Er will nicht gehen - C.M. Ewan - E-Book

Er will nicht gehen E-Book

C.M. Ewan

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Beschreibung

Sie ist allein zu Hause. Vor der Tür ein Fremder. Sie lässt ihn rein. Doch dann will er nicht mehr gehen ...
Der neue packende Locked-Room-Thriller von SPIEGEL-Bestsellerautor C.M. Ewan.


Lucy und Sam sind ein glückliches Paar. Doch aus finanziellen Gründen müssen sie ihr Haus verkaufen. Als die Maklerin sich verspätet, muss Lucy einem Interessenten das Haus allein zeigen. Für Lucy, die unter Angstzuständen und Panikattacken leidet, eine fast unmögliche Aufgabe. Aber sie weiß, wie sehr sie auf das Geld angewiesen sind. Also lässt sie den Fremden herein. Doch der verhält sich merkwürdig. Er stellt seltsame Fragen und versucht Fotos von ihr zu machen. Dann verschwindet er plötzlich im Keller und antwortet nicht auf ihre Rufe. Lucy, unfähig das Haus zu verlassen, ist allein mit dem Fremden, der sich weigert zu gehen …

Lesen Sie auch »Das Ferienhaus« und »Etage 13«.

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Seitenzahl: 438

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Buch

Lucy und Sam sind ein glückliches Paar. Doch aus finanziellen Gründen müssen sie ihr Haus verkaufen. Als die Maklerin sich verspätet, muss Lucy einem Interessenten allein das Haus zeigen. Für Lucy, die unter Angstzuständen und Panikattacken leidet, eine fast unmögliche Aufgabe. Aber sie weiß, wie sehr sie auf das Geld angewiesen sind. Also lässt sie den Fremden ins Haus. Doch der verhält sich merkwürdig. Er stellt seltsame Fragen und versucht, Fotos von ihr zu machen. Dann verschwindet er plötzlich im Keller und antwortet nicht auf ihre Rufe. Lucy, unfähig das Haus zu verlassen, ist allein mit dem Fremden, der sich weigert zu gehen …

Autor

C. M. Ewan wurde 1976 in Taunton geboren und hat an der Universität von Nottingham Amerikanische und Kanadische Literatur und später Jura studiert. Nach elf Jahren auf der Isle of Man ist er mit seiner Frau, seiner Tochter und seinem Hund nach Somerset zurückgekehrt, wo er sich ganz dem Schreiben widmet. Mit Das Ferienhaus, seinem ersten Roman bei Blanvalet, hat er gleich die SPIEGEL-Bestsellerliste erklommen und zahlreiche Fans gewonnen.

Von C. M. Ewan bereits erschienen

Das Ferienhaus · Etage 13

C. M. Ewan

Er will

nicht gehen

Thriller

Deutsch von Bettina Spangler

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »The House Hunt« bei Macmillan, ein Imprint von Pan Macmillan, London.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © 2023 by C. M. Ewan

Published by Arrangement with Christopher Ian Ewan

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024

by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com

(LeitnerR, slavun, doomu, Luke)

JaB · Herstellung: DiMo

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-31932-8V001

Dieses Buch widme ich meiner Agentin

Camilla Bolton sowie meiner Verlegerin Vicky Mellor,

mit großem Dank und tiefer Hochachtung.

Sie haben eine neue Sprachnachricht.

Heute, 15:36

Lucy, Bethany hier. Ich bin leider spät dran, stecke noch in einer Besichtigung fest. Verrückter Tag. Also … ich weiß, Sie sind nicht scharf darauf, die Interessenten selbst durch Ihr Haus zu führen, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, schon mal mit der Tour zu starten, bis ich da bin? Der potenzielle Käufer heißt Donovan. Ich bin der Ansicht, Ihr Haus ist die perfekte Immobilie für ihn. Wenn Sie ernsthaft verkaufen wollen … wäre er der Richtige … Rufen Sie mich bitte einfach zurück, falls Sie ein Problem damit haben, dann versuche ich, einen neuen Termin mit ihm zu finden. Aber falls ich nichts mehr von Ihnen höre, bin ich so schnell wie möglich da. In Ordnung? Gut. Viel Erfolg!

1

Die Paranoia pirscht sich an mich heran, sobald Sam das Haus verlässt und ich den Staubsauger anschalte. Es dauert nicht lange, und mich überkommt der panische Gedanke, ich wäre nicht allein.

Ein Prickeln rieselt über meine Wirbelsäule. Unwillkürlich versteife ich mich.

Dann drehe ich mich um.

Ich drehe mich jedes Mal um.

Dabei weiß ich ganz genau, dass hinter mir niemand ist oder vielmehr sein kann, weil ich Sam nämlich mit eigenen Augen habe gehen sehen und genau gehört habe, wie er die Haustür hinter sich zugezogen hat. Ich habe ihm zum Abschied sogar zugewinkt, als er noch einmal kurz stehen blieb und mir vom Gartentor aus zulächelte.

Nie ist da irgendwer.

Also mache ich mich wieder ans Staubsaugen und das Spiel beginnt von vorn. Da ist das ohrenbetäubende Brüllen des Staubsaugers. Das Kribbeln auf meinem Rücken. Die nagende Angst, dass, wenn ich mich nicht auf der Stelle umdrehe und nachsehe, dann …

Was ich da tue, hat absolut nichts mehr mit Vernunft zu tun. Das ist mir sonnenklar. Und natürlich habe ich auch mit Sam schon mehrfach darüber gesprochen. Nicht dass es ihn in irgendeiner Form überraschen würde. Wir haben uns unzählige Male über das unterhalten, was mir zugestoßen ist – viel zu oft, wie ich finde. Sam macht gern Witze darüber und meint, das ist bei ihm eben Berufsrisiko.

Ich stellte den Staubsauger aus, hielt den Atem an und streckte den Rücken durch – und ja, ich drehte mich noch einmal um und sah nach. Als hinter mir keiner stand, atmete ich erleichtert auf und blickte hoch zum Oberlicht.

Ich war im hinteren Zimmer im Dachgeschoss, mein absoluter Lieblingsplatz im ganzen Haus. Der Raum war selbst an bedeckten und windigen Tagen wie heute lichtdurchflutet und verströmte eine Aura tiefer Ruhe und Klarheit, woran es mir selbst leider viel zu oft mangelte.

Dieser Raum war für mich ein sicherer Ort.

Ich schüttelte meine Nervosität ab und verstaute den Staubsauger an seinem Platz im Einbauschrank unter der Dachschräge. Dann fischte ich mein Handy aus den Jeans und überprüfte die Uhrzeit.

Ich plante, während der Besichtigung in einem nahe gelegenen Café zu warten. Ich würde mir ein Buch mitnehmen, mir eine Tasse Earl Grey mit Zitrone bestellen und versuchen, mich zu entspannen. Sobald die Besichtigung vorüber wäre, könnte Bethany mich anrufen und mir mitteilen, wie es gelaufen war. Mit etwas Glück wäre heute vielleicht der Tag, an dem wir ein akzeptables Angebot bekamen.

Erst jetzt bemerkte ich die Sprachnachricht auf meiner Mail-box und sofort bohrte sich Furcht in meine Eingeweide.

Noch bevor ich die Nachricht abhörte, überkam mich eine dunkle Vorahnung. Bethanys Worte gaben mir den Rest.

Ich legte auf. Meine Kehle wurde eng, und meine Hände begannen, unkontrolliert zu zittern.

Immer mit der Ruhe, Lucy.

Noch eine Viertelstunde bis zur Besichtigung.

Absagen kam jetzt nicht mehr infrage.

Klar konnte ich die Sache jederzeit abblasen, aber das wäre unhöflich. Außerdem konnten wir es uns nicht leisten, einen potenziellen Käufer zu vergraulen.

Mein Mund war staubtrocken. Ich presste mir den Handballen gegen die Stirn und kämpfte krampfhaft gegen die sich anbahnende Panikattacke an.

Mittlerweile steckten wir bis zum Hals in Schulden. Zum einen waren da die Darlehen, die Sam wegen der Renovierungskosten aufgenommen hatte, und als diese aufgebraucht waren, kamen noch die Kreditkartenabrechnungen hinzu, die Monat für Monat höher wurden. Sam hatte schlaflose Nächte deswegen. Aber für uns beide bedeuteten der Verkauf dieses Hauses und unsere Entscheidung, London für immer den Rücken zu kehren, noch so viel mehr. Wir wollten komplett neu anfangen.

