Das Fenster nach Süden - Maaike de Haardt - E-Book

Das Fenster nach Süden E-Book

Maaike de Haardt

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Beschreibung

Die Kapitel dieses Buches spiegeln die Suche nach Momenten göttlicher Präsenz mitten im alltäglichen Leben. Das Bild des Hauses bildet den roten Faden. Mehr als alles andere steht es als Symbol für das Alltägliche und Selbstverständliche: essen, trinken, schlafen. Aber das Haus ist auch der Ort für Liebe, Geburt und Tod, für Familie und Freunde, für erste Verletzungen und erste Zuneigung. Es ist der Ort, an den die Welt auf viele Arten hereinkommt und von dem aus die Welt entdeckt wird. Indem sie ihren Ausgang von den alltäglichen Orten nehmen – Wohnzimmer, Küche und Esszimmer, Garten, Studierzimmer, Schlafzimmer, aber auch der Stadt –, eröffnen de Haardts Reflexionen ungewohnt neue Perspektiven auf Religion und Spiritualität, voll Offenheit, Sehnsucht und Staunen, voll Weisheit und praktischer Nüchternheit, voll Energie und Kreativität.

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Seitenzahl: 190

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Das Fenster nach Süden

Maaike de Haardt

Das Fenster nach Süden

Spiritualität des Alltäglichen

Aus dem Niederländischen

Titel der Originalausgabe:

Raam op het zuiden. Religie en spiritualiteit van het alledaagse

ISBN 978-90-211-4337-8

© by Maaike de Haardt

First published by Uitgeverij Meinema, Zoetermeer

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Andreas von Einsiedel / Alamy Stock Foto

E-Book-Konvertierung: Röser Media, Karlsruhe

ISBN E-Book (E-Pub) 978-3-451-82698-6

ISBN Print 978-3-451-38698-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83698-5

Inhalt

Geleitwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort

1. Zur Einleitung: Religiöse Musikalität

Zeit und Ort

2. Zeit schafft Orte

3. Haus mit offenen Verbindungen

Wohnzimmer

4. Liebe und Hingabe: Familiengeschichten in

Lasset uns anbeten

Küche und Esszimmer

5. Das ‚Mehr‘ der Nahrung

6. Geschirr der gehobenen Art

7. Gott schmecken: Babette’s Feast

Garten

8. Arbeit im Garten als Offenbarung

Studierzimmer

9. Mit Kopf und Händen

Schlafzimmer

10. Dem Tod näher: Terugblik

11. Der Trost der Schönheit

Wohnen in der Stadt

12. Soul in the city

Literatur

Nachweise

Geleitwort zur deutschen Ausgabe

„Gott tritt nicht erst in dein Leben ein, er ist schon dort.“1 Für die französische Mystikerin Madeleine Delbrêl war dies ein leitendes Motto für die von ihr gelebte Spiritualität: Die Begegnung mit Gott bzw. dem Göttlichen vollzieht sich nicht in privatistischer reiner Innerlichkeit, nicht separiert in einem vom sogenannten „Profanen“ abgetrennten „sakralen“ Bereich, sondern mitten im konkreten Alltag eines Stadtlebens und im sozialen Engagement nicht nur für Arme und Benachteiligte, sondern in einem Handeln gemeinsam mit ihnen. Diese Perspektive auf Spiritualität und religiöse Praxis kennzeichnet meiner Ansicht nach auch Maaike de Haardts theologisches Nachdenken über eine Spiritualität des Alltäglichen, das sie in diesem Buch entwickelt. So steht sie nicht nur in bester niederländischer theologischer Tradition, die die Theologie des 20. Jahrhunderts so nachhaltig inspiriert und beeinflusst hat – man denke etwa an Edward Schillebeeckxʼ Anbindung des Offenbarungsgeschehens und der Gottespräsenz in der Geschichte an konkrete, eben auch ganz alltägliche Lebenserfahrungen2, oder an Catharina Halkesʼ Einschreibung der lange ausgeblendeten Erfahrung von Frauen in das theologische Denken und Tun3 (Maaike de Haardt ist Nachfolgerin von Halkes auf deren Lehrstuhl für „Feminismus und Christentum“ an der Universität Nijmegen gewesen) –, sie steht auch in der Tradition mystischer Theologie. Gott wohnt nicht in einem von Welt und Mensch geschiedenen „Außen“, sondern sowohl – sich vereinzelnd – im Inneren jedes Daseins als auch im Ganzen des Universums, das aus Gott kommt. Gottesbegegnung ist nicht nur ein rein geistiges Geschehen, sondern geschieht wie jeglicher Existenzvollzug zutiefst verkörpert. Zu ihr gehört wesentlich eine Sehnsucht nach Gott in Form eines konkreten Begehrens, Verlangens; anders als etwa vom späten Augustinus suggeriert ist das Verlangen, auch und gerade das sinnliche, erotische Begehren, nicht immer schon von der Sünde entstellt und treibt von Gott weg, es vermag im Gegenteil eine spirituelle Kraft in sich zu tragen und zum Zeichen der Gottesnähe zu werden. Und wenn Gott in jedem Dasein wohnt, dann ist Gott nicht nur im eigenen Inneren anzutreffen, sondern in der Beziehung zu Anderen; mystische Einung mit Gott ist somit Beides: Weg nach innen und Weg zu Anderen, die ebenso ein Moment göttlicher Anwesenheit in der Welt darstellen wie ich selbst.

