Mordlicht - Hannes Nygaard - E-Book

Mordlicht E-Book

Hannes Nygaard

4,5

Beschreibung

Manchmal ist es ganz schön vertrackt. Da taucht bei Pastor Hansen ein Fremder auf und behauptet, ein Mörder zu sein. Doch es gibt keine Leiche. Kurz darauf geschieht ein Mord, aber vom Täter keine Spur. "Zur Leiche fehlt uns der Mörder, zum Mörder fehlt uns die Leiche", stellt Hauptkommissar Christoph Johannes von der Husumer Kripo fest. Stehen die beiden Taten in einem Zusammenhang? Gemeinsam mit seinen Kollegen, dem Schnüffelschwein Große Jäger und dem Frauenschwarm Mommsen, steht er vor einem Fall, der nicht nur immer rätselhafter, sondern auch immer gefährlicher wird. Während sich vor den Beamten Abgründe menschlicher Verzweiflung auftun, werden sie selbst observiert und verfolgt. Ein neuer Fall für das Husumer Team, dessen Ermittlungen mit Herz und Verstand die Sympathie der Leser erobert haben.

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Rainer Dissars-Nygaard, Jahrgang 1949, studierte Betriebswirtschaft und war als Unternehmensberater tätig. Er lebt als freier Autor auf der Insel Nordstrand. Im Emons Verlag erschienen unter dem Pseudonym Hannes Nygaard die Hinterm Deich Krimis »Tod in der Marsch«, »Vom Himmel hoch«, »Mordlicht«, »Tod an der Förde«, »Todeshaus am Deich«, »Küstenfilz«, »Todesküste«, »Tod am Kanal«, »Der Inselkönig«, »Der Tote vom Kliff«, »Sturmtief« sowie die Niedersachsen Krimis »Mord an der Leine« und »Niedersachsen Mafia«. In der Emons-TATORT-Reihe erschienen »Erntedank« und »Borowski und die einsamen Herzen«.

www.hannes-nygaard.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2006 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-042-1 Hinterm Deich Krimi 3 Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur EDITIO DIALOG,

Für Bedstemor

EINS

Das Rotklinkerhaus am Rande der Stadt machte einen gemütlichen Eindruck. Es mochte zu Beginn des letzten Jahrhunderts gebaut worden sein und hatte sich den Charme dieser Zeit bewahrt, auch wenn es durch diese oder jene bauliche Veränderung den heutigen Anforderungen angepasst worden war.

Der Vorgarten war mit Liebe angelegt, ohne den Eindruck zu vermitteln, dass jedes Grün akkurat mit der Wasserwaage ausgerichtet und der Rasen mit der Nagelschere gepflegt würde. Der rustikale Charakter der Grünfläche harmonierte hervorragend mit dem Gebäude, in dessen Mauerwerk das raue Klima Nordfrieslands in den letzten hundert Jahren seine Spuren gezeichnet hatte.

Der hoch gewachsene, schlanke Mann beugte sich über die Beetrosen, um welke Blüten zu schneiden. Der gesunde braune Teint ließ vermuten, dass er sich oft im Freien bewegte. Ein grauer Haarkranz umrankte seine durch die Sonne verwöhnte Glatze und mündete in einen mit einer Schleife gehaltenen Zopf.

Die etwas zu große Nase wurde durch eine Goldrandbrille verziert. Ein gepflegter Dreitagebart im wettergegerbten Gesicht unterstrich den Eindruck, dass ein zufriedener Pensionär Haus und Hof bestellte.

»Sind Sie Pastor Hansen?«, sprach ihn der Fremde an, der an den schmiedeeisernen Gartenzaun getreten war.

Frode Hansen sah auf und blinzelte gegen die Sonne.

»Hansen! Einfach nur Hansen«, entgegnete er. »Ich bin seit vier Jahren im Ruhestand.«

Er lächelte den Besucher freundlich an und zeigte dabei eine Reihe weißer Zähne, die so ebenmäßig waren, dass sie auf den ersten Blick das Etikett »die Dritten« verdienten.

»Was kann ich für Sie tun?«

Der Fremde warf einen kurzen Blick über die ruhige Straße am Ortsausgang Bredstedts, als wolle er sich vergewissern, ob er beobachtet würde.

»Kann ich mal ‘n Moment mit Ihnen reden?«

Hansen betrachtete ihn. Sein Gegenüber mochte um die fünfzig sein. Der runde Kopf mit dem schütter werdenden Haar saß auf einem zu kurzen Hals. Der Mann neigte zu Übergewicht, ohne korpulent zu sein. Unruhig bewegte er seine Hände, während um seine Augenwinkel ein nervöses Zucken spielte.

»Gern«, erwiderte Hansen.

Erneut blickte sich der Fremde um, bevor er fragte: »Kann ich unter vier Augen mit Ihnen sprechen?«

»Wir sind hier ungestört. Niemand hört uns.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Es ist etwas Wichtiges. Sehr Bedeutsames. Ich … ich möchte beichten.«

Pastor Hansen wirkte jetzt etwas irritiert. Er ließ die Hand mit der Rosenschere herabsinken.

»Kommen Sie herein«, forderte er den Besucher auf und zeigte auf die Gartenpforte. Doch der Mann auf der anderen Seite des Zauns schüttelte erneut den Kopf.

»Kann ich das nicht in der Kirche machen? Im Beichtstuhl?«

Hansen machte einen Schritt vorwärts. Im selben Moment wich der Unbekannte zurück.

