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Frauke Dobermann und ihr ungleiches Team dringen immer weiter in die Organisation der Niedersachsen-Mafia vor und stören deren Strukturen und Geschäfte. Die Drahtzieher im Hintergrund antworten mit Mord und Gewalt, aber weder Todesdrohungen noch Attentate hindern die Beamten der Sonderermittlungsgruppe des LKA Hannover daran, den Sumpf aus Geldwäsche, Organ- und Menschenhandel trockenzulegen. Die Täter schrecken nicht vor Geiselnahmen und Mord zurück - bis in einem atemberaubenden Finale der Kopf der Organisation entlarvt wird. Der lang erwatete letzte Teil der Mafia-Trilogie: Frauke Dobermann, die couragierte Ermittlerin, ist dem geheimnisvollen Paten der Niedersachsen-Mafia dicht auf den Fersen.
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Seitenzahl: 309
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Rainer Dissars-Nygaard, Jahrgang 1949, studierte Betriebswirtschaft und war als Unternehmensberater tätig. Er lebt als freier Autor auf der Insel Nordstrand. Im Emons Verlag erschienen unter dem Pseudonym Hannes Nygaard die Hinterm Deich Krimis »Tod in der Marsch«, »Vom Himmel hoch«, »Mordlicht«, »Tod an der Förde«, »Todeshaus am Deich«, »Küstenfilz«, »Todesküste«, »Tod am Kanal«, »Der Inselkönig«, »Der Tote vom Kliff«, »Sturmtief«, »Schwelbrand«, »Tod im Koog« sowie die Niedersachsen Krimis »Mord an der Leine«, »Niedersachsen Mafia« und »Das Finale«.www.hannes-nygaard.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-160-2 Niedersachsen Krimi Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die AgenturEDITIO DIALOG, Dr. Michael Wenzel, Lille, Frankreich(www.editio-dialog.com)
Man muss die Tatsachen kennen,
EINS
Georg hatte sie zu Boden geworfen, als die Schüsse hinter ihr krachten und ins Holz schlugen. Frauke Dobermann, Erste Kriminalhauptkommissarin, hatte den Mann nicht bemerkt, der ihr bis zur Villa in Isernhagen gefolgt sein musste.
Blitzschnell hatte sie ihre Dienstwaffe gezückt und zurückgeschossen. Zwei Mal. Stöhnend war der Mann in der Motorradkluft zusammengebrochen. Frauke hatte ihn erkannt. Necmi Özden, den sie wegen Mordes suchte.
Doch zunächst galt es, Einsatzkräfte zum Tatort zu ordern. Sie forderte den Notarzt und den Rettungsdienst an, dann informierte sie ihre Dienststelle.
»Wo sind Sie?«, fragte der schwergewichtige Hauptkommissar Nathan Madsack ungläubig, der das Gespräch entgegennahm.
»Das habe ich Ihnen eben erklärt, Madsack«, herrschte Frauke ihren Mitarbeiter an. »Und nun sehen Sie zu, dass hier die Routine abgespult wird.«
»Natürlich«, erwiderte Madsack.
Sie sah Georg zu, wie er ohne jede Hast, aber professionell Özdens Schussverletzung versorgte. Er kramte in seiner Arzttasche, holte eine steril verpackte Spritze hervor, suchte nach einer Ampulle und zog die Spritze auf. Dann schob er Özdens Ärmel hoch, desinfizierte mit einem Tupfer die Armbeuge und injizierte das Medikament.
»Was machst du da?«, fragte Frauke erstaunt.
Georg sah kurz auf. »Das Richtige«, antwortete er knapp.
»Bist du Arzt?«
»Hast du meine Frage beantwortet? Die mit der Reihenfolge der Schüsse?« Georg wurde durch Özden abgelenkt, der leise stöhnte. »Ganz ruhig«, sagte er. »Sie werden gleich richtig versorgt.«
»Das sieht aber nicht laienhaft aus, was du gemacht hast.« Sie zeigte auf die Arzttasche. »Und solche Sachen trage ich nicht im Erste-Hilfe-Kästchen mit mir herum. Außerdem ist er ein Berufsmörder.«
»Ich bin kein Richter«, erwiderte Georg. Seine Stimme klang unwirsch.
Frauke beugte sich zu Özden hinunter. »Wer hat Sie beauftragt?«
Ein giftiger Blick streifte sie. »Fuck you. Du bist das Opfer«, fluchte der Mann, um erneut aufzustöhnen.