De Haardt verdeutlicht dies auf eindrückliche Art und Weise an ganz unterschiedlichen Aspekten alltäglichen Lebens, wobei sie auf das Symbol des Hauses als zentraler Ort des Alltagslebens zurückgreift, ebenso auf die beiden Dimensionen, die das Leben bestimmen: Zeit und Raum. Dabei greift sie immer auch auf Beispiele aus der Bildenden Kunst, aus Musik, Film und Literatur zurück. Man fühlt sich dabei des Öfteren an Leonardo Boffs Überlegungen zur Sakramentalität bestimmter Alltagshandlungen und -ereignisse4 erinnert, etwa wenn Maaike de Haardt am Beispiel des Films Babetteʼs Feast die Sakramentalität der Mahlzeit herausstellt: Alles kann zum Zeichen des „Lebens in Fülle“ und von göttlicher Gegenwart werden.

Gleichwohl wird auch deutlich, dass diese Spiritualität des Alltäglichen, diese Verankerung religiöser Praxis im konkreten Alltagsleben, alles andere als individualistisch verengt ist, denn de Haardt stellt immer wieder auch politische Bezüge her, insbesondere im Blick auf Geschlechterverhältnisse. Dabei macht sie auch auf differenzierte Weise auf die Ambivalenzen etwa von Begriffen wie „Heimat“, „Haus“ oder „Hingabe“ aufmerksam, die sich gerade aus Frauenperspektive einstellen. Die Spiritualität des Alltäglichen ist gesellschaftlich verwurzelt und politisch bedeutsam, somit alles andere als eine „politikfreie Zone“, und vor allem ist sie alles andere als pure Vertröstung angesichts bestehenden Leids und Unrechts. Sie entspricht meines Erachtens dem, was Johann Baptist Metz „Mystik der offenen Augen“ genannt hat: „Es geht nicht um besänftigende, sondern um erwachende, zum Aufbruch erwachende Spiritualität.“5

Maaike de Haardt hat bislang vorwiegend in Niederländisch und Englisch publiziert. Ich freue mich sehr darüber, dass ihre kreativen theologischen Beiträge nun auch im deutschen Sprachraum präsent sein werden. „Das Fenster nach Süden“ ist auf diese Weise zugleich auch ein „Fenster nach Osten“ geworden …

Köln, im Oktober 2019

Saskia Wendel

1 Madeleine Delbrêl: Die Liebe ist unteilbar. Einsiedeln – Freiburg i. Br. 2000, 28.

2 Vgl. etwa Edward Schillebeeckx: Menschen. Die Geschichte von Gott. Freiburg i. Br. 1990.

3 Vgl. z. B. Catharina Halkes: Gott hat nicht nur starke Söhne. Grundzüge einer feministischen Theologie. Gütersloh 1980; dies.: Suchen, was verloren ging. Beiträge zur Feministischen Theologie. Gütersloh 1985.

