Kleinigkeit stellte die absolut unerklärliche Realität infrage: Henry hatte mir sehr viele andere richtige Informationen mitgeteilt.
Inzwischen habe ich den Grund für diesen scheinbaren Widerspruch erfahren. Und es liegt mir viel daran, dies mit den sechs Medien zu erforschen, die sich bereit erklärt haben, sich dem Experiment zu unterziehen, das ich ihnen vorgeschlagen habe. Sehr kurzgefasst, denn dieser Punkt ist entscheidend, und ich werde im Laufe des Buches immer wieder darauf zurückkommen: Der Teil des Gehirns des Mediums, der die Worte, Bilder und Informationen der Verstorbenen erfasst, ist nicht derselbe Teil des Gehirns, der diese Informationen für die lebende Person – den Klienten – verbalisiert. Die Forscherin Julie Beischel hat mir das bei einem Gespräch erklärt, das ich mit ihr in Tucson, Arizona, vor ein paar Jahren geführt habe: »Namen und Daten bereiten vielen Medien Probleme. Ich denke, dies ist darauf zurückzuführen, dass diese Informationen von der linken Gehirnhälfte abhängen. Ein Name ist ein Etikett, und Zahlen und Etiketten werden von der linken Gehirnhälfte verarbeitet. Wir glauben, dass Medialität ein Prozess ist, der sich hauptsächlich in der rechten Gehirnhälfte abspielt. Die Informationen, die normalerweise von der linken Gehirnhälfte gefiltert werden, sind also schwerer zu erfassen und zu interpretieren.«
Man kann eine Parallele zu den ersten Sekunden nach dem Erwachen ziehen. In diesem Augenblick kann es passieren, dass Sie noch Ihren letzten Traum im Sinn haben. Er ist noch da, Sie spüren ihn, seine Erinnerung sitzt noch in Ihnen fest, mit allem, was er in Ihnen heraufbeschworen hat. Aber dann machen Sie eine Bewegung im Bett, und noch bevor Sie überhaupt aufstehen, zerfällt der Traum. Wenn Sie versuchen, ihn aufzuschreiben oder ihn Ihrer Lebensgefährtin oder Ihrem Lebensgefährten zu erzählen, zerstören seltsamerweise die Worte, die Sie verwenden, einen Teil des Traums. Indem Sie ihn erzählen oder aufschreiben, reduzieren Sie ihn zu Wörtern. Er fügt sich neu zusammen. Er wird beinahe etwas anderes. Tatsächlich ist es so, dass Sie von der rechten Gehirnhälfte, die geträumt hat, zur linken Gehirnhälfte gewechselt sind, die nun versucht, den Traum zu beschreiben. Doch irgendetwas stimmt nicht. Und dennoch spüren Sie noch vage ein paar Teile des Traums: Da war noch mehr … ein Detail ist Ihnen entglitten … die Farbe war doch … wie soll ich es ausdrücken? Nein, trotz Ihrer Bemühungen schaffen Sie es nicht, die richtigen Worte zu finden. Haben Sie das schon einmal erlebt? Für ein Medium verläuft es ähnlich, wie wir erfahren werden: Es muss während einer Sitzung gleichzeitig im Traum verbleiben, diesem feinsinnigen Raum von sensitiven Wahrnehmungen, in dem er mit den Verstorbenen in Kontakt ist, und ihn Ihnen mit Worten mitteilen. Die Fähigkeit, dieses ständige Hin und Her zu meistern, ohne seine Wahrnehmungen zu beeinträchtigen, ist das Geheimnis eines guten Mediums.
Während ich durch Paris fahre, in das Viertel, in dem Henry wohnt, frage ich mich, ob unsere Freundschaft diese Sitzung beeinflussen wird. Wird das Vertrauen, das wir ineinander haben, dazu beitragen, dass er beim Test weniger Stress empfindet, oder ist die Herausforderung dadurch eher größer und bewirkt das Gegenteil? Stress ist ein wichtiger Faktor, wenn man sich mit seinen übersinnlichen Wahrnehmungen verbinden will – denn sie sind feinsinnig und hochsensibel. Diese medialen Wahrnehmungen, von denen man meinen könnte, sie seien der Intuition oder dem sechsten Sinn ähnlich, werden bei der geringsten Emotion beeinträchtigt. Und Stress, die Angst zu versagen, ist eine gewaltige Emotion. Keines der Medien, die an diesem Experiment beteiligt sind, wird davon verschont sein.