»Die Leute im Hintergrund mögen keine Versager«, sagte Frauke. »Das wird mit dem Tode bestraft. Ein angespitzter Löffel ins Herz … das sind die Methoden im Gefängnis, mit denen die Bosse Nieten wie Sie umbringen lassen.«
»Schluss!« Das erste Mal erlebte Frauke Georg zornig. »Du treibst deine Spielchen hier nicht.«
»Spielchen?«, erwiderte Frauke scharf. »Das nennst du Spielchen? Der Typ«, dabei zeigte sie auf den am Boden liegenden Özden, »wollte uns beide ermorden.«
»Dich«, entgegnete Georg kühl. »Nur dich. Nicht mich.«
Frauke stemmte die Hände in die Hüften. »Interessant. Wie kommst du darauf? Woher nimmst du deine Gewissheit?«
»Logik, meine Liebe.«
»Ich bin nicht deine Liebe«, sagte Frauke zornig. »Und jetzt möchte ich wissen, wer du bist?«
»Ich bin Georg.« Er lachte sie an.
Sie streckte ihm fordernd die Hand entgegen. »Deine Papiere. Los!«
Er lächelte. Es wirkte überheblich. Dann zuckte er die Schultern und nickte in Richtung Özden. »Wie denn? Du siehst doch, dass ich beschäftigt bin. Das wäre unterlassene Hilfeleistung. Dann hätte ich meinen Erste-Hilfe-Kursus umsonst gemacht.«
Von Weitem näherten sich Signalhörner von Einsatzfahrzeugen. Kurz darauf hielt der erste Streifenwagen mit quietschenden Bremsen vor dem Grundstück. Ein stämmiger Polizist, unter dessen Mütze dichte graue Haare hervorquollen, kam mit gezückter Waffe auf Frauke zu. Der zweite Beamte schien sich in seinem Windschatten zu halten.
»Was ist hier passiert?«, fragte der Große und warf einen schnellen Blick in die Runde.
»Eine Schießerei«, antwortete Frauke. »Ich bin vom LKA.«
»Können Sie sich ausweisen?« Es klang nicht unfreundlich, aber bestimmt.
Frauke zog ihren Dienstausweis hervor. Der Beamte warf einen kurzen Blick auf das Dokument, nickte und sagte zu seinem Begleiter: »Eine Kollegin.« Dann sah er Georg an. »Und wer sind Sie?«
Georg nickte in Fraukes Richtung. »Auf die Hauptkommissarin ist geschossen worden.«
Sie wurden durch den Rettungswagen abgelenkt, der zeitgleich mit dem Notarzt eintraf.
Die Männer in den signalroten Jacken beugten sich zu Özden hinab. »Was hat er?«, fragte der Bärtige mit der Aufschrift »Notarzt« auf dem Rücken.
Georg gab eine kurze Erklärung ab und sagte, was er injiziert hatte.
»Wie kommen Sie dazu?«, fragte der Notarzt mit einem deutlichen Vorwurf in der Stimme.
»Haben Sie einen besseren Vorschlag?«, erwiderte Georg bissig.
Der Notarzt antwortete nicht, sondern erteilte den drei Rettungsassistenten Anweisungen.
»Ist noch jemand im Haus?«, fragte der erste Uniformierte.
»Nein«, sagte Frauke, aber der Beamte wollte sich selbst davon überzeugen. Mit seinem Kollegen trat er in die geräumige Diele, immer noch die Waffe in beiden Händen haltend. Mittlerweile war ein weiterer Streifenwagen eingetroffen, dessen Beamte die Schaulustigen fernhielten. Der Notarzt und die Rettungsassistenten bemühten sich immer noch um Özden, der in einer großen Blutlache auf der Zuwegung zum Haus lag.
»Wo ist der Herr, der die Erstversorgung vorgenommen hat?«, fragte Frauke den Notarzt, nachdem sie Georg nirgends entdecken konnte.
»Ich bin beschäftigt«, schnauzte sie der Mann an.
»Der ist da runter«, half ein Rettungsassistent aus und zeigte in Richtung Garage. »Ich glaube, er ist mit einem Motorrad weg.«
Frauke wandte sich ab. Sie unterdrückte einen Fluch. Für eine die Ermittlungen leitende Beamtin verbot sich so etwas.
