Das fahle Pferd - Agatha Christie - E-Book

Das fahle Pferd E-Book

Agatha Christie

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Schwarze Magie oder tödlicher Hokuspokus? Eine Reihe von Todesfällen lässt dem Historiker Mark Easterbrook, der eigentlich nur in Ruhe sein Buch schreiben möchte, keine Ruhe. Als im Schuh eines ermordeten Pfarrers eine Namensliste gefunden wird, auf der sich auch die Namen einiger kürzlich Verstorbener finden, ist er sich sicher, dass diese Menschen keineswegs eines natürlichen Todes gestorben sind. Doch welche Rolle spielt »Das fahle Pferd«, ein ehemaliger Gasthof, in dem angeblich schwarze Magie praktiziert wird? Mark Easterbrook muss dem Mörder eine gewagte Falle stellen, um ihn zu enttarnen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 270

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Agatha Christie

Das fahle Pferd

Kriminalroman

Roman

Aus dem Englischen von Margret Haas

Atlantik

Für John und Helen Mildmay White – vielen Dank für die mir eingeräumte Gelegenheit, Gerechtigkeit walten zu sehen

1

Die Espressomaschine hinter meinem Rücken zischte wie eine zornige Schlange. Das Geräusch klang unheimlich, um nicht zu sagen drohend in meinen Ohren, und ich dachte bei mir, dass fast alle unsere neuzeitlichen technischen Errungenschaften das gleiche Gefühl erwecken. Das bösartige Heulen eines Düsenflugzeugs, das dumpf-einschüchternde Dröhnen der Untergrundbahn, die schweren Lastzüge, die die Fundamente unserer Häuser erbeben lassen … selbst die gewöhnlichsten Haushaltsgeräte mahnen zur Vorsicht, so große Erleichterungen sie auch bieten mögen. Staubsauger, Waschmaschinen, Schnellkochtöpfe, Geschirrspüler und Eisschränke scheinen zu sagen: Vorsicht, ich bin zwar zu deiner Bequemlichkeit da, aber wehe, wenn du die Kontrolle über mich verlierst!

Eine gefährliche Welt – ja, wahrhaftig gefährlich.

Ich rührte in dem dampfenden Kaffee, der vor mir stand. Er duftete höchst angenehm.

»Was möchten Sie sonst noch? Ein schönes Sandwich mit Schinken und Banane?«

Das schien mir eine seltsame Kombination. Bananen erinnerten mich an meine Kindheit – oder höchstens noch an bananes flambées mit Zucker und Rum. Und Schinken war in meiner Vorstellung unweigerlich mit Eiern verbunden. Aber man muss mit den Wölfen heulen, und da ich in Chelsea mit seinen vielen italienischen Restaurants lebte, musste ich mich eben den Gewohnheiten von Chelsea beugen. Also bestellte ich ein schönes Sandwich mit Schinken und Banane.

Obwohl ich nun schon seit drei Monaten hier eine möblierte Wohnung hatte, fühlte ich mich in dieser Gegend von London immer noch als Fremdling. Ich schrieb an einem Buch über die Architektur der Moguln, doch dazu hätte ich mich genauso gut in jedem beliebigen anderen Stadtteil niederlassen können. Meine Umgebung war mir völlig gleichgültig, sofern sie nicht direkt meine Arbeit betraf – ich lebte völlig in meiner eigenen Welt.

An diesem Abend jedoch hatte ich unter jenem Unlustgefühl gelitten, das jeden Schriftsteller von Zeit zu Zeit ergreift.

Lebensweise und Architektur der Moguln und all die faszinierenden Probleme, die sich daraus ergaben, fand ich auf einmal tödlich langweilig. Was bedeuteten sie schon? Weshalb wollte ich eigentlich darüber schreiben?

Ich blätterte zurück und überflog noch einmal, was ich bereits geschrieben hatte. Es schien mir alles gleich schlecht; erbärmlich geschrieben und unwahrscheinlich eintönig. Wer immer es auch gesagt hatte: »Geschichtliche Ereignisse sind nur Hindernisse auf unserm Weg« – vielleicht Henry Ford? –, der hatte vollkommen recht gehabt.

In dieser Stimmung stieß ich mein Manuskript hasserfüllt von mir, stand auf und schaute auf die Uhr. Es war kurz vor elf. Hatte ich eigentlich zu Abend gegessen? Nach dem leeren Gefühl in meinem Magen zu schließen, wohl nicht. Einen kleinen Lunch, ja – aber das war schon lange her.

Ich ging in die Küche und guckte in den Eisschrank. Da war ein Rest getrockneter Zunge, der mich jedoch gar nicht lockte. So kam es denn, dass ich die King’s Road hinunterschlenderte und schließlich in einer Coffee Bar landete, die quer über dem Fenster in roten Neonbuchstaben den Namen »Luigi« trug, und jetzt tiefsinnig ein Sandwich mit Schinken und Banane betrachtete, während ich über die düsteren Aspekte des Lärms in unserem technischen Zeitalter und ihre atmosphärischen Auswirkungen nachgrübelte.

Die Espressomaschine zischte mir wieder ins Ohr. Ich bestellte eine zweite Tasse und sah mich im Lokal um. Meine Schwester behauptete immer, ich würde überhaupt nichts sehen oder bemerken von dem, was um mich herum vorging. »Du lebst vollkommen in deiner eigenen Welt«, pflegte sie vorwurfsvoll zu sagen. Nun schaute ich mich also um in dem erhebenden Gefühl, eine besondere Leistung zu vollbringen. Man las doch fast jeden Tag etwas über diese italienischen Restaurants und ihre Besitzer in den Zeitungen, und dies war meine Chance, mir mein eigenes Urteil über das Leben von heute zu bilden.