Obwohl wir uns schon lange kennen, hat Henry meinen Vater niemals getroffen, und falls er von seinem Tod gehört hat, der nun über ein Jahr her ist, so weiß er sonst nichts von ihm. Nichts über die Umstände seines Todes und natürlich nichts über mein heimliches Experiment in der Trauerhalle, in der der Sarg versiegelt wurde. Seltsamerweise wird Henry zu keinem Zeitpunkt erwähnen, dass es mein Vater ist, mit dem er Kontakt aufnehmen wird, und dennoch, Sie werden sehen, es ist wirklich er, der kommen wird …
Wie gewöhnlich bin ich viel zu früh weggefahren, aus Angst, keinen Parkplatz zu finden. Ich fahre ins 13. Arrondissement von Paris, nördlich der Place d’Italie. Und wie gewöhnlich finde ich gleich einen Parkplatz, einige Fußminuten von Henry entfernt. Ich bin ungeduldig. Während ich warte, bis es Zeit für unseren Termin ist, bleibe ich hinter dem Lenkrad sitzen und nutze die Gelegenheit, mich mit lauter Stimme an meinen Vater zu wenden und an alle anderen Verstorbenen meiner Familie, die mich in der anderen Welt hören könnten. Ich mache das nun schon seit einigen Tagen. Ich bitte sie um Hilfe. Hilfe für dieses Buch. Hilfe für Papa, damit er es schafft, Henry zu sagen, was ich in seinen Sarg gelegt habe. Während ich laut in meinem Auto rede, kommt mir plötzlich der Gedanke, dass es für ein Medium quasi unmöglich ist, den Titel des Buches von Dino Buzzati, Die Tatarenwüste, zu verstehen, selbst wenn Papa ihm den Titel vermittelt, wenn ja schon ein einfacher Name so schwer zu erhalten ist. Wird denn eines der Medien es schaffen, diesen Roman zu nennen? Die anderen Gegenstände scheinen einfacher zu sein, aber dieses Buch? Ich bin noch weit davon entfernt, mir auszumalen, dass sich in etwas mehr als einer Stunde mitten in der Sitzung eine unglaubliche Synchronizität ereignen wird, wenn mein Vater die Lösung dieses Problems findet …
Ich trete in eine Wohnung mit zugezogenen Vorhängen. Henry ist wie immer freundlich und fröhlich. Er sieht gut aus. Ein Mann, der immer glücklich zu sein scheint, selbst wenn das Leben ihm manchmal zusetzt. Er bittet mich ins Wohnzimmer, in dem er seine Sitzungen abhält. Ein einfacher Raum, ein kleiner Tisch, der schräg im Eck steht, ein leichter Zigarettengeruch. Ich spüre sofort, dass auch er etwas angespannt ist. Er erzählt mir, dass er schon lange keine Sitzung mehr gemacht hat. Nach familiären Verpflichtungen und einer hartnäckigen Bronchitis wird er mit mir seine erste Sitzung seit einigen Wochen machen. Oje! Rostet ein Medium, wenn es nicht in Verwendung ist?
Es ist bereits recht dunkel, aber jetzt schließt er auch noch die Fensterläden, und es wird noch finsterer. Henry arbeitet gern im Dunklen. Zunächst gebe ich ihm keinen Hinweis und auch kein Foto, um zu sehen, wer sich spontan zeigt. Welche Verstorbenen möchten gerne etwas mitteilen?
Henry setzt sich an seinen kleinen Tisch, der überhäuft ist mit Papierkram, Heiligenbildern, einer kleinen Ikone, die Pater Pio darstellt und einem Aschenbecher. Er bedeckt sein Gesicht mit beiden Händen, um sich zu sammeln, geistig umzuschalten. Ich sitze ihm gegenüber, konzentriert, und warte. Die Minuten verstreichen in einer Stille, die manchmal von Hustenanfällen unterbrochen wird. Bronchitis und Zigaretten vertragen sich nicht besonders gut. Ich frage mich, wie er sich bei so einem Husten konzentrieren kann. Und dann beginnt es langsam.
»Zündest du oft Kerzen an?«, fragt er mich.
Komisch, dass er mir diese Frage stellt, denn gerade heute Früh, bevor ich hierhergekommen bin, habe ich eine angezündet – was ich sonst nie mache. Vor dem Kerzenlicht habe ich zu meinem Vater gesprochen. Für meine Frau Natacha allerdings ist es eine quasi alltägliche Geste, eine Kerze anzuzünden, um ihrer Angehörigen zu gedenken.