Bethany. Ich mochte diese Frau, obwohl sie in so gut wie jeder Hinsicht die typische Immobilienmaklerin war. Sie konnte extrem penetrant und unverschämt sein und das Lügen fiel ihr so leicht wie das Atmen. Aber zumindest bekannte sie sich ganz offen dazu, was ja in gewisser Weise auch eine Art von Ehrlichkeit war.

Nachts, wenn Sam sich im Bett herumwälzte, während ich in der Stille auf das leise Klicken des Schlosses an der Badezimmertür lauschte – auf das metallische Krächzen einer unbekannten Stimme –, da war mein rettender Strohhalm die Erinnerung an Bethany und wie sie das erste Mal in ihrem sündhaft teuren Mantel und mit der auffälligen Brille bei uns vor der Tür stand. Damals war sie ohne langes Vorgeplänkel ins Haus gerauscht und hatte angefangen, wie ein Wasserfall zu reden, von wegen Wertermittlung, wie geschmackvoll wir die Einrichtung ausgewählt und wie sehr wir die Nummer 18 Forrester Avenue dadurch aufgewertet hätten.

Ich vertraute ihr auf Anhieb – so sehr man einer Immobilienmaklerin eben vertrauen kann. In letzter Zeit hatte ich mich immer wieder bei dem Gedanken ertappt, dass ich hoffte, wir könnten auch nach dem Verkauf des Hauses in Kontakt bleiben. Aber gleichzeitig wurmte es mich, dass sie mich nicht früher über ihr Zuspätkommen in Kenntnis gesetzt hatte. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass sie mich ganz bewusst hatte auflaufen lassen.

Und? Jetzt musst du eben das Beste aus der Situation machen.

Ich lief die Treppe hinunter, den Korridor im ersten Stock entlang und dann weiter ein Stockwerk tiefer ins Wohnzimmer. Mein Blick huschte fieberhaft umher, auf der Suche nach etwas, das ich übersehen haben könnte.

Im ganzen Haus brannte Licht. Aus dem Blumenladen um die Ecke hatte ich einen Strauß frischer Lilien mitgebracht. Sie standen in einer Keramikvase auf dem marmornen Wohnzimmertisch. Die honigfarbenen Dielenbretter glänzten. Erst heute Morgen hatte ich jede einzelne Lamelle der hellen Holzjalousien von Staub befreit. Sie waren eine Spezialanfertigung für das große Erkerfenster, das nach vorne rausging.

Okay. Alles in Ordnung.

Ich wirbelte herum und blickte zur offenen Küche, die eine Ebene tiefer lag und über ein paar Stufen vom Wohnbereich aus zu erreichen war. Ich hatte keinen Kaffee aufgebrüht. Bethany hatte mich vorgewarnt. Das entspreche zu sehr dem Klischee. Trotzdem hatte ich dafür gesorgt, dass alles blitzsauber und ordentlich aufgeräumt war.

Im Zuge der Renovierungsarbeiten am Haus hatten wir den Großteil der Wände im Erdgeschoss eingerissen, um einen großzügigen, offenen Wohnraum zu schaffen. Den Abschluss bildete eine Fensterfront mit einer doppelten Stahltür im Industriestil, durch die man in einen bescheidenen kleinen Garten gelangte. Wir hatten fast sämtliche Arbeiten im Alleingang durchgeführt, hatten den Vorschlaghammer geschwungen und Wände verputzt. Einzig die elegante Küche hatten wir von Profis einbauen lassen, ausgestattet mit qualitativ hochwertigen Schränken und High-End-Geräten. Die Arbeitsflächen aus Granit und die Kochinsel hatten allein so viel gekostet wie ein Mittelklassewagen.

Früher oder später macht sich das bezahlt, hatte Sam mir versichert und mit rot geränderten Augen von seinen Kalkulationstabellen zu mir aufgesehen, sein wild vom Kopf abstehendes Haar war mit einer feinen Staub- und Schmutzschicht überzogen. Zu dem Zeitpunkt war ich mir nicht sicher gewesen, wen von uns beiden er damit eigentlich überzeugen wollte. Sie mag zwar teuer sein, ist aber genau das, was Leute, die ein solches Haus kaufen, haben wollen. Wenn sich unsere Investition lohnen soll, ist das die beste Entscheidung.

Mir schwirrte der Kopf. Ich überlegte, was Sam wohl dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass ich ernsthaft in Erwägung zog, einen Wildfremden durch unser Haus zu führen. Wahrscheinlich wäre er im ersten Moment sprachlos. Und nach einigem Überlegen würde er mich liebevoll in seine Arme ziehen, mir über den Rücken streichen und mir erklären, dass es vielleicht an der Zeit war, mich meinen Ängsten zu stellen.

Doch leider hatte ich nicht die Möglichkeit, ihn zu fragen. Sam steckte mitten in einer Vorlesung und müsste gleich im Anschluss zu seiner Selbsthilfegruppe. Bestimmt hatte er sein Telefon gar nicht an.

Außerdem hatte Bethany mir in ihrer Nachricht versichert, sie sei unterwegs. Ich wäre also ohnehin nicht lange mit dem Interessenten allein.

Nervös kaute ich auf der Innenseite meiner Wange herum und warf einen Blick zu dem grünen Samtsofa, auf dem ich Mantel und Schal bereitgelegt hatte. Ich nahm die Kleidungsstücke von der Lehne, trug sie nach oben und hängte sie zurück in den begehbaren Kleiderschrank im umgebauten ehemaligen Gästezimmer, das direkt an unser Schlafzimmer grenzte.

Ich ging zum Bett und zog die Tagesdecke glatt, die ich für Besichtigungen bewusst auf einer Seite zurückschlug. Am Kopfende waren diverse Daunenkissen und kleinere Dekokissen gegen das überdimensionale Brett gelehnt, das ich in einer mehrtägigen Aktion eigenhändig gepolstert und mit Stoff bezogen hatte. Dieses Kopfbrett war an der Wand befestigt, die den Schlafraum vom angrenzenden Badezimmer trennte. Das Arrangement erinnerte an eine schicke Suite in einem Boutique Hotel. Mein Ziel war es gewesen, ein Ambiente für erholsamen Schlaf zu schaffen, etwas, das bei uns leider nicht immer funktioniert hatte.

Bitte, mach, dass er unser Käufer ist.

Mein Blick fiel auf den Ganzkörperspiegel gleich neben der Tür. Eine blasse, sichtlich mitgenommene Frau Anfang dreißig mit Sorgenfalten rund um Augen und Mund starrte mir entgegen. Mein Haar war locker zurückgebunden, ich trug einen weiten Aran-Pullover und bequeme Jeans. Vielleicht sollte ich mich schicker anziehen?

Doch bevor ich dem Impuls nachgeben konnte, klingelte es an der Tür.

2

Er war zu früh.

Zwar nicht allzu viel, aber es reichte aus, um mich komplett aus der Bahn zu werfen. Die Türklingel-App auf meinem Handy vibrierte und brummte. Klar hätte ich die Benachrichtigungsfunktion einfach ausstellen können. Am einfachsten wäre es gewesen, nach unten zu gehen, die Haustür zu öffnen und ihn mit einem Lächeln zu begrüßen. Stattdessen stand ich unschlüssig da, zog das Handy aus der Gesäßtasche meiner Jeans und starrte auf das Abbild des Mannes, der vor unserer Haustür stand.

Meine Hände zitterten. Ich hatte einen kupfrigen Geschmack im Mund.

Er hielt den Kopf gesenkt, deshalb konnte ich sein Gesicht nicht richtig erkennen. Eigentlich sah ich hauptsächlich seinen Scheitel. Er hatte lockige graue Haare, der Kragen seines dunkelblauen Wollmantels war aufgestellt. Seine Hände steckten in braunen Lederhandschuhen. Er hatte sie vor seinem Körper locker ineinander verschränkt. Seine Schultern waren breit, er wirkte insgesamt athletisch.

Wenn ich nur sein Gesicht sehen könnte.

Mein Blick ging zu den Jalousien. Die Lamellen waren schräg gestellt. Spontan traf ich eine Entscheidung. Ich drückte auf die Antworttaste auf meinem Handy.

»Ja, hallo?«

Ich ließ es möglichst beiläufig klingen, als erwartete ich eine Paketlieferung. Der Mann blickte zur Kamera auf, ein offenes, ungezwungenes Lächeln auf den Lippen. Ich hatte ihn noch nie gesehen, aber das half mir auch nicht weiter.