»Was auch immer mit ihm geschieht«, sagte Frauke zu dem stämmigen Polizisten und zeigte auf Özden, »das ist ein gefährlicher Mörder. Lassen Sie sich nicht durch die Rotjacken irritieren. Passen Sie auf den Typen auf.«
»Was heißt hier ›Rotjacken‹?«, empörte sich der Notarzt. »Sind Sie hier eine Art weiblicher Wyatt Earp?«
»Schlimmer«, erwiderte Frauke. »Passen Sie lieber auf, dass wir den Killer heil vor ein Gericht stellen können. Er soll uns nicht entwischen. Weder so noch so.«
»Dass er nicht ins Jenseits entwischt … Das ist mein Job«, sagte der Arzt eine Spur versöhnlicher.
»Und dass er uns nicht auf Erden entfleucht, ist meiner.« Sie wartete die Antwort nicht ab. Es war ein nutzloses Geplänkel. Stattdessen ging sie ins Haus und sah sich um. Es war wie bei ihrem ersten Besuch. Alles war penibel aufgeräumt. Nirgendwo schien ein Staubkorn zu liegen. Auch das Gästeapartment, in dem sie übernachtet hatte, war hergerichtet.
Im Geschirrspüler war grob abgespültes Geschirr eingeräumt: ein Weinglas, ein Teller, Besteck, eine Espressotasse und das Frühstücksgeschirr. Es sah nicht so aus, als hätte Georg am Vorabend Besuch gehabt. Im Kühlschrank fand sie Lebensmittel, die zu einem gehobenen Junggesellenhaushalt passten. Auch die angebrochene Rotweinflasche, aus der Georg vermutlich am Vorabend getrunken hatte, stand in der Bibliothek, in die er sie bei ihrem ersten Besuch geführt hatte. Neu war für sie der private Bereich, in dem Georg geschlafen hatte. Das Schlafzimmer war großzügig. Ein breites Bett, das eher einer Spielwiese glich, jedoch nur mit einer übergroßen Bettdecke ausgestattet war, die akkurat ausgerichtet auf dem Bett lag. Das Kopfkissen war glatt gestrichen. Auf dem Nachttisch lagen mehrere Bücher. Frauke schmunzelte, als sie darunter einen Kriminalroman von P.D. James in der Originalsprache entdeckte.
Sie griff unter die Bettdecke und ertastete einen seidenen Schlafanzug. Vorsichtig hielt sie ihn unter die Nase und hatte für einen kurzen Moment die Illusion, als könne sie Georg erschnuppern.
Die Kleiderschränke hingegen waren eine Enttäuschung. Obwohl sie Platz für eine umfangreiche Wäscheausstattung geboten hätten, fand Frauke nur ein sauber gelegtes Hemd, einen Kaschmirpullover, Socken und eine Garnitur Unterwäsche. Es sah aus, als wäre Georg, sofern es sich um seine Kleidung handelte, nur zu Besuch hier gewesen.
Wieso hat jemand mehrere Bücher auf dem Nachttisch liegen, für deren Lektüre er auch als geübter Leser eine längere Zeit benötigt, aber nur für einen Tag Wäsche im Haus?, überlegte Frauke.
Im Badezimmer fand sie alle Utensilien, die ein Mann für die Körperpflege braucht. In einem aus Peddigrohr geknüpften Korb lagen zwei flauschige Handtücher. Sie wollte das Bad bereits wieder verlassen, als ihr auffiel, dass Georg keinen Rasierapparat besaß. Dafür fand sie alle Mittel, die für eine Nassrasur benötigt wurden.
Frauke suchte gezielt nach einer Tageszeitung oder einem Fernsehprogramm. Nichts. Ebenso wenig fand sich ein Schriftstück. Weder ein Brief, ein Foto noch sonst ein persönliches Dokument. Außergewöhnlich war auch, dass es weder einen Telefonanschluss noch einen Computer gab. Die Rätsel um Georg wurden immer größer.
»Hallo?«, rief eine männliche Stimme aus der Diele. Als sie dorthin zurückkehrte, traf sie auf die drei Beamten der Spurensicherung.
»Vor der Tür wurde auf mich geschossen«, erklärte sie dem Leiter des Teams. »Wir müssen die Geschosse und die Spuren sichern, sehen, wie der Täter hierhergekommen ist, wie –«
»Danke. Sie müssen uns nicht unsere Arbeit erklären«, unterbrach sie der Beamte. »Sonst noch was?«
»Ja.« Sie zeigte mit dem Daumen über die Schulter ins Haus. »Ich möchte, dass Sie dort Spuren aufnehmen. Fingerabdrücke und DNA.«
Der Spurensicherer seufzte. »Geht es ein wenig präziser? Das ist sonst eine Jahresarbeit.«
Sie maß den Mann vom Scheitel bis zur Sohle. »Ich denke, Sie wissen, wie Sie Ihre Arbeit zu erledigen haben«, sagte sie in spitzem Ton und ließ den Polizisten stehen. Was hätte sie ihm sagen können? Sie wusste es selbst nicht. Und den Auftrag »Such nach Spuren von Georg« hätte niemand verstanden.