4 Vgl. Leonardo Boff: Kleine Sakramentenlehre. Düsseldorf 1989.

5 Johann Baptist Metz: Mystik der offenen Augen. Wenn Spiritualität aufbricht. Freiburg i. Br. 2011, 14.

Vorwort

‚Wann kommt das Buch denn endlich?‘ – diese Frage stellte mir Catharina Halkes regelmäßig, nachdem ich ihre Nachfolge auf dem nach ihr benannten Lehrstuhl an der Radboud Universität Nimwegen angetreten hatte. Sie war eine starke Antriebskraft für das Buch, das ich jetzt vorlege. Es ist mehr als bedauerlich, dass dieses Projekt erst nach ihrem Tod in Gang gekommen ist.

Ab 2003 hat es die Vereinigung NKV, ein Zusammenschluss von katholischen Frauenorganisationen, ermöglicht, dass der Catharina Halkes-Lehrstuhl ‚Religion und Gender‘ zeitweilig mit einem Lehrauftrag der Vereinigung NKV zu ‚Frauen, Glaube und Kultur‘ ergänzt wurde. Nach Beendigung dieses Lehrauftrags 2011 hat mir die Vereinigung NKV Gelegenheit gegeben, dieses Buchprojekt zu verwirklichen, indem sie Mittel zur Verfügung stellte, mit denen ich einen Redakteur finanzieren konnte. Ich bin der Vereinigung NKV dafür sehr dankbar und hoffe, ihr mit diesem Buch ein materielles Erbstück ihres Lehrauftrags bieten zu können.

Auf dem Lehrstuhl Catharina Halkes/Vereinigung NKV habe ich geforscht, wissenschaftliche und stärker popularisierende Artikel verfasst, Vorlesungen, jährliche Offene Studientage und Vorträge gehalten. Von Anfang an habe ich dabei das tägliche Leben als Ausgangspunkt genommen. Von sehr verschiedenen Themen und Blickwinkeln aus untersuche ich immer aufs Neue Stellenwert und Bedeutung des Alltäglichen in der Gegenwartskultur für das Denken über Religion, Spiritualität und Theologie. Mit diesem Buch möchte ich eine zugängliche und darüber hinaus für breite Kreise erschwingliche Einleitung zu Themen und Ansatz dieser Zugangsweise bieten und eine ansteckende Vision von Religion, Spiritualität und von theologischem und religionswissenschaftlichem Denken vorlegen. Deshalb habe ich darauf verzichtet, einen ausführlichen Anmerkungsapparat aufzunehmen. Allerdings wird in einer Liste der Quellen am Schluss des Buchs die Literatur angeführt, die in den Texten verwendet wird.

Ohne meine Kolleginnen von den Offenen Studientagen, Lieve Troch, Grietje Dresen und zuvor auch Hedwig Meyer-Wilmes, die Gespräche mit Freundinnen und Freunden – vor allem Magda Misset-van de Weg, Seth de Hoon, Marian Papavoine, Ied Meurders, Annemiek Way und Adrie Lint – und besonders die ausführlichen und engagierten Kommentare von Hans Sterk und Nell Toemen zu den Textentwürfen wäre dieses Buch nicht das geworden, was es ist. Ich bin ihnen allen sehr dankbar. Ohne Inez van der Spek als Redakteurin wäre dieses Buch so nicht zustande gekommen. Nicht nur durch ihre kräftigen redaktionellen Eingriffe in meine Texte, sondern vor allem durch ihr Mitdenken zu Perspektive und Rahmen für dieses Buch hat sie mich dazu gezwungen, ein weiteres Mal auf meine Texte, meine Vorstellungen, meine Grundentscheidungen und meine Selbstverständlichkeiten zu schauen. Dadurch wurden die verschiedenen Teile dieses Buchs zu einem größeren Ganzen zusammengeschmiedet. Und bei all dem haben wir gekocht, gegessen, liefen wir am Strand entlang und arbeiteten in freundschaftlicher Kollegialität an diesem Buch. Danke, Inez. Carine Zebedee brachte in Rekordzeit das Literaturverzeichnis zustande, und Esther van der Panne vom Verlag Meinema hat dieses Buch enthusiastisch begrüßt und gute Vorschläge beigesteuert, wie der rote Faden für dieses Buch, das Haus, stärker hervortreten könnte. Lia van Strien, Büroredakteurin bei Meinema, kümmerte sich schließlich ein letztes Mal um den Text und trug dadurch noch viel zur Lesbarkeit des Buchs bei. Auch ihnen gebührt mein Dank.

Ich widme dieses Buch gern Catharina Halkes und den Frauen der Vereinigung NKV.