Er wirkte wie ein Womanizer, hatte markante Augenbrauen und auffallend blaue Augen. Seine Kinnpartie war von einem dunklen Bartschatten überzogen. Er wirkte leicht abgespannt. Unter dem eleganten Wollmantel trug er einen beigen Rollkragenpullover.

»Mein Name ist Donovan.« Die dünne Haut um seine Augenwinkel herum kräuselte sich, als er sich ein kleines Stück zur Seite neigte und auf das Schild vor unserem Haus deutete. »Zu verkaufen« stand darauf. Es war an der Seite zum Nachbargrundstück hin an der Ziegelmauer befestigt. Der restliche Garten wurde von einer Hecke abgeschirmt, die wir eigenhändig gebändigt und in Form gebracht und der Privatsphäre wegen behalten hatten. »Ich bin wegen der Hausbesichtigung hier.«

»Eine Sekunde.«

Ich machte ein Foto von ihm und schrieb Bethany.

Nur zur Kontrolle: Ist das der Mann, der den Besichtigungstermin mit Ihnen vereinbart hat? Ein Mr. Donovan?

Mir war bewusst, dass Bethany meine übertriebene Vorsicht seltsam finden könnte, vielleicht sogar neurotisch, aber das war mir in diesem Moment egal. Wenn ich ihren Interessenten schon persönlich durchs Haus führen sollte, brauchte ich ihre Bestätigung als Rückversicherung.

Die üblichen drei tanzenden Punkte erschienen im Feed, und während ich gebannt auf Bethanys Antwort wartete, machte sich ein banges Ziehen in meiner Brust bemerkbar. Noch einmal öffnete ich den Tür-Feed in der App.

Der Mann war ein Stück zurückgetreten und neigte sich gerade etwas zur Seite zum Erkerfenster, um das Mauerwerk in Augenschein zu nehmen. Dann wanderte sein Blick weiter zum Dach.

Hinter ihm überblickte ich die Forrester Avenue. Die Häuserzeile aus abwechselnd farbig gestrichenen und unverputzten roten Backsteinbauten im viktorianischen Stil gegenüber. Die knorrigen alten Platanen zu beiden Seiten der Straße. Autos und gewerbliche Fahrzeuge, die Stoßstange an Stoßstange geparkt standen, bedeckt mit einer Schicht heruntergewehten Herbstlaubs. Es waren überwiegend BMWs und Range Rover. Ein paar Porsches waren ebenfalls darunter.

Aktuell herrschte kein Durchgangsverkehr, aber auf dem Gehsteig fuhr ein kleines Mädchen in der rot-grauen Uniform der örtlichen Grundschule auf einem Roller vorüber, gefolgt von einer Frau im Regenmantel. Sie starrte im Laufen auf ihr Handy. Die Schultasche des Kindes baumelte an ihrer Hüfte.

Bethanys Antwort erschien auf dem Display.

Jep! Donovan ist sein Vorname. Verraten Sie ihm ruhig, dass ich Single bin … viel Spaß!

Erleichtert stieß ich die Luft aus und tippte eine rasche Antwort.

Okay, danke. Wie lange brauchen Sie hierher?

Aber diesmal kam keine Antwort.

Ich ließ mein Handy zurück in die Tasche gleiten, schloss die Augen und redete mir gut zu, dass ich das hier schaffen konnte, dass alles gut laufen würde. Dann ballte ich die Hände entschlossen zu Fäusten und ging zur Treppe.

Ich war schon fast unten im Erdgeschoss, als ich von draußen einen gellenden Schrei hörte.

3

Ich riss die Tür auf und stellte fest, dass der Mann verschwunden war. Hastig schlüpfte ich in meine Schuhe und wagte mich auf den Gehsteig jenseits unserer Hecke. Er kniete mit dem Rücken zu mir vor unserem Grundstück. Langsam näherte ich mich ihm. Da sah ich das Mädchen auf dem Boden liegen.

Das Kind war gestürzt und schrie vor Schmerzen. Der Roller lag mit sich drehenden Rädern nicht weit von ihr auf dem Pflaster.

»Hey«, sagte Donovan sanft. Seine Stimme klang tief und rau. »Hey, alles wird gut.«

Behutsam nahm er ihre Hände in seine behandschuhten. Sie hatte sich die Innenfläche der einen Hand aufgeschürft, in der blutigen Wunde steckten kleine Steinchen. Ihre graue Strumpfhose war an einem Knie aufgerissen und sie hatte bei dem Sturz einen Schuh verloren. Ihre Wangen waren tränenüberströmt, die Augen vor Schreck weit aufgerissen und sie zitterte am ganzen Leib.

»Wo hast du denn solche Stunts gelernt? Ich muss schon sagen, das war wirklich beeindruckend.«

Blinzelnd und mit bebenden Lippen sah sie zu ihm auf. Sie schluchzte. Ihr Atem bildete in der kalten, feuchten Luft kleine Nebelschwaden.

»Ach, mein Liebling«, gurrte die Frau, die jetzt neben dem Kind in die Hocke ging. Ich nahm an, dass es sich um die Mutter handelte. »Ich sagte doch, du musst besser aufpassen.«

»Ich glaube nicht, dass was gebrochen ist«, sagte Donovan. »Scheint nur eine Schürfwunde zu sein.«

Ob er Arzt war? Bei näherer Betrachtung wirkten seine Augen müde und verquollen. Vielleicht hatte er gerade seine Schicht im Charing Cross Hospital oder im Queen Mary’s beendet. Möglicherweise wollte er aus beruflichen Gründen in dieser Gegend eine Immobilie kaufen.

Offenbar spürte er meine Gegenwart, denn jetzt drehte er sich um und sah lächelnd zu mir auf. Ich merkte, wie ich rot wurde.

»Ich bin Lucy, aus der Nummer 18.« Verlegen deutete ich hinter mich auf die geöffnete Haustür.

»Ah, hallo, Lucy.« Dann sah er wieder zu dem Mädchen und ein besorgter Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Ich nehme an, Sie haben nicht zufällig ein sauberes Taschentuch oder Ähnliches bei sich?«

»Leider nein, aber ich laufe schnell rein und hole Verbandszeug.«

Ich eilte ins Haus, zog das Erste-Hilfe-Set unter der Spüle hervor und kramte sterile Wundauflagen und Heftpflaster heraus. Als ich wieder nach draußen kam, steckte Donovan dem Mädchen gerade den Schuh zurück an den Fuß. Die Frau dankte ihm wortreich und legte ihm die Hand auf den Unterarm. Dabei sah sie ihm eindringlich in die Augen.

»Hier, bitte.« Ich hielt ihr die Auflagen und das Pflaster hin, und sie griff danach, sichtlich verstimmt über die Unterbrechung.

Die Frau hatte langes blondes Haar, war schlank und trug ein eng anliegendes Etuikleid über kniehohen Stiefeln. Frauen wie sie, in teurer Kleidung und mit viel Make-up, sah ich häufig in sündhaft teuren SUVs vor dem Tor der nahen Grundschule anhalten, um ihre Kinder abzusetzen.

Nicht zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass ich in diesem Wohnviertel völlig fehl am Platz war. Ich hatte mit diesen reichen Schnöseln hier in Putney einfach nichts am Hut.

Sam hatte das Haus von seinen Großeltern mütterlicherseits geerbt. Ansonsten hätten wir es uns niemals leisten können, in einer so schicken Gegend zu wohnen. Wir hatten tief in die Tasche gegriffen und unser Budget stark überzogen, um das Haus für den Verkauf zu modernisieren.

Während die Frau eine der Wundauflagen aufriss und dem Mädchen damit das Knie säuberte, verschränkte ich die Arme vor der Brust und sah mich zu unserem Grundstück um. Das Haus war dreistöckig. In einer der Dachgauben befand sich eine doppelte Glastür, durch die man auf einen kleinen Balkon gelangte. Die Fassade war zitronengelb, die Fensterrahmen erstrahlten in frischem Weiß. Die Haustür war knallrot lackiert.

»Vielen Dank noch mal für Ihre Hilfe«, wandte die Frau sich mit samtig-rauchiger Stimme wieder an Donovan. »Sie waren überaus freundlich.«

»Ich bitte Sie, das ist doch selbstverständlich.«

Donovan half dem Mädchen hoch und richtete den Roller auf. Und während die Kleine mit schmerzverzerrter Miene humpelnd darauf zuging, trat er beiseite und hob die Hand an den Hinterkopf, mit einem Mal sichtlich verlegen.

