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Ein Feuerschiff: Ansteuerungspunkt für die ein- und auslaufenden Schiffe, ein am Meeresgrund verankertes, an seine unveränderliche Position gebundenes Symbol der Sicherheit. Was geschieht, wenn auf einem solchen Schiff ein Konflikt zwischen bewaffneter und unbewaffneter Macht ausbricht, wenn drei bewaffnete Männer als Schiffbrüchige an Bord genommen werden, denen es bald gelingt, auf dem Schiff die Oberhand zu gewinnen? Diese E-Book-Ausgabe von "Das Feuerschiff" wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz' ergänzt.
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Seitenzahl: 181
Siegfried Lenz
Das Feuerschiff
Erzählung
Literatur
Hoffmann und Campe Verlag
Sie lagen und lagen fest bei den wandernden Sandbänken. Seit neun Jahren, seit dem Krieg lag ihr Schiff an langer Ankerkette fest, ein brandroter Hügel auf der schiefergrauen Ebene der See, muschelbedeckt, von Algen bewachsen – bis auf die kurzen Zeiten in der Werft lag es da, während der heißen Sommer, wenn die Ostsee glatt und blendend und zurückgedämmt war, und in all den Wintern, wenn wuchtige Seen das Schiff unterliefen und Eisschollen splitternd an der Bordwand entlangschrammten. Es war ein altes Reserve-Feuerschiff, das sie nach dem Krieg noch einmal ausgerüstet und hinausgeschickt hatten, um die Schiffe vor den wandernden Bänken zu warnen und um ihnen einen Ansteuerungspunkt zu geben für den Minenzwangsweg.
Neun Jahre hing der schwarze Ball in ihrem Mast, der anzeigte, daß sie auf Position waren, kreiste der Blinkstrahl ihrer Kennung über die lange Bucht und über die nächtliche See bis zu den Inseln, die sich grau und flach wie ein Ruderblatt am Horizont erhoben. Jetzt waren die Minenfelder geräumt, das Fahrwasser galt als sicher, und in vierzehn Tagen sollte das alte Feuerschiff eingezogen werden. Es war ihre letzte Wache.
Die letzte Wache sollte noch vor den Winterstürmen enden, die mit kurzen, wuchtigen Seen in die Bucht hineinschlagen, die lehmige Steilküste unterwaschen und auf dem flachen Strand eine verkrustete Markierung aus Tang, Eissplittern und pfeilförmigem Seegras zurücklassen. Bevor die Stürme einsetzen, ist die Ostsee hier draußen vor der langen Bucht ruhig; die Dünung geht weich und gleitend, die Farbe des Wassers wird schwarzblau. Das ist eine gute Zeit für den Fischfang: in Schwärmen zucken die getigerten Rücken der Makrelen knapp unter der Oberfläche dahin, der Lachs geht an den Blinker, und in den Maschen des Grundnetzes stehen die Dorsche fest, als ob ein Jagdgewehr sie hineingeschossen hätte. Es ist dann auch höchste Zeit für die Küstenschiffahrt, für die gedrungenen Motorsegler, für Windjammer und Holzschoner, die mit einer letzten Decksladung Grubenholz oder geschnittenen Planken oben von Finnland runterkommen und weiterziehen in ihre Winterverstecke. Das Fahrwasser vor der langen Bucht und zwischen den Inseln ist voll von ihnen vor den Stürmen, und vom Feuerschiff sehen sie die tuckernde, schlingernde, mühsame Prozession vorüberziehen zu den Sicherheiten hinter dem Horizont; und wenn sie verschwunden sind, kommen die Sturmmöwen herein und die schweren Mantelmöwen, einzeln zuerst, dann in kreischenden Schwärmen, und sie umkreisen das Feuerschiff, ruhen sich auf seinen Masten aus oder gehen nieder auf das Wasser, auf dem der rötliche Widerschein des Schiffes liegt. Als ihre letzte Wache begann, war die See fast leer von den schlingernden Holzschuten, nur einige Nachzügler kamen noch vorbei, klemmten sich unter den Horizont, und auf dem Feuerschiff sahen sie jetzt fast nur noch die weißen Eisenbahnfähren, die morgens und abends schäumend hinter den Inseln verschwanden, schwere Frachter und breitbordige Fischkutter, die gleichgültig an ihnen vorbeiliefen.
