Das Ferienhaus - Und du denkst, du bist sicher - C.M. Ewan - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Ferienhaus - Und du denkst, du bist sicher E-Book

C.M. Ewan

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Familie. Ein abgelegenes Haus. Und es gibt kein Entkommen ...

Als Tom Sullivan nachts um zwei ein Fenster zerbrechen hört, werden seine schlimmsten Albträume Wirklichkeit: Jemand ist ins Haus eingedrungen und trachtet ihm und seiner Familie nach dem Leben. Sein Feriendomizil mitten im schottischen Nirgendwo, das eigentlich für ein paar Wochen zu einem beschaulichen Urlaubsort werden sollte, wird zur tödlichen Falle. Ein atemberaubendes Versteckspiel beginnt, während dem sich Tom mehr als einmal fragt, ob er denen, die ihm am nächsten sind, wirklich vertrauen kann. Sogar seine Ehefrau Rachel scheint irgendetwas vor ihm zu verbergen ...


Freuen Sie sich auf noch mehr nervenzerreißende Spannung von C.M. Ewan – sein neuer Thriller »Etage 13« ist ab Frühjahr 23 bei Blanvalet erhältlich!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 551

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Tom und Rachel Sullivan trauern um ihren Sohn, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Gemeinsam mit ihrer Tochter ziehen sie sich in ein Ferienhaus mitten im schottischen Nirgendwo zurück, um zur Ruhe zu kommen und die Risse, die innerhalb der Familie entstanden sind, zu kitten. Doch genau hier, in der ländlichen Abgeschiedenheit, treten ihre Probleme noch deutlicher zutage. Während Tom von Angst- und Schuldgefühlen geplagt wird, scheint Rachel irgendetwas vor ihm zu verbergen. Als sie in ihrer ersten Nacht um 2 Uhr früh ein Fenster bersten hören, werden Toms schlimmste Albträume Wirklichkeit. Jemand ist im Haus. Er trachtet ihnen nach dem Leben. Und sie können nirgendwohin …

Autor

C. M. Ewan wurde 1976 in Taunton geboren und hat an der Universität von Nottingham Amerikanische und Kanadische Literatur und später Jura studiert. Nach elf Jahren auf der Isle of Man ist er mit seiner Frau, seiner Tochter und seinem Hund nach Somerset zurückgekehrt, wo er sich ganz dem Schreiben widmet. »Das Ferienhaus« ist sein erstes Buch im Blanvalet Verlag.

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

C.M. EWAN

DAS

FERIENHAUS

UND DU DENKST,

DU BIST SICHER

Aus dem Englischen

von Bernd Stratthaus

Die Originalausgabe erschien 2020

unter dem Titel »A Window Breaks« bei Pan Books, London.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © der Originalausgabe 2020 by C. M. Ewan

Published by Arrangement with Christopher Ian Ewan

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Blanvalet

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Redaktion: Susann Rehlein

Covergestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (cceliaphoto, Ivan Kurmyshov) Shutterstock.com (Angelo Coltraro, tofutyklein) und Eric Guémise

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

KW · Herstellung: sam

ISBN 978-3-641-26253-2V003

www.blanvalet.de

In Gedenken an Colin Moore Ewan,

meinen wunderbaren Vater

27. Juni 1942 – 19. August 2018

Funken in der Dunkelheit. Sie sind das Letzte, an das Michael sich erinnert. Das blendende Glitzern kleiner Scherben aus Windschutzscheibenglas, die auf ihn zufliegen und ihn ins Gesicht stechen.

Davor ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Als wäre er ein Astronaut, der durchs Weltall taumelt. Als wäre er weit weg – woanders –, aber nicht hier. In dieser Wirklichkeit.

Dann das Reißen und das Einschneiden des Sicherheitsgurts. Das wilde, schmerzhafte Ziehen.

Michael spürt, wie er sich vorwärts in den Airbag schraubt – sein Inneres beschleunigt noch immer –, wie der Gurt sich vergeblich bemüht, ihn zurück nach hinten zu ziehen. Zurück aus diesem Augenblick. Zurück in die Welt, von der Michael nun mit Sicherheit weiß, dass er sie verlässt. Zurück an einen Ort, an dem keiner so schnell fährt oder so unvermittelt stoppt, ohne dass alles andere ebenfalls stoppt.

1

Autofahren macht mir Angst. Ich werde nervös. Unruhig. Kribbelig vor Schuldgefühlen.

So ist es nicht immer gewesen. Ich kann mich an eine Zeit erinnern, in der ich beim Fahren sorglos Rockklassiker aus dem Autoradio mitgesungen, Rachels Hand gehalten oder als Papas Taxiservice die Kinder in glücklichem Chaos von Indoor-Spielplätzen zu Geburtstagspartys gefahren habe, später dann zum örtlichen Kino oder in die Disco.

Aber die Dinge ändern sich, und heute fühlte unser Volvo sich an wie ein Käfig, angefüllt mit meinen schlimmsten Gedanken und Ängsten. Gedanken an Michael. An Rachel und Holly. An das, was uns in London passiert war, und an das, was vor uns lag.

Die Scheibenwischer sausten im Nieselregen von einer Seite auf die andere. Schottland war urwüchsig und verschwommen. Die einzigen Geräusche waren das Surren des Motors und das Zischen der Reifen auf dem nassen Asphalt. Die Stille kroch aus den Belüftungsschlitzen wie Giftgas.

Ich packte das Lenkrad fester und warf im Rückspiegel einen Blick auf Holly – meine dreizehnjährige Tochter. Eine glühend heiße Nadel durchstach mein Herz. Vier Tage war der Überfall nun her, und Holly sah immer noch aus, als wäre ihr eine Handgranate im Gesicht explodiert.

Die Nase war geschwollen und verfärbt, die Nasenwurzel ein einziger Bluterguss unter den weißen Pflastern, die kreuzweise darüberklebten, um die Nasenlöcher gab es Ränder aus getrocknetem Blut. Die geschwollene Haut unter den Augen war von einem tiefen Dunkelrot, das an den Seiten in ein gelbliches Stachelbeergrün überging.

Holly hielt meinem Blick mit leblosen Augen stand – vermutlich versuchte sie mich zu beruhigen –, und wirklich, etwas in mir zerriss und löste sich.

Meine Tochter geht zweimal die Woche zum Turnen. Samstagmorgens spielt sie Hockey. Wie sie über ein Kunstrasenfeld sprintet, erinnert sie an eine Kriegerprinzessin mit dem festen Entschluss, ihren Erzfeind zu skalpieren. Ich habe sie immer für furchtlos gehalten, aber jetzt saß sie da, starrte zu mir zurück und versuchte stark zu wirken, wo sie doch ganz offensichtlich verletzt und aufgewühlt war.

Meine Kehle brannte. Es schmerzte mich, Holly so zu sehen, aber am schlimmsten war, dass sie versuchte, ein tapferes Lächeln aufzusetzen, und dann sofort vor Schmerzen zusammenzuckte.

Ich musste an die Ereignisse in der Gasse zurückdenken.

Hollys gebrochener Schrei. Der Mann im Hoodie, der zuschlug. Holly, die rückwärtsfiel, während ich wusste, dass ich nicht rechtzeitig bei ihr sein könnte.

Meine Lunge verkrampfte sich. Meine Augen fühlten sich heiß an, und ich rieb darüber. Meine Hände ballten sich um das Lenkrad zu Fäusten. Bei allem, was ich über Vaterschaft weiß (nicht viel) und nicht weiß (eine ganze Menge), kann ich eins mit Sicherheit sagen: Nichts ist schlimmer, als mitanzusehen, wie das eigene Kind in Gefahr gerät. Ich konnte nicht wissen, ob Holly das Trauma jemals ganz würde überwinden können, aber ich wusste bereits jetzt, dass ich selbst es nie mehr vergessen würde.

Neben mir saß Rachel und starrte abwesend nach vorn. Sie musste meinen Blick wohl auf sich ruhen gespürt haben, denn sie wandte sich mit einem vage angedeuteten Lächeln zu mir um.

Meine Frau ist schön. Wird es immer sein. Allerdings hatte sie im Lauf der letzten acht Monate zu viel an Gewicht verloren. Hier und jetzt, im trostlosen Licht des frühen Nachmittags, wirkte sie blass und ausgelaugt, ihr normalerweise üppiges braunes Haar hing schlaff und ungekämmt herab. Ich hätte mir selbst etwas vormachen und mir sagen können, dass das wegen des frühen Aufbruchs um sechs Uhr so war oder aufgrund der mehrstündigen Fahrt am Vortag, aber ich wusste, dass es um wesentlich mehr ging.

»Hast du was gesagt?«, fragte sie mich.

»Nein. Ich seh dich nur an.«

In der Vergangenheit hätte Rachel vielleicht mitgespielt, zurückgeflirtet, doch jetzt unterstrich ihr brüchiges Lächeln nur, wie schmal und hager ihr Gesicht geworden war. »Du hast dich schon immer leicht ablenken lassen.«

»Ist doch schön, wenn das, wovon ich mich ablenken lasse, das Ablenkenlassen auch wert ist.«

»Tom.« Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Mach das nicht, okay?«

»Zu viel?«

Sie wies mit dem Kinn auf die Welt außerhalb der Windschutzscheibe. »Ich mag dieses Wetter einfach nicht besonders.«

»Anfang Juni in den Highlands. Ich habe trotzdem meine Sonnencreme eingepackt.«

Okay, ich bemühte mich also zu sehr, und wir beide wussten es. Aber ich musste es einfach tun. So wie sich die Dinge zwischen uns in letzter Zeit entwickelt hatten, war das allemal besser, als es gar nicht mehr zu versuchen.