Es war recht düster im Raum, sodass ich nicht allzu viel sehen konnte. Die Gäste waren fast alle jüngere Leute und, wie ich vage vermutete, das, was man die Off-beat-Generation nennt. Die Mädchen sahen so aus, wie sie mir heutzutage alle vorkommen, nämlich schmuddelig. Auch schienen sie viel zu warm angezogen zu sein. Das hatte ich schon vor ein paar Wochen bemerkt, als ich mit einigen Bekannten dinierte. Die junge Frau am Nebentisch damals mochte etwa zwanzig gewesen sein; im Lokal war es ausgesprochen warm, doch sie trug einen gelben Wollpullover, einen schwarzen Rock und schwarzwollene Strümpfe, und der Schweiß rann ihr die ganze Zeit übers Gesicht. Sie roch nach schweißgetränkter Wolle und auch sehr penetrant nach ungewaschenem Haar. Wie meine Bekannten behaupteten, galt sie als sehr attraktiv. Da war ich aber anderer Ansicht! Bei mir erweckte sie nur den sehnlichen Wunsch, sie in ein heißes Bad zu stecken, ihr ein Stück Seife in die Hand zu drücken und sie anzuflehen, nun ordentlich loszuschrubben. Was nur bewies, wie ich vermute, wie wenig ich die heutige Zeit verstand. Vielleicht kam es durch die vielen Jahre, die ich im Ausland gelebt hatte. Mit Sehnsucht dachte ich an die Inderinnen mit ihrem schön geschlungenen schwarzen Haar, an die Saris in den leuchtend klaren Farben, die Stoffe, die in weichen Falten niederfielen, und an den Rhythmus der geschmeidigen schlanken Körper.

Diese angenehmen Erinnerungen wurden höchst unsanft unterbrochen. Zwei junge Mädchen an einem Nebentisch hatten begonnen miteinander zu streiten. Die Jünglinge, die zu ihnen gehörten, versuchten sie zu beschwichtigen, allerdings ohne sichtbaren Erfolg.

Der Lärm schwoll zu voller Lautstärke an. Das eine Mädchen schlug dem anderen ins Gesicht, und dieses wiederum riss das erste vom Stuhl hoch. Sie schrien hysterisch und kämpften miteinander wie Fischweiber. Die eine war ein wuschliger Rotkopf, die andere hatte langes, blondes Haar.

Um was der Streit eigentlich ging, blieb mir unklar. Aber Rufe und Pfeifen erschollen von anderen Tischen.

»Los, Mädels! Gib’s ihr, Lou!«

Der Mann hinter der Bar, ein schlanker, italienisch aussehender Mann, den ich für Luigi, den Besitzer, hielt, eilte herbei.

»Halt! Aufhören – aufhören, sag ich! In einer Minute wird die halbe Straße hier sein … und die Polizei auch! Schluss damit, sag ich!«

Doch die Blonde hatte den Rotschopf am Haar gepackt und zerrte wütend daran, während sie schrie: »Nichtsnutzige Hexe! Nur auf Männerfang aus!«

»Selbst Hexe, du Dreckstück!«

Luigi und die beiden verwirrten jungen Männer rissen die Mädchen auseinander. In den Fingern der Blonden hingen ganze Büschel roter Haare. Sie hielt sie wie Siegestrophäen hoch und ließ sie dann zu Boden fallen.

Die Tür flog auf und ein breitschultriger Polizist trat ein. »Was ist los hier?«, fragte er energisch.

Sofort bildete das ganze Lokal eine Front gegen den gemeinsamen Feind.

»Ach, wir haben nur Spaß gemacht«, meinte der eine der jungen Männer.

»Nichts weiter«, bestätigte Luigi, »nur ein Scherz unter Freunden.«

Mit seinem Fuß schob er die Büschel roter Haare geschickt unter den nächsten Tisch. Die beiden zornigen Gegnerinnen lächelten einander zuckersüß an.

Der Polizist blickte misstrauisch von einem Gast zum anderen.

»Wir wollten gerade gehen«, bemerkte die Blonde mit unschuldigem Augenaufschlag. »Komm, Doug.«

Durch einen seltsamen Zufall waren auch die meisten anderen Gäste gerade zum Aufbruch bereit. Der Polizist betrachtete grimmig die Szene. Seine Miene zeigte deutlich, dass er sie dieses Mal ungeschoren davonkommen lassen würde, aber ein scharfes Auge auf sie haben werde. Langsam zog er sich zurück.

Der Begleiter des Rotschopfs beglich die Rechnung.

»Fehlt Ihnen auch nichts?«, fragte Luigi das Mädchen, das sich einen Schal um den Kopf band. »Lou hat Ihnen mächtig zugesetzt – hat Ihnen die Haare in ganzen Büscheln ausgerissen.«

»Ich hab’s überhaupt nicht gespürt«, bemerkte die Rote gleichgültig. Sie lächelte ihn an. »Tut mir leid, dass wir einen solchen Krach gemacht haben, Luigi.«

Die kleine Gesellschaft entfernte sich, das Lokal war nun fast leer. Ich griff in meine Tasche, um zu bezahlen.