An jenem diesigen Morgen war nichts in Sicht. Das Feuerschiff dümpelte träge an langer Ankerkette, die Strömung staute sich drängend am Rumpf, und ein grünes, schwefelgrünes Glimmen lag auf der See. Mit dem schwingenden Pfeifgeräusch ihrer Flügel strich ein Zug Grauenten knapp über dem Wasser am Schiff vorbei und zu den Inseln hinüber. Die Ankerkette rieb sich, knirschte in den Klüsen, wenn die weiche Dünung das Schiff anhob, und es entstand ein Geräusch, als holte ein Bügelstemmeisen verrostete Nägel aus einer Kiste. Die durchlaufende Dünung klatschte gegen das Heck. Eine breite Schaumspur zog sich von der Bucht gegen die offene See hin wie eine weißliche Ader, in der schwappend Blasentang trieb, algenbedeckte Holzstücke, Kraut, Korkstücke und eine auf- und abtanzende Flasche. Es war der zweite Morgen auf ihrer letzten Wache.
Als Freytag die Kajütentür öffnete, sah er zum Ausguck hinauf. Der Mann auf Ausguck setzte das Glas nicht ab; langsam kreisend, als hätten sie ihn mit den Füßen an Deck genietet, drehte sich sein Oberkörper, drehte sich nur in den Hüften, ohne daß seine Füße sich bewegten, und Freytag wußte, daß nichts los war, und trat hinaus in den diesigen Morgen. Er war ein alter Mann mit magerem Hals und hautstraffem Gesicht, seine wäßrigen Augen tränten unaufhörlich, wie in Erinnerung an eine verzweifelte Anstrengung; obwohl sein untersetzter Körper gekrümmt war, verriet er noch etwas von der Kraft, die einst in ihm gesteckt hatte oder immer noch in ihm steckte. Seine Finger waren knotig, sein Gang säbelbeinig, als hätten sie ihn in seiner Jugend auf einer Tonne reiten lassen. Bevor er Kapitän des Feuerschiffs wurde, hatte er sechzehn Jahre ein eigenes Schiff auf der Lumpenlinie geführt, nach unten runter in die Levante; damals hatte er sich angewöhnt, mit einer halbgerauchten, kalten Zigarette im Mund herumzulaufen, die er während des Essens neben den Teller legte.
Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Kajütentür, die kalte Zigarette wanderte wippend zwischen den Mundwinkeln hin und her, und er sah zu den Inseln hinüber, über die Schaumspur, die sich gegen die offene See hinzog, und dann zu der Wracktonne, neben der die Spieren eines im Krieg versenkten Schiffes aus dem Wasser ragten; und als er so dastand, spürte er, wie die Tür hinter ihm geöffnet wurde; ohne sich umzudrehen, trat er zur Seite, denn er wußte, daß es der Junge war, auf den er gewartet hatte. Freytag hatte keinen gefragt, hatte keine Erlaubnis eingeholt; als Kapitän hatte er den Jungen einfach mit rausgenommen zur letzten Wache, aus dem Krankenhaus weg, er wußte, daß es der Junge war, auf den er gewartet hatte.
Freytag hatte den blassen, hochgewachsenen Jungen mit dem gehetzten Blick im Bett liegen sehen, und nachdem er auf dem Gang mit dem Arzt gesprochen hatte, war er zurückgekommen und hatte zu Fred gesagt: »Morgen kommst du mit raus auf Station«, und obwohl der Junge weder zurückwollte in die Baracke, wo er als Thermometerbläser arbeitete, noch auf Freytags Schiff, war er jetzt an Bord und auf Station.