»Soll ich ein Stück fahren?«, fragte Rachel. »Bist du müde?«

Rachel weiß, dass ich nicht gern fahre. Und ich weiß, dass es ihr nicht anders geht. Es bedeutete mir also viel, dass sie es mir anbot, auch wenn ich ihre Erleichterung bemerkte, als ich den Kopf schüttelte.

Doch ja, ich war müde. Müde, mir immer wieder Fragen zu stellen, die ich nicht beantworten konnte. Müde, mich zum hundertsten Mal zu fragen, was Rachel wohl gerade dachte und ob es ein Fehler gewesen war, die ganze Strecke hierherzukommen.

»Sollen wir eine Pause machen?« Meine Frau war früher einmal die Entschlossene von uns beiden gewesen. Oder – um es ein bisschen schnoddriger auszudrücken – sie hatte in unserer Ehe die Hosen angehabt. Das war für mich immer okay gewesen. Inzwischen konnte ich allerdings nicht anders, als zu bemerken, wie viele ihrer Äußerungen in Frageform daherkamen oder wie oft sie die Entscheidung mir oder Holly überließ. »Holly, was denkst du?«

»Mum, mir geht’s gut. Wirklich.«

»Bist du sicher? Ich kann dir noch mehr Codein geben.«

»Vielleicht wenn wir ankommen. Im Moment geht es noch.«

Rachel war sichtlich nicht überzeugt und blickte in den wirbelnden Nieselregen hinaus. Sie legte sich einen Finger an den Hals und fuhr sich in kreisförmigen Bewegungen über die Haut.

Noch ein Flashback zu den Geschehnissen in der Gasse.

Der Mann mit der Kapuze zerrte brutal an Rachels Haar. Die Messerklinge an ihrem Hals. Und dieser hilflose Blick, den Rachel mir zugeworfen hatte. Flehend. Verängstigt. Orientierungslos.

Der Schweiß brach mir aus und lief mir heiß über Schultern und Rücken. Meine Hände wären beinahe vom Lenkrad abgerutscht, und nicht zum ersten Mal verspürte ich den Wunsch, ich hätte die Fähigkeit, verstörende Bilder aus meinem Geist zu verbannen.

Ein Straßenschild wischte an uns vorüber. Unsere Ausfahrt zu der namenlosen Straße, die zum Loch Lurgainn führte, würde bald kommen. Ich setzte den Blinker und bog ab. Das Navi sagte eine Fahrtzeit von neununddreißig Minuten bis zu unserem Ziel an der schottischen Westküste voraus.

Ich lockerte die Schultern und ließ den Nacken knacken. Normalerweise hasst Rachel es, wenn ich das tue, aber heute sagte sie nichts dazu, und das Schweigen zwischen uns drückte von innen gegen die Autoscheiben wie ein sich ausdehnendes Gas. Ich fühlte einen Schmerz, als ich darüber nachdachte, sie mit den Worten zu trösten, die sie hören musste. Aber es war schon lange her, dass ich gewusst hatte, wie diese Worte lauteten. Wochenlang hatte Rachel mir gesagt, dass wir reden müssten, hatte mich gedrängt, mir die Zeit zu nehmen. Ich war ihr ausgewichen, denn ich fühlte mich zu schwach und hatte zu viel Angst, mir anzuhören, was sie zu sagen hatte. Und jetzt war es vielleicht zu spät.

Hinter uns zog Holly ihren Sicherheitsgurt etwas weiter heraus und lehnte sich seitwärts, um den Kopf an Buster, unseren dunklen Labrador, zu schmiegen. Buster ist groß und lieb, mit einem dicken, dichten Fell und braunen Kulleraugen, denen man unmöglich widerstehen kann. Wir haben ihn aus dem Tierheim geholt, als die Kinder noch klein waren, und manchmal benimmt er sich immer noch so, als hätte er Angst, dass wir ihn dorthin zurückschicken. Vielleicht ist er deshalb der loyalste Hund, den ich je kennengelernt habe.

Ein weißer Kastenwagen rauschte an uns vorbei, und Spritzwasser landete auf unserer Windschutzscheibe. In der Ferne ragten zackige Gipfel in den dunklen Himmel, als gehörten sie zu irgendeiner apokalyptischen Landschaft. Wir fuhren an braunen und grünen Feldern vorbei, auf denen Schafe standen, an breiten bewaldeten Streifen und an küstennahen Lochs.

Ich wollte gerade die Hand nach dem Radio ausstrecken – mit irgendetwas musste ich die Stille überbrücken –, als die Lautsprecher summten und knisterten und mein Handy über das Freihandsystem zu zirpen begann. Eine unbekannte Nummer wurde angezeigt.

Ich drückte auf einen Knopf am Lenkrad und wartete.

»Mr. Sullivan? Constable Baker. Ich wollte Sie bezüglich ein paar neuer Entwicklungen auf dem Laufenden halten.«

Mein Herz machte einen Satz, und ich tauschte einen besorgten Blick mit Rachel. Sollten wir das wirklich über Lautsprecher besprechen?

»Ist schon okay, Dad.« Holly setzte sich auf und lehnte sich zwischen unseren Sitzen nach vorn. »Ich sage euch doch schon die ganze Zeit, dass es mir gut geht.«

Rachel zuckte mit den Schultern und neigte den Kopf, als wüsste sie auch nicht, was das Beste wäre, sei aber der Meinung, dass Holly mithören solle.

Ich wartete. Der Volvo schnurrte weiter voran. Schließlich räusperte ich mich. »Haben Sie den Mann gefunden, der uns überfallen hat?«

»Noch nicht. Wir hatten aber Glück mit den Überwachungskameras. Wir haben ein paar Aufnahmen eines Mannes, auf den die Beschreibung passt, die Sie uns gegeben haben, und der vom Tatort weggelaufen ist. Er hatte etwas bei sich, was Ihre Aktentasche gewesen sein könnte.«

Mein Telefon vibrierte, und das Gespräch wurde kurz unterbrochen. Eine Nachricht war angekommen, aber ich las sie nicht sofort.

»Haben Sie ihn gefunden?«

»Seine Spur verliert sich in der Nähe des Leicester Square.«

Ein Stich der Enttäuschung. Ich ließ diese Information sacken. Es kam mir komisch vor, mir den Mann im Hoodie in so einer belebten Gegend vorzustellen. In meiner Vorstellung war er eine Gestalt fürs Zwielicht.

»Wie ist das denn möglich?«

»Das läuft nicht wie im Fernsehen, Mr. Sullivan. Die Aufzeichnungen sind nicht lückenlos. Zu einigen der Kameras haben wir keinen Zugang.«

Rachel seufzte, schüttelte den Kopf und zog eine Augenbraue hoch, schien zu fragen: Was hast du erwartet?

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, hatte ich nicht viel erwartet. Vielleicht noch nicht einmal diesen Anruf. Unsere ganze Familie hatte mit der Polizei nicht die allerbesten Erfahrungen gemacht – daher rührte auch Rachels Haltung. Und mir war klar, dass die Londoner Polizei viel zu tun hatte. Ich wusste, dass es jeden Tag unzählige neue Vorfälle gab, um die sie sich kümmern mussten.

Ein Gedanke, der mir zuvor schon gekommen war, quälte mich nun erneut. Vielleicht sollte ich meinen Chef Lionel darum bitten, ein paar seiner Kontakte bei der Polizei zu nutzen. Doch wie standen die Chancen, dass irgendwer den Täter fassen würde? Vielleicht wäre es besser, mit allem so schnell wie möglich abzuschließen.

Ich dachte noch immer darüber nach, als Baker erneut das Wort ergriff.

»Da wäre noch etwas, worüber wir hätten sprechen sollen, Mr. Sullivan. Sie haben mir gesagt, dass Sie den Angreifer nicht erkannt haben.«

Das hatte ich nicht gesagt. Ich hatte ihm berichtet, dass ich den Mann wegen seiner Kapuze und wegen der dunklen Strumpfhose, die er sich übers Gesicht gezogen hatte, nicht richtig hatte erkennen können.

»Na ja, ich habe vergessen, Sie zu fragen, ob Sie irgendwen kennen, der Ihnen oder Ihrer Familie eventuell Schaden zufügen möchte.«

»Sie glauben, der Überfall ist nicht zufällig geschehen?«

»Haben Sie irgendwelche Feinde, Mr. Sullivan? Oder vielleicht Ihre Frau?«

Das war verrückt. »Nein. Keine Feinde. Mir fällt niemand ein, der mir oder meiner Familie Schaden zufügen will. Ich bin nur ein einfacher Anwalt, meine Frau ist Ärztin.«

»Verzeihen Sie, Mr. Sullivan. Aber immerhin war da die Geschichte mit Ihrem Sohn.«

Unvermittelt schien ein entgegenkommender Lastwagen auf uns zuzurasen.

Ich scherte auf den Straßenrand aus und stieg auf die Bremse. Mein Herz pochte wie wild in meiner Kehle.

»Soweit ich weiß, ist er bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen«, bohrte Baker nach.