»Sie ist ein feiner Kerl«, erklärte Luigi und schaute zur Tür, die sich hinter dem Rotschopf schloss. Er ergriff einen Besen und fegte die Haarbüschel hinter die Theke.

»Das muss ihr doch weh getan haben«, meinte ich.

»Ich hätt laut aufgeheult, wenn ich’s gewesen wär«, gab Luigi zu. »Aber ich sag’s ja: Tommy ist ein feiner Kerl.«

»Sie kennen das Mädchen gut?«

»Oh, sie kommt fast jeden Abend her. Tuckerton heißt sie, Thomasina Tuckerton, wenn Sie es genau wissen wollen. Aber jedermann hier herum nennt sie Tommy Tucker. Sie stinkt direkt vor Geld. Ihr alter Herr hat ihr ein Vermögen hinterlassen … und was tut sie? Kommt hierher nach Chelsea, lebt in einer kleinen Bude und treibt sich mit einer Bande herum, die alle das Gleiche tun. Die Hälfte dieser Clique hat massenhaft Geld. Sie könnten sich alles leisten, was das Herz nur begehrt – könnten im Ritz wohnen, wenn sie Lust dazu hätten. Aber nein, das Leben, das sie führen, scheint ihnen Spaß zu machen. Mir unfassbar.«

»Demnach würden Sie sich anders verhalten.«

»Ah, das kann man wohl sagen!«, rief Luigi. »Aber wie es nun mal ist, muss ich von dem leben, was ich einnehme.«

Ich erhob mich und fragte, weshalb der Streit denn eigentlich ausgebrochen sei.

»Oh, Tommy hat sich den Freund von Lou angelacht. Dabei ist er es wahrhaftig nicht wert, dass man um ihn kämpft, der Typ.«

»Diese Lou ist anscheinend anderer Meinung«, bemerkte ich.

»Lou ist eine romantische Seele«, lachte Luigi gutmütig.

Dies entsprach zwar nicht meiner Vorstellung von Romantik, doch ich schwieg.

2

Es war etwa eine Woche später, als mir unter den Todesanzeigen in der Times ein Name auffiel:

TUCKERTON. Am 2. Oktober starb im Krankenhaus Fallowfield in Amberley Thomasina Ann Tuckerton im Alter von zwanzig Jahren, einzige Tochter des verstorbenen Thomas Tuckerton, Esq. von Carrington Park, Amberley, Grafschaft Surrey. Stille Beisetzung. Keine Blumenspenden.

Nicht einmal Blumen für die arme Tommy Tucker … und keinen »Spaß« mehr am Leben in Chelsea. Ich fühlte plötzlich ein tiefes Mitgefühl für all die Tommy Tuckers unserer Zeit. Doch wie durfte ich mir das Recht anmaßen, ihr Leben als verschwendet anzusehen? Vielleicht war im Gegenteil mein Leben, mein ruhiges, um Bücher kreisendes Gelehrtenleben, verschwendet. Ein Leben aus zweiter Hand. Hatte ich jemals einen Spaß, kannte ich Vergnügen? Ein völlig abwegiger, unfassbarer Gedanke für mich! Natürlich lag mir gar nichts an solchen Späßen – aber war das auch richtig?

Ich schob den Gedanken an Tommy Tucker beiseite und wandte mich meinen Briefen zu.

Das wichtigste Schreiben kam von meiner Kusine Rhoda Despard, die mich um einen Gefallen bat. Ich klammerte mich daran, da ich an diesem Morgen ohnehin keine Lust verspürte, mich an meine Arbeit zu setzen. Und der Brief bot mir eine willkommene Entschuldigung.

Ich setzte also den Hut auf, ging rasch hinaus und winkte ein Taxi herbei, das mich zur Wohnung einer alten Freundin brachte, zu Mrs Ariadne Oliver.

Mrs Oliver ist eine sehr bekannte Verfasserin von Kriminalromanen. Ihr Mädchen Mildred behütete Haus und Herrin wie ein alter Drache vor dem Ansturm der profanen Welt.

Ich hob nur fragend meine Augenbrauen, und Mildred nickte.

»Sie gehen am besten gleich hinauf, Mr Mark«, meinte sie. »Mrs Oliver ist scheußlicher Laune; vielleicht gelingt es Ihnen, sie etwas aufzuheitern.«

Ich stieg in den zweiten Stock empor, klopfte leise an eine Tür und trat ein, ohne auf Antwort zu warten. Mrs Olivers Arbeitszimmer ist ziemlich geräumig; die Wände sind tapeziert mit nistenden Vögeln in tropischem Laubwerk. Mrs Oliver selbst lief wie eine Halbirre im Zimmer hin und her und murmelte vor sich hin. Sie warf mir nur einen kurzen, gleichgültigen Blick zu und setzte ihre Wanderung fort. Ihr Blick irrte über die Wände, glitt zum Fenster, und dann schlossen sich ihre Augen wie in verzweifeltem Todeskampf. »Weshalb«, rief sie und richtete ihre Worte an das Weltall, »weshalb sagt denn dieser Idiot nicht sofort, dass er den Kakadu gesehen hat? Er muss ihn ja gesehen haben, es ist gar nicht anders möglich. Aber wenn er das sagt, ist der ganze Effekt futsch. Es muss doch einen Weg geben, es muss einen …«

Sie stöhnte, fuhr mit allen Fingern durch das kurze graue Haar und verkrallte sich darin. Dann sah sie mich plötzlich mit sehenden Augen an und rief: »Hallo, Mark – ich werde noch verrückt« und fuhr mit ihren Klagen fort.