Kurz darauf trafen Madsack und Putensenf ein, zwei Mitarbeiter aus Fraukes Team. Der schwergewichtige Hauptkommissar schnaufte, als hätte ihn der kurze Weg vom Fahrzeug zum Einsatzort überanstrengt, während Kriminalhauptmeister Jakob Putensenf einen kurzen Blick auf Necmi Özden warf, der vom Arzt und von den Rettungsassistenten so weit stabilisiert worden war, dass er in den Rettungswagen geladen wurde.
»Ist das Rossis Mörder?«, fragte Putensenf und musterte Frauke, als könne er aus ihrem Äußeren den Ablauf der Geschehnisse herauslesen.
»Vermutlich«, sagte Frauke.
Putensenf sah Madsack an. »Ist eine heiße Mutti, unsere Vorturnerin. Wo die auftritt, da knallt es. Ich habe immer gesagt, wenn Frauen sich mit Bohnen beschäftigen, dann sollen es weiße oder grüne sein, aber keine blauen.«
»Sind Sie hier als Dummschwätzer oder als Polizeibeamter engagiert?«, fuhr Frauke Putensenf an.
Der schob demonstrativ seine Hände in die Hosentaschen und baute sich vor Frauke auf. »Schön. Dann erzählen Sie mal, was sich hier abgespielt hat.«
Das war der Augenblick, dem Frauke mit Unbehagen entgegengesehen hatte. »Özden muss mich verfolgt haben«, erklärte sie.
»Und Sie haben das nicht bemerkt?«, unterbrach sie Putensenf und schüttelte missbilligend den Kopf.
»Warum sollte ich?«
Putensenf grinste. »Männer drehen sich öfter um, insbesondere wenn ihnen eine attraktive Frau begegnet. Frauen scheinen in der Fahrschule hingegen gelernt zu haben, dass der Rückspiegel ausschließlich zur Kontrolle von Lippenstift und Make-up dient.«
»Sie scheinen auf der Evolutionsstufe von Adam stehen geblieben zu sein, Putensenf«, erwiderte Frauke. »Sie haben offenbar bis heute nicht begriffen, dass Frauen mehr als eine Rippe sind. Oder ist Ihnen entgangen, dass Gott noch übte, als sie den Mann erschuf.«
Nachdem Putensenf keine Reaktion zeigte, ergänzte Frauke: »Das ist einer zum Nachdenken. Lassen Sie die Zahnräder, die Sie in Ihrem mechanisch betriebenen Hirn haben, aber nicht zu sehr rotieren.«
Das hatte gesessen. Putensenf stieg die Zornesröte ins Gesicht. Seine Miene spiegelte deutlich wider, dass er beleidigt war. Frauke störte es nicht. Wer sich so oft wie Putensenf im Ton vergriff, musste auch einstecken können.
»Darf ich fragen, was Sie hierhergeführt hat?«, versuchte Madsack die Situation zu überspielen.
»Ein vager Verdacht«, wiegelte Frauke ab.
»Das ist mir zu wenig«, legte Putensenf den Finger in die Wunde und zeigte auf das Haus. »Wer wohnt hier? Sie sind nicht zufällig hier aufgekreuzt. War die Tür offen, als Özden den Anschlag auf Sie verübte? Wieso verfolgte er Sie bis an diesen Ort?« Putensenf sah sich um. »Ich habe nur Özden gesehen. Gibt es ein weiteres Opfer? Wer war noch an dem Schusswechsel beteiligt?«
»Es gibt kein weiteres Opfer. Özden hat auf mich geschossen, und ich habe zur Selbstverteidigung zurückgeschossen.«
Putensenf spitzte die Lippen. »Das ist wie in einem guten Western. Der Böse zieht als Erster seinen Colt, und der Sheriff schießt zurück. Mit einer Kugel – Blattschuss. Gratulation.«
»Es waren zwei Schüsse, die ich abgegeben habe. Zuvor einen Warnschuss«, antwortete Frauke.