Der Lastwagen rumpelte vorbei. Ich sah ihm in meinem Seitenspiegel nach, wie er davonwackelte. Unser Volvo stand jetzt, und ich machte keine Anstalten weiterzufahren. Erneut herrschte Schweigen.

Rachel drückte kurz meine Hand und griff dann über mich hinweg, um die Warnblinkanlage anzuschalten. Die Lichter blitzten auf und klickten. Dann lächelte sie schwach und beugte sich zum Lautsprecher vor. Als sie dann etwas sagte, bemerkte ich, wie angespannt sie klang.

»Warum ist das wichtig?«, fragte sie.

»Es gab noch ein weiteres Opfer, Mrs. Sullivan. Eine junge Frau.«

Wenn Holly nicht im Auto gesessen hätte, wäre ich vielleicht nach vorn zusammengesunken und hätte den Kopf gegen das Lenkrad geschlagen.

Vor acht Monaten war unser Sohn Michael umgekommen, als er mit meinem Audi durch ein Waldstück ein paar Meilen von unserem Haus entfernt gefahren war. Er war erst sechzehn Jahre alt. Noch nicht alt genug für den Führerschein. Er ist einfach so mit meinem Auto los. Es war eine verregnete Nacht. Die Straße war glitschig. Michael ist zu schnell gefahren, an einer scharfen Kurve ins Schleudern geraten und gegen einen Baum geprallt.

Die Autopsie hat ergeben, dass er sofort tot war. Das Gleiche galt für Fiona Connor, seine Freundin. Sie waren seit etwas über einem Jahr zusammen.

Mehrmals am Tag gab es noch dunkle Momente, in denen mich der Schrecken dessen, was Michael getan hatte, wie eine schwarze Welle überspülte. Es war schon schlimm genug, dass er unerlaubt mein Auto genommen hatte. Dass er ohne Führerschein gefahren war. Dass er fahrlässig mit seinem eigenen Leben und dem der anderen Autofahrer umgegangen war, die in jener Nacht unterwegs waren.

Aber Fiona mit in den Tod zu reißen. Das Leben eines fünfzehnjährigen Mädchens auszulöschen, die eine liebevolle Familie und ihre ganze Zukunft noch vor sich hatte, war unverzeihlich.

In diesem Punkt waren Rachel und ich nicht einer Meinung. Es war die schartige Bruchlinie, die sich in unserer Ehe gebildet hatte. Wann auch immer ich jetzt an Michael dachte, fiel es mir schwer, meine Erinnerung nicht von einem überwältigenden Schamgefühl eintrüben zu lassen.

Rachel hingegen war davon überzeugt, dass Michael einfach nur Pech gehabt hatte, als dieser eine Moment jugendlicher Rebellion so eine verheerende Konsequenz hatte. Das war eine Haltung, die meiner Meinung nach über mütterliche Loyalität hinausging – ein Akt mutwilliger Selbsttäuschung.

»Mr. und Mrs. Sullivan?«, brachte Baker sich in Erinnerung.

Irgendwie fand ich meine Sprache wieder. »Das hat überhaupt nichts miteinander zu tun. Fionas Familie weiß, wie leid uns das alles tut.«

Diesmal musste ich an Fionas Begräbnisgottesdienst zurückdenken. Ich erinnerte mich, wie Fionas Vater sich auf seiner Bank vorn in der Kirche umgedreht hatte, als wir versuchten, uns hinten hineinzuschleichen. Wie er mit rotem Kopf und vollkommen außer sich aufgestanden war, getobt hatte und den Mittelgang heruntergestürmt war, um uns zu verjagen. Rachel und ich waren zu unserem Auto zurückgerannt und hatten uns eingeschlossen. Meine Frau hatte noch Stunden nachher gezittert.

Machte ihn das zu unserem Feind? Das konnte ich mir nicht vorstellen.

»Tut mir leid, dass ich es angesprochen habe«, entschuldigte sich Baker. »Ich hoffe, Sie verstehen mich. Ich muss einfach …«

»Gibt es sonst noch etwas?«

»Wir haben das Messer ins forensische Labor geschickt. Mit ein bisschen Glück erbringt uns das einen Hinweis.«

Unwahrscheinlich. Unser Angreifer trug Handschuhe. Und die Strumpfhose über seinem Kopf hatte sicherlich verhindert, dass er irgendwelche Haare verloren hatte.

Ich hatte den Eindruck, ich sollte Baker noch ein paar Fragen stellen, aber ich kam einfach auf keine. Und ich wollte Rachel und Holly nicht noch mehr Kummer bereiten.

Also dankte ich ihm und legte auf.

Rachel wandte sich ab und blickte aus ihrem Seitenfenster, zu spät, um ihre Tränen zu verbergen. Holly legte sich wieder zu Buster und schloss ihn fest in die Arme.

Der Warnblinker blinkte. Die Scheibenwischer wischten.

Ganz benommen nahm ich mein Telefon in die Hand und sah auf das Display. Die Nachricht stammte von Lionel.

Lass dir dein Ego nicht dabei im Weg stehen, die Sache mit Rachel wieder in Ordnung zu bringen, Tom. Hör dir genau an, was sie zu sagen hat. Eure Ehe ist zu wichtig. Lass dir das von jemandem sagen, der weiß, wovon er spricht.

2

Beinahe hätten wir die Ausfahrt zum Landhaus verpasst. Rachel war diejenige, die mich darauf hinwies und dann die Hand aufs Armaturenbrett legte, während ich bremste, und der Volvo über lose, feuchte Erde rutschte.

Die Zufahrt wirkte nicht sehr spektakulär, war nur eine Lücke in einer knorrigen Hecke, die sich auf eine steile geschotterte und gekieste Auffahrt hin öffnete. Auf einem verblichenen Holzschild stand: WEBSTER. PRIVATSTRASSE.

Ich gab Gas. Die Reifen drehten auf der unbefestigten Steigung durch, griffen schließlich doch und arbeiteten sich voran, wobei sie nassen Kies nach hinten ausspuckten.

Oben angelangt, erhaschten wir einen Blick auf einen aufgewühlten grauen Ozean unter einer tiefhängenden grauen Wolkendecke, dann führte die Straße wieder abwärts und auf ein hohes, hässliches Tor zu.

Das Tor war eine Überraschung. Es bestand aus zwei grünen Metallplatten, die wenigstens drei Meter hoch sein mussten. An jeder Seite schloss sich ein Metallzaun aus stumpfen Pfosten aus demselben grünen Metall an. Tor und Zaun waren mit Stacheldraht besetzt, der sowohl nach außen als auch nach innen gespreizt war. Im Inneren des umzäunten Geländes pressten sich dicke Bäume dagegen. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich darauf getippt, dass wir an einer abgelegenen Kaserne angelangt wären.

Seltsam.

Ich bremste den Volvo neben einer niedrigen Metallsäule ab, in die eine Kamera und eine Gegensprechanlage eingelassen waren. Die Stille des Waldes hatte eine Klarheit an sich, in der man eine Stecknadel hätte fallen hören. Ich ließ das Fenster auf der Fahrerseite herunter und lehnte mich hinaus, doch bevor ich noch etwas sagen konnte, hörte ich ein tiefes elektrisches Summen, gefolgt von einem metallischen Klicken, mit dem sich das Tor zitternd teilte und sich in zwei engen Bögen auswärts öffnete.

Ich kämpfte ein kleines überraschtes Zusammenzucken nieder. Bevor wir am vorigen Morgen von London aufgebrochen waren, hatte Lionel mich gebeten, ihm unser Kennzeichen durchzugeben. Nun wusste ich, warum.

Rachel schaute mich mit gerunzelter Stirn an, Holly sah von ihrem Smartphone auf, und sogar Buster rappelte sich auf die Pfoten, um einen Blick auf die Umgebung zu werfen. Ich schaltete den Scheibenwischer aus. Der Nieselregen ging jetzt nur noch ganz leicht nieder, mehr wie ein Nebel.

»Also …«, sagte Holly. »Glaubt ihr, dass Lionel vielleicht ’nen Therapeuten braucht?«

»Holly!«

»Was denn, Dad? Ich mein doch nur, nach dem, was mit seiner Frau passiert ist …«

Sie beendete den Satz nicht, aber wir dachten alle dasselbe. Das Tor und der Zaun waren für so eine abgelegene Gegend komplett übertrieben. Doch jetzt, da meine eigene Familie bedroht worden war, konnte ich nur zu gut verstehen, warum Lionel Wert auf Sicherheit legte.

Ich nahm den Fuß von der Bremse, und der Volvo rollte weiter, legte an Geschwindigkeit zu, als die Auffahrt steil abfiel. Hinter uns schloss sich das Tor surrend und knirschend wieder, und Rachel warf noch einen Blick über die Schulter.

»Alles okay?«, fragte ich sie.

Zitterte sie etwa? »Ich glaube schon.«

Seltsame Geschichte. Rachel war diejenige gewesen, die darauf gedrungen hatte, dass wir hier hinausfuhren, doch jetzt spürte ich bei ihr eine leichte Unruhe. Vielleicht wurde ihr erst jetzt allmählich klar, was ich bereits begriffen hatte: Hier draußen wären wir wirklich auf uns allein gestellt. Wir könnten uns auf keinen Fall mehr vor dem verstecken, was auch immer wir einander zu sagen hatten – auch nicht vor den unangenehmen Wahrheiten, die wir einander vielleicht enthüllen würden.