Fred ließ die Kajütentür zufallen, die sich mit zischendem Sauggeräusch schloß, und musterte den Alten mit einem gehetzten, feindseligen Blick aus den Augenwinkeln. Er redete ihn nicht an; er stellte sich neben ihn und wartete in einer Haltung schweigsamer Feindseligkeit: nie, solange er denken konnte, hatte er anders neben seinem Alten gestanden, damals nicht, als er ihm bis zur Schulter reichte, und auch jetzt nicht, da er ihm von oben in den lose sitzenden Kragen hineinsehen konnte, unter dem ein Streifen glatter, verbrannter Haut begann, der sich über den ganzen Rücken bis zur Hüfte zog.
Seitdem er erfahren hatte, was damals unten in der Levante geschehen war – zu der Zeit, als sein Alter die Lumpenlinie fuhr und er selbst noch zur Schule ging –, war er fertig mit ihm, ohne daß sie je darüber gesprochen hätten oder daß es für ihn nötig gewesen wäre, darüber zu sprechen.
Sie standen schweigend nebeneinander, sie kannten sich zu gut, als daß der eine etwas vom anderen erwartet hätte, und wortlos, mit einem kurzen Nicken des Kopfes, forderte Freytag den Jungen auf, ihm zu folgen. Hintereinander kletterten sie auf den gelben Laternenträger hinauf, sahen die verzerrte Spiegelung ihrer Gesichter auf dem harten, gerundeten Glas; sie blickten über die See und auf das Deck des Schiffes hinab, dessen dümpelnde Bewegungen sie hier oben stärker spürten als unten, und Fred sah, wie die schwere, durchhängende Kette klatschend ins Wasser tauchte, wenn die Dünung sich zu ihr hinaufreckte. Er sah auch den Mann mit der schwarzglänzenden Krähe am Bug stehen und hörte seinen Alten sagen: »Das ist Gombert. Er hat es immer noch nicht aufgegeben; zu Weihnachten will er der Krähe das Reden beigebracht haben, und zu Ostern soll sie einen Psalm aufsagen.« Fred antwortete nicht, gleichgültig beobachtete er den Mann am Bug, der eifrig auf die Krähe einsprach, die mit beschnittenen, schlapp weghängenden Flügeln an Deck hockte. »Sie heißt Edith«, sagte Freytag, »Edith von Laboe.«
Dann kletterte er hinab, Fred hinter ihm, und sie gingen schweigend zur Funkbude hinüber, fanden Philippi vor dem Funkgerät, einen kleinen, schmächtigen Mann in verwaschenem Pullover, der den Kopfhörer umhatte, in einer Hand einen Bleistift hielt, mit der anderen Zigaretten auf dem Tisch rollte.
»Er gibt die Stromabmessung durch«, sagte Freytag, »den Seegang und den Wetterdienst.«
Philippi wandte sich nicht zu ihnen um, obwohl er ihre Schatten auf der Wand und auf dem mit Tabakkrümeln bedeckten Tisch sah; er kümmerte sich nicht um den Lautsprecher, aus dem ein Knistern ertönte, ein trockenes Knacken, als ob Heuschrecken über ein Blechdach wanderten; ruhig saß er in seinem fensterlosen Schapp da und sagte nach einer Weile: »Hier ist schon gelüftet«, und rückte seine Kopfhörer zurecht.