Putensenf zog die Stirn kraus. Trotz seiner gewöhnungsbedürftigen Umgangsformen war er ein guter Polizist. »Das wird in die Annalen als Wunder von Isernhagen eingehen. Das müssen Sie mir noch einmal genauer erklären. Den Trick würde ich auch gern beherrschen.«
Madsack blickte zum Haus hinüber. »Wen haben Sie hier aufgesucht?«, fragte er fast beiläufig.
»Einen Informanten.«
»Und wie heißt der?«, hakte Putensenf nach.
»Das ist noch vertraulich«, sagte Frauke.
»So geht das nicht«, schimpfte Putensenf. »Dann fragen wir ihn doch nach seinem Namen.« Er sah sich um. »Wo ist der Herr?«
»Weg.«
»Was heißt ›weg‹?«, empörte sich Putensenf. »Sie haben ihn gehen lassen?«
»Nein. Während ich den Rettungseinsatz koordiniert habe und Sie informierte, hat er sich abgesetzt.«
»Soso. Der große Unbekannte. Wie sind Sie an den geraten?«
»Das war anonym.«
»Und dann halten Sie es nicht für notwendig, uns davon in Kenntnis zu setzen?«
»Ich treffe meine Entscheidungen allein«, sagte Frauke mit Bestimmtheit.
»Wem gehört das Haus?«, mischte sich Madsack ein.
»Das ist eine interessante Frage«, erwiderte Frauke. »Können Sie das herausbekommen?«
Der Hauptkommissar nickte, griff in die Tasche seines Sakkos und förderte eine Rolle mit Schweizer Schokolade zutage. Er hielt sie zuerst Frauke, dann Putensenf hin, bevor er sich selbst mehrere Stücke in den Mund schob.
»Organisieren Sie die Befragung der Nachbarn«, wies Frauke Putensenf an. »Hat jemand den Täter gesehen, als er eintraf? War er allein? Wie ist er hierhergekommen? Vermutlich mit einem Motorrad. Haben die Nachbarn beobachtet, wer in diesem Haus ein und aus ging?«
»Das ist ein Job für einen Doofen«, knurrte Putensenf missmutig.
»Dann habe ich den Richtigen ausgewählt«, beendete Frauke den Disput. Sie atmete tief durch, nachdem sie die erste Runde überstanden hatte. Damit war das Thema aber noch nicht erledigt. Dessen war sie sich sicher.
Frauke suchte die Spurensicherer und begann, akribisch in den Räumen, die die Kriminaltechniker untersucht hatten, in den Schränken und Schubladen nach einem Hinweis zu forschen, der ihr Aufschluss über Georgs Identität gegeben hätte. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie sich so unprofessionell verhalten hatte. Warum hatte Georg seine Identität zu verschleiern versucht? Und warum hatte sie das zugelassen? Es war ein schwacher Moment gewesen, und auch wenn sie es sich selbst nicht eingestehen wollte, hatte sie den Hauch eines romantischen Gefühls verspürt. Das durfte ihr nicht passieren, schalt sie sich.
Nirgendwo im Haus fand sich ein Hinweis auf seine Identität, nicht einmal eine Stromrechnung.
Nach einer halben Stunde kehrte Putensenf zurück. Er zeigte ein breites Grinsen.
»Ein vornehm aussehender Mann war öfter in diesem Haus. Er hat bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er jemandem begegnet ist, freundlich gegrüßt. Man glaubt sich erinnern zu können, dass der Besucher schon seit drei oder vier Jahren sporadisch hier aufgetaucht und immer für eine Weile geblieben ist. Ein fester Rhythmus war aber nicht zu erkennen, das heißt, er ist nicht nur im Sommer hier gewesen und hat den Winter in der Karibik zugebracht. Ein Nachbar konnte sich aber erinnern, dass vor Kurzem eine Frau mit dem Mann hergekommen ist. Als Sozia auf einem Motorrad.« Putensenf kratzte sich den Hinterkopf. »Der Nachbar glaubt, die Frau heute wiedererkannt zu haben. Das Beste wäre, Sie sprechen einmal persönlich mit dem Zeugen.«
»Das ist nicht erforderlich. Ich denke, Sie können solche Aufgaben allein erledigen.«
»Sollen wir ein Phantombild von der Frau anfertigen lassen?«, fragte Putensenf mit lauerndem Unterton.