Die Bäume umstanden uns dicht gedrängt auf beiden Seiten, hohe Äste streckten sich über die Auffahrt, verbanden sich dort miteinander, sodass man teilweise den Himmel nicht mehr erkennen konnte. Spritzend fuhren wir durch matschige Schlaglöcher und rumpelten über Entwässerungsschläuche. Dann wurde der Hang weniger abschüssig, und die Auffahrt öffnete sich auf eine großzügige, gekieste runde Lichtung inmitten eines Rings aus hoch aufgeschossenen Fichten, Lärchen und Kiefern.

»Dad? Sind wir wirklich richtig?«

Lionel hatte sein Landhaus eine Hütte genannt, und ich hatte mir darunter etwas Rustikales und Bescheidenes, gleichzeitig aber gut Ausgestattetes vorgestellt. Eine Art Holzfällerhütte, mit groben Dielen und einer offenen Veranda davor, vielleicht auch ein geweißeltes Bauernhaus mit Reetdach.

Falscher hätte ich gar nicht liegen können.

Auf einer felsigen Landzunge, die sich von der Küste ins Wasser erstreckte, stand auf einer engen Lichtung zwischen den Kiefern eines der bemerkenswertesten Häuser, die ich je zu Gesicht bekommen hatte.

Es war lang gezogen und schmal, hatte ein asymmetrisches Schrägdach, ein Fundament aus unbehauenem Stein und bestand dazwischen aus einer kunstvollen Struktur aus Balken und Glas. Die Balken waren gebogen und gewölbt, geschwungen und abgewinkelt, sodass sie ein komplexes Gitter formten, in das die getönten Glasscheiben eingelassen waren. An der Rückseite erstreckte sich fast über die gesamte Länge des oberen Stockwerks ein Balkon. Darauf standen ein paar Gartenmöbel, außerdem unter einer Nylonplane ein Gaskocher.

Das Ganze wirkte wie eine luxuriöse Skihütte, und wenn es an den Hängen von Val d’Isère oder Gstaad gestanden hätte, wäre es immer noch höchst beeindruckend gewesen. Hier draußen, vor fremden Blicken verborgen und ganz allein in der schottischen Wildnis, blieb einem der Mund offen stehen.

»Holly, was denkst du?«

»Ziemlich cool, Dad.«

»Rachel?«

»Atemberaubend.«

Wir stiegen aus dem Auto und traten auf einen Teppich aus Kies und herabgefallenen Kiefernnadeln. Ein paar versprengte Regentropfen hingen in der Luft. Der Duft nach feuchtem Wald war überwältigend.

Die uns umgebenden Bäume standen dicht beieinander. Unter dem üppig grünen Laubdach erstreckte sich ein Teppich aus Rindenmulch und Moos in welligen Beulen und Gräben bis in die undurchdringliche Finsternis. Ganz in der Nähe, hörte ich, brandeten die Wellen rauschend an die Küste.

»Buster!«, rief Holly. »Komm!«

Mein Herz zog sich zusammen, als ich Buster aus dem Auto springen und Holly zum Waldrand folgen sah. Ganz ehrlich, wenn irgendwer jemals behauptet, dass Hunde nicht trauern, lügt diese Person. Buster schlief noch drei Monate nach Michaels Tod am Fußende seines Betts. Rachel hatte mir erzählt, dass sie ihn manchmal noch immer dabei ertappte, wie er sich dort spätnachts herumdrückte und die Bettdecke anstupste, als suchte er darunter nach unserem Sohn.

Es war keine Übertreibung zu behaupten, dass Busters Anwesenheit der Hauptgrund dafür war, dass Holly so gut mit Michaels Tod klarkam. Sie umarmte ihn ständig. Ich hatte zufällig mitbekommen, dass sie sich ihm anvertraute. Und Buster war Holly gegenüber noch beschützerischer geworden. Zu Hause folgte er ihr von einem Zimmer ins nächste. Er vermisste sie schrecklich, wenn sie in der Schule war. Eine Psychologin hätte wohl gesagt, dass Holly sich so sehr auf Buster stützte, weil sie sich nicht mehr auf Michael stützen konnte. Ich wusste nicht, ob das stimmte, doch ich wusste genau, dass zwischen den beiden ein unzerstörbares Band bestand.

Schritte auf dem Kies.

Ein stämmiger Mann kam vom Eingang des Landhauses auf uns zu. Buster begann zu knurren und bellte dann zweimal kurz hintereinander als Warnung, während Holly rasch zu Boden blickte und ihr Gesicht verbarg.

»Hallo, da ist ja die Familie Sullivan.« Sein schottischer Akzent war so warm und rauchig wie guter Whiskey. »Ich heiße Brodie.«

Er war groß und kräftig, hatte breite Schultern und riesige Pranken. Sein braunes Haar war gelockt, und sein Gesicht wurde von einem buschigen Hipsterbart bedeckt. Das Karohemd, das er zu abgewetzten Jeans und Wanderstiefeln trug, spannte sich stramm über seinen ausgeprägten Brustmuskeln und den Oberarmen. Es war nicht unsere erste Begegnung, obwohl wir vorher noch nie miteinander gesprochen hatten.

»Hey, Hund, wie geht’s dir?« Brodie schlug sich auf die Schenkel und winkte Buster heran, doch erst als Holly ihm einen Stups mit dem Fuß gab und ihm so die Erlaubnis erteilte, trabte er zu Brodie hinüber, beschnupperte ihn, ließ sich streicheln. »Haben Sie gut hergefunden?«

Das bejahte ich, und er richtete sich auf, um mir die Hand zu geben. Er hatte einen festen Händedruck, die Handflächen waren rau und schwielig, und ich musste mich anstrengen nicht zusammenzuzucken, als er mir beinahe die Finger brach. Sein Machogehabe wurde sanfter, als er Rachel begrüßte. Mir fiel auf, dass er sie kurz taxierte und dann den Blick senkte, wie aus Schüchternheit. Es war wirklich nicht das erste Mal, dass ich beobachten konnte, dass Rachel diese Wirkung auf Männer hatte, doch in letzter Zeit hatte mich das mehr gestört, als mir lieb war.

»Hallo, Fräulein.«

Brodie winkte Holly zu, die noch immer bei den Bäumen stand. Sie hatte die Hüfte verdreht und die Schultern eingezogen, als wollte sie mit dem Wald verschmelzen. Brodie sagte nichts zu ihren Verletzungen. Er starrte sie auch nicht an. Ich nahm an, dass Lionel ihn gebrieft hatte, und darüber war ich froh.

»Das ist Holly«, stellte ich vor. »Ich bin Tom. Und das ist meine Frau Rachel.«

»Freut mich, Sie alle kennenzulernen. Holly, willkommen am schönsten Platz von ganz Schottland. Soll ich Ihnen mit dem Gepäck helfen, Tom?«

»Ist schon in Ordnung. Das schaffen wir schon.«

»Es macht keine Mühe, dafür bin ich ja hier. Und Sie können mir glauben, dass Lionel Sie danach fragen wird. Er kann es gar nicht leiden, wenn ich nichts mache.«

Das Gefühl kannte ich.

Brodie warf Rachel noch einen raschen Blick zu, dann ging er an mir vorbei und öffnete den Kofferraum des Volvo. Er klemmte sich Hollys Reisetasche unter den Oberarm und griff dann nach Rachels Koffer, hob ihn aus dem Auto, als wäre er leer.

»Hast du Lust, das Haus zu besichtigen, Holly?«

Meine Tochter war normalerweise ziemlich gesprächig, doch nun zuckte sie nur wortlos mit den Schultern.

»Du wirst es hier lieben. Das verspreche ich. Willst du mit mir kommen?«

Zunächst reagierte Holly nicht. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie gleich den Kopf schütteln würde. Doch dann sah sie zu Buster, dessen Lefzen sich zu einem seligen Lächeln verzogen und dessen wedelnder Schwanz begeistert gegen Brodies Bein klopfte.

»Okay«, sagte sie leise.

»Großartig. Tom, Sie sollten das Auto nach dort drüben umparken.« Mit der Hand, in der er Rachels Koffer hielt, zeigte er auf einen holzüberdachten Stellplatz. »So ist es später nicht voller Kiefernnadeln und Harz.«

Unter dem Dach des Stellplatzes war Platz für zwei Fahrzeuge. Ein schlammbedeckter Toyota-Geländewagen nahm den linken Platz ein.

»Das ist meiner«, erklärte Brodie. »Aber machen Sie sich keine Sorgen, ich bin gleich weg. Ich wohne in der Nähe von Lochinver.« Dann wandte er sich an Rachel. »Sind Sie so weit?«

Sie nickte und schenkte ihm ein warmherziges, erwartungsvolles Lächeln.

Ich sah Brodie daraufhin zusammen mit meiner Frau, meiner Tochter und meinem Hund davongehen und zog dann noch meinen eigenen Koffer aus dem Kofferraum. Noch immer hatte ich Mühe, mich an die Idee zu gewöhnen, mit meiner Familie zusammen jetzt hier zu sein, so weit weg von London. Dafür gab es natürlich zahlreiche Gründe, aber auch … Lionels Hütte. Bis vor ein paar Tagen hatte ich noch nicht einmal von der Existenz dieses Ortes gewusst.