»Tja, dann passen Sie mal gut auf sich auf.«

»Oh, das werden wir«, sagte die Frau lachend. »Es war wirklich nett, Sie kennenzulernen.«

Wir sahen den beiden hinterher. Die Frau drehte sich noch einmal um und winkte ihm, mich würdigte sie keines Blickes.

»Tut mir leid«, sagte er.

»Nein, nicht doch, Sie haben das Richtige getan.«

Jetzt sah er mir fest in die Augen, als wäre ihm meine Meinung tatsächlich wichtig, und für einen kurzen Moment erlag auch ich seinem Charme. Er war wirklich gut aussehend.

»Sie sind die Eigentümerin dieses Hauses?«, fragte er.

»Es gehört meinem Freund.«

»Verstehe.« Wieder schenkte er mir ein Lächeln. »Und Bethany, ist sie schon drinnen?«

Ich runzelte die Stirn. »Hat sie Ihnen denn nicht Bescheid gegeben?«

»Weswegen denn? Oh, ach herrje!« Seine Augenbrauen schossen panisch nach oben, und er klopfte seine Manteltaschen ab, als suchte er sein Telefon. »Hat sie den Termin abgesagt? Hat man Ihnen bereits ein Angebot gemacht, das Sie angenommen haben?«

»Nein, nichts dergleichen«, versicherte ich ihm und erklärte, Bethany sei nur spät dran und habe mich gebeten, die Hausführung schon mal ohne sie zu beginnen.

Irgendetwas an der Art, wie ich das sagte, musste ihn alarmiert haben, obwohl ich mein Unbehagen krampfhaft zu verbergen versuchte, denn jetzt stutzte er und legte den Kopf leicht schief.

»Ist das für Sie in Ordnung?«

»Ich …«

»Denn falls nicht, kann ich warten. Mir macht das nichts aus. In circa einer halben Stunde muss ich aber weg. Hat Bethany gesagt, wie lange sie braucht?«

Das hatte sie nicht. Dass sie nicht geantwortet hatte, bedeutete hoffentlich, dass sie bald hier wäre, obwohl um diese Zeit üblicherweise auf den Straßen viel los war. Es war bereits später Nachmittag, das schwache Oktoberlicht begann, allmählich zu schwinden.

Instinktiv ging ich auf die Zehenspitzen, als könnte ich so vielleicht ihren Mini mit dem Firmenlogo erspähen, der in unsere Richtung gebraust kam. Im selben Moment spürte ich ein seltsames Stechen in der Brust.

In unserer Straße hingen noch zwei weitere Schilder mit der Aufschrift »Zu verkaufen«. Sam und ich hatten uns beide Immobilien im Internet angesehen, kaum dass sie auf den Markt gekommen waren. Das eine Haus hatte einen ultraschicken Glasanbau. Das andere verfügte über ein extra Badezimmer und lockte noch dazu mit einem relativ moderaten Verkaufspreis. Eine Reihe weiterer Häuser verbarg sich hinter Gerüsten und Sperrholzwänden, ganze Trupps von Bauarbeitern und Handwerkern waren dahinter am Schuften. Es war nicht schwer, zu erraten, dass einige von diesen Objekten früher oder später ebenfalls zum Verkauf stünden.

Ich spürte, wie Donovan meinem Blick folgte, vielleicht las er meine Gedanken. Und auf einmal wusste ich, was ich zu tun hatte.

»Nein, nicht nötig«, sagte ich zu ihm. »Bitte, treten Sie ein.«

4

Sam

Die Entfernung zwischen Forrester Avenue Nummer 18 und der London School of Economics, die zwischen Covent Garden und Holborn lag, betrug knapp unter sechs Meilen. Zu Fuß brauchte man etwas weniger als zwei Stunden, aber heute hatte Sam die Tube genommen, genauer gesagt die District Line von Putney Bridge nach Temple. Von dort aus war es ein zehnminütiger Spaziergang. Er hatte vor einer Gruppe schläfriger Erstsemester seine Grundlagenvorlesung zum Thema »Wahrnehmung und Gedächtnis« gehalten, und jetzt musterte er die vier Fremden, die vor ihm Platz genommen hatten.

Der Seminarraum im ersten Stock war in jeder Hinsicht unspektakulär. Er war mit dem gleichen strapazierfähigen grauen Teppichboden ausgelegt, hatte die gleichen weißen Wände und die gleichen grauen Platten an den abgehängten Decken wie die meisten anderen Seminarräume im Universitätskomplex. Natürlich fanden sich hier auch das übliche Whiteboard, der gleiche fleckige Schwamm und die gleichen Stifte. Die gleiche u-förmige Anordnung von Tischen und Stühlen.

Doch es gab zwei entscheidende Unterschiede.

Der erste befand sich außerhalb des Raums, gleich neben der Tür, wo unter der Zimmernummer – 22A – ein kleiner Bildschirm hing. Auf diesem hatte Sam die Worte PRIVATTREFFEN eingegeben.

Der andere befand sich im Raum selbst. Sam hatte in der Mitte des Zimmers sechs Stühle im Kreis aufgestellt. Zumindest begnügte er sich vorerst mit sechs, denn es ließ sich nur schwer vorhersagen, wie viele Personen tatsächlich auf seine Anzeige reagieren würden.

Leiden Sie an lähmenden Ängsten oder Phobien?

Würden Sie gerne im Rahmen einer Selbsthilfegruppe darüber reden?

»Und, wie geht es Ihnen allen damit, dass Sie hier sind?«, fragte Sam an die Gruppe gewandt.

Die Fremden lächelten ihm scheu zu, wechselten verunsicherte Blicke, starrten verlegen auf ihre Hände. Für einen Moment herrschte betretene Stille im Raum, bis eine stilvoll gekleidete junge Frau in Jeanskleid, bunter Halskette und dunkler Leggins das Eis brach.

»Etwas nervös?«

»Ja, ich auch«, pflichtete der hochgewachsene, durchtrainierte junge Mann in Sportkleidung ihr bei, der neben ihr saß. Er hatte einen geschliffenen Akzent, eine mustergültige Haltung und blonde Locken. Auf der linken Brustseite seines langärmeligen Shirts, das er zu kurzer Sporthose über Leggins trug, prangte das Logo des Uni-Ruderclubs.

»Ich hoffe eigentlich in erster Linie darauf, dass ich hier Hilfe bekomme«, sagte ein schlankes Mädchen mit dunklem Lidschatten, violettem Lippenstift und schwarzem Haar, wahrscheinlich eine Studentin im letzten Semester. Sie hatte eine Reihe von Piercings im Ohr und einen Ring in der Unterlippe. Die schwarze Ledertasche auf dem Boden neben ihr stand offen, Ordner und Lehrbücher quollen daraus hervor.

»Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich erwarten soll.«

Diese letzte Antwort, fast geflüstert, kam von dem mageren und glupschäugigen Kerl in engem V-Ausschnitt-Pulli und grauen Skinny-Jeans. Er hatte nicht aufgehört zu zappeln, seit er angekommen war. Sam hatte den Jungen schon öfter am Hauptschalter der Universitätsbibliothek gesehen. Es wunderte ihn nicht, dass er sein Schlüsselband, das ihn als Mitarbeiter auswies, vor seiner Ankunft abgelegt hatte.

»In Ordnung.« Sam nickte und lächelte, als hätten die Teilnehmer genau das gesagt, was er erwartet hatte. »Als Erstes möchte ich Ihnen allen versichern, dass Sie diesen Raum als Ihren Safe Space betrachten können. Ich gehe davon aus, dass Sie alle Ihre Einverständniserklärungen abgegeben haben. Ich selbst bekomme sie nicht zu sehen. Sie brauchen niemandem Ihren Namen zu nennen. Und Sie brauchen mir auch keinerlei Details zu Ihrer Identität zu verraten.«

Ich will nur alles über die schrecklichen Ängste und Phobien hören, die Sie plagen.

In Wahrheit konnte Sam sämtliche Anzeichen mühelos erkennen. Die nervöse Unruhe. Die trockene, schuppige Haut und den gehetzten Blick sowie die aufgesprungenen Lippen. Das gequälte Lächeln und die misstrauische Abneigung dagegen, seinem Blick zu begegnen. Es war, als trüge jeder von diesen jungen Menschen ein zutiefst beschämendes, belastendes Geheimnis mit sich herum.