»Wenn Sie es für richtig halten.«
Eine Spur Enttäuschung zeigte sich auf Putensenfs Antlitz. »Wollen Sie bei dieser Aktion nicht Modell sitzen?«
»Putensenf! Ich ermahne Sie, Ihre Arbeit nicht mit Kaspereien zu begleiten«, wies Frauke ihn zurecht. Es war eine Flucht nach vorn gewesen, da der Kriminalhauptmeister darauf anspielte, dass man Frauke wiedererkannt hatte. Ihr Vorwärtspreschen verunsicherte Putensenf. Mit einer solchen Reaktion hatte er nicht gerechnet.
»Ist schon in Ordnung«, murmelte er und wandte sich ab.
Madsack hatte keinen Zeugen gefunden, der eine ergänzende Aussage hätte liefern können.
Frauke fuhr von Isernhagen über die Kugelfangtrift Richtung Westen. Nomen est omen, dachte sie, da unweit dieser Straße Giancarlo Rossi von Necmi Özden ermordet worden war, jenem Killer, der auch auf sie angesetzt war. Sie durchquerte das äußerlich unaufgeräumt wirkende Industriegebiet beiderseits der Vahrenwalder Straße, das auf dem Areal des alten Flughafens errichtet worden war. Wenig später hatte sie die Justizvollzugsanstalt in der Schulenburger Landstraße erreicht.
Es dauerte eine Weile, bis man Bernd Richter in den Verhörraum gebracht hatte. Mit einer gewissen Genugtuung stellte Frauke fest, dass dem ehemaligen Hauptkommissar die Untersuchungshaft zusetzte. Richter sah bleich aus. Die Augen lagen tief in den Höhlen.
»Gefällt Ihnen die Unterkunft? Es wird für Essen und Trinken gesorgt, der Zimmerservice ist hervorragend, Sie bekommen keine Stromrechnung. Und das Tolle daran ist, dieser Zustand bleibt Ihnen noch viele Jahre erhalten. Hat man schon Vorsorge getroffen, damit Sie hinter Gittern nicht zu einsam sind? Wie wäre es, wenn man jemanden auf Ihre Zelle legt, der dieses Quartier Ihnen verdankt, weil Sie ihn ins Gefängnis gebracht haben? Damals – als Sie noch ein ehrlicher Polizist und kein Mörder waren.«
Richter funkelte sie böse an. »Bei mir verfangen solche Sprüche nicht. Sie können mir keine Angst einjagen.«
»Man mag im geschlossenen Sozialsystem Haftanstalt keine ehemaligen Polizisten. Und schon gar keine Polizistenmörder. Weder das Aufsichtspersonal noch die Insassen können sich für solche Mitbewohner begeistern.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie lange wollen Sie sich dem Druck noch widersetzen? Es wäre vorteilhafter, Sie würden mit uns kooperieren. Ich muss Ihnen nicht erklären, dass sich eine solche Haltung immer positiv vor Gericht auswirkt.«
»Sie können mir nichts beweisen. Mein einziges Vergehen ist Ihr Ehrgeiz. Sie wollten meinen Job und haben sich diesen perfiden Plan ausgedacht.«
Frauke lächelte amüsiert. »So schräg kann niemand denken. Man verdächtigt einen Polizeibeamten, um an seine Dienststellung zu gelangen. Richter! Sie waren als Beamter offenbar nicht ausgelastet und haben zu viel freie Zeit mit dem Gucken schlechter amerikanischer Krimis zugebracht. Ich glaube, Ihr Anwalt hat Ihnen diesen Rat nicht erteilt.«
»Ich habe keinen Anwalt. Ich wüsste nicht, wofür.«
»Hat Ihnen Dottore Carretta noch nicht Ihre Vertretung angetragen? Der verteidigt doch alle Straftäter, die wir im Zusammenhang mit der Organisation verhaften.«
»Mutmaßliche Straftäter«, belehrte sie Richter.
»Wenn Sie Wert auf diese Kleinigkeit legen … bitte schön. Carretta soll nicht schlecht sein. Ein durchtriebener Fuchs, der sich offenbar auch im Milieu auskennt. Zumindest scheint er über die nötigen Verbindungen zu verfügen. Wenn Sie ihn beauftragen würden, könnten Sie auch auf legalem Weg Kontakt zur Außenwelt pflegen und sich mit den Bossen der Organisation austauschen. So ist es ein wenig schwierig. Man trifft nicht oft auf bestechliche Vollzugsbeamte, die Nachrichten oder Kassiber ins Gefängnis oder hinausschmuggeln. Sicher weiß ich, dass die Mauern nicht undurchlässig sind. Es gibt fast nichts, was nicht in den Knast gelangt.« Frauke streckte die Hand aus und zeigte auf Richter. »Es wird Ihren Nachbarn auf demselben Zellengang nicht behagen, wenn wir in der nächsten Zeit öfter die Zellen durchsuchen werden. Das bringt Unruhe. Man wird Sie dafür verantwortlich machen.«
»Ich werde nicht lange hierbleiben«, sagte Richter. Dabei klang seine Stimme nicht sehr überzeugend.