1. Zur Einleitung: Religiöse Musikalität

Aus Anlass seines 70. Geburtstags gestaltete der Komponist und Jazzmusiker Theo Loevendie (* 1930) zusammen mit dem Niederländischen Bläserensemble ein Programm, in dem er seine musikalische Autobiographie zu Gehör brachte. Das Projekt bekam den Titel „Fenster nach Süden“. Die Reise begann bei seinen Jugendjahren im Amsterdamer Viertel „Kinkerbuurt“, mit Drehorgelmusik, Akkordeon, Kirchenglocken, den Schmachtfetzen seiner Mutter und seiner zufälligen, aber unauslöschlichen Begegnung mit Bach durch einen Lehrer. Bach, die Musik aus jenem anderen Stadtteil von Amsterdam, dem Vondelpark und dem teuren Viertel um das „Concertgebouw“, die er nur von seinem Fenster nach Süden kannte. Etwa mit sechzehn entdeckte er den Jazz und fing an, Saxophon zu spielen. Mit dreiundzwanzig zog er nach Istanbul, um in einem Orchester zu Festtagen zu spielen, und erst mit fünfundzwanzig ging er auf das Konservatorium, wo er später in seiner Laufbahn wieder unterrichten sollte. Loevendie wurde nicht nur zu einem bekannten Musiker, sondern vor allem auch zu einem weltberühmten und hochdekorierten Komponisten unzähliger Werke, kleiner, intensiver Stücke für ein oder mehrere In­strumente und Gesang, bis hin zu Kammermusik, Werken für Symphonieorchester und Ensembles sowie einer Anzahl von Opern. Eines seiner meistgespielten Werke ist De dag- en nachtegaal („Die Tag- und Nachtigall“), Musik und Text nach einem Märchen von Hans Christian Andersen.

Von seiner Jugend voller bunter Musikklänge an hat er von jeder musikalischen Begegnung und Tradition, auf die er in seinem Leben stieß, etwas in sein eigenes Spielen und in seine Kompositionen mitgenommen. Rhythmus, Melodie und Klanggestalt von Musik aus dem Nahen Osten, vor allem aus der Türkei, haben sein Werk nachhaltig beeinflusst. Aus seinem Hintergrund im Jazz lässt er in einigen seiner Kompositionen Raum für Improvisation, für die eigene Kreativität des Musikers. Und in seinen Werken erklingen nicht nur musikalische Einflüsse nicht-westlicher Kulturen, sondern immer mehr bekommen auch ‚exotische‘ Instrumente selber ihren Platz in seiner Musik. Er nennt sich selber einen Brückenbauer. Bei der Aufführung dieses biographischen Programms in Tilburg, Anfang 2001, saßen wir als Zuhörerinnen zusammen mit den Musikern und mit Loevendie höchstpersönlich auf dem Podium. Es war fast so etwas wie ein häusliches Kammerkonzert, ein intimes Geschehen, bei dem wir nahe bei den Ausführenden saßen und in ihr Spiel und die Geschichten hinter der Musik einbezogen wurden.

Traditionen neu erfinden

Ich fand dieses Programm faszinierend und rührend, in dem Zeiten und Orte sowie die unterschiedlichsten Genres in einen musikalischen Lebenslauf integriert wurden. Und mir wurde bewusst, dass ich mich verwandt fühle mit dieser Art von Arbeiten. Ich möchte den Reichtum, die Kreativität, die Vielfarbigkeit und Mehrstimmigkeit der religiösen, spirituellen und theologischen Traditionen, die mir vertraut sind, in den Vordergrund rücken.