Es war nicht die erste Selbsthilfegruppe, die Sam ins Leben gerufen hatte. Im Lauf der letzten drei Jahre hatte er bereits einige vergleichbare Gruppen geleitet. Das war gemeinnützige Tätigkeit, wie die Universität es vom gesamten akademischen Lehrpersonal erwartete. Und gleichzeitig hatten sich für ihn durch diese Gruppen einige interessante Forschungsmöglichkeiten ergeben und genau darin lag seine eigentliche Leidenschaft. So wie seine Karriere derzeit stagnierte, von der Dauerbelastung durch seine Lehrtätigkeit einmal ganz abgesehen, erhielt er immer seltener die Gelegenheit für reine Forschungsaktivitäten. Und genau deshalb spürte er jetzt dieses gewisse Prickeln. Das Schöne an Phobien war ja, dass man nie genau sagen konnte, womit man es zu tun bekäme. Und falls sich eine der Teilnehmerinnen oder einer der Teilnehmer gleich hier und heute bereit erklärte, sich im weiteren Verlauf einer näheren Beurteilung zu unterziehen …

»Keine Namen?« Der kultivierte junge Mann brachte ihn mit seiner Frage zurück ins Hier und Jetzt.

»Vorerst ja«, bestätigte Sam. Er ließ den Blick über die Gesichter vor sich wandern und registrierte dabei deutliche Anzeichen von Erleichterung. »Das heute ist unsere erste Sitzung. Warten wir ab, wie es uns beim nächsten Mal geht.«

Falls es ein nächstes Mal gab, denn Sam konnte aus Erfahrung sagen, dass nicht alle Teilnehmer wiederkamen.

Die versprochene Anonymität war in diesem Zusammenhang hilfreich. Und das nicht nur, weil sie zu einer entspannteren Atmosphäre unter den Gruppenmitgliedern beitrug. Die Wahrheit war: Sam musste höllisch achtgeben, dass er sich nicht zu sehr von diesen Leuten einnehmen ließ. Professionelle Distanz war unabdingbar, er musste seine Klientinnen und Klienten möglichst als potenzielle Fallstudien und nicht als Individuen betrachten. Schon aus Selbstschutz.

Nicht dass ihn das davon abgehalten hätte, ihnen allen gleich seinen ganz persönlichen Kategorisierungsstempel aufzudrücken. Der Bibliothekar war natürlich der Bibliothekar. Die junge Frau im Jeanskleid mit der bunten Perlenkette um den Hals war die Künstlerin. Die Studentin mit dem blassen Gesicht, den schwarzen Haaren und den zahlreichen Piercings war Depri-Girl. Blieb nur noch der junge Mann in Sportsachen mit den nagelneuen Turnschuhen. Er war der Sportler.

»Warten wir noch fünf Minuten ab«, erklärte Sam und fischte sein Handy aus der Tasche, um nach der Uhrzeit zu sehen. Da fiel sein Blick auf das kleine Flugzeugsymbol in der linken oberen Ecke des Displays. »Ach ja, eins noch. Wenn Sie bitte alle Ihre Handys auf Flugzeugmodus umstellen könnten, wäre ich Ihnen überaus dankbar.«

Allgemeines Geraschel war zu hören, als die Anwesenden in ihre Aktentaschen, Rucksäcke und Handtaschen langten, um seiner Bitte nachzukommen.

Im selben Moment schwang die Tür auf und ein junger Mann mit Glatzenansatz und hochrotem Gesicht streckte den Kopf ins Zimmer. Er war leicht untersetzt und hatte eine Knubbelnase, die ihm ganz offensichtlich irgendwann im Laufe seiner Jugend gebrochen worden war.

»Ist das hier der richtige Raum für Typen, die vor lauter verrückter Gedanken halb durchdrehen?«, fragte er mit tiefer, rauer Stimme.

Der Schläger, entschied Sam im selben Augenblick.

»Ganz so drastisch würde ich es nicht formulieren«, antwortete er dem Nachzügler. »Aber treten Sie doch bitte ein und nehmen Sie Platz.«

5

»Alle Achtung«, entfuhr es Donovan. »Das ist wirklich unglaublich.«

Erleichterung ließ mich durchatmen.

Ich schob die Haustür zu und drehte mich um, hielt mich aber mit dem Rücken dicht an der Wand, während Donovan in den offenen Wohnbereich trat und dabei mit einer Hand seinen Mantel aufknöpfte.

Jetzt war ich also mit diesem Fremden allein. Mein Herz fing an zu rasen. Ich spürte, wie sich der Knoten in meinem Magen fester zusammenzog. Langsam und tief holte ich Luft. Die Haustür war immer noch in Reichweite.

Im Notfall konnte ich jederzeit nach draußen stürmen, auch wenn mein Gehirn im Moment wirklich alles daransetzte, um mich vom Gegenteil zu überzeugen.

»Es gefällt Ihnen also?«, fragte ich.

»Was für eine Frage! Das Haus ist umwerfend.«

Ich riss den Blick von der Haustür los und spürte trotz meiner Furcht ein angenehmes Prickeln auf der Kopfhaut. Einen wohligen Schauer, wie ich ihn manchmal beim Friseur beim Schneiden und Stylen erlebte.

Es freute mich sehr, das zu hören. Denn der springende Punkt war: Wir mussten verkaufen, aber gleichzeitig hoffte ich, dass der Käufer es genauso sehr liebte wie wir. Mir war natürlich bewusst, dass wir nicht allzu wählerisch sein durften, das konnten wir uns nicht leisten, aber es würde mir unendlich viel bedeuten, wenn wir jemanden fänden, der unsere ganze harte Arbeit zu schätzen wüsste.

»Dieses Weiß.« Er sah sich bewundernd um und deutete auf die Wände. Jetzt wagte auch ich mich einen winzigen Schritt vor. Dabei legte ich Daumen und Zeigefinger um mein linkes Handgelenk, um zu verhindern, dass ich mich vor lauter Nervosität kratzte.

»Es hat einige Zeit gedauert, bis wir den richtigen Farbton gefunden hatten.«

»Es … wertet den gesamten Wohnraum gewaltig auf.«

»Der Meinung sind wir auch.«

Tatsächlich war das für uns die größte Herausforderung beim gesamten Renovierungsprozess gewesen. Das Haus hatte vorher schrecklich düster gewirkt. Die Schiebefenster waren mit dem Alter rissig geworden und blind von Staub und Schmutz. Die Wände waren mit zahlreichen Schichten verschiedener dunkler Blumentapeten zugekleistert gewesen. In den Deckenkehlungen und auf den Stuckleisten hatte sich ebenfalls Schmutz abgelagert, stellenweise waren Letztere abgebröckelt und in einem eigenartigen scheckigen Braunton gestrichen, der an Nikotinflecken erinnerte.

Ich hatte das alles radikal ändern wollen. Jedem Raum neues Leben einhauchen.

»Ist dieser Kamin noch im Originalzustand?«

»Ja, das ist er.« Wieder ein winziger Schritt vorwärts. »Ich liebe die Maserungen im Marmor«, schwärmte ich.

»Und die Fliesen?«

»Die wurden erneuert. Die alten Fliesen waren zu stark beschädigt, aber ich habe Fotos davon gemacht und bei einem Händler für nicht mehr lieferbare Baumaterialien genau die gleichen aufgetrieben. Wir wollten so originalgetreu wie möglich renovieren.«

»Sind die Bodendielen noch die ursprünglichen?«, fragte er und rollte mit fragender Miene auf die Fußballen.

»Ja. Jede einzelne.«

Als hätte ich es geahnt. Die Bodendielen waren für mich ein absolutes Herzensprojekt gewesen. Ich hatte die zerschlissenen Teppiche, unter denen sie sich verbargen, eigenhändig herausgerissen, hatte die Bretter behutsam abgeschliffen, neu lackiert und dabei den anfallenden Staub in jeder Ritze des Hauses verteilt. Ich hatte bei den Schleifarbeiten eine Schutzbrille und Mundschutz getragen und trotzdem nicht verhindern können, dass ich wochenlang von einem trockenen Husten geplagt wurde.

Donovan ging in die Hocke und strich mit behandschuhten Fingerkuppen über den Lack. Dann sah er mich lange an.