»Soso. An Ihre Unschuld glauben wir beide nicht.«
»Denken Sie an meine Worte.«
»Glauben Sie wirklich, dass Ihre Freunde Sie hier herausholen werden?«
Richter antwortete mit einem verächtlichen Blick. Frauke beugte sich über den Tisch.
»Haben Sie daran gedacht, dass man Sie womöglich richtig lieb haben wird im Gefängnis?«
Richter zog die Augenbraue hoch, weil er Fraukes Ausführungen offenbar nicht folgen konnte.
»Ich meine … richtige Liebe. So unter Männern. Wenn man lange genug hinter schwedischen Gardinen sitzt, steigt der Hormonspiegel. Irgendwann wird unter der Dusche auch ein ehemaliger Hauptkommissar ein begehrenswertes Objekt.«
»Sie sind ein durchtriebenes Schwein«, schimpfte Richter.
Frauke sah ihrem Gegenüber an, dass es ihr gelungen war, seine Angst zu schüren. Das hatte sie bezweckt. Sie hatte nicht erwartet, dass Richter den Mord an Lars von Wedell gestehen würde. Noch schwieriger würde es sein, Auskünfte über Kontaktpersonen oder Hintermänner zu erlangen.
Richter musste ihre Absicht erkannt haben.
»Das war dumm von Ihnen«, sagte er plötzlich. »Solche Äußerungen sind unzulässiger Psychoterror. Das hat Folgen für Sie.«
»So? Was habe ich denn gesagt?« Frauke lehnte sich entspannt zurück und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper, sodass ihre Brüste auf den Unterarmen zum Liegen kamen. Dann hob sie ein wenig die Arme an. Frauke besaß genug Selbstbewusstsein, um die Wirkung ihrer weiblichen Reize richtig einzuschätzen. Richters Blick blieb an ihrer Oberweite haften. Unwillkürlich fuhr sich der ehemalige Polizist mit der Zungenspitze über die Lippen. Es war nur ein kleiner Augenblick gewesen. Dann legte sie ihre Unterarme wieder auf die Tischkante.
»Sie wollten mir eine Drohung zukommen lassen«, erinnerte sie ihn an seine letzten Ausführungen.
»Sie haben mir gedroht«, sagte Richter, und es klang eine Spur selbstzufrieden.
»Ich? Wann?«
»Eben.«
»Inwiefern?«
»Das ist alles protokolliert.«
»Wo?«
Richter zeigte auf das Mikrofon des Aufnahmegeräts, das zwischen ihnen auf dem Tisch stand. »Da.«
Frauke lächelte. »Oh, Verzeihung.« Wie suchend fuhr ihre schlanke Hand über das Gerät. »Erinnern Sie sich noch an Jakob Putensenf? Der ist der festen Überzeugung, Frauen würden nicht in den Polizeidienst, sondern in die Küche gehören. Ich glaube, Putensenf hat recht. Frauen verstehen nichts von Technik. Da habe ich doch glatt vergessen, das Gerät einzuschalten.«
Richter rieb sich mit der Hand über die Augen. »Sie verfluchtes Miststück«, fuhr er sie an. »Wenn Sie zur Hölle fahren, werde ich dabei sein.«
»Sie meinen, ich soll Sie begleiten, wenn Sie Ihre letzte Reise antreten?« Als würde sie mit einem unartigen Kind reden, schüttelte Frauke den Kopf. »Richter! Was haben Sie für krause Gedanken. Sie hier im Knast und ich … Wissen Sie noch, wie gut ein roter Wein zu einem vorzüglichen Essen schmeckt? Wie die Sonne lacht? Wie herrlich es rund um den Kröpcke duftet? Wie es sich anhört, wenn eine Frau im Seidennegligé ins Schlafzimmer kommt?«
»Sie sind der Teufel in Menschengestalt.« Es klang wie das Zischen einer Schlange. »Sie werden dafür zahlen müssen. Irgendwann.«
Frauke lehnte sich entspannt zurück. »Täuschen Sie sich nicht, Richter. Ich habe genug Wechselgeld dabei. Ich kann herausgeben. Sie und Ihre Mordgesellen werden sich die Zähne ausbeißen. Wir sind hier nicht in Italien, wo Recht und Gesetz manchmal zu kapitulieren scheinen. Und deutsche Polizeibeamte ähneln dem Spargel. Wenn es Ihnen wirklich gelingt, einen Kopf abzuschlagen, wachsen ständig neue nach. So einfach ist das.« Frauke war aufgestanden. »Übrigens … das sollten Sie Ihrem Anwalt erzählen –«
»Verdammt, ich habe keinen Anwalt!«, rief Richter dazwischen.