Wie Loevendies musikalische Tradition nicht aus einer festen Form und einem festen Inhalt besteht, betrachte auch ich die westliche – also überwiegend christliche – Tradition nicht als eine feste Form mit einem eindeutigen Inhalt. Es handelt sich vielmehr um eine Sammlung von religiösen Erkenntnissen, Weisheiten, Ritualen, Symbolen, Handlungen, Auffassungen, Lehrmeinungen, Institutionen, Personen … Kurz gesagt: ein Ganzes aus religiösen und spirituellen Praktiken, die alle auf je eigene Weise in Verbindung zur Erzählung der christlichen Religion stehen. Auch die Frage, worin dann genau „die Erzählung“ der christlichen Tradition besteht, wird immer auf eine andere Weise beantwortet. Außerdem bilden religiöse Traditionen kein isoliertes Gebilde aus religiösen Praktiken und Glaubensinhalten, sondern stehen in Verbindung mit allen möglichen großen und kleinen Erzählungen anderer religiöser und kultureller Traditionen. Dadurch wird die eigene Erzählung vertieft, angeschärft oder auch relativiert, in jedem Fall aber beeinflusst. Jede Tradition, jede Form von Religion oder Spiritualität ist so entstanden: an und von einem konkreten Ort her, in einer konkreten Zeit und kulturellen Situation. Gleich ob es um religiöse oder nicht-religiöse Traditionen geht, sie werden jeweils aufs Neue ‚erfunden‘: was überliefert und vorgegeben ist, wird angeeignet und erhält aufs Neue eine Form.

Anwesenheit

Die energische und kreative Musik von Loevendies Zusammenspiel mit dem Niederländischen Bläserensemble entstand aus der Weise, in der Loevendie sich während seines Lebens umschaute und für die Musik und die musikalische Aussagekraft dessen offen war, was ihm begegnete. Etwas Ähnliches möchte ich in diesem Buch unternehmen. Schauen, tasten, probieren und hören auf das, was sich an spiritueller und religiöser ‚Musikalität‘ anbietet, aus der Verwunderung und dem Verlangen, die durch das wachgerufen werden, was ich mit dem nur schwer zu übersetzenden englischen Begriff sense of presence andeute. Auf Niederländisch kann man es mit ‚een gevoel of bewustzijn van (goddelijke) aanwezigheid‘ (= ‚ein Gefühl oder Bewusstsein [göttlicher] Anwesenheit‘) ausdrücken, aber dadurch gerät die sinnliche Dimension von sense einigermaßen aus dem Blick. In Spiritualität und Religion, das möchte ich zeigen, geht es im Grunde um die Empfänglichkeit für diese Anwesenheit, um das Berührtwerden durch göttliche Anwesenheit in und aus der konkreten, alltäglichen Wirklichkeit heraus. ‚Immanuel‘, Gott mit uns, klingt es in der Bibel als Zeugnis für diese Anwesenheit. Religiöse und spirituelle Traditionen sind zuallererst die Verarbeitung dieser Erfahrungen. Mittels Erzählungen, Bildern, Symbolen, Ritualen, Handlungen, Werten und Inhalten bringen sie zum Ausdruck, was diese Erfahrungen für den Umgang miteinander, mit der Welt und mit Gott bedeuten. Geschmacksproben des Göttlichen, der göttlichen Anwesenheit als ein aus der alltäglichen Erfahrung stammendes Wissen um das Göttliche, ist eine Form des Wissens, in der es zentral um Praxis geht. Es geht um ein verkörpertes Wissen, das uns durch das Tun, die Übung, das Praktizieren zuwächst.

Die Kapitel dieses Buchs haben miteinander gemeinsam, dass sie vom alltäglichen Leben in der heutigen westlichen, multikulturellen und sich globalisierenden Kultur ausgehen. Darin bin ich auf der Suche nach Momenten der Präsenz, der Verwunderung und des Verlangens. Es geht mir darum, spirituelle und religiöse ‚Grundtöne‘ in unserer Gesellschaft und Kultur sichtbar zu machen. Natürlich kann ich diese Grundtöne nur wiedererkennen und mit Namen versehen, weil ich von Kindesbeinen an mit der ‚Musikalität‘ oder mit den ‚spirituellen Grundtönen‘ der westlichen christlichen Kultur vertraut bin. In meiner Arbeit als Theologin und Religionswissenschaftlerin mit einem Schwerpunkt auf Frauenforschung geht es mir um die Beziehung zwischen Religion und heutiger Kultur. Aus dieser Perspektive befasse ich mich schon seit vielen Jahren mit Texten, Bildern, Lehre und Praktiken der christlichen Tradition, unter anderem in der Absicht, kritische, kreative und fruchtbare Formen der gegenseitigen Beeinflussung von Kultur und Religion sichtbar zu machen.