»Ich nicht, aber Natacha macht das oft.«
»Es gibt spirituellen Dank für die Kerzen, die regelmäßig für mehrere Verstorbene angezündet werden, ob von dir oder Natacha ist gleich.«
»Also ich habe heute eine angezündet, bevor ich hergekommen bin …«
»Es gibt Dank für dieses Licht … Das sehe ich jetzt schon länger, auch schon vorhin, bevor ich überhaupt angefangen habe.«
Nach dieser Einführung macht sich wieder Stille breit. Henry konzentriert sich, die Hände vor seinem Gesicht.
»Ich kann undeutlich das Gesicht eines Verstorbenen wahrnehmen, jemand, der einen Bart trug, eine Art Ziegenbart, wie man ihn mal zu einer Epoche getragen hat …«
»Das sagt mir nichts.«
Während ich das sage, und weil Henry von einer weit zurückliegenden Zeit spricht, denke ich plötzlich an meinen Urgroßvater Georges, der einen Ziegen- und einen Schnurrbart hatte. Aber ich sage nichts davon, denn ohne mehr Präzision ist Henrys Satz viel zu vage. Wieder vergeht Zeit.
»Paul, sagt dir das etwas, oder Jean-Paul?«
»Ja.«
»Ist es Paul oder Jean-Paul? Ich habe Paul gehört, aber es könnte auch Jean-Paul sein.«
»Es ist Paul.«
»Gestorben? Denn er ist da oben …«
»Ja.«
»Er versucht mir Maschinen zu zeigen, ich würde sagen chirurgische Apparate, vom Operationsblock, ja genau, das ist es, entweder diese Person wurde operiert, oder dieser chirurgische Eingriff hatte Folgen auf seinen irdischen Abgang … jedenfalls wurde er operiert, bevor er starb … Eine Operation war notwendig, und er ist gleich danach gestorben. Sagt dir das nichts?«
Eines der schmerzhaftesten Erlebnisse für Lise, die Mutter meines Vaters, war der Tod ihres großen Bruders Paul. Er wurde eigentlich am 18. Februar 1915, im Alter von einunddreißig Jahren, als vermisst gemeldet, während heftiger Kämpfe in der Ortschaft Beauséjour, die in der Region Champagne-Ardenne liegt. Die Dörfer dieser Region der Marne wurden vollständig zerstört, aber nur dieser kleine Ort wurde niemals wieder aufgebaut. Die Erinnerung an Pauls Verschwinden zeichnet seither meine Familie.
Wie kann man auf einem Schlachtfeld verschwinden? Ich will mir nicht vorstellen, was das bedeutet. Wir wissen nichts über die genauen Umstände seines Todes. Als vermisst gemeldet zu sein bedeutet, dass man keine Spur seines Leichnams gefunden hat, es ist also wenig wahrscheinlich, dass er verletzt wurde, dass er operiert wurde und während der Operation gestorben ist. Wieso wäre er danach als vermisst gemeldet worden? Im Zweifel weiche ich der Frage aus und erzähle Henry nichts von alldem. Er spricht weiter, und jetzt wird es erstaunlich.
»Dieser Mann ist hier, ich sehe ihn. Er hatte anscheinend Probleme mit dem Magen. Weißt du das?«
»Nein, weiß ich nicht. Redest du von Paul?«
»Ich glaube schon … Ah, nein, warte. Ein anderer hatte schlimme Magenbeschwerden und wurde operiert. Das ist nicht Paul …«
Es scheint, als würden sich verschiedene Personen manifestieren und dass sich diese von Henry wahrgenommenen Erscheinungen überlagern. Ich bin verblüfft über die Erscheinung dieses Paul, dessen spurloses Verschwinden meine Großmutter erschütterte, aber noch mehr erstaunt mich die Erwähnung eines Mannes mit Magenbeschwerden, dessen Operation zum Tod führte. Denn genau das war das Problem meines Vaters!
Er hatte Aszites, auch Bauchwassersucht genannt, sein Bauch schwoll gewaltig an, füllte sich mit Wasser. Während der letzten Monate seines Lebens musste er mehrere Punktionen im Krankenhaus über sich ergehen lassen. Mithilfe einer großen Nadel entnahm man ihm mehrere Liter Wasser. Am Tag vor seinem Tod hat eine letzte Punktion seinem bereits sehr geschwächten Körper die letzten Kräfte geraubt. Er verlor das Bewusstsein und starb am nächsten Tag. Dieser Mann, der gleichzeitig mit Paul erscheint und der »schlimme Magenprobleme hatte« und »operiert wurde, bevor er starb«, »eine Operation, die Folgen auf seinen irdischen Abgang hatte« … das trifft alles so genau auf meinen Vater zu! Und Paul war sein Onkel.