»Dann ist auch noch Monika da. Je netter und liebenswerter ich sie machen will, umso dümmer wird sie. Und spießig noch dazu. Monika … Monika … ich glaube, der Name passt nicht. Nancy? Wäre das besser? Oder Joan? Nein, jedermann hat eine Joan – langweilig. Mit Anne ist es nicht anders. Susan? Ich habe schon einmal eine Susan gehabt. Lucia? – Lucia? Lucia? Ja, eine Lucia kann ich sehen. Rote Haare. Pullover mit Rollkragen … schwarze enge Hosen? Schwarze Strümpfe auf jeden Fall.«

Diese zeitweilige Lösung des einen Problems wurde durch ein anderes wieder abgelöst: den Kakadu, und erneut nahm Mrs Oliver ihre rastlose Wanderung auf. Ohne zu wissen, was sie tat, hob sie irgendetwas auf und stellte es woandershin. Sorgfältig legte sie ihr Brillenetui in eine chinesische Lackdose, in der sich bereits ein Fächer befand; dann seufzte sie tief auf und erklärte: »Ich bin froh, dass Sie es sind, Mark.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Es hätte ja auch irgendein Mensch sein können, ein Versicherungsagent oder eine dumme Person, die von mir verlangte, einen Basar zu eröffnen, oder ein Klempner oder … ach, was weiß ich! Vielleicht auch jemand, der ein Interview erzwingen wollte. Immer die gleichen Fragen, die mich in Verlegenheit bringen. Was brachte Sie zuerst auf den Gedanken, Schriftstellerin zu werden? Wie viele Bücher haben Sie bereits geschrieben? Wie hoch sind Ihre Einnahmen? Und so weiter und so weiter. Ich weiß nie eine Antwort darauf, und dann denken die Leute, ich sei ein Dummkopf. Aber das würde jetzt auch nichts mehr ausmachen, denn ich werde bestimmt noch verrückt über diese Kakadugeschichte.«

»Will sich der logische Zusammenhang nicht einstellen?«, erkundigte ich mich verständnisvoll. »Dann gehe ich wohl besser.«

»Nein, bleiben Sie, Mark. Sie sind immerhin eine Ablenkung.«

Ich akzeptierte das zweifelhafte Kompliment.

»Wollen Sie eine Zigarette?«, fragte Mrs Oliver geistesabwesend. »Irgendwo sind welche. Schauen Sie unter dem Deckel der Schreibmaschine nach.«

»Danke, ich habe meine eigenen – bitte, bedienen Sie sich. Oh, Entschuldigung, Sie rauchen ja nicht.«

»Und trinke nicht«, gab Mrs Oliver zurück. »Leider. Alle diese amerikanischen Detektive haben immer eine Flasche Whisky in ihrem Schreibtisch oder sonst wo. Das scheint ihre sämtlichen Probleme zu lösen. Wissen Sie, Mark, ich kann mir absolut nicht vorstellen, wie ein Mörder im wirklichen Leben ungestraft davonkommen sollte. Mir scheint alles immer so klar auf der Hand zu liegen, sobald das Verbrechen geschehen ist.«

»Ach was, Unsinn! Sie haben doch wahrhaftig genug Bücher geschrieben, in denen zunächst nichts klar ist.«

»Mindestens fünfundfünfzig«, gab Mrs Oliver zu. »Der Mord selbst ist immer ganz einfach und leicht. Aber eben die Verschleierung nachher macht alles so schwierig. Weshalb sollte es denn jemand anders getan haben als …? Man riecht es ja auf eine Meile gegen den Wind.«

»Aber nicht, wenn das Buch fertig ist«, tröstete ich.

»Ha, wissen Sie denn auch, was mich das kostet?«, fragte Mrs Oliver düster. »Sie mögen sagen, was Sie wollen, aber es ist einfach unnatürlich, dass fünf oder sechs Personen anwesend sind, wenn B. ermordet wird, und noch dazu alle ein Motiv hätten, ihn umzubringen – es sei denn, dieser B. sei wirklich der ganzen Welt verhasst. Und in dem Fall würde sich kein Mensch darum kümmern, ob er nun erstochen oder vergiftet wurde.«

»Ich verstehe Ihr Problem vollkommen«, entgegnete ich. »Aber nachdem Sie es nun fünfundfünfzigmal gelöst haben, wird es Ihnen auch ein sechsundfünfzigstes Mal gelingen.« Sie fuhr sich wieder durchs Haar und zerrte heftig daran.

»Nicht doch!«, rief ich. »Sie werden sich die Haare mitsamt den Wurzeln ausreißen.«

»Blödsinn«, erklärte Mrs Oliver. »Haare sind zäh. Nur als ich mit vierzehn Jahren die Masern mit sehr hohem Fieber hatte, da fielen sie mir aus – rings um die Stirn. Sah schmachvoll aus. Und es dauerte ein halbes Jahr, bis sie wieder richtig nachgewachsen waren. Furchtbar für ein Mädchen – Mädchen sind ja so eitel. Ich dachte gestern daran, als ich Mary Delafontaine im Krankenhaus besuchte. Ihr Haar ist ausgefallen, genauso wie meines damals. Sie erklärte, sie müsse eine Stirnperücke tragen, bis es besser aussehe. Aber mit sechzig wachsen die Haare vielleicht gar nicht wieder nach.«

»Ich habe vor ein paar Tagen gesehen, wie ein Mädchen einem anderen die Haare büschelweise ausriss«, bemerkte ich mit dem Stolz eines Menschen, der endlich einmal etwas vom wirklichen Leben mitbekommen hatte.