In Bewegung setzen

Es ist die Absicht dieses Buchs, Verbindungen zu entdecken und herzustellen zwischen der gegenwärtigen Kultur, dem Alltagsleben und der Spiritualität und Religion. Normalerweise beginnt die Suche nach solchen Verbindungslinien bei den bekannten religiösen Fundorten oder erkennbar religiösen Texten oder Ritualen. Bei Orten, Texten und Ritualen, die als typisch religiös, spirituell oder ‚heilig‘ identifiziert werden und oft ‚getrennt‘ sind vom Rest des Lebens. Ich entscheide mich für einen anderen Zugang.

Gerne ziehe ich noch einmal eine Parallele zum Verhältnis zur Tradition bei Loevendie. Er wusste aus dem eigenen Lebenslauf, dass es mehr und andere Musik gab als diejenige, die in den Konservatorien gelehrt wurde und in den Konzertsälen erklang. Erst nach einem weiten Umweg kam er in Kontakt mit dem respektierten Kanon der klassischen Musik. Er eignete sich dann den Kanon auf sehr eigene Weise an, aus seinen Erfahrungen mit ‚marginaler‘ und ‚trivialer‘ Musik heraus, und hat den Kanon dadurch auch dauerhaft verändert. Scheinbar unüberwindliche musikalische Kulturunterschiede kommen bei Loevendie zusammen in einer neuen, offenen musikalischen Kultur.

Als Frau in einer überwiegend männlichen religiösen und theologischen Tradition kam ich nicht selbstverständlich beim Kanon christlicher Tradition und Theologie aus. Außerdem hatte ich schon daheim gelernt, dass es mehr Religion, mehr christliche Tradition gab, als in den Kirchen, den religiösen Fundorten par excellence, gelehrt wurde. Das änderte nichts daran, dass meine Neugierde geweckt war und ich mehr von dieser Tradition wissen und verstehen wollte. Ich war ausreichend von ihren Grundtönen berührt, um meine religiöse und spirituelle Musikalität in Beziehung auf den Kanon der Tradition weiterentwickeln zu wollen.

So wie Loevendie in offener und freier Weise auf den musikalischen Kanon und die für ihn geltenden Regeln blickte, blickten immer mehr Menschen, darunter viele Frauen, auf eine neue Art auf die ehrfurchtgebietenden Kanones von Religion und Wissenschaft. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Universitäten, religiöse Institutionen und gesellschaftliche Einrichtungen – sicher nicht ohne Widerstand – demokratisiert. Das beeinflusste schließlich auch den Inhalt von Wissenschaft und Religion. Frauen und Männer brachten nicht nur ihren eigenen Blick, ihre Stimmen und Erfahrungen ein; sie bemühten sich auch darum, die Erfahrungen der Außenstehenden, der Anderen ausdrücklich zum Klingen zu bringen und ihnen Stimme und Farbe zu geben. Sie waren die Initiatoren der Avantgarde, der politischen und feministischen Bewegungen, der Frauenforschung, Genderforschung, postkolonialer Studien und „queer studies“. Sie kümmerten sich nicht nur um die Theorie, sondern auch um das alltägliche Leben der Menschen und versuchten, beides aufeinander zu beziehen. Wenn ich in diesem Buch über Religion, Theologie und Spiritualität nachdenke, gehe ich auf den Pfaden weiter, die damals gebahnt wurden. Dabei leitet mich die Überzeugung, dass die Theologie Gefahr läuft, zur bloßen Außenseiterin zu werden, wenn sie nicht in einem offenen Bezug zu Spiritualität und Religion als einer Form von Lebenshaltung und Lebensvollzug steht.

Schlüsselworte für den Zugang zur Religion, die ich vertrete, sind, neben Verlangen und Verwunderung, Verletzlichkeit, Aufmerksamkeit, Kraft, Kreativität, Erkenntnis und Weisheit sowie eine Form von praktischer Nüchternheit. Religion meint dann in allererster Linie und vor allem die Fähigkeit, sich berühren zu lassen, offen zu sein für das Unvermutete, das Unerwartete, für das, was die Selbstverständlichkeiten und Sicherheiten durchbricht. Dieses Berührtsein ruft ein bestimmtes Verlangen wach. In klassischen theologischen Begriffen heißt das Verlangen nach Gott. Ich möchte dieses Verlangen, in der Nachfolge von Autor*innen von Augustinus bis Mary Daly gerne als eine Energie umschreiben, die Menschen in Bewegung setzt, im buchstäblichen Sinn des Wortes: e(x)movere, in Bewegung setzen. Bewegung und nicht Besitz hält das Verlangen am Leben. Oder, wie es in einer volkstümlichen Redensart heißt: ‚Eine Sache zu besitzen, ist das Ende des Vergnügens.‘ Mit anderen Worten, es ist die Bewegung, die Menschen in Gang hält.