Henry kommt auch wieder auf Paul zu sprechen, mit einer neuen, wieder eigenartigen Information.
»Paul war sehr traurig, bevor er starb, ich sehe seine glänzenden Augen … Der Buchstabe F erscheint … ein Vorname? Ein Name?«
Traurig zu sein zu sterben, das hat nichts Originelles an sich, aber der Buchstabe F! Paul hieß Lafitte.5 Oder setze ich die Puzzlestücke zu schnell zusammen? Aber hier gibt es immerhin Schlag auf Schlag mehrere Elemente, die genau zusammenpassen: Paul F, für Paul Lafitte, dieser Mann, der nach einem chirurgischen Eingriff am Bauch verstarb, was eindeutig meinem Vater zugestoßen ist, der außerdem der Neffe von Paul war. Ich sage erstmal nichts und behalte das alles für mich.
Die Sitzung geht weiter, von langen Momenten der Stille durchzogen. Ich habe den Eindruck, dass Henry eine Vielzahl flüchtiger Bilder empfängt, weil ich ihn in keine bestimmte Richtung orientiere: Er sieht mich zum Beispiel als Kind, wie ich Stiegen hinaufrenne, und tatsächlich lebten wir, als ich ein Kind war, im fünften Stock eines Hauses in der Rue Gay-Lussac, in Paris, und ich flitzte diese Stockwerke immer hinauf. Er beschreibt recht treffend meinen Charakter als Kind. Ich bitte ihn, alles auszusprechen, was ihm in den Sinn kommt, ohne ihm genauere Angaben zu geben.
»Hast du eine Pistolen- oder Gewehrpatrone bei dir aufgehoben?«, fragt er mich plötzlich.
»Ja.«
»Man zeigt sie mir ganz deutlich, ich weiß nicht, warum …«
Ich habe mehrere Kalaschnikow-Patronen bei mir zu Hause, die ich von meinen Reisen in Afghanistan mitgebracht habe und deren Schießpulver ich entfernt habe. Aber was hat das bitte hier zu suchen? Ich habe den Eindruck, dass ein wenig aufgeregte Unruhe bei den Verstorbenen herrscht: Man versucht mir aussagekräftige Hinweise zu übermitteln, die unterschiedliche Epochen betreffen oder unterschiedliche Personen meiner Familie, aber das alles kommt irgendwie hektisch und durcheinander daher. Wenn ich Henry helfen würde, könnte er sich gewiss besser auf eine bestimmte Person im Jenseits konzentrieren oder eine bestimmte Begebenheit. Aber ich möchte erst einmal weiterhin beobachten, was sich ereignet, wenn ein Medium alles empfängt, ohne sich auf einen bestimmten Verstorbenen zu fokussieren.
Genau das ist so besonders in einer medialen Sitzung und kann manchmal für das Medium ein Mittel sein vorzugeben, mit den Toten zu kommunizieren, obwohl es einfach nur eine allgemeine Banalität nach der anderen ausspricht: Wir selbst geben Aussagen einen tieferen Sinn, obwohl sie gar keinen haben. Ich bin dahingehend sehr aufmerksam, aber gleichzeitig ist mir auch bewusst, dass mein Schweigen Henry die Aufgabe sehr viel schwerer macht, auch wenn das die nötige Objektivität aufrechterhält. Und dennoch, ich bin davon überzeugt, dass dieser Mann mit den Bauchbeschwerden mein Vater ist, und mir ist auch bewusst, dass Henry sich nicht auf diese Seele fokussiert hat, sie nicht »aufgehalten« hat, weil er keine Bestätigung von mir bekommen hat. Und so lässt er seine Sinne weiter in der geistigen Welt herumstreifen.
»Hat jemand in der Familie irgendwann eine Schlange gehabt? Das ist seltsam …«
»Ja, ich.«
Ich war verrückt nach diesen Tieren und hatte eine Schlange in einem Vivarium, aber mein Bruder Thomas, der im April 2001 gestorben ist, war auch ein großer Schlangen-Fan und hat mehrere davon in seinem Zimmer gehalten.