»Das ist die Funkbude«, sagte Freytag, »nun hast du auch sie gesehen«, und er schob den Jungen mit der Schulter vom Eingang weg, zog die auf Rollen laufende Tür zu und sah sich um und überlegte, was Fred noch nicht gesehen hatte, seitdem er an Bord war. Er blickte über sein Schiff, und es kam ihm zum ersten Mal alt und verdammt vor – ein Schiff, das nicht frei war und zu anderen Küsten lief, sondern wie ein Sträfling an langer Kette lag, von dem riesigen Anker gehalten, der tief im sandigen Grund steckte, und Freytag fand nichts, was er dem Jungen noch hätte zeigen können. Unentschieden hob er die Schultern. Er sah über sein Schiff wie ein Mann über flaches Land. Er zog ein Taschentuch heraus, wickelte es um die eine Hand und schob die umwickelte Hand wieder in die Tasche; einen Augenblick lauschte er zum Jungen zurück, der schräg hinter ihm stehengeblieben war; er hörte nichts, und er schloß die umwickelte Hand zur Faust und spürte, wie der Stoff über den knotigen Fingergelenken spannte. Sein Blick fiel auf den Ausguck, der das Glas abgesetzt hatte und sich an die Schiefertafel lehnte, auf der an diesem Morgen noch nichts angeschrieben war, und er winkte Fred, ihm zu folgen. Ihre Schritte klirrten auf den eisernen Stufen des Niedergangs; die Stufen waren rostig, verbeult und ausgetreten, die Riffelung, die den Sohlen Halt geben sollte, war abgeschliffen und kaum zu erkennen. Nacheinander stiegen sie hinauf, Freytag voran, und der Ausguck stand an der Schiefertafel und beobachtete, wie ihre Köpfe über dem Deck erschienen und wie ihre Schultern emportauchten und ihre Körper, bis sie sich zuletzt vom Geländer abstemmten und neben ihm landeten.
Fred hatte Zumpe noch nie gesehen, er wußte nur, daß der Mann, den er auf Ausguck traf, während des Krieges auf einem Erzfrachter torpediert wurde und darauf neunzig Stunden im zerschlagenen Rettungsboot trieb und von allen für tot gehalten wurde – Freytag hatte es ihm erzählt; und er hatte ihm auch gesagt, daß Zumpes Frau damals eine Todesanzeige aufgab, die Zumpe selbst, als er dann zurückkam und sie las, für so schäbig hielt, daß er seine Frau verließ. Jetzt trug er seine eigene Todesanzeige ständig bei sich, in einer zerknitterten Brieftasche, und er zeigte sie grinsend herum: ein gelbliches Stück Papier, weich und fleckig geworden zwischen vielen Daumen und Zeigefingern.
Auf der Überfahrt, als sein Alter ihm von den Männern erzählte, die er auf dem Schiff treffen würde, hatte Fred zum ersten Mal von Zumpe gehört, und nun standen sie sich gegenüber, gaben sich die Hand, und Fred fühlte die hornharten, krallenartigen Finger des Mannes zwischen den seinen. Die zu kurzen Glieder, der zu kurze Hals und der schwere Kopf verliehen Zumpe etwas Zwergenhaftes; sein Nacken war tief gefaltet, das Gesicht wulstig.
»Gib ihm das Glas«, sagte Freytag.
Zumpe zog den dünnen Lederriemen über seinen Kopf und reichte Fred das Glas, der es ohne Eile annahm und in seinen Händen drehte.
»Schau durch«, sagte Freytag, »da drüben sind die Inseln.« Die Männer wechselten einen Blick, und der Junge hob das schwere Glas an die Augen und sah in scharfen, ausgestochenen Scheiben den Inselstrand und den sandfarbenen Damm zwischen den Inseln, und hinter dem Damm, salzweiß und ruhig gleitend, erkannte er ein Segel, das zu keinem Boot zu gehören, sich über den Damm zu bewegen schien. Fred bog die beiden Gläser um das Stahlgelenk zusammen, so daß die münzrunden Scheiben sich ineinanderschoben, bis sie sich deckten, und nun sah er über die Inseln hinweg, drehte sich in den Hüften, sah die Wracktonne und die Spieren des gesunkenen Schiffes durch den scharfen Kreis wandern und wieder aus ihm heraustreten, während er das Glas weiterdrehte gegen die offene See. Die Schaumspur zog durch den Kreis, eine stürzende Möwe, die mit angewinkelten Flügeln ins Wasser schlug, und vor dem diesigen Horizont erkannte er die aufschimmernden Kronen treibender Wellen. Dann saß er fest, unterbrach plötzlich die kreisende Bewegung, als ob er einen Widerstand gefunden hätte, und die Männer sahen, wie er das Glas absetzte, es sofort wieder hob, schnell an der gezackten Mittelschraube zu drehen begann, und sie traten nah an ihn heran und blickten in die Richtung, in der Fred suchte. Sie entdeckten nichts. »Was ist?« sagte Freytag.