Verlangen und Verwunderung

Für die Ausrichtung des Verlangens kennt die Tradition viele Namen: Glück, Leben im Überfluss, Blühen, Ganzheit des Lebens, gutes Leben für alle. Als solches hat es keinen spezifischen Inhalt und ebenso wenig eine spezifische Richtung. Augustinus, Thomas von Aquin und andere bekannte Theologen sprechen von einem Verlangen nach Gott, aber Mary Daly findet das Wort ‚Gott‘ zu beladen und entscheidet sich für „Be-ing“, auf Deutsch „Seiend“, um diese ‚Anziehungskraft‘ und vor allem ihren ‚verbalen Charakter‘ zu bezeichnen. Daly ist sich sehr wohl dessen bewusst, dass ‚Gott‘ ein Gattungsname ist, der zum Eigennamen wurde. Der Gott, der Gott genannt wird, wie es die jüdische Theologin Melissa Raphael formuliert hat. Gott, die göttliche Anwesenheit, auf die sich das Verlangen ausrichtet, lässt sich möglicherweise mit dem magnetischen Norden vergleichen: Es ist enorm schwierig, den genauen Ort dieses geomagnetischen Nordpols zu bestimmen, weil er immer in Bewegung ist. Verlangen gleicht dann einer Kompassnadel, immer auf der Suche nach der Richtung dieses magnetischen Nordens, der göttlichen Anziehungskraft. Das Verlangen nach Leben im Überfluss übt wie ein Magnet eine Anziehungskraft aus; es ist immer zu spüren, aber es gibt keinen klar umrissenen Weg, um dorthin zu gelangen. Das Verlangen wird durch die Anziehungskraft in Bewegung gesetzt, aber es hat als solches keinen anderen Ort und keinen anderen Rhythmus als die tatsächliche, alltägliche Wirklichkeit. Und genau das macht dieses Verlangen so kräftig und lebensspendend, aber gleichzeitig so riskant, verletzlich und unkontrollierbar.

Deshalb habe ich formuliert, dass Verlangen, aber auch Verwunderung die Grundlage von Religion ausmacht. Beides wird auf ganz verschiedene Art und Weise zum Ausdruck gebracht. In Schnulzen und in Werken von Bach, in Poesie und in Klischees, in Gebet und Ritual, im Bild der kleinen Zigeunerin mit der Träne und in der Madonna von Botticelli, in Filmen, im Kochen und im Gärtnern. In Weltstädten und in Gärten im Hinterhof, in Literatur und in persönlichen Erzählungen. Kunst, gleich ob mit einem großen oder einem kleinen Anfangsbuchstaben, das Schöne in vielen Gestalten. Menschen werden dadurch angesprochen, in Bewegung gesetzt, gestärkt; es wird ihnen dabei geholfen, ihr eigenes Leben zu verstehen. Die afroamerikanische Dichterin Audre Lorde schrieb einmal, Poesie sei kein Luxus, sondern eine wichtige Triebkraft, die Veränderung in Gang bringen kann. Poesie, Kunst als Ausdrucksweise von Verlangen und Verwunderung ist deshalb auch unauflöslich mit dem Spirituellen und Religiösen verbunden. Darum befasse ich mich in diesem Buch außer mit mehr alltäglichen Dingen wie Kochen, Gärtnern und dem Überleben in der Stadt auch mit Romanen, einem Film und einem Kunstprojekt als Zugängen zur Entdeckung von Religion und Spiritualität. Es kommt regelmäßig vor, dass ich einen Roman oder ein Gedicht lese, einen Film sehe oder eine Theatervorstellung besuche und dadurch auf die eine oder andere Weise berührt werde. Ich denke mir dann oft: Damit möchte ich einmal noch etwas machen. Als Theologin die Welt verstehen. Als roter Faden in einer Vorlesung oder in einem Artikel ausgearbeitet. Und dann, oft erst Jahre später, komme ich tatsächlich darauf zurück. Weil die alltägliche Wirklichkeit, dann nicht in Kunst übersetzt, mir eine andere Perspektive auf das Denken über Religion und Spiritualität vermittelt.

Das Haus