»Du?«, wundert sich Henry. »Ich sehe eine Schlange, die sich vor mir bewegt … Du hast eine Schlange gehabt?«
»Ja, und mein Bruder auch.«
»Aha … Wirklich eigenartig, ich habe diese Schlange vor mir gesehen, wie sie auf dem Schreibtisch kriecht …«
Ich habe eine weitere Bestätigung, Henry hat keine Schwierigkeiten, er nimmt tatsächlich Dinge wahr. Man muss sich vorstellen, dass er ein unbeständiges Gedränge beobachtet – ein für mich unsichtbares Gedränge, und dass ihm alle auf einmal etwas mitteilen wollen. Mein Vater ist inmitten dieses Gedränges, und es ist offensichtlich, dass er es nicht schaffen kann, die Aufmerksamkeit Henrys speziell auf sich zu lenken, solange dieser keine genaueren Hinweise von mir bekommt. Ja, Henry nimmt eine undeutliche Schar von Geistwesen wahr. Ich mache ihm mit meinem Schweigen die Aufgabe wirklich schwer.
Wir sind Freunde, er kennt meine Geschichte und hat in der Vergangenheit mehrmals meinen Bruder mit einer bemerkenswerten Präzision empfangen. Daher habe ich auch keinerlei Zweifel an seinen medialen Fähigkeiten. Dennoch ruft diese besondere Sitzung eine gewisse Befangenheit in ihm hervor, und das trägt sicher nicht zu seiner völligen Entspannung bei – diese ist jedoch nötig. Außerdem spüre ich, dass er mir nicht von Thomas erzählt, auch wenn er ihn in diesem Gedränge wahrnimmt, denn er kennt die Einzelheiten des Todes meines Bruders und zensiert sich deswegen in gewisser Weise selbst.
Gehen wir also einen Schritt weiter, ich will ja nicht, dass er mit dieser Blindgänger-Übung seine Kräfte erschöpft und keine Chance hat zu zeigen, was er kann. Ich hole das Foto meines Vaters hervor und lege es auf den Tisch, ohne ihm zu sagen, um wen es sich handelt. Ich merke sofort, was für eine Wirkung dieses Bild hat, obwohl Henry es höchstens zwei Sekunden anschaut, bevor er es in die Hand nimmt und es sich mit geschlossenen Augen an die Stirn hält. Es ist, als ob sich inmitten dieses riesigen Trubels unsichtbarer Kräfte eine sofortige Verbindung zwischen dem Mann auf dem Foto, der seit einiger Zeit mit so vielen anderen anwesend ist, und Henry herstellt. Ein direkter Kontakt, befreit von den Störungen, die durch die anderen Verstorbenen hervorgerufen wurden. So viele Seelen, mit ihren Bitten, Bildern und Gefühlen …
Wird mein Vater es nun schaffen, sich deutlicher auszudrücken? Wird er Henry das sagen, worauf ich warte?
Wie wird man ein Medium? Stellt man Henry Vignaud diese Frage, dann erzählt er immer von seiner frühesten Erinnerung. Er ist sieben Jahre alt, als er zum ersten Mal einen Erhängten sieht – in einem Zimmer des Hauses, in dem er wohnt. Er ist der Einzige in der Familie, der ihn wahrnimmt. Von seinem Zimmer aus erkennt er ganz deutlich die Form eines Mannes, der an einem Strick hängt. Diese Vision ereignet sich immer öfter, und seine Eltern sind ratlos (Jahre danach haben sie erfahren, dass sich der frühere Besitzer des Hauses genau dort, wo Henry ihn sah, erhängt hatte).
Henry hat diese Vision über Jahre hinweg, bis die Familie umzieht. Wenn man ihn bittet zu beschreiben, was er gesehen hat, dann spricht er eher von einem erstarrten als von einem lebendigen Bild. Sehr viel später hat Henry dann verstanden, dass es sich nicht um den Geist eines Verstorbenen gehandelt hat, sondern um eine gespeicherte Erinnerung von dem, was in diesem Haus passiert war. Wie eine Aufnahme, ein Ausschnitt eines Films, der ununterbrochen wiederholt wird. Warum nahm er das wahr? Er weiß darauf keine Antwort, aber erklärt, dass ein tragischer Tod wie bei jenem Mann von starken Schmerzen begleitet wird und wohl deshalb einen Ort nachhaltig prägt. Eine Prägung, die in den Augen des Kindes, das er damals war, sehr real war: Ein Mann, mit gesenktem Kopf, der an einem Strick hängt. Er sieht dieses Bild damals häufig, aber zum Glück nicht täglich. Wenn er es sieht, dann versteckt er sich unter der Bettdecke, lugt aber dennoch aus einem kleinen Loch hervor. Er hat anfangs große Angst. Aber mit der Zeit gewöhnt er sich daran, so weit man sich überhaupt an so etwas gewöhnen kann.