Zum ersten Mal hatte ich auf einem glamourösen Wohltätigkeitsball davon gehört, der in einem Hotel in Mayfair stattgefunden hatte. Es war eine Fundraising-Veranstaltung für Justice For All, eine Stiftung, die sich um die Rehabilitation von Wiederholungstätern kümmert. Lionel war nicht nur der Gastgeber der Gala gewesen und hatte sie finanziert; er ist außerdem der Gründer und Stiftungsvorsitzende von Justice For All. Es gibt Leute, die glauben, dass Lionel die Stiftung nur wegen seiner politischen Ambitionen gegründet hat, um sein Image aufzupolieren. Als Vorstandsvorsitzender und Eigentümer von Webster Ventures – dem führenden Investor für Tech-Start-ups und hochspezialisierte Technikfirmen im Vereinigten Königreich – ist er ein sagenhaft reicher und einflussreicher Mann, und es hatte schon lange Gerüchte darüber gegeben, dass er eines Tages für den Bürgermeisterposten kandidieren würde. Ich weiß mit Sicherheit, dass mehrere Kabinettsmitglieder auf seinen Kurzwahltasten sind. Vielleicht bin ich allzu naiv, aber ich glaube Lionel, wenn er mir versichert, dass er die Stiftung dessentwegen gegründet hat, was seiner Frau zugestoßen ist.

Jennifer habe ich nie kennengelernt. Sie wurde vor neun Jahren ermordet, und damals kannte ich Lionel noch nicht. Es geschah bei einem furchtbaren Überfall auf ihren Hauptwohnsitz in der Nähe des Regent’s Park. Lionel war zu der Zeit auf Geschäftsreise in Hongkong, und die Polizei vermutete, dass Jennifer einen Einbrecher überrascht hatte. Diese Theorie wurde dadurch weiter befeuert, dass ein Degas-Original – die Bronzestatuette einer Ballerina – aus Lionels Arbeitszimmer verschwunden war, als er aus Hongkong zurückkehrte. Die Polizei hatte auch bereits einen Tatverdächtigen: Ein Mann namens Tony Bryant hatte früher schon einige Zeit wegen schweren Raubes gesessen. Nur wenige Monate vor der Tat war er aus dem Gefängnis entlassen worden, und seine Fingerabdrücke hatten sich überall am Tatort befunden.

Doch trotz dieser heißen Spur war die Anklage gegen Bryant schnell in einer Sackgasse gelandet, weil die Polizei weder ihn noch die gestohlene Degas-Skulptur aufspüren konnte. Es gab Gerüchte, Bryant habe sich nach Spanien abgesetzt. Lionel glaubte – und vermutlich ist er da ein bisschen naiv –, dass Jennifer – Lionels große Liebe – noch am Leben sein könnte, wenn der Täter nach seiner ersten Verurteilung nur die richtige Unterstützung und Anleitung erhalten hätte. Lionel hat mal zu mir gesagt, dass es sich gelohnt habe, wenn Justice For All auch nur eine einzige Person vor dem Kummer bewahren könne, den er selbst erfahren hatte.

Sosehr ich Lionel auch mag und respektiere, hatte ich doch nicht bei der Gala sein wollen. Nicht etwa weil JFA keine edlen Ziele verfolgt – das tut die Stiftung ohne Zweifel –, sondern aufgrund dessen, was mein Sohn getan hatte. Sagen wir einfach, dass ich mich dort nicht ganz wohl in meiner Haut fühlte. Der einzige Grund, aus dem ich doch hinging, war, dass ich Rachel unterstützen wollte. Lionel hatte sie gebeten, ihm bei der Ausrichtung der Veranstaltung behilflich zu sein. Sie würde eine Rede halten, und ich war mir ziemlich sicher, dass sie deshalb nervös wäre.

Doch als ich ankam, hatte Rachel mich kaum eines Blickes gewürdigt. Die ersten fünf Minuten hatte ich mich am Büfett herumgedrückt und durch den Raum hindurch dabei zugesehen, wie ein gut aussehender junger Mann im Smoking mit meiner Frau flirtete, sie am Arm berührte, sie zum Lächeln brachte. Rachel sah in ihrem eleganten schwarzen Abendkleid natürlich wieder umwerfend aus. Ihr kastanienbraunes Haar hatte sie hochgesteckt. Ich mochte schon immer, wenn sie es so trug. Ich beobachtete sie dabei, wie sie den Kopf zurückwarf und über irgendetwas lachte, was der Mann gerade gesagt hatte. Es schmerzte mich daran zu denken, dass ich mich nicht mehr daran erinnern konnte, wann ich sie zum letzten Mal so zum Lachen gebracht hatte.

»Mal ganz unter uns«, flüsterte mir Lionel zu, als er neben mich trat, »ich habe gehört, dass Wissenschaftler es inzwischen für so gut wie unmöglich halten, dass man den Kopf eines Mannes zum Explodieren bringen kann, indem man ihn einfach nur anstarrt.«

Lionel war genauso sehr mein Chef wie mein Freund, und es war wohl auch angemessen, ihn meinen Mentor zu nennen. Seit sechs Jahren leitete ich nun seine Rechtsabteilung.

»Schau dir den Typen doch an«, erwiderte ich. »Glaubst du, dass er sich überhaupt darum schert, dass sie verheiratet ist?«

»Glaubst du es denn?«

Lionel zog eine Augenbraue hoch. Sein stahlgraues Haar war zu einem strengen Seitenscheitel gegelt, und sein Smoking war eine teure Maßanfertigung. Der Ballsaal war mit den Größen der Londoner Gesellschaft gefüllt, doch selbst in dieser Umgebung zog Lionel die Aufmerksamkeit mehr auf sich als ein Filmstar. Mir fiel auf, dass sich uns mehrere Partygäste vorsichtig näherten, um ein paar wertvolle Minuten mit ihm zu verbringen.

Ich verschränkte die Arme und starrte wieder. »Wer ist das?«

»Das willst du gar nicht wissen.«

»Reich?«

»Also, das willst du wirklich nicht wissen.«

Ich starrte noch ein bisschen auf Rachel und Mr. Wahrscheinlich-ein-Internetmillionär. Uniformiertes Servicepersonal flitzte mit silbernen Tabletts voller Champagnerflöten hin und her. Ein Streichquartett spielte in einer der Ecken. Zu anderer Gelegenheit hätte mich das alles vielleicht beeindruckt, aber an jenem Tag hatte ich andere Sorgen.

»Hör mal, Tom, warum fragst du Rachel nicht, ob sie mit dir übers Wochenende wegfahren will, nur ihr zwei? Ich habe eine Hütte oben in Schottland, die könntest du benutzen.«

Ich richtete mich auf und runzelte die Stirn. Eine schottische Wochenendhütte. Das klang nicht sehr nach Lionel. Ein schickes Apartment in Paris vielleicht. Ein Stadthaus in New York …

Er lächelte, als könnte er meine Gedanken lesen. »Nur sehr wenige Menschen wissen darüber Bescheid. Ich gehe dorthin, um wieder aufzutanken. Mich auszuklinken. Sie ist … na ja, abgelegen ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Siehst du den Mann dort drüben?«

Lionel zeigte quer durch den Raum auf einen großen Mann mit buschigem Bart und einem schlecht sitzenden Smoking, der unbeholfen ganz allein dastand, zu viele Canapés in der einen Hand, während er mit der anderen seinen Hemdkragen zu lockern versuchte.

»Er heißt Brodie«, erklärte Lionel. »Er kümmert sich für mich um die Hütte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn vor heute Abend schon mal ohne eine Axt in der Hand gesehen habe. Warum tust du mir nicht den Gefallen, gehst zu ihm und fragst ihn ein bisschen aus? Er könnte jemanden gebrauchen, mit dem er sich unterhalten kann, und ich glaube wirklich, dass es für dich und Rachel gut wäre, dort ein bisschen gemeinsame Zeit zu verbringen.«

»Das ist sehr nett von dir, Lionel. Aber …« Ich zuckte mit den Schultern. Nickte in Richtung meiner Frau. »Ich glaube, wir beide wissen, dass das nicht passieren wird. Es ist außerdem noch ein bisschen zu früh, um Holly allein zu lassen.«

»Wirklich?«

»Das weißt du genau.«

»Na ja, vielleicht sollten wir sie das selbst fragen …« Er nahm mich beim Arm und führte mich durch die Menge an die Bar.

»Holly?«

»Hallo, Dad. Mums Babysitter hat abgesagt. Und Lionel hat mich ewig bekniet, dass ich hierher mitkommen soll.«

Als sie Rachel erwähnte, musste ich den Drang niederkämpfen, mich noch einmal nach ihr umzudrehen. Holly saß auf einem Barhocker und hielt ihr leuchtend pinkfarbenes Smartphone in der Hand. Sie trug noch ihre Schuluniform – blauer Blazer, grauer Rock, dunkle Strumpfhose – und ihr braun gelocktes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Wie immer brachte das Lächeln, das sie mir schenkte, mein Herz zum Schmelzen.