»Ich habe nichts gesehn«, sagte Zumpe.
»Ein Boot«, sagte Fred, »ein Motorboot. Ich glaube, es treibt.«
Er erkannte deutlich das graue Boot, das quer zur See lag und abtrieb und dabei hochgetragen wurde von der Dünung; er erkannte auch in der scharfen, ausgestochenen Scheibe, daß das Boot besetzt war und daß einer der Besatzung breitbeinig auf der hölzernen Motorhaube stand und etwas hin- und herschwenkte.
»Ja«, sagte Fred, »es ist ein treibendes Boot, und da sind Männer drauf.«
Zumpe nahm ihm das Glas aus der Hand, seine Oberlippe zog sich krausend hoch und entblößte seine starken Schneidezähne, als er das Glas vor die Augen setzte, einige Sekunden hindurchsah und es ohne ein Wort weitergab an Freytag; auch Freytag sah nur einige Sekunden hindurch, gab dann das Glas dem Jungen zurück und sagte: »Wir setzen das Boot aus.«
»Das Boot ist gestrichen«, sagte Zumpe.
»Dann setzen wir das gestrichene Boot aus«, sagte Freytag.
»Die Farbe ist noch nicht ganz trocken.«
»Du kannst sie darauf aufmerksam machen«, sagte Freytag, »aber erst hol sie rein. Vielleicht ist es ihnen sogar gleichgültig, welch ein Boot sie reinholt.«
»Allein?«
»Nimm Gombert mit, er kann dir helfen. Von mir aus frag auch seine Krähe; vielleicht hat auch Edith Lust, mitzukommen.«
Zumpe trat zum Niedergang, etwas Mühsames lag in seinen Bewegungen, etwas Eckiges und Ruckhaftes, und während er hinabtauchte, beobachtete Fred das Boot, das quer gegen die offene See hintrieb.
»Sie treiben in der Strömung«, sagte Freytag, »es geht eine starke Strömung von der Bucht nach draußen, sie sitzen mittendrin.«
Der Junge schwieg, und Freytag fuhr fort: »Im Sommer manchmal, wenn die Segelboote vorbeiziehen, kannst du sehen, wie stark sie ist: bei leisem Zug, auch bei flauer Brise ist die Strömung noch stärker als der Wind und drückt die Boote raus.«
»Sie geben uns Zeichen«, sagte Fred, der ununterbrochen durch das Glas sah.
»Wir werden sie reinholen«, sagte Freytag, »es geschieht nicht zum ersten Mal.«
»Ich sollte mitfahren«, sagte Fred.
»Es ist besser, du bleibst hier.«
Unten an den Klappdavits erschienen jetzt Zumpe und Gombert, sie wuchteten das Boot aus den Klampen, schwenkten es aus und brachten es mit einer Kurbel zu Wasser. Das Boot war nur noch an der Vorleine fest und schrammte gegen die Bordwand des Feuerschiffes. Während Gombert übers Fallreep ins Boot kletterte und die Ruderpinne nahm, warf Zumpe den Motor an, löste die Vorleine und hockte sich auf den Bodenbrettern hin, so daß nur sein Kopf über die Bordkante hinausragte: knatternd legten sie ab, drehten in kurzem Bogen, mit wirbelndem Kielwasser hinaus zu dem treibenden Boot.