Diesem rätselhaften stillen Erhängten folgen nach und nach lebendigere Visionen. In den folgenden Jahren häufen sich die rätselhaften Phänomene. Henry spürt, wie Dinge zu ihm kommen, wie sie in seinem Zimmer erscheinen. Er spricht von aufsteigendem Rauch, von unbekannten Gesichtern, die sich mehr oder weniger deutlich materialisieren. Diese Gesichter tauchen plötzlich vor ihm auf, erscheinen manchmal in einer Kulisse, einer Landschaft, die mit ihnen in Verbindung zu stehen scheint. Henry hat den Eindruck, dass sie im Gegensatz zum Erhängten völlig lebendig sind und ihm Szenen aus ihren Leben zeigen. Er hört keine Stimmen, hat aber das Gefühl, eine Art Magnet für diese Wesen zu sein.
Trotz seines jungen Alters glaubt Henry, dass es sich um Geistwesen handelt, die zu ihm kommen. Im Nachhinein denkt er, dass sie ihm damals erschienen sind, um ihn für diese Art des Bewusstseins zu sensibilisieren und sein Erwachen zu fördern. Denn Henry hat seit seiner Geburt eine gewisse Form von Sensibilität gezeigt, und während seiner Kindheit öffnet sich in ihm eine Tür zu einer unbekannten Dimension.
Er erlebt diese Jahre wie eine spirituelle Vorbereitung. Eine gezielte und bewusste Vorbereitung, denn die, die zu ihm kommen, sind keineswegs Verstorbene seiner Familie, die wie Störenfriede mit bestimmten Anliegen erscheinen. Nein, Henry hat es damals mit völlig unbekannten Geistwesen zu tun, die eine bestimmte Absicht zu verfolgen scheinen.
Er hat das Glück, ungezwungen mit seinen Schwestern und seiner Mutter darüber reden zu können, später dann auch mit anderen Verwandten und sogar mit seinen Schulfreunden. Auch wenn es je nach Person unterschiedlich aufgenommen wird. Bevor er mit der kritischen Beurteilung der anderen konfrontiert wurde, schien ihm das, was er erlebte, ganz normal, er dachte, alle würden sehen, was er sah. Aber als man anfängt, sich über ihn lustig zu machen, fragt er sich, ob er vielleicht verrückt ist. Und dennoch spürt Henry in seinem Innersten, dass die Dinge, die er erlebt, real sind. Er ist ein ausgeglichenes und geistig gesundes Kind.
Obwohl ihm anfangs diese Erscheinungen manchmal Angst machen, merkt er bald, dass er niemals das Gefühl hat, belästigt oder angegriffen zu werden. Schrittweise werden ihm diese anderen Dimensionen vertraut. Diese erweiterte Wirklichkeit wird für ihn selbstverständlich, ohne Zugriff auf das geringste Buch über dieses Thema zu haben, denn er wohnt in einem kleinen abgeschiedenen Dorf. Und im Fernsehen redet man nicht darüber. Nicht so sehr Ängste und Zweifel sind für ihn ein Problem, sondern vielmehr die Tatsache, an keinerlei Informationen zu kommen. Er muss diese Phänomene hinnehmen, ohne zu wissen, worum es sich handelt. Nur eines weiß er ganz sicher: Sie existieren, sie sind real.
Henry kommt in die Pubertät und erlebt in dieser Zeit intensive Wahrnehmungen. Diese Erlebnisse können täglich eintreten, manchmal mehrmals in der Nacht, aber es können auch zwei, drei Wochen vergehen, ohne dass etwas passiert. In der Pubertät hat er plötzlich blitzartige Visionen, sogenannte Flashs. Er nimmt ein Ereignis wahr, eine Begebenheit, etwas, das die betroffene Person – Familienmitglieder oder Schulfreunde – dann bestätigt. Er nimmt auch Dinge wahr, die sich später ereignen werden. In der Schule nennt man ihn nun den Hexer. Nichtsdestotrotz zweifelt er nicht an dem, was er wahrnimmt, auch wenn er begreift, dass er der Einzige ist, der solche Dinge erlebt. Er fragt sich nicht mehr, ob ihm seine Fantasie einen Streich spielt. Nein, dafür ist alles zu eindringlich, zu real, zu lebendig. Und nachdem seine Eltern endlich herausgefunden haben, dass sich tatsächlich ein Mann in ihrem Haus erhängt hatte, genau an dem Platz, wo Henry ihn sah, findet er die Bestätigung, dass seine Wahrnehmungen nicht seiner Einbildungskraft entspringen.