»Wie ist die Party?«

»Ich würde mal sagen, nicht total langweilig.«

»Das liebe ich an deiner Tochter, Tom.« Lionel stupste Holly in die Seite. »Sie hat so ein sonniges Gemüt.«

»Ich nehme an, das ist der Grund, warum du in letzter Zeit so viel bei uns zu Hause rumgehangen hast.« Holly rollte mit den Augen. »Ehrlich, Dad. Dein Boss ist eigentlich ziemlich süß. Er hat sich vergewissert, dass es Mum und mir gut geht.«

»Tatsächlich?«

Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er uns als Ersatz für die Familie ansah, die er selbst nie gehabt hatte. Und ich hatte den Überblick verloren, wie oft er mich schon aufgefordert hatte, mich zusammenzureißen und meine Beziehung zu Rachel zu kitten. Dennoch ärgerte es mich, dass er einfach so bei meiner Frau und meiner Tochter zu Hause hereingeschneit war, ohne mir etwas davon zu erzählen. Außerdem war ich auch nicht wirklich froh über Hollys wenig subtile Erinnerung daran, dass ich sie und ihre Mum im Stich gelassen hatte.

Lionel – dem ganz offenbar auffiel, wie unangenehm die Situation auf einmal geworden war – begann sich im Saal nach einer Ablenkung umzusehen.

»Wie geht es Mum?«, fragte ich Holly. »Steht sie wegen ihrer Rede sehr unter Stress?«

»Dad. Gar nicht cool.«

Ich hob die Hände. Holly hatte recht. Nachdem ich von zu Hause ausgezogen war, waren Rachel und ich bei einer Sache vollkommen einer Meinung, nämlich dass unsere vorübergehende Trennung so schmerzlos wie möglich für Holly bleiben sollte. Und das bedeutete, sie nicht in Angelegenheiten mit hineinzuziehen, die nur Rachel und mich betrafen.

Stattdessen wollte ich sie gerade fragen, wie die Schule gewesen sei, als Lionel über mich hinweggriff und jemanden heranzog, der hinter mir stand. Er klopfte mir auf die Schulter und drehte mich um, sodass ich zwei Polizisten in Galauniform gegenüberstand.

»Tom Sullivan«, sagte Lionel. »Darf ich dir Assistant Commissioner Richard Weeks vorstellen? Und du hast sicher schon von DCI Kate Ryan gehört.«

Das hatte ich tatsächlich. DCI Ryan war in letzter Zeit ständig in den Nachrichten gewesen. Obwohl sie nicht im Dienst gewesen war, war sie eingeschritten, als zwei Typen auf einem Mofa beinahe eine schwangere Frau vor einen Bus gerissen hatten, in dem Versuch, ihr die Handtasche zu klauen. Mitschnitte des Vorfalls hatten sich im Internet verbreitet. Ryan war sowohl von Berühmtheiten als auch von Politikern mit Lob überschüttet worden. Das war gute Publicity für die Londoner Polizei, und eine ganze Reihe von Reportagen über sie persönlich waren gefolgt. Vielleicht bin ich ja ein Zyniker, aber ich glaube nicht, dass es schadete, dass Ryan straff und fit war, raspelkurzes Haar und scharfe Gesichtszüge wie eine Statue hatte. Ich konnte mich daran erinnern, dass ihr Vater ebenfalls Polizist war, dass sie Freiluftaktivitäten schätzte, wie zum Beispiel Segeln oder Klettern, dass sie im Vorjahr beim Klettern einmal schlimm gestürzt und trotzdem rasch wieder in den Dienst zurückgekehrt war und – ach ja – dass sie gerade Single war.

Assistant Commissioner Weeks schien sich dieser letzten Tatsache ziemlich klar bewusst zu sein. Er war gute fünfzehn Jahre älter als Ryan, hatte einen Bürstenschnitt, ein ausgeprägtes Kinn und ein kraftvoll-sachliches Auftreten, doch der Art nach zu urteilen, wie seine Hand auf ihren unteren Rücken wanderte, als wir einander vorgestellt wurden, war ihre Beziehung nicht rein beruflicher Natur.

»Mr. Sullivan.« Weeks nickte mir nicht sehr interessiert zu.

»Tom ist mein bester Kopf in Gesetzesangelegenheiten«, erklärte Lionel.

»Bei der JFA?«

Ich sah kurz weg. Rachel musste woandershin gegangen sein, denn ich konnte weder sie noch den Mann mehr sehen, mit dem sie sich unterhalten hatte. Ich war mir nicht sicher, ob ich deshalb eher erleichtert oder besorgt hätte sein sollen.

»Ich helfe, wo ich kann«, murmelte ich.

»Nun, das hier ist wirklich für einen guten Zweck, Tom.« Er schüttelte mir die Hand. »Sie sollen wissen, dass wir bei der Londoner Polizei sehr schätzen, was die JFA so alles leistet.«

»Und nicht etwa nur, weil es uns den Job erleichtert«, fügte Ryan mit einem Augenzwinkern hinzu.

Sie wartete darauf, dass ihr Kollege noch etwas sagte, doch bevor er auf sein Stichwort reagieren konnte, erhob sich ein Raunen im Raum. Rachel stand auf einem Podest. Neben ihr eine große Farbfotografie von Jennifer. Flüchtig trafen sich unsere Blicke, und Rachel schenkte mir ein gebrochenes, beinahe entschuldigendes Lächeln. Dann strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr und lehnte sich zum Mikrofon.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren, viele von den hier Anwesenden wissen vielleicht, dass mein Sohn Michael letztes Jahr am 2. Oktober ums Leben gekommen ist.«

Ein mitfühlendes Gemurmel erhob sich in der Menge. Ich schluckte schwer und ergriff Hollys Hand, während Lionel mir die Schulter drückte. Mir fiel auf, dass Brodie von der gegenüberliegenden Seite zu uns hersah. Lionel hatte ihm wohl schon Bescheid gesagt, dass er mit mir über die Hütte sprechen solle.

»Wie Sie sich vorstellen können«, fuhr Rachel fort, »ist Michaels Tod für uns als Familie ein schwerer Schlag gewesen. Und als seine Mutter wäre es ziemlich leicht für mich zu glauben, dass sein Tod das einzige Ereignis an jenem Abend gewesen ist, das wirkliche Konsequenzen hatte. Aber ich möchte mit Ihnen über etwas anderes sprechen …«

Ich hörte nicht mehr zu. Nicht etwa, weil es mich nicht interessierte, sondern weil meine Frau zuallererst Ärztin ist. Daher überraschte es mich nicht, dass ihre Rede sich auf umfangreiches statistisches Material stützte. Zum großen Teil ging es darin um die Anzahl der Verbrechen, die in der Nacht von Michaels Tod von Wiederholungstätern begangen worden waren. Ich konnte nur staunen, wie gut Rachel die Fassade aufrechterhielt, während ich kaum noch Luft bekam. Michaels Tod hatte sie hart getroffen, an manchen Tagen waren Trauer und Depression so schrecklich gewesen, dass sie kaum aus dem Bett gekommen war. Und jetzt … Nun, es sollte ausreichen zu sagen, dass mein Herz in einer Mischung aus Traurigkeit und Stolz anschwoll, als sie sich dem Ende ihrer Rede näherte.

»… Nur noch eine letzte Statistik würde ich gern mit Ihnen teilen«, sagte sie, und ihr Blick verschleierte sich, als sie mich erneut in der Menge entdeckte. »Mein wunderbarer Sohn war nicht der Einzige, der in jener Oktobernacht gestorben ist. Ein junger Mann namens James Finch, ein zweimal verurteilter ehemaliger Häftling, hat sich am selben Abend das Leben genommen. Er war erst achtundzwanzig. Er hat seine sechsjährige Tochter Phoebe und seine Partnerin Janine hinterlassen, mit der er seit acht Jahren zusammen war. Justice For All konnte James nicht mehr helfen, aber mit Hilfe Ihrer freundlichen Großzügigkeit heute Abend haben wir vor, anderen ehemaligen Straftätern wie ihm zu einem besseren Leben zu verhelfen, zu einer anderen Zukunft. Und, das sage ich aus ganzem Herzen, ich möchte jeder und jedem von Ihnen für Ihre Unterstützung danken.«

Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass die Geschichte dieses Abends an dieser Stelle endete, mit einem bittersüßen Moment, in dem der Applaus aufbrandete und Rachel sich ihren Weg durch die Menge zu uns bahnte – wir uns umarmten, ich ihr einen Kuss auf die Wange drückte und wir uns ein wenig zu lange in die Augen schauten. Stattdessen hatte Rachel Lionel ein warmes Lächeln geschenkt und dann die Hand nach Holly ausgestreckt und eine ihrer Haarsträhnen berührt.

»Die große Rede ist vorbei, Liebes. Und morgen ist Schule. Ist es für dich okay, wenn wir jetzt nach Hause gehen?«

Holly runzelte die Stirn. »Ich dachte, du hast gesagt, es würde nicht gut aussehen, wenn du als Erste aufbrechen würdest?«

»Das hat sie.« Lionel tätschelte Rachels Arm, und ich fühlte ein leises Ziehen. Ich wusste nicht, was mich mehr überraschte: Die beiläufige Vertraulichkeit, die sich zwischen meiner Frau und Lionel entwickelt zu haben schien, oder die Tatsache, dass ich das nicht hatte kommen sehen. »Und dann habe ich gesagt, dass das gar niemand mitkriegen würde, weil ich es so eingerichtet habe, dass mein Wagen in der Gasse hinter der Küche auf euch wartet. Ihr könnt da lang raus. Niemand wird etwas bemerken.«

Zuerst heiterte Hollys Gesicht sich auf. Doch dann lief ein Schatten darüber. »Was ist mit Dad?«

Rachel wandte sich zu mir um und neigte den Kopf. Ich konnte die Verletztheit und das Bangen in ihren Augen sehen. »Was meinst du, Tom? Können wir dich vielleicht zu deiner neuen Wohnung mitnehmen? Vielleicht könnten wir sogar ausmachen, wann wir uns endlich mal unterhalten?«

Möglicherweise wollte ich Rachel einfach nur von Lionel oder dem Typen im Smoking loseisen, der mit ihr geflirtet hatte. Eventuell war es auch der hoffnungsvolle Ausdruck auf Hollys Gesicht oder dass ich Rachel über Michael hatte reden hören. Was auch immer der Grund dafür war, ich sagte Ja, holte unsere Jacken und ging dann zu Rachel und Holly, die draußen in der Gasse auf mich warteten.