Fred beobachtete durch das Glas, wie sie über die Dünung ritten und dann in der Schaumspur entlangfuhren, die ihr Boot für einen Augenblick aufschlitzte, und er sah, wie das weißliche Band sich hinter ihnen schloß und wie das Boot flacher und kürzer wurde, bis es schließlich flach wie eine Decksplanke war, über der sich nur der massige Rücken von Gombert erhob. Sie hielten auf das treibende Boot zu, und als sie es erreicht hatten, sah Fred, wie sie es langsam umrundeten, dann darauf zustießen und längsseits gingen; dreimal sah er die Umrisse einer Gestalt sich erheben und zusammenfallen, und er sagte zu Freytag: »Es sind drei; sie steigen um. Ich möchte nur wissen, was das für Leute sind.«
»Wir werden es bald wissen«, sagte Freytag. »Sie werden sich bei dir bedanken, denn du hast sie ausgemacht. Vielleicht wollten sie zur Insel rüber und hatten Pech.« Fred wandte sich schnell zu ihm um, sah ihn dastehen mit der kalten Zigarette zwischen den Lippen, die Hände in den Taschen.
»Willst du das Glas?« fragte er.
»Nein«, sagte Freytag, »du hast sie ausgemacht, und jetzt sollst du dabei sein, wenn sie reinkommen. Behalt das Glas.«
Der Junge hob das Glas wieder an die Augen; er merkte, wie sein Alter einen Schritt näher herankam, ihn lange von der Seite ansah; er spürte sein Verlangen, mit ihm zu reden, hörte ihn scharf einatmen und dann sehr leise sagen: »Das ist sehr gut für dich, Fred, ich hätte es schon früher tun müssen, längst hätte ich dich rausnehmen sollen zu einer Wache, denn nirgendwo findest du solch eine Luft wie hier. Für deine Lungen gibt es nichts Besseres, Fred. Du wirst es merken, wenn wir zurückkommen.«
Der Junge schwieg. Draußen scherten die Boote auseinander, und er dachte, daß sie das treibende Boot aufgeben wollten, aber dann drehte es langsam bis auf Kiellinie, und Fred wußte, daß sie es festgemacht hatten und hereinbrachten.
»Im Sommer hätte ich dich rausnehmen müssen«, sagte Freytag, »dann ist die Luft noch weicher, es gibt viel Sonne, und die Sicht ist gut.«
Fred entdeckte, daß das graue Boot, das sie in Schlepp hatten und hereinbrachten, größer war als ihr eigenes, in dem jetzt fünf Männer saßen; es schien ein Rettungsboot von einem großen Passagierdampfer zu sein, mit dünnen Haltetauen an den Seiten und einem sonngebleichten Fender am Bug.
»Hörst du, was ich sage?« fragte Freytag.
»Ja«, sagte Fred, »ich habe alles mitbekommen.« Nun konnte er Gombert an der Ruderpinne erkennen, Zumpe im Bug und die drei Männer, die zwischen ihnen hockten; ohne das Glas abzusetzen oder sich zu seinem Alten umzudrehen, fragte er: »Was werden wir mit ihnen machen?«
»Das wird sich zeigen«, sagte Freytag. »Wir schicken sie so schnell wie möglich an Land. Wir haben kein Hotel an Bord. Spätestens geben wir sie dem Versorgungsboot mit. Die ganze Wache können sie hier nicht bleiben.«
Die Boote kamen näher, deutlich war die straffe Verbindungsleine zu sehen, deutlicher wurden die Gesichter, und jetzt erschien auch Rethorn zwischen den Davits, und Soltow, der Maschinist. Rethorn trug eine gebügelte Khakijacke, gebügelte Hosen und einen braunen Binder, er war Steuermann, und sie hatten ihn an Bord des Feuerschiffes nie anders erlebt als gestärkt und gebügelt. Schließlich, als die Boote in Rufweite waren, kam auch noch Trittel heraus, ihr Koch, ein magerer Mann, der magenleidend aussah und die mageren Hände unter der vorgebundenen, mehlbestaubten Schürze gefaltet hielt. Sie standen zwischen den Davits und erwarteten die Ankunft der Boote, die auf das Heck des Feuerschiffs zuhielten, in knappem Bogen beidrehten und längsseits kamen. Leinen klatschten herunter, sie machten die Boote fest, und jetzt stiegen Freytag und der Junge den Niedergang hinab und gingen ebenfalls zu den Davits, wo, bis auf Philippi, der in seinem Funkschapp saß, die ganze Besatzung versammelt war.