Henry spricht mit viel Wärme über die Art, wie diese Erscheinungen ihn geschult haben. Das intuitive Verständnis, das er von diesen Phänomenen hat, und von der Rolle, die sie in seinem spirituellen Erwachen spielen, tragen dazu bei, dass er immer mehr Vertrauen fasst: Ein äußerer Wille greift ein.
Während seiner ganzen Kindheit ist Henry von einer Art tiefen Vertrauens erfüllt. Er weiß, dass ihm seine Visionen eine andere Dimension eröffnen, aber die eigentliche Initiation beginnt, als er außerkörperliche Erfahrungen macht. Denn ab dem Alter von sechzehn Jahren beginnen ansatzweise seine ersten Astralreisen.
Wie viele der paranormalen Phänomene, die Henry auch heute noch erlebt, ereignen sich diese neuen Erfahrungen einige Minuten, nachdem er sich schlafen gelegt hat. Er erinnert sich, dass er die ersten Male das Gefühl hatte, dass der untere Teil seines Körpers sich hebt – nicht seine physischen Beine, sondern ein anderer Körper–, während der obere Teil sich nicht bewegt. Oder der Oberkörper hebt sich, aber der untere Teil regt sich nicht. Er hat den Drang, seinen Körper zu verlassen, er spürt einen Energieschub und versteht, dass da etwas passiert, aber letztlich geschieht gar nichts. So geht das über Monate hinweg, und dann befindet er sich eines Tages plötzlich auf allen vieren neben seinem Bett. Das ist nicht weiter verwunderlich, bis er feststellt, dass sein Körper noch immer im Bett liegt, obwohl er sich auf allen vieren daneben befindet. Er erschrickt, bekommt es mit der Angst zu tun und ist sofort wieder in seinem physischen Körper zurück. Ein anderes Mal sitzt er am Bettrand, steht auf, und als er das Licht andrehen will, geht seine Hand durch den Lichtschalter und die Wand hindurch: Sein Astralkörper ist aufgestanden, ohne dass er sich dessen bewusst war. Er dreht sich um und sieht seinen physischen Körper, was ein eigenartiges Gefühl in ihm auslöst. Da überkommt ihn wie damals die Angst.
Es dauert Monate, bis er sich langsam mit diesen Erfahrungen vertraut macht. Es ist gar nicht sein eigener Wille – er versucht ja nicht, seinen Körper zu verlassen –, diese Dinge geschehen einfach. Und seit seiner Kindheit ist da immer diese Ahnung, dass er einer Art Ausbildung unterworfen wird. Als die Angst durch die wiederholten Versuche nachlässt, bemerkt er, dass man ihn ruft, nämlich genau dann, wenn die charakteristischen körperlichen Empfindungen zu Beginn des Austritts auftreten. Eine geheimnisvolle Stimme flüstert ihm zu: »Komm.« Es ist die Stimme seines Geistführers, aber das wird er erst sehr viel später begreifen.
Er fühlt sich durch diese schöne schützende spirituelle Kraft in Sicherheit und lässt den Austritt aus seinem Körper zu. Unter der Führung dieser vertrauensvollen Stimme wiederholen sich seine Astralreisen immer öfter, während sein Körper brav in seinem Bett bleibt. Obwohl die Häufigkeit seiner außerkörperlichen Reisen immer mehr zunimmt, ist Henry niemals fähig, das Ziel dieser Reisen zu bestimmen – zum Beispiel seine Mutter zu besuchen. Sobald er sich außerhalb seines Körpers befindet, ist sein Wille lahmgelegt, und man zeigt ihm Dinge.
Könnte es sich vielleicht um Träume handeln, weil er sich schließlich im Bett befindet, wenn sich diese Erlebnisse ereignen? Nein, die Klarheit und die Intensität dieser Erfahrungen lassen keinen Zweifel zu: Das sind keine Träume. Diese Gewissheit hatte er bereits, bevor sich solche Ereignisse am helllichten Tag zutrugen. Wie etwa, als er, bereits erwachsen, aus Versehen aus seinem Körper tritt … mitten im Supermarkt.