»An was für merkwürdigen Orten haben Sie sich denn herumgetrieben?«, wunderte sich Mrs Oliver.

»In einer Coffee Bar in Chelsea.«

»Oh, Chelsea!«, rief sie aus. »Dort geschehen die ausgefallensten Dinge. Beatniks und Sputniks und Squares und die ganze Beat-Generation. Ich schreibe selten darüber, weil ich immer Angst habe, dass ich die falschen Worte gebrauche und dann ausgelacht werde. Es ist besser, wenn ich mich an meine guten alten Rezepte halte.«

»Zum Beispiel?«

»Nun, Leute auf Vergnügungsfahrten, in Hotels, in Spitälern, Gemeindeversammlungen, Musikfesten – oder Ladenmädchen und Putzfrauen, auch junge Männer und Mädchen auf Wanderungen oder wissenschaftlichen Forschungsreisen oder …« Sie musste innehalten, weil sie ganz außer Atem war.

»Ja, solche Umgebungen lassen sich leichter schildern«, gab ich zu.

»Immerhin könnten Sie mich einmal in so eine Coffee Bar in Chelsea führen, nur um meine Erfahrungen zu erweitern«, schlug Mrs Oliver nachdenklich vor.

»Wann immer Sie wollen. Heute Abend?«

»Nein, heute nicht. Ich bin viel zu sehr mit meinem neuen Buch beschäftigt … oder vielmehr damit, mich darüber zu ärgern, dass ich nicht vorankomme. Das ist das Schlimmste dabei, wenn man Schriftstellerin ist – obwohl eigentlich alles schlimm und ermüdend ist, außer dem einen Moment, da man glaubt, eine wundervolle Idee zu haben, und es kaum erwarten kann, mit dem Schreiben anzufangen. Sagen Sie, Mark: Halten Sie es für möglich, einen Menschen mit Hilfe von Fernwirkung zu töten?«

»Was verstehen Sie unter Fernwirkung? Auf einen Knopf drücken und radioaktive Todesstrahlen aussenden?«

»Nein, nein, keine Science-Fiction. Ich meine …« Sie hielt einen Augenblick inne. »Ja, ich glaube, ich meine wirklich schwarze Magie.«

»Wachsfiguren, denen ein Dolch ins Herz gestochen wird?«

»Ach, solche Dummheiten kommen nicht in Frage«, rief Mrs Oliver ärgerlich. »Aber es geschehen doch so eigenartige Dinge – in Afrika oder Westindien. Man hört immer wieder davon. Eingeborene, die einfach umfallen und tot sind. Zauberei oder Fetischglaube … nun, Sie wissen schon, was ich meine.«

Ich erklärte ihr, das meiste dieser alten Aberglauben werde heute auf die Macht der Suggestion zurückgeführt. Dem Opfer wird gesagt, der Medizinmann habe seinen Tod vorausgesehen – und dann erledigt das Unterbewusstsein den Rest.

Mrs Oliver schnaubte verächtlich.

»Wenn mir jemand einreden wollte, ich sei dazu bestimmt, mich hinzulegen und zu sterben, dann sollte der Betreffende sich in seinen Erwartungen aber gründlich getäuscht sehen!«

Ich lachte.

»In Ihren Adern fließt das Blut jahrhundertealter westlicher Skepsis. Sie wären kein gutes Medium für so etwas.«

»Glauben Sie ernstlich, dass solche Dinge geschehen können?«

»Ich weiß zu wenig darüber. Wie kommen Sie denn auf das Thema? Sollte etwa Ihr neues Meisterwerk einen Mord durch Suggestion enthalten?«

»Ganz bestimmt nicht! Altmodisches Rattengift oder Arsenik ist immer noch das Beste für mich. Oder der zuverlässige Dolch. Dabei weiß man doch, woran man ist. Keine Feuerwaffen, wenn es sich vermeiden lässt, Feuerwaffen haben immer ihre Tücken. – Aber Sie sind bestimmt nicht hergekommen, Mark, um mit mir über meine Bücher zu reden.«

»Ehrlich gesagt, nein. Tatsache ist, dass meine Kusine Rhoda Despard demnächst ein Fest geben wird und …«

»Ausgeschlossen! Nie wieder!«, rief Mrs Oliver. »Wissen Sie, was letztes Mal geschah? Ich wollte ein harmloses Mörderspiel inszenieren, und das Erste, was uns in die Quere kam, war ein wirklicher Leichnam. Nein, danke! Ich habe das noch immer nicht ganz verwunden.«

»Diesmal gibt es kein Mörderspiel. Und Sie hätten nichts anderes zu tun, als in einem hübschen Zelt zu sitzen und Ihre eigenen Bücher zu signieren – zu fünf Shilling das Stück.«

»N-u-n«, meinte Mrs Oliver zögernd. »Das klingt schon besser. Ich muss das Fest nicht eröffnen? Keine dummen Reden halten? Auch keinen Hut tragen?«

Ich versicherte, dass nichts dergleichen von ihr verlangt würde.

»Und es würde sich nur um ein oder zwei Stunden handeln«, drang ich in sie. »Nachher kommt dann irgendein Spiel – vielleicht ein Kricketmatch – nein, nicht zu dieser Jahreszeit, aber Kindertänze oder eine Maskenprämierung …«

Ein wilder Schrei unterbrach mich.