»Dottore Carretta wird die Haltung der Polizei sicher interessieren.« Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern verließ den Raum. Ihr Ziel, Richter zu provozieren, hatte sie erreicht. Frauke hatte weder Zweifel an seiner Täterschaft noch an seinen Kontakten zur Organisation. Sie wussten noch nicht, welche Stellung Richter dort einnahm. Mit Sicherheit, so vermutete Frauke, war er mehr als ein unbedeutender Handlanger. Dass Richter selbst zum Mörder geworden war, war ein Betriebsunfall, der der Organisation schweren Schaden zugefügt hatte. Als Leiter der Ermittlungsgruppe gegen die Organisation saß Richter in der entscheidenden Position. Noch war es nicht gelungen, herauszufinden, ob die Entscheidung, Lars von Wedell zu ermorden, eine Kurzschlusshandlung Richters war oder ob die Organisation auch das Risiko der Entdeckung ihres wichtigsten Mannes bei den Strafverfolgungsbehörden in Kauf nahm. In diesem Fall musste die Polizei der Organisation empfindlich nahe gekommen sein.
Wie gut, dass die Organisation nicht wusste, dass Frauke in dieser Hinsicht noch im Dunkeln tappte. Sie vermied es auch, mit den Mitgliedern des Teams darüber zu sprechen. Es gab zwar keinen direkten Verdacht, der gegen einen ihrer Mitarbeiter gerichtet war, aber auch unbedachte Äußerungen könnten gefährlich sein. Man hatte erkannt, dass Frauke ein gefährlicher Gegner war. Mit Sicherheit würde man nichts unversucht lassen, um sie zu eliminieren.
Frauke fuhr zum Landeskriminalamt zurück. Heute, am Sonnabend, wirkte die Behörde wie ausgestorben.
Sie verbrachte die folgenden Stunden damit, etwas über Georg herauszufinden. Doch es gab zu wenig Anhaltspunkte, an die sie hätte anknüpfen können. Zwischendurch rief sie im Klinikum Nordstadt an. Das Krankenhaus war ein akademisches Lehrkrankenhaus der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie fragte nach dem Zustand Özdens, aber man verweigerte ihr die Auskunft.
Ergebnisse der Spurensicherung waren am Wochenende auch nicht zu erwarten, zumal sich die Beamten, die in Isernhagen gewesen waren, sehr zugeknöpft gezeigt hatten, da Frauke ihnen keine klaren Anweisungen erteilen konnte, wonach sie suchen sollten. Sie war froh, dass sich Putensenf nicht mehr meldete. Lediglich Nathan Madsack rief noch einmal an und fragte nach dem Stand der Dinge. Er selbst hatte keine Neuigkeiten.
Resigniert verließ Frauke am Nachmittag ihr Büro. Es war ein wunderbarer Spätsommertag. Mit Sicherheit war die City ebenso voll wie die Wege rund um den Maschsee, die Eilenriede oder die Herrenhäuser Gärten. Sie verspürte aber kein Verlangen, den Rest des Wochenendes in ihrer Wohnung zu verbringen. So raffte sie ein paar Sachen zusammen und fuhr nach Celle, um dort von einem kleinen Hotel aus die alte Residenzstadt zu erkunden. Sie hatte beschlossen, am Montag direkt aus Celle an ihren Schreibtisch zurückzukehren.
ZWEI
Als Frauke im Landeskriminalamt eintraf, waren die Mitarbeiter ihres Teams schon anwesend. Madsack begrüßte sie mit einem distanzierten, aber immerhin freundlichen »Guten Morgen«, Thomas Schwarczer verhielt sich neutral, und Jakob Putensenf schenkte ihr einen mehr geknurrten als gesprochenen Morgengruß.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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