Henry ist mit Freunden einkaufen, unter anderem mit dem Medium Nicole Leprince, und schiebt seinen Einkaufswagen durch die Reihen, um die Zutaten für ein gutes Abendessen zusammenzusuchen, als er sich plötzlich seltsam fühlt. Er bleibt stehen, um seine Aufmerksamkeit auf seine Wahrnehmungen zu lenken. Vielleicht fühlt er die Energie des Ortes, an dem er sich befindet, oder die von jemandem um ihn herum oder die Energie eines Geistwesens? Er ist nun ein junger Erwachsener und hat sich an diese Art spontaner Wahrnehmungen gewöhnt, aber er tut sich noch schwer damit, sie einzuordnen, er spürt einfach eine Art Energie um sich. Jedenfalls tritt er an diesem Tag aus seinem Körper aus, schwebt über den Regalen und beobachtet von seinem neuen Aussichtspunkt die Leute, die mit ihren Einkäufen beschäftigt sind, seine Freunde und … zahlreiche mehr oder weniger deutlich geformte, durchsichtige Gestalten, die sich unter den Lebenden tummeln.
Währenddessen bleibt sein Körper bewegungslos stehen, die Hände auf dem Einkaufswagen, mit dem Kopf ganz woanders, im wörtlichen und im übertragenen Sinn, wie wenn man in Gedanken versunken ist. In diesem Augenblick ist Henry gleichzeitig physisch anwesend und in einer anderen Wirklichkeit, als Beobachter von oben. Seine Freundin Nicole versteht, was vor sich geht, nimmt ihn am Arm und sagt ihm: »Henry, komm zu uns zurück …« Henry hört den Ruf seiner Freundin im Stimmengewirr, das ihn umgibt. Und sie holt ihn zurück. Ganz behutsam.
Diese außerkörperliche Erfahrung war wohl ein Versehen, denn sie war ganz anders als alle anderen. Sie schien nicht gewollt, aber sie war ihm dennoch eine große Lehre. Denn an diesem Tag wird ihm körperlich bewusst, in welchem Ausmaß wir ständig von Geistwesen umgeben sind. Henry weiß das damals schon in der Theorie, aber es mit eigenen Augen zu sehen, festzustellen, dass wir umgeben, ja geradezu umzingelt sind von den Seelen Verstorbener, überrascht ihn. Nie hätte er gedacht, dass das solche Ausmaße hat. Er weiß nicht, ob diese Verstorbenen im Supermarkt Angehörige der Personen waren, die dort eingekauft haben. Später wird er erfahren, dass Seelen das Umfeld eines Menschen oder eines Ortes verunreinigen können. Andere Menschen wiederum ziehen besondere Energien an, Seelen, die sich wie Parasiten einen Wirt suchen. Er selbst als Medium fühlt sich manchmal von einem Verstorbenen jeglicher Energie beraubt.
Henry glaubt, dass diese außerkörperliche Erfahrung mitten im Supermarkt eine Art Unfall war, im Gegensatz zu den meisten anderen, die er seit seiner Kindheit erlebt hat. Heute ist er davon überzeugt, denn jemand hat es ihm bestätigt.
Im Verlauf seiner Kindheit hat Henry sich aufgrund der Reaktion seiner Mitmenschen immer mehr als andersartig empfunden, obwohl für ihn ja anfangs alles normal war. Nach und nach ist ihm bewusst geworden, dass er die Fähigkeit hat, Dinge zu sehen, die andere nicht sehen. Er wurde mit Kräften, Wesenheiten konfrontiert, die ein Eigenleben hatten. Aber während der außerkörperlichen Reisen in seiner Adoleszenz fing er an, die Stimme eines Wesens zu hören, das sich ihm als sein Geistführer vorstellte, und erlebte mit ihm eine neue Phase seiner Ausbildung.
Zu diesem Zeitpunkt ist jegliche Angst verschwunden, er weiß, dass er beschützt wird. Wenn sein Geistführer ihm sagt »Komm«, dann kann er sich nicht widersetzen, das ist ihm unmöglich. Er tut sich heute schwer, das zu erklären. War es diese beruhigende, bestärkende Stimme? Eine Stimme, die in sein ganzes Wesen eindringt, die ihn mit einem tiefen Gefühl des Friedens überwältigt. Als würden ihre Seelen sich wiedererkennen, als wäre dieser Geistführer jemand, den er schon immer kennt. Sobald er bei ihm ist, weiß Henry, dass er nicht in Gefahr ist, selbst wenn er nicht erklären kann, wohin sie gehen. Er geht auch nicht wirklich irgendwo hin,
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