»Das ist es!«, rief Mrs Oliver triumphierend. »Ein Kricketball! Natürlich! Er sieht ihn vom Fenster aus – wie er in die Luft fliegt –, das lenkt ihn ab. Deshalb vergisst er den Kakadu. Wie gut, dass Sie gekommen sind, Mark. Sie haben mich gerettet.«

»Ich verstehe allerdings nicht ganz …«

»Macht nichts, macht nichts. Hauptsache, dass ich es verstehe«, versicherte Mrs Oliver. »Es ist alles ziemlich kompliziert, und ich habe keine Zeit, Ihnen das Ganze zu erklären. Es war sehr nett, dass Sie mich besucht haben … aber jetzt müssen Sie wirklich gehen, und zwar sofort. Ich muss arbeiten.«

»Gewiss, gewiss. Und wegen dieses Festes …?«

»Ich werde es mir überlegen. Quälen Sie mich jetzt nicht damit. Wo um alles in der Welt mag meine Brille nun wieder hingekommen sein? Es ist nicht zu glauben, wie die Dinge immer verschwinden …«

3

Mrs Gerahty öffnete die Tür zur Pfarrei mit dem üblichen harten Ruck. Das wirkte nicht wie die Antwort auf ein Klingeln, sondern eher, als ob sie sagen wollte: ›Na, hab ich dich endlich erwischt!‹

»Nun? Was gibt’s?«, fragte sie angriffslustig.

Ein unscheinbarer Junge stand auf der Schwelle – ein Junge wie tausend andere. Er schnüffelte.

»Wohnt hier der Pfarrer?«

»Suchst du Pater Gorman?«

»Ja, er wird verlangt«, gab der Junge zurück.

»Wer wünscht ihn … und wo … und warum?«

»Benthall Street dreiundzwanzig. Eine Frau, die im Sterben liegt. Mrs Coppins schickt mich. Hier wohnt doch der Pfarrer, nicht wahr? Die Frau sagt, der Vikar genüge nicht.«

Mrs Gerahty befahl ihm, auf der Treppe zu warten, und zog sich zurück. Ein paar Minuten später erschien ein großer, älterer Priester mit einer kleinen Ledertasche in der Hand.

»Ich bin Pater Gorman«, sagte er. »Benthall Street? Das ist doch drüben beim Güterbahnhof, nicht wahr?«

»Stimmt. Ist ganz nah.«

Mit leichtem, frischem Schritt ging der Priester neben dem Knaben her.

»Mrs – Coppins, sagtest du doch, nicht wahr?«

»So heißt die Frau, der das Haus gehört. Sie vermietet Zimmer. Eine der Mieterinnen verlangt nach Ihnen, Pater. Glaube, sie heißt Davis.«

Der Priester nickte. In kürzester Zeit waren sie in der Benthall Street angelangt. Der Junge zeigte auf ein hohes, schmales Haus in einer Reihe anderer schmaler, hoher Häuser.

»Hier ist es.«

»Kommst du nicht mit hinein?«

»Wohne nicht da, Mrs Coppins gab mir einen Shilling, um die Bestellung auszurichten.«

»Ah, ich verstehe. Wie heißt du?«

»Mike Potter.«

»Danke schön, Mike.«

»Gern geschehen«, gab Mike höflich zurück und ging pfeifend davon. Das Sterben eines anderen Menschen machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn.

Die Tür von Nummer 23 öffnete sich, und Mrs Coppins, eine dickliche Frau mit rotem Gesicht, stand auf der Schwelle. Begeistert begrüßte sie den Priester.

»Kommen Sie, kommen Sie, Pater. Es geht ihr sehr schlecht, glaube ich. Sie sollte in einem Krankenhaus sein und nicht hier. Ich habe schon längst im Spital angerufen, aber Gott weiß, wann die jemanden schicken. Sechs Stunden musste mein Schwager warten, als er sich den Fuß gebrochen hatte. Es ist eine Schande. Unser Geld steckt die Krankenkasse ein, aber wenn man die Leute braucht, sind sie nie zur Stelle.«

Während sie so schwatzte, ging sie vor dem Priester die Treppe empor.

»Was fehlt der Frau?«

»Sie hatte eine Grippe, und es schien ihr bereits wieder besser zu gehen. Aber ich behaupte, sie ist zu früh aufgestanden. Jedenfalls kam sie gestern Abend nach Hause und sah aus wie eine Tote. Ich habe sie zu Bett gebracht; essen konnte sie nichts. Wollte auch keinen Arzt haben. Aber heute früh sah ich, dass sie hohes Fieber haben musste. Die Krankheit hat sich auf die Lunge gelegt.«

»Lungenentzündung?«

Mrs Coppins war zu sehr außer Atem, um antworten zu können; sie schnaubte wie eine Dampflokomotive und nickte mit dem Kopf. Dann stieß sie eine Tür auf, trat beiseite, um Pater Gorman einzulassen, und rief über seine Schulter hinweg: »Hier ist der Priester für Sie. Nun wird es Ihnen gleich viel besser gehen.« Ihre fröhliche Zuversicht klang unecht. Die Tür schloss sich – Mrs Coppins hatte sich zurückgezogen.