Fred lehnte an der Kurbel, er blickte auf die Taue des Fallreeps, in die Zug kam und die wie neues Leder knarrten unter der Belastung des ersten Mannes, der von unten aus dem Boot zu ihnen an Bord stieg.
Als erster kam Doktor Caspary: ein klobiger Siegelring kündigte ihn an, er saß auf dem Mittelfinger der behaarten Hand, die zuerst über der Bordkante erschien, sich fest um das Tau legte, zog und an den Knöcheln weiß wurde vor Anstrengung, bis die andere Hand nachfaßte und sein Gesicht sich heraufschob, ein lächelndes Gesicht unter buschigen Augenbrauen, das unrasiert war, von einer wasserbesprühten Sonnenbrille verdeckt. Rethorn half ihm an Bord, und Doktor Caspary sah sich lächelnd um, ging zu jedem der Männer und stellte sich jedem lächelnd vor. Dann trat er ans Fallreep, und zusammen mit Rethorn half er den anderen, an Bord zu kommen: einem Riesen mit bläulicher Hasenscharte, kragenlosem Hemd und einem Ausdruck blöder Zärtlichkeit, und nach ihm halfen sie einem langhaarigen jungen Mann, der angewidert zusammenzuckte unter der Berührung von Rethorn, zur Seite trat und den Ärmel seines Jacketts glattstrich.
Sie stellten sich nicht vor, aber Doktor Caspary schienen Vorstellungen Freude zu machen, und er zeigte mit einem Daumen auf den Riesen, sagte: »Herr Kuhl, Eugen Kuhl«, worauf Eugen heftig nickte, und mit dem andern Daumen zeigte er auf den langhaarigen Burschen und sagte: »Edgar Kuhl. Die Herren sind Brüder.« Edgar musterte Doktor Caspary mit einem Blick voll geringschätziger Zurückweisung; er gab keinem die Hand, sah keinem der Männer ins Gesicht; nur als Freytag sie aufforderte, ihm in die Messe zu folgen, wandte Edgar blitzschnell den Kopf, als wollte er sich überzeugen, daß niemand hinter ihm ging.
Freytag führte sie in die Messe, in einen holzverschlagenen Raum, dessen Wände von Wimpeln bedeckt waren, von Seestichen und den angedunkelten Porträts längst vergessener Kapitäne; schweigend holte er Gläser aus einem Wandschrank, eine halbe Flasche Kognak, stellte sie auf den Tisch und deutete einladend auf die festgeschraubten Armstühle. Der Riese mit der Hasenscharte hob das leere Schnapsglas an die Augen, den Stiel auf Freytag gerichtet; angestrengt blickte er hindurch, seufzte, dann erschien ein sanftes, idiotisches Grinsen auf seinem Gesicht: »Ein Huhn«, sagte er, »du siehst genau wie ein großes Huhn aus«, und er schob ihm das Glas entgegen, und Freytag füllte es. Alle setzten sich um den Tisch, nur Edgar blieb an der Tür stehen, lehnte da mit verschränkten Beinen, in einer Haltung lässiger Aufmerksamkeit. Er hatte ein Fallmesser mit stehender Klinge in der Hand und begann, an seinen Fingernägeln zu arbeiten, wobei er die Männer am Tisch beobachtete.
»Was ist?« sagte Freytag. »Nicht auch ein Glas?«