Dann ereignete sich der Überfall. Die schwindelerregende Eile von atemlosem, verzweifeltem Schrecken. So schlimm es auch gewesen war, es hätte noch viel schlimmer kommen können, wenn nicht ein Mitglied des Küchenpersonals durch die Schwingtür nach draußen getreten wäre, um zu rauchen, wenn diese Person nicht nach Hilfe gerufen hätte, weiteres Personal aufgetaucht wäre und der Täter sich daraufhin davongemacht hätte.

Das Leben geht bisweilen seltsame Wege. Denn als ich jetzt so auf der Lichtung stand und Rachel und Holly nachsah, konnte ich nicht anders, als mich zu fragen: Was wäre passiert, wenn ich damals abgelehnt hätte, mit ihnen zusammen aufzubrechen? Hätten sich die Dinge zwischen uns anders entwickelt? Hätte der Täter vielleicht gar nicht angegriffen? Rachel nicht das Messer an die Kehle gepresst, Holly nicht ins Gesicht geschlagen? Und – am allerwichtigsten – wären wir jetzt nicht zusammen hier in Lionels Landhaus?

3

Nachdem ich unseren Volvo rückwärts eingeparkt hatte, ging ich zurück und schnappte mir meinen Koffer.

»Tom?«, rief Rachel mir zu. »Sieh dir das an.«

Ich schleppte meinen Koffer zu ihnen hinüber und sah mich um. Und ganz ehrlich? Es war unglaublich.

An der Vorderseite des Hauses erstreckte sich bis ins seichte Küstenwasser eine hölzerne Terrasse, von der aus man einen Ausblick hatte, der einen glauben machen konnte, man stünde am Bug eines exklusiven Ozeandampfers.

Ein Plastikrechen für die Blätter lehnte ganz links an der Brüstung. Den Kiefernnadeln, Zweigen und anderen Waldabfällen nach zu urteilen, die hier überall aufgeschichtet waren, sah es so aus, als hätte Brodie damit vor unserer Ankunft die Terrasse gefegt. Ein paar Stufen führten hinter der Stelle, an der der Rechen lehnte, direkt ins Wasser.

Sanft drückte ich Hollys Schulter, und zusammen ließen wir den Blick die Küste entlangschweifen. Am Ufer Bäume, so weit das Auge reichte, dazwischen ein paar Felsen und Strandstreifen, steinige Kämme und versteckte Buchten. Das Meer war eine ölig graue Fläche, in der sich die Regenwolken ebenso spiegelten wie die riesige Glasfront des Landhauses.

»Wie weit reicht Lionels Grundstück denn?«, fragte Rachel.

»Es umfasst so ziemlich alles, was Sie sehen können, und noch mehr«, erklärte uns Brodie. »Das nächste Haus liegt über zwei Meilen in diese Richtung.« Er zeigte nach Norden. »Die nächste Siedlung, die so etwas wie einem Dorf nahekommt, liegt vier Meilen dahinter. Aber sparen Sie sich ein bisschen was von der Aussicht für später auf. Drinnen ist die Hütte auch nicht zu verachten.«

Er ging zurück und schob eine Tür in der Glaswand mit einem »Tada!« beiseite und führte uns in einen großzügigen Wohnbereich, der nach oben offen und deshalb lichtdurchflutet war. Auf doppelter Raumhöhe gab es im hinteren Teil des Wohnbereichs ein Zwischengeschoss. Die freischwebende Holztreppe, die dort hinaufführte, schloss mit der hinteren Wand ab, und ein riesiges modernes Gemälde hing darüber. Die gegenüberliegende Wand war mit grauem Schiefer verkleidet und wurde von einem futuristischen Kamin dominiert, der von der Decke herabhing und über dem Eichenholzparkett und dem Kuhfellteppich schwebte, der davor ausgebreitet worden war.

Zu beiden Seiten des Kamins stand je ein L-förmiges Sofa. Ein bisschen weiter hinten gab es noch einen Liegestuhl mit Metallgestell, der mit Fell überzogen und zur Aussicht hin ausgerichtet war. Es gab ein Teleskop und dahinter einen gläsernen Esstisch, an dem mehr als ein Dutzend Gäste Platz hatten. Unter dem hohen Zwischengeschoss befand sich eine hochwertige Küche, mit Arbeitsplatten aus weißem Granit und Geräten aus gebürstetem Aluminium.

»Oje, ich weiß nicht so recht, Brodie.« Rachel drehte sich langsam im Kreis. »Ich nehme an, damit werden wir wohl auskommen müssen!«

Ich hätte mich eigentlich darüber freuen sollen, dass Rachel beinahe schon wie sie selbst klang. Seit dem Überfall auf Holly hatte sie sich wieder von mir zurückgezogen, und zwar so sehr, dass es mich nervös machte. Vielleicht hatte Lionel ja recht: Vielleicht brauchte Rachel einfach nur ein bisschen Abstand, einen Tapetenwechsel. Doch unser Aufenthalt hier war nicht allein Holly und dem Überfall geschuldet. Lionel hatte mir das Landhaus aus gutem Grund schon vor diesem Ereignis angeboten.

Ich liebe meine Familie. Sie bedeutet mir alles. Von zu Hause auszuziehen war die härteste Entscheidung, die ich jemals treffen musste. Und ja, sie war selbstsüchtig. Das war mir klar. Aber ich habe sie nicht getroffen, weil ich meine Ehe beenden wollte. Ich habe es getan, weil ich Rachel dazu bringen wollte, mich wieder an sich heranzulassen. Keine Ahnung, wahrscheinlich habe ich geglaubt, dass ich sie durch meinen Auszug aufrütteln könnte, damit sie für das kämpfte, was auch immer von uns übrig war. Vielleicht hatte der Raubüberfall nun uns beide aufgerüttelt.

»Ist das von jemandem, den wir kennen sollten?« Ich zeigte auf das riesige Gemälde über der freischwebenden Treppe. Darauf war eine leuchtend bunte Kugel aus vielen verschiedenfarbigen Punkten zu sehen.

»Damien Hirst. Sie werden hier auch noch ein paar andere Sachen finden. Holly, soll ich dir dein Zimmer zeigen?«

Meine Tochter biss sich auf die Lippe, ballte die Fäuste und blickte hilfesuchend zu Rachel. Mitanzusehen, wie sie sich wieder so nervös und schüchtern verhielt, versetzte mir einen Stich.

»Ich glaube, Holly hätte lieber, dass Sie ihr einfach nur sagen, wo es ist«, erklärte Rachel.

»Sie könnten mitkommen.«

»Ich glaube, ich möchte mich erst noch ein bisschen hier unten umsehen.«

»Klar, kein Problem. Holly, ich trag die Taschen einfach hoch, und du kannst dich dann alleine umschauen. Okay?«

Holly nickte, noch immer ein bisschen widerstrebend, dann streckte sie die Hand zu Buster hinab. »Du wartest hier«, flüsterte sie. »Ich bin in einer Minute wieder da, dann sehen wir uns um.«

Buster mochte das gar nicht. Er sah Holly nach, als sie Brodie hinterher die Treppe hinaufstieg, legte sich dann hin und war nur noch ein mürrischer Haufen Fell.

»Holly, dein Zimmer ist gleich hier rechts den Gang runter.« Brodie stellte ihre Reisetasche vor ihr ab. »Die Tür ist links neben dir. Deine Eltern schlafen hier, an der anderen Seite des Zwischengeschosses. Habt ihr den großen Balkon bemerkt, als ihr hergefahren seid?«

Holly starrte ihn wortlos an.

»Du und deine Mum habt Zugang. Dein Dad hat sein Zimmer gegenüber.«

Hm. Brodie war also nicht nur über Hollys Verletzungen in Kenntnis gesetzt worden. Er wusste auch etwas darüber, wie es zwischen Rachel und mir stand. Ich fragte mich, wie viel Lionel ihm gesagt hatte.

Ich blickte zu Rachel – sie stand mit dem Rücken zu mir – und fühlte, wie sich meine Kehle zuzog. Das mit unseren Schlafzimmern kam nicht wirklich überraschend, vor allem da wir letzte Nacht ebenfalls getrennte Hotelzimmer in der Nähe von Penrith genommen hatten, aber ich fragte mich immer noch, ob auch sie das schmerzlich bedauerte.

Über unseren Köpfen ging Brodie weiter. Holly umfasste das polierte Metallgeländer, das das Zwischengeschoss umgab, und genoss die Aussicht. Das riesige Gewölbe schien sie zu verschlucken.

»Möchtest du, dass ich zu dir hochkomme?«, rief ich.