»Falls ich dieses Haus nicht kaufe, geben Sie mir dann trotzdem den Namen des Bauunternehmens? Die Sorgfalt und das handwerkliche Geschick, die in diese Arbeit geflossen sind, finde ich beachtlich.«

»Wir haben fast alles selbst gemacht.«

»Im Ernst?« Er war baff. »Ist Ihr Freund im Baugewerbe tätig?«

»Nein.« Ich musste lachen. »Sam ist Dozent für Psychologie und Verhaltensforschung.«

Und er wäre sicher der Letzte, der abstreiten würde, dass er in Sachen do it yourself kein Naturtalent war. Sam war groß und schlaksig mit widerspenstigen dunklen Haaren. Ich liebte ihn, aber er war eher dafür gemacht, im Hipster-Café um die Ecke Toast mit Avocadocreme und Macchiato mit Hafermilch zu bestellen, als fürs Aufhängen von Regalen. Manchmal war es die reinste Tortur gewesen, ihm zuzuschauen, wie er mühsam Säcke voll feuchtem Putz und Schutt herumwuchtete, um sie zu einem der vielen Container draußen auf der Straße zu befördern.

»Und Sie?«, fragte Donovan.

Ich zuckte die Achseln. »Es ist verblüffend, was man aus Büchern alles lernen kann.«

»Irgendetwas sagt mir, dass Sie viel zu bescheiden sind.«

»Nun, ich habe ein klein wenig Erfahrung im Interior Design.«

»Ah. Das erklärt so einiges.« Er sah sich aus seiner kauernden Haltung heraus noch einmal um.

»Wir haben tatsächlich keine Kosten und Mühen gescheut«, beeilte ich mich zu sagen. »Ich habe mich in den letzten Jahren ganz auf die Renovierung dieses Hauses konzentriert.«

Daran war mehr Wahres, als er sich vielleicht vorstellen konnte. Möglicherweise sogar mehr, als ich mir selbst eingestehen wollte. Lange Zeit hatte ich mich mies gefühlt, weil ich kein eigenes Geld verdiente. Mit meiner neu gegründeten Agentur für Raumgestaltung war ich leider kläglich gescheitert. Aber Sam hatte mich nach und nach davon überzeugen können, dass ich ihm damit im Grunde einen großen Gefallen tat. Denn so konnte ich für ihn die Renovierungsarbeiten überwachen und die gestalterische Planung übernehmen. Dadurch ersparte ich ihm die Kosten für sehr viele Arbeitsstunden. Nach Abschluss der Arbeiten wollte er das fertige Haus fotografieren und ein Verkaufsportfolio erstellen. Dieses sollte ich dann meiner zukünftigen Kundschaft präsentieren. Sofern ich je wieder den Mut aufbrächte, mich noch einmal auf den Arbeitsmarkt zu begeben …

»Haben Sie dieses Haus gezielt als Renovierungsobjekt erworben?«

»Nein. Es hat früher Sams Großeltern gehört. Sie sind in den frühen Sechzigern hier eingezogen, aber ursprünglich stammt das Haus natürlich aus der Viktorianischen Ära.«

»Natürlich.« Donovan erhob sich und ging auf das Erkerfenster zu. Vorsichtig teilte er die Lamellen der Jalousien und betrachtete die einzelnen Fensterflügel dahinter. »Darf ich?«

»Nur zu.«

Er löste den Sicherheitsriegel, der das nächstgelegene Fenster geschlossen hielt, und bewegte das Schiebeelement nach oben. Dank des verborgenen Gegengewichtmechanismus glitt es mühelos hinauf, bis es auf etwa zwei Dritteln der Gesamthöhe von der Pufferung abgebremst wurde.

»Haben Sie die Fenster austauschen lassen?«, erkundigte er sich und strich mit den Fingerkuppen prüfend am Holzrahmen entlang.

»Letzten Endes haben wir uns dafür entschieden, ja. Wir haben lange hin und her überlegt, aber schlussendlich sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass es besser wäre, neue Fenster mit doppelter Verglasung einbauen zu lassen. Wir haben allerdings eine hohe Summe in möglichst authentische Fensterrahmen investiert.«

Von der Straße her war Lärm zu hören. Das Röhren eines vorüberfahrenden Fahrzeugs. Ein lauter Ruf von einem der Bauarbeiter draußen auf der Straße. Das monotone Piepsen von einem zurücksetzenden Auto.

Die typische Geräuschkulisse der Großstadt.

Die vielen Menschen, der Lärm und die Hektik hatten immer schon beruhigend auf mich gewirkt. Donovan schloss das Fenster und schob den Riegel vor und es herrschte Stille.

Ich sah zu, wie er die Jalousien sorgfältig in die ursprüngliche Position brachte, die Lamellen schräg stellte, den Mechanismus betrachtete und schließlich anerkennend brummte. Für eine Sekunde wirkte er nachdenklich, sein Blick schien nach innen gerichtet, als wäre er mit den Gedanken woanders.

»Die viele Mühe, die Sie hier investiert haben.« Mit diesen Worten wandte er sich mir zu und zog dabei seine Handschuhe hoch. Vielleicht hätte ich das Thermostat doch ein paar Grad höher einstellen sollen. »Warum wollen Sie verkaufen, wenn Sie mir die Frage gestatten?«

Weil wir keine andere Wahl haben, wollte ich sagen.

Doch stattdessen rang ich mir ein Lächeln ab und lieferte ihm die vorgefertigte Antwort – die Begründung, die wir auch Bethany aufgetischt hatten.

»Wir lieben dieses Haus, und es ist uns nicht leichtgefallen, es zum Verkauf auszuschreiben, aber es ist an der Zeit, dass wir London den Rücken kehren.«

Er nickte bedächtig und ging auf die Regale zu, die in die Nische neben dem Kamin eingebaut waren. Er beugte sich vor und musterte ein gerahmtes Foto, auf dem Sam und ich zu sehen waren.

Sam hatte das Bild letzten Sommer mit einer seiner alten Kameras mit Selbstauslöser aufgenommen. Wir hatten an einem der Picknicktische draußen vor dem nahe gelegenen Pub gesessen. Sam hatte auf dem Foto die Arme um mich gelegt. Ich hatte mich gegen ihn gelehnt, die Sonnenbrille in die Haare hochgeschoben. Ich sah glücklich aus und völlig entspannt, aber ich erinnere mich gut, wie niedergeschlagen ich damals war.

Es gab auch noch andere Aufnahmen. Der Großteil unverstellte Schnappschüsse, die mich in Heimwerkermontur bei verschiedenen Arbeiten am Haus zeigten. Da waren Fotos, auf denen ich das Badezimmer flieste, die Decke im Schlafzimmer strich, Tapeten aufhängte. Sam war schon von frühester Kindheit an begeisterter Hobbyfotograf. Es war eine Leidenschaft, die er von seinem Großvater geerbt hatte. Er hatte dessen Ausrüstung zusammen mit dem Haus übernommen und sich im Laufe der Zeit noch einige hochpreisige Kameras und Objektive zugelegt. Es versetzte mir einen schmerzhaften Stich, als ich daran dachte, dass Sam seine komplette Ausrüstung vor einem halben Jahr auf eBay hatte verkaufen müssen, um das neu eingebaute Badezimmer zu finanzieren.

»Wohin gehen Sie denn, wenn Sie nicht in London bleiben wollen?«, erkundigte sich Donovan.

Ich scheute mich vor der Antwort. Mein Puls flatterte und meine Kehle war wie zugeschnürt. Als er mich abwartend ansah, erkannte ich bei ihm keine Spur von Schuldbewusstsein, dass er mit seiner Frage vielleicht zu weit gegangen war.

»Das haben wir noch nicht entschieden. Der gegenwärtige Plan ist, dass wir ein Jahr lang reisen. Etwas von der Welt sehen. Sam will unbedingt nach Kanada. Ich würde ja lieber an exotischen Stränden in der Sonne liegen und im Meer schwimmen.«

In seiner Wange zuckte ein Muskel. »Klingt abenteuerlich.«

»Möchten Sie sich jetzt die Küche ansehen?«

6

Sam

»Gut. Dann wollen wir mal.« Sam sah die fünf Anwesenden einen nach dem anderen an. »Als Erstes sollte ich Ihnen wohl ein bisschen etwas über mich selbst erzählen. Ich bin Assistenzprofessor hier am Institut für Psychologie und Verhaltensforschung. Mein wissenschaftliches Interesse gilt vor allem der Frage, wie wir Glück quantifizieren und den Menschen helfen können, ihr Verhalten zu ändern, damit sie mehr positive Entscheidungen treffen, die zu einem glücklicheren und gesünderen Lebensstil führen. Aber – und das ist der Punkt, an dem Sie alle ins Spiel kommen – mindestens genauso fasziniert bin ich von Phobien jeder Art. Und ja, die richtig abgefahrenen Phobien reizen mich am allermeisten.«

Künstlerin und Depri-Girl schenkten ihm dafür jede ein Lächeln. Der Sportler richtete sich auf seinem Stuhl etwas gerader auf, ebenso aufmerksam wie alarmiert. Der Schläger stierte ihn finster an und kratzte sich den Bauch, während der Blick des Bibliothekars immer wieder nervös zur Tür wanderte, als wollte er am liebsten abhauen.