Der Priester näherte sich der Kranken. Das Zimmer war altmodisch möbliert, doch sauber und freundlich. Im Bett nahe dem Fenster lag eine Frau und wandte mühsam den Kopf. Der Priester sah sofort, dass sie wirklich sehr schwer krank war.

»Oh, Sie sind gekommen … Ich habe nicht mehr viel Zeit …« Zwischen schweren, keuchenden Atemzügen stieß sie die Worte hervor. »Eine Schlechtigkeit … solche Schlechtigkeit … Ich muss … ich kann nicht … so sterben. – Bekennen … bekennen … meine Sünde … Oh, so schrecklich …« Die gequälten Augen schlossen sich halb.

Unzusammenhängende Worte lösten sich von ihren Lippen. Pater Gorman trat näher. Er sprach leise, tröstend, wie er es schon so oft getan hatte. Worte der Zuversicht, der Hoffnung – die üblichen Worte seines Glaubens, seiner Berufung. Langsam breitete sich Friede über die verängstigten Züge der Frau, die Atemzüge wurden ruhiger.

Als der Priester seine Rede beendet hatte, sprach die Sterbende wieder.

»Aufhören … das muss aufhören … Sie werden …«

Pater Gorman antwortete zuversichtlich. »Ich werde bestimmt das Nötige veranlassen. Sie können mir vertrauen …«

Ein Arzt und eine Ambulanz erschienen ein paar Minuten später. Mrs Coppins empfing sie mit düsterem Triumph.

»Zu spät – wie üblich«, erklärte sie. »Sie ist tot.«

4

Pater Gorman schritt durch die hereinbrechende Dämmerung. Heute Abend würde es Nebel geben, er breitete sich bereits in dichten Schwaden aus. Pater Gorman blieb nachdenklich stehen und überlegte. Eine phantastische Geschichte, die er da gehört hatte! Wie viel davon mochte Wahrheit sein – wie viel Fieberdelirium? Ein Teil jedenfalls stimmte, so viel stand fest. Er musste unbedingt einige Namen aufschreiben, solange sie noch frisch in seiner Erinnerung hafteten. Aber die St. Francis Guild würde bereits versammelt sein, wenn er zurückkehrte. Rasch wandte sich der Priester um und trat in ein kleines Kaffeehaus, wo er sich an einen Cafétisch setzte und eine Tasse des braunen Getränks bestellte. Er griff in die Tasche seiner Soutane. Ach, Mrs Gerahty! Er hatte sie doch gebeten, die Tasche zu flicken – aber wie üblich war es nicht geschehen. Sein Notizbuch, der Bleistift und ein paar lose Münzen waren durch das Futter geschlüpft. Mühsam kramte er die Münzen und den Bleistift hervor, aber das Notizbuch konnte er nicht zu fassen kriegen. Der bestellte Kaffee kam, und er bat die Kellnerin um einen Zettel.

»Genügt Ihnen das?«

Es war eine zerrissene Papiertüte. Pater Gorman nickte und begann zu schreiben. Die Namen – diese Namen, die er auf keinen Fall vergessen durfte.

Die Tür des Cafés öffnete sich; drei junge geschniegelte Burschen traten ein und setzten sich lärmend.

Pater Gorman schrieb alles nieder, was ihm wichtig schien. Dann faltete er den Zettel und war im Begriff, ihn in die Tasche seiner Soutane zu stecken, als ihm das Loch darin einfiel. Da schob er, wie schon so oft, das zusammengefaltete Papier in seinen Stiefel.

Ein Mann kam herein und setzte sich ruhig in eine entfernte Ecke. Pater Gorman trank aus Höflichkeit einen Schluck von dem faden Gebräu, verlangte seine Rechnung und zahlte. Dann erhob er sich und ging hinaus.

Der Mann, der eben erst hereingekommen war, schien seine Absicht zu ändern. Er zog seine Uhr heraus und sprang erschrocken auf, als ob er sich in der Zeit geirrt hätte. Gleich darauf eilte auch er davon.

Der Nebel wurde immer dichter, und Pater Gorman beschleunigte seine Schritte. Er kannte seinen Distrikt genau und nahm daher eine Abkürzung – einen schmalen Seitenpfad, der dicht am Bahngleis entlangführte. Vielleicht hörte er den Mann, der hinter ihm herkam, dachte sich jedoch nichts dabei. Weshalb sollte er auch?

Der Schlag mit dem Knüppel traf ihn völlig unerwartet. Er stolperte vorwärts und fiel zu Boden …

5

Dr. Corrigan schlenderte pfeifend in das Büro von Inspektor Lejeune. Er schien bester Laune und sehr gesprächig.

»Ich habe mir Ihren padre angesehen«, bemerkte er.

»Und das Resultat?«

»Wir wollen die technischen Ausdrücke dem Leichenbeschauer überlassen. Tatsache ist, dass er mit einem Knüppel niedergeschlagen wurde. Wahrscheinlich hat ihn schon der erste Hieb getötet, aber der Angreifer wollte sichergehen. Sieht hässlich aus, die ganze Sache.«

»Das kann man wohl sagen«, knurrte Lejeune.

Er war ein kräftiger Mann mit dunklem Haar und grauen Augen. Sein ruhiges Gehabe trog, denn manchmal wurden seine Hände überraschend beweglich und ausdrucksvoll und verrieten seine Abstammung von französischen Hugenotten.

Nachdenklich meinte er: »Hässlicher als nötig für einen einfachen Raubmord, hm?«

»Handelte es sich denn um Raub?«, wollte der Arzt wissen.