»Nein, ist schon okay.«

»Warte, bis du den Pool und den Wellnessbereich gesehen hast!«, rief Brodie von irgendwoher aus dem Zwischengeschoss. »Die wirst du lieben.«

Das Wort »Wellnessbereich« schien zwischen Rachel und mir in der Luft zu hängen. Schweigend betrachtete ich meine Frau und bemerkte, wie mir eine prickelnde Hitze über die Arme lief. Ich sah nicht, dass sich ihr Hals, ihr Rücken oder ihre Hände unvermittelt versteiften, bemerkte keine abrupten oder hektischen Bewegungen. Sie sah Holly dabei zu, wie sie in die Hocke ging und ihre Tasche den Gang hinunterschleppte, dann wandte sie sich mit einem bereitwilligen, wenn nicht sogar sehnsüchtigen Lächeln an mich.

»Ein Pool?«, fragte sie.

Ich brauchte kurz, um meine Stimme wiederzufinden. »Das Erste, was ich davon höre.«

»Ist dieses Haus nicht fantastisch, Tom? Ich komme mir vor, als wäre ich mitten in einem Hochglanzmagazin gelandet.«

»Es ist ziemlich luxuriös.«

»Luxuriös. Komm schon, spürst du es nicht?« Sie streckte die Hand nach mir aus und berührte flüchtig meine Finger. Ihr Blick zuckte hin und her, während sie mich taxierte. »Ich glaube, das hier ist genau, was Holly gebraucht hat. Und wir ebenfalls. Denkst du nicht?«

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich wünschte mir wirklich, dass ich es hätte glauben können. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich Rachel erwidern wollte, was sie hören wollte. Doch in diesem Augenblick konnte ich nichts, als gezwungen lächeln und mechanisch nicken, während in meinem Kopf in Dauerschleife das ablief, was uns entzweit und hierher geführt hatte.

4

»Ein Bier, Tom?«

Brodie kniete neben den Stufen am Rand der Veranda, hatte die Ärmel bis über die Ellbogen aufgerollt und zog an einer Angelschnur, die an einen Pfahl geknotet war. Ein Sixpack Ale tauchte auf. Brodie griff es sich und stellte es auf der Veranda ab.

»Besser als jeder Kühlschrank«, sagte er. »Die stammen aus einer örtlichen Brauerei. Glauben Sie, Rachel möchte auch eins?«

»Später wahrscheinlich. Ich denke, im Moment möchte sie einfach nur Zeit mit Holly verbringen.«

Außerdem wollte ich nicht, dass er sich schon wieder auf die Suche nach Rachel machte. Ich hatte ihn schon zu oft ertappt, wie er sich in ihrer Nähe herumgedrückt hatte, während ich mit dem Rest unseres Gepäcks und den Vorräten einige Male zwischen Auto und Haus hin- und hergelaufen war. Rachel hatte ebenso höflich wie standhaft die meisten seiner Gesprächsversuche abgewehrt. Mein Verdacht war, dass sie mir keine schlechte Laune machen wollte. Ich gab mein Bestes, es gelassen hinzunehmen, aber langsam riss mir der Geduldsfaden. Wenn er nicht bald aufbrach, würde ich etwas sagen müssen.

Ich fing die Bierdose auf, die er mir zuwarf, und öffnete sie. Eiskalter Schaum lief mir über die Hand. Regen hing über dem aufgewühlten Meer. Ich konnte da draußen keine Schiffe entdecken, was wahrscheinlich ein gutes Zeichen war. Die Wellen waren so zerklüftet, dass sie direkt einem der Piratenbilderbücher entsprungen zu sein schienen, die ich Michael immer vorgelesen hatte. Diese Bücher hatte er wirklich geliebt, obwohl ich es wahrscheinlich noch mehr liebte, sie ihm vorzulesen.

»Dauert nicht mehr lang, bevor uns das da ereilt«, sagte Brodie und zeigte auf die Regenwolken.

Ich nickte und lauschte, wie die Wellen unter die Veranda brandeten und dann über einen unsichtbaren Kiesstrand wieder zurückflossen. Ich zog das Handy aus der Tasche, überprüfte die Nachrichten und bemerkte, dass ich keine neuen empfangen hatte.

»Kein Netz?«, fragte ich Brodie.

»Tut mir leid, Tom. Dafür müssen Sie zwei, drei Meilen in diese Richtung fahren.« Mit der Bierdose in der Hand zeigte er in die Richtung zurück, aus der wir hergekommen waren. »Es gibt im Haus aber WLAN, wenn Sie Mails checken müssen. Passwort hängt am Kühlschrank. Ohne könnte Lionel schließlich keine Filme für sein Heimkino streamen, oder?«

Ich hatte keine Ahnung, dass es hier ein Heimkino gab, schon gar nicht, wo es sich befand. Ich hatte noch keine Zeit für die Besichtigungstour gehabt, auf die Brodie mit Rachel und Holly gegangen war.

»Wie oft kommt Lionel denn hier raus?«, fragte ich und steckte mein Telefon wieder weg.

Brodie führte die Bierdose an die Lippen und musterte mich über den Rand hinweg. »Oft genug, dass ich etwas zu tun habe.«

»Und wenn er nicht hier ist?«

Er trank einen Schluck und wischte sich Schaum vom Bart. »Ich kümmere mich um das Anwesen, sowohl um das Grundstück als auch um das Haus.«

»Und was ist mit dem Zaun?«

»Um den auch.«

»Wie weit reicht er denn?«

»Wie gesagt, Lionels Grundstück ist ziemlich groß.«

»Und es ist überall eingezäunt?«

Brodie deutete ein Nicken an und ließ das Bier dann in der Dose kreisen, während er wortlos aufs Meer hinausblickte. Wahrscheinlich hätte mich das nicht überraschen sollen. Lionel hielt seine Angestellten zur Diskretion an. Und wie Holly schon bemerkt hatte, hatte der Mord an Jennifer Lionel der Gefahren für seine eigene Sicherheit schmerzlich bewusst werden lassen. Zum Beispiel wusste ich, dass er dann und wann Personenschützer engagierte, vor allem wenn er im Ausland war. Außerdem hatte er Regeln erlassen, die zur Folge hatten, dass ich mich auf zwei verschiedene Arten ausweisen musste, nur um in mein Büro zu gelangen.

»Holly ist ein tolles Kind.« Brodie prostete mir zu und trank noch einen Schluck Bier. »Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich Sie darauf anspreche, aber ich habe gehört, was Ihnen nach dieser Party in London passiert ist.«

»Das hatte ich schon vermutet.«

»Holly hat es mir gegenüber gerade noch einmal erwähnt. Ich glaube, sie wollte mir erklären, warum … Sie wissen schon.«

Er ließ die Hand vor seinem Gesicht kreisen, und die Erinnerung daran, wie Holly zusammengeschlagen worden war, füllte meinen Kopf wie ein signalroter Farbstrich aus. Ihre Nase war gebrochen. Nachdem wir in einem verschwommenen Wirbel aus Blut, Schreien und Panik beim nächsten Krankenhaus angekommen waren, erklärte uns der Arzt in der Notaufnahme, dass sie gerichtet werden müsse. Noch immer konnte ich das schreckliche Knirschen und Hollys gurgelnden Schrei hören; konnte das Zappeln ihres Körpers auf der Liege sehen. Allein der Gedanke daran verursachte mir Übelkeit.

»Was hat sie Ihnen denn erzählt?«, fragte ich Brodie und bemühte mich um einen neutralen Tonfall.

»Dass irgendein widerlicher Kerl versucht hat, Sie auszurauben. Dass er sie geschlagen hat, bevor Sie ihn daran hindern konnten.«

»Das ist wohl die eine Version der Geschichte.«

»Gibt es noch eine andere?«

»Nein, wahrscheinlich nicht.«

Es fiel mir allerdings immer noch schwer, das zu akzeptieren. Alles andere beiseitegelassen – die Plötzlichkeit und die Geschwindigkeit des Überfalls, die Tatsache, dass der Täter mit einem Messer bewaffnet gewesen war und ich nicht –, blieb ich immer noch ein Vater, der seine Tochter nicht hatte beschützen können, als es darauf ankam. So einfach war das.

Brodie klopfte mit dem Daumennagel gegen die Bierdose. »Als ich Kind war, gab es einen Rummel neben meinem Zuhause. Er kam jedes Jahr wieder. War nichts Besonderes, kam mir aber trotzdem so vor. Ich habe meine Eltern damit genervt. Ich war vielleicht vierzehn. Wollte da mit meinen Freunden hin, wissen Sie?«

Ich nickte. Ich wusste, was er meinte.

»Es hat fast den ganzen Tag gedauert, aber irgendwann hatte ich sie so weit. Sie erlaubten mir hinzugehen. Aber ich musste meine kleine Schwester Ailish mitnehmen. Ailish war zehn. Ich sollte sie nicht aus den Augen lassen. Und raten Sie mal.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Sie waren vierzehn.«

»Eben. Ich bin mit meinen Freunden losgezogen. Habe die Zeit vergessen. Es muss eine Stunde gedauert haben, bevor mir auffiel, dass Ailish nicht mehr bei uns war. Eine Stunde später haben wir sie gefunden. Sie wollte mir nicht verraten, wo sie gewesen ist oder was ihr passiert war. Aber sie war vollkommen verängstigt. Und sie ist danach nie mehr ganz die Alte gewesen.«

Das ließ ich einen Augenblick lang sacken. »Geben Sie sich die Schuld daran?«