»Was ich damit sagen will: Bitte machen Sie sich locker. Denn ganz gleich, mit welchen Ängsten Sie heute hierhergekommen sind, ich werde sie so oder so höchst faszinierend finden. Und falls es Sie beruhigt: Ich glaube nicht, dass Sie mir irgendetwas erzählen wollen, was ich noch nicht gehört habe.«

Sam machte eine kurze Pause, um die Stimmung im Raum zu sondieren. Die Mehrheit der Anwesenden schien ihm noch zu folgen. Er ging davon aus, dass der Schläger sich zunächst eher reserviert geben würde, und es überraschte ihn nicht im Geringsten, dass der Bibliothekar etwas Schreckhaftes ausstrahlte. Aber die Erfahrung hatte ihn gelehrt, wie wichtig es war, seine Referenzen und seine Erwartungen offenzulegen, um eine vertrauensvolle Grundlage für ein gewinnbringendes Gespräch zu schaffen.

Er beugte den Oberkörper leicht vor, stützte die Ellbogen auf seine Oberschenkel und legte die Fingerkuppen beider Hände aneinander. Eine etwas arg inszenierte Geste, aber sie tat ihre Wirkung.

»Ich will Ihnen einen kurzen Überblick über Phobien geben«, fuhr er fort. »Vielleicht fragen Sie sich, ob Sie wirklich an einer solchen leiden, und falls ja, ob sie überhaupt der Rede wert ist. Wie dem auch sei, ich möchte, dass Sie wissen, dass ich da bin, um Ihnen zu helfen. Ich kann Ihnen Strategien aufzeigen, Übungen mitgeben, die Sie zu Hause ausprobieren können, und ich kann Ihnen Therapeutinnen und Therapeuten nennen, falls es konkret wird.«

»Wie sehen diese Übungen aus?«, erkundigte sich der Schläger.

»Darauf gehe ich später näher ein, wenn das für Sie in Ordnung ist.«

»Was, wenn sie nichts bringen?«

»Die Chancen, dass sie wirken, stehen sehr gut. Viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer meiner früheren Selbsthilfegruppen haben sie als sehr nützlich empfunden.«

»Na, das ist doch beruhigend.« Die Künstlerin grinste und zog die Schultern hoch.

»Gut. Eine andere Sache, die ich von vornherein klarstellen sollte, ist folgende: Wir alle sind in unserem Leben Ängsten und Stress ausgesetzt. Das ist vollkommen normal. Ich zum Beispiel versuche aktuell, ein Haus zu verkaufen, das ich geerbt habe. Und obwohl das ja eigentlich eine gute Sache sein sollte, stellt es mich doch vor einige Probleme. Da wären die finanziellen Sorgen, Überlastung, Schuldgefühle. Ständig kreisen meine Gedanken um Fragen, auf die es momentan keine Antworten gibt. Wird es mir gelingen, es zu verkaufen? Wann werde ich es verkaufen? Zu welchem Preis? Aber selbst wenn mir das Ganze schlaflose Nächte bereitet, handelt es sich um eine ganz gewöhnliche Sorge. Es ist ein Teil der alltäglichen Anstrengungen und Herausforderungen. Wenn wir von Phobien sprechen, meinen wir hingegen anhaltende, irrationale und übertriebene Ängste, die für die Betroffenen sehr kräftezehrend sein können, ihnen manchmal auch über den Kopf wachsen.«

Wieder machte er eine kurze Pause. Er war sich der aufmerksamen Stille im Raum bewusst, spürte, wie sie ihm nun alle fünf an den Lippen hingen, als hielte er vielleicht – nur vielleicht – den Schlüssel in der Hand, der sie aus den mentalen Käfigen, in denen sie festsaßen, befreien könnte.

»Bleibt eine Phobie unbehandelt, und ich nehme an, einige von Ihnen haben das selbst schon festgestellt, kann es mehr und mehr zu einer Herausforderung werden, den Alltag zu bestreiten.«

Der Schläger knurrte. »Unmöglich trifft es wohl eher.«

»Warum fangen wir dann nicht einfach mit Ihnen an?«, sagte Sam zu dem Mann. »Möchten Sie uns von Ihren Erfahrungen berichten?«

7

Donovan ging voraus die drei Stufen nach unten und auf die große Kochinsel zu. Drei hölzerne Barhocker standen entlang der Arbeitsfläche, mit Blick über die Kochinsel zum Herd, der sich in die graue Küchenzeile im Shaker-Stil an der gegenüberliegenden Wand einfügte. An der Seite zum Wohnbereich hin hatten wir ein Bücherregal einbauen lassen.

Ich blieb zurück, hielt Distanz.

»Man sieht, dass Sie hier einiges reingesteckt haben«, sagte Donovan und klopfte anerkennend mit den Knöcheln auf die Arbeitsplatte aus Granit.

»Ja, das haben wir.«

Mir war es beinahe peinlich, dass die Küche so luxuriös ausgestattet und großzügig war, wo die Mahlzeiten, die wir darin zu uns nahmen, doch eher bescheiden ausfielen. Sam und ich kochten nur selten aufwendigere Gerichte. Und das nicht nur, weil wir es uns im Augenblick nicht leisten konnten. Unsere Geschmäcker waren recht einfach, worüber Sam gerne Witze machte. Erst letzte Woche hatte er eine pompöse Show abgezogen, als er mir bei Kerzenschein Suppe und ein Sandwich servierte.

»Wann wurde sie eingebaut?«

»Vor etwas weniger als drei Monaten. Einige der Schränke sind noch leer. Das war eine der letzten Arbeiten, die durchgeführt wurden. Die Geräte sind durchgehend von höchster Qualität. Es gibt einen Dampfbackofen. Eine amerikanische Kühl-Gefrier-Kombi. Eine eingebaute Kaffeemaschine. Sam hat mich außerdem dazu überredet, uns zwei Spülmaschinen zuzulegen.«

»Zwei Spülmaschinen? Wofür das?«

»Nun, während die eine läuft, belädt man die andere. So bleiben die Oberflächen sauber, nichts steht herum.«

»Hm. Ist Ihrem Mann so etwas wichtig?«

Ich verspürte einen leichten Groll. »Uns beiden.«

Er nickte, streckte die Hand nach dem Wasserhahn aus Messing aus und ließ einen dampfenden Strahl heißes Wasser ins Spülbecken laufen. Er drehte den Hahn wieder zu und ließ ein zufriedenes Brummen vernehmen.

»Das Haus ist wirklich in makellosem Zustand.«

»Wir haben es gerne ordentlich.«

»Ich wünschte, ich könnte das Gleiche über meine Wohnung sagen. Sieht es hier immer so aus oder haben Sie die Räume für den Verkauf extra auf Vordermann gebracht?«

Er fragte es beiläufig, aber mir war klar, dass er damit ausloten wollte, wie dringend wir verkaufen mussten.

Jetzt ist Vorsicht geboten.

»Wenn ich ehrlich bin, ist es ein bisschen was von beidem.«

»Mir ist aufgefallen, dass fast alle Fotos im Haus Sie bei den Renovierungsarbeiten zeigen. War das Bethanys Vorschlag?«

Ich spürte, wie ich innerlich die Schutzschilde hochfuhr. Ich glaubte, genau zu wissen, worauf er hinauswollte. Die allgemeine Empfehlung lautete, dass man bei Besichtigungen weitestgehend auf alles Private verzichten sollte. Dass man also keine persönlichen Sachen wie Familienfotos und Fotos von Freunden herumstehen ließ. Schließlich sollte der potenzielle Käufer sich vorstellen können, selbst im besichtigten Objekt zu wohnen. In Wirklichkeit aber hatte unser Entschluss, Fotos vom Renovierungsprozess aufzuhängen, nicht das Geringste mit Bethany zu tun, geschweige denn mit irgendeinem wertvollen Ratschlag ihrerseits.