»Man vermutet es.« Lejeune zuckte die Achseln. »Seine Taschen waren nach außen gekehrt, und das Futter seiner Soutane ist zerrissen.«

»Da war doch keine große Ausbeute zu erwarten. Die meisten dieser Distriktspriester sind doch so arm wie die Kirchenmäuse.«

»Der Kopf wurde ihm völlig zerschmettert … um sicherzugehen, dass er auch wirklich tot war«, grübelte der Inspektor. »Das muss doch einen Grund haben.«

»Da gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder handelt es sich um einen dieser brutalen jungen Burschen, die Gewalt einfach um der Gewalt willen ausüben – es gibt deren heutzutage leider genug.«

»Und das zweite Motiv?«

»Ein besonderer Hass auf den armen Pater. Ist das denkbar?«

Lejeune schüttelte den Kopf.

»Sehr unwahrscheinlich. Er war ein beliebter Mann, im ganzen Distrikt hochgeschätzt. Keine Feinde, soweit wir in Erfahrung bringen konnten. Und auch Raub ist nicht sehr wahrscheinlich. Es sei denn …«

»Nun?«, erkundigte sich Dr. Corrigan. »Die Polizei hat also doch einen Hinweis, oder?«

»Er trug etwas bei sich, das der Verbrecher nicht gefunden hat – in seinem Stiefel, um genau zu sein.«

Dr. Corrigan stieß einen lauten Pfiff aus.

»Klingt wie eine Spionagegeschichte.«

Lejeune lächelte.

»Die Sache ist viel einfacher. Der Pfarrer hatte ein Loch in seiner Tasche; Sergeant Pine hat mit der Haushälterin gesprochen. Scheint etwas nachlässig zu sein, die gute Frau. Jedenfalls hat sie seine Anzüge nicht mit der nötigen Sorgfalt gepflegt. Sie gab selbst zu, dass Pater Gorman immer wieder Zettel und Briefe in seine Schuhe steckte, damit sie nicht durch die Löcher in den Taschen seiner Soutane fallen konnten.«

»Und davon wusste der Verbrecher natürlich nichts?«

»Sicher nicht – wem käme schon ein solcher Gedanke? Aber wissen wir, dass er wirklich diesen Zettel gesucht hat und nicht etwas anderes?«

»Was stand denn auf dem Papier?«

Lejeune zog eine Schreibtischlade heraus und entnahm ihr einen zerknitterten, verschmutzten Papierfetzen.

»Nur eine Liste mit Namen«, bemerkte er und schob ihn dem Arzt hin.

Corrigan betrachtete ihn neugierig.

Ormerod

Sandford

Parkinson

Hesketh-Dubois

Shaw

Harmondsworth

Tuckerton

Corrigan?

Delafontaine?

Seine Augenbrauen hoben sich erstaunt. »Ich sehe, da steht sogar mein Name auf der Liste«, bemerkte er.

»Sagt Ihnen irgendeiner dieser Namen etwas?«

»Kein einziger!«

»Und Sie haben auch Pater Gorman nicht gekannt?«

»Nein.«

»Dann werden Sie uns kaum helfen können.«

»Haben Sie denn schon eine Idee, was diese Liste bedeuten könnte?«

Lejeune gab keine direkte Antwort.

»Ein junger Bursche – vielmehr ein Kind – läutete abends gegen sieben Uhr bei Pater Gorman. Er erklärte, eine Frau liege im Sterben und verlange nach dem Priester. Pater Gorman ging mit ihm fort.«

»Wohin? Wissen Sie das?«

»Ja, das ließ sich leicht ermitteln. Benthall Street dreiundzwanzig, die Besitzerin ist eine Frau namens Coppins. Die Kranke hieß Mrs Davis. Der Priester kam etwa um Viertel nach sieben dort an und blieb eine halbe Stunde. Mrs Davis starb, kurz ehe die Ambulanz eintraf, die sie ins Krankenhaus überführen sollte.«

»Verstehe.«

»Das Nächste, was wir wieder von Pater Gorman hören, ist Folgendes: Er ist in ein kleines Café dort in der Nähe gegangen und hat eine Tasse Kaffee bestellt. Das Lokal ist einfach, aber anständig, nichts Kriminelles dort zu finden. Anscheinend suchte der padre dort etwas in seiner Tasche, konnte es nicht finden und bat daraufhin die Kellnerin um ein Stück Papier. Dies …« Lejeune wies auf den Zettel, »dies hier gab man ihm.«

»Und was geschah dann?«

»Als er seinen Kaffee erhielt, war der Priester eifrig mit Schreiben beschäftigt. Kurz darauf verließ er das Lokal, nachdem er die Liste in den Schuh geschoben hatte – der Besitzer hat diese Bewegung bemerkt.«

»Waren noch andere Leute dort?«

»Drei junge, geschniegelte Bürschchen saßen an einem Tisch, und kurz ehe Pater Gorman sich entfernte, kam ein älterer Mann herein und setzte sich in eine Ecke. Aber er ging gleich wieder fort, ohne etwas zu bestellen.«

»Er könnte also dem Priester gefolgt sein?«

»Möglich. Der Besitzer hat nicht darauf geachtet – weiß auch nicht genau, wie der Betreffende aussah. Er beschrieb ihn bloß als einen unauffälligen, respektabel aussehenden Mann – also ein Allerweltstyp. Ungefähr mittelgroß, trug blauen oder braunen Mantel. Nicht direkt dunkelhaarig,