Natürlich würde ich mich hüten, einem Wildfremden den eigentlichen Grund für das Fehlen von Familienfotos auf die Nase zu binden. Denn die bittere Wahrheit war, dass ich keine Familie mehr hatte, die sie hätten zeigen können. Als ich vor einigen Jahren nach London zog, hatte ich kurz zuvor herausgefunden, dass mein Ex mich mit meiner besten Freundin betrog. Ich hatte sämtliche Verbindungen zur Vergangenheit gekappt und den Kontakt zu so gut wie allen Leuten, die mich an mein früheres Leben erinnerten, abgebrochen. Damals war ich fest entschlossen gewesen, in der Stadt komplett neu anzufangen.

Bei Sam verhielt es sich ähnlich. Fotos seiner Eltern an den Wänden wären für ihn zu schmerzhaft gewesen. Sie waren gestorben, als er noch ein Teenager war, lange bevor wir beide uns kennenlernten. Seine Großeltern hatten ihn bei sich aufgenommen. Ein weiterer Grund, weshalb ihm dieses Haus so viel bedeutete.

»Entschuldigen Sie«, sagte Donovan und machte eine abwehrende Geste. »Geht mich nichts an.« Er trat ans Ende der Kücheninsel, wo er in die Hocke ging, um etwas unter der Arbeitsplatte zu begutachten. »Hübscher Weinkühlschrank.«

»Danke.«

»Wer von Ihnen ist hier der Sauvignon-Blanc-Fan?«

»Das bin in erster Linie ich.«

Tatsächlich trank Sam in der Regel eher Lager, zu den seltenen Gelegenheiten, wo er überhaupt Alkohol trank, wohingegen ich mir fast jeden Abend ein Glas Wein genehmigte. Manchmal, wenn die Angst mich packte und nicht mehr losließ, trank ich klammheimlich auch schon am Nachmittag.

»Können Sie mir etwas über die Nachbarn erzählen?«, erkundigte sich Donovan. Er richtete sich auf und ging auf die großen Lofttüren am gegenüberliegenden Ende des Küchenbereichs zu, gleich neben der eigenhändig von uns freigelegten Backsteinwand. Dort standen auch der große Esstisch aus Eiche und die beiden Bänke, über die ich Schaffelle gebreitet hatte.

Ich sah zu, wie er den Hals reckte, um nacheinander zu den beiden Reihenhäusern rechts und links von unserem zu spähen.

»Auf der einen Seite lebt ein Paar mit zwei Kindern im Teenageralter. Sie arbeiten beide als Anwälte im Stadtzentrum. Die Kinder sind fast den ganzen Tag über in der Schule.«

»Sie spielen nicht zufällig Schlagzeug, oder?«

»Nein, zum Glück nicht. Momentan sind sie in Urlaub. Die Kinder besuchen eine Privatschule, sie haben gerade Winterferien. Die Familie besitzt ein Wochenendhaus in Cornwall.«

»Und auf der anderen Seite? Das Haus, das fast an Ihres stößt?«

»Da wohnt John. Er ist Rentner.«

»Und dort drüben?« Er deutete auf die Rückseite des Reihenhauses, das den Garten hinter unserem Haus überragte. Es lag an der Parallelstraße.

»Hab keinen Schimmer, tut mir leid. Das ist London.«

Eine Sekunde lang kam es mir vor, als hätte er mich nicht gehört. Er starrte immer noch auf die Rückseite des Hauses, bis mir dämmerte, dass ich vielleicht ein paar Worte mehr darüber verlieren sollte, wenn ihm seine Privatsphäre schon so wichtig war. Krampfhaft überlegte ich, was Bethany in so einem Fall antworten würde.

»Nun, ich kann Ihnen versichern, dass sie sich so gut wie nie im hinteren Garten aufhalten. Vom Obergeschoss aus werden Sie erkennen, dass er ziemlich verwildert ist, er wird kaum genutzt. Im Grunde sind es nur das Badezimmerfenster und dieses eine Schlafzimmerfenster, von denen aus man zu uns herübersehen kann, deshalb hatten wir nie irgendwelche Bedenken.«

Er schwieg, schien meine Antwort abzuwägen, ehe er auf den Schlüssel im Schloss ungefähr auf Höhe seiner Hüfte deutete.

»Kann ich mal einen Blick rauswerfen?«

»Selbstverständlich.«

Rasch drehte er den Schlüssel um, schob die Tür auf und trat hinaus in den Garten. Meine kleine Wohlfühloase.

Der Platz war begrenzt, deshalb hatte ich alles möglichst schlicht gehalten. Die Terrassenfliesen aus Porzellan hatten einen modernen bläulichen Grauton und funkelten wie Eis an einem regnerischen Tag. Wir hatten sie exakt auf einer Höhe mit dem Fußboden im Haus verlegt und von einem Elektriker ein paar dezente Bodenstrahler einbauen lassen. Die Backsteinmauern ringsum hatte ich weiß gestrichen und abschließend hatten Sam und ich darauf Lamellenzaunelemente montiert, wie sie gerade in Mode waren. In der hinteren Ecke befand sich unter einem Sonnensegel ein von Hochbeeten eingefasster Sitzbereich, ringsum Blumentöpfe, mit Formschnittpflanzen, Lavendel und Küchenkräutern.

Während Donovan sich den Außenbereich ansah, ging ich auf die offen stehende Tür zu, stützte mich am Metallrahmen ab und lehnte den Oberkörper hinaus in die kühle, feuchte Luft.

Ich erinnerte mich an eine Situation, die noch gar nicht lange her war. Es war spätabends gewesen, ich hatte mit Sam dort draußen eng umschlungen zu Musik aus dem Küchenradio getanzt. Zugegeben, Sam ist ein lausiger Tänzer, aber nach und nach hatte er sich entspannt und auch von mir war die Anspannung abgefallen. Jetzt wurde mir schlagartig bewusst, dass wir mit dem Verkauf des Hauses nicht nur jede Menge Blut, Schweiß und Tränen hinter uns ließen, sondern uns auch von einer ganzen Reihe schöner Momente verabschieden mussten.

»Und, wie finden Sie es?«, fragte ich Donovan.

Er starrte wieder am Nachbarhaus empor und musterte es eindringlich. »Es gibt keinen Hintereingang zum Haus?«

»Nein. Der Garten beginnt gleich hinter dieser Mauer. Zwischen den Grundstücken verläuft keine Gasse.«

»Gab es jemals Probleme deswegen?«

»Nicht für uns. Im Gegenteil, es trägt zu einer besseren Privatsphäre bei. Und es ist um einiges sicherer.« Instinktiv hob ich die Hand an die Kehle. Dann überspielte ich meine unbedachte Geste, indem ich auf den Kaffeetisch und die Stühle deutete. »Das hier ist ein richtig ruhiges Fleckchen. Vor allem im Frühling und im Sommer sitzt man hier wunderbar.«

»Mhm.«

Es wurmte mich, dass er kein besonderes Interesse an meiner Sitzecke zeigte. Ich war mit dem Ergebnis überaus zufrieden gewesen. Stattdessen legte er den Kopf in den Nacken, schirmte mit beiden Händen seine Augen ab und betrachtete die Rückseite unseres Hauses.

»Das Dach ist neu«, erklärte ich ihm. »Der Austausch der Dachziegel war das Erste, das wir in Angriff genommen haben.«

»Sie finden immer genau die richtigen Worte, Lucy.«

»Ach ja?«

»Sobald Bethany hier eintrifft, werde ich ihr mitteilen müssen, dass sie bald arbeitslos werden könnte.« Er nahm die Arme herunter und ließ den Blick noch einmal flüchtig über den Außenbereich schweifen. »Hat sie gesagt, wann sie hier eintrifft?«

»Nein. Nur dass sie so schnell wie möglich hier sein wollte.«

Er starrte mich eindringlich an, als würde er durch mich hindurchsehen – und in dem Moment spürte ich es. Das Prickeln auf meiner Haut. Das ungute Gefühl, dass sich jemand von hinten an mich heranschlich.

Nicht jetzt.

Aber ich kam nicht dagegen an.

Ich nutzte seine Frage zu Bethanys Verbleib als Vorwand, drehte mich auf dem Absatz um und lehnte mich demonstrativ zur Seite, um durch die Küche zur Haustür zu spähen.

Ein Anflug von Erleichterung.

Da war niemand.

»Wollen wir uns als Nächstes den Keller ansehen?«

Ich drehte mich wieder zu ihm um und erschrak. Er stand direkt neben mir.

»Entschuldigung«, sagte er. »Ich wollte Ihnen keinen Schrecken einjagen.«

8

Sam

»Mein Problem ist das Erbrechen«, sagte der Schläger.