»Das ist nicht so einfach«, versuchte der Pastor zu erklären. »Ich bin … war … evangelischer Geistlicher. Bei uns Protestanten gibt es keinen Beichtstuhl. Das ist eine Institution der katholischen Kirche. Wenn Sie lieber mit meinem katholischen Amtsbruder sprechen möchten – ich kann Ihnen die Adresse geben und auch den Kontakt vermitteln.«

Unruhig sah sich der Fremde auf der Straße um und murmelte halblaut vor sich hin: »Ach so, das habe ich nicht gewusst. Dann kann ich also gar nicht bei Ihnen beichten?«

Hansen machte noch zwei Schritte auf den Mann zu, erreichte die schmiedeeiserne Pforte und öffnete sie. Einladend zeigte er mit der anderen Hand in Richtung Haus und bemerkte erst nach einem ängstlichen Blick des anderen, dass er immer noch die Rosenschere in der Hand hielt.

»Kommen Sie erst einmal von der Straße. Im Haus lässt es sich leichter reden«, lud er den Fremden ein.

Der Mann folgte Hansen zögernd, als der auf die Haustür zuging. Der Pastor führte seinen Besucher in das Arbeitszimmer, das mit seinen voll gestopften Regalwänden eher einer Bibliothek glich. Er zeigte auf einen lederbezogenen Stuhl und nahm selbst hinter dem Schreibtisch Platz. Erst jetzt wurde er sich bewusst, dass er mit seiner Freizeitkleidung und den schmutzigen Gartenhänden keinen würdigen Eindruck vermittelte.

»Ich bin seit vier Jahren nicht mehr im Dienst«, erklärte er noch einmal, »das soll mich aber nicht daran hindern, Ihnen Gehör zu schenken.«

Der Unbekannte rutschte unruhig auf der Stuhlkante hin und her und besah sich seine Hände, mit denen er nervös spielte. Ohne Hansen anzusehen, begann er leise zu sprechen: »Das ist nett von Ihnen. Ich habe ein großes Problem.«

Hansen ließ ihm Zeit. Der Mann sah kurz auf, wich aber dem Blick des Pastors sofort wieder aus.

»Ich … ich weiß nicht so recht, wie ich beginnen soll«, stammelte er.

»Sind Sie in einer Notsituation?«, versuchte ihm Hansen eine Brücke zu bauen.

Der andere nickte. »Ja! Das kann man sagen.« Dann schwieg er.

»Haben Sie Kummer? Eine Erkrankung?«

Kopfschütteln.

»Wollen wir ein Gebet sprechen? Oder soll ich Ihnen den Segen erteilen?«

Der Fremde fuhr mit einem Ruck in die Höhe und nahm eine abwehrende Haltung ein. »Bloß das nicht. Dafür bin ich nicht der Richtige. Das hilft mir nicht weiter.«

»Wo liegt dann Ihr Problem? Eine Notlage? Wirtschaftlich?«

»Nein! Das heißt – ja. Eine beschissene – oh, Verzeihung –, eine richtig dumme Situation. Aber nicht finanziell. Jedenfalls nicht jetzt.«

»Eheprobleme? Ist etwas mit den Angehörigen?«, bohrte Hansen vorsichtig, nachdem sein Gegenüber wieder ins Schweigen verfallen war.

»Nein«, wehrte der Fremde ab, »ich bin nicht verheiratet. Nicht mehr. Seit langem geschieden. Und zu den erwachsenen Kindern habe ich kaum Kontakt. Das ist es nicht. Ich habe ein viel größeres Problem.«

»Da Sie mich aufgesucht haben, nehme ich an, Sie möchten es mir erzählen – Ihr Problem. Ich kann Ihnen versichern, dass alles, was Sie mir anvertrauen, genauso der Schweigepflicht unterliegt, als würden Sie es einem katholischen Priester im Beichtstuhl offenbaren.«

Geistesabwesend nickte der Mann. »Ja, ja«, sagte er. Dann straffte sich sein Oberkörper, als wäre ein innerer Ruck durch ihn gefahren. »Ich weiß nicht so recht, wie ich anfangen soll.« Er ließ seinen Blick an Hansen vorbei zur Bücherwand gleiten. Seine Augen wanderten über die Buchrücken, als suche er etwas.

»Wir sind hier unter uns«, ermunterte ihn der Pastor. »Sprechen Sie frei von der Leber weg.«

Der Mann sah auf seine Hände, die sich intensiv miteinander beschäftigten. Dann blickte er auf. Seine Augen suchten den direkten Kontakt zu Hansen, musterten die Brillengläser des Pastors und fixierten dann dessen Pupillen, als wollte er den Geistlichen hypnotisieren.

Es fiel Hansen schwer, diesem langen, intensiven Blick standzuhalten. Er zwang sich dazu, versuchte krampfhaft den Lidschlag zu vermeiden. Es war ein Messen der Willenskräfte zwischen den beiden Männern. Die Zeit erschien dem Pastor ewig.

Plötzlich entspannten sich die verkrampften Gesichtszüge des Fremden. Er holte tief Luft und sagte dann unvermittelt mit kaum wahrnehmbarer Stimme: »Ich hab einen umgebracht!«

Dann sackte er im Stuhl in sich zusammen, so, als hätte jemand ein Ventil geöffnet und das, was diesem Menschen Stabilität verliehen hatte, wäre urplötzlich entwichen.

Hansen schwieg. Es war eher die Sprachlosigkeit über das Geständnis des Unbekannten als wohlüberlegte Absicht. Er brauchte eine Weile, bis er sich gefasst hatte.

»Ist das Ihr Ernst?«, fragte er, ärgerte sich aber im selben Moment über diese der Situation nicht angemessene Frage. Etwas Besseres war ihm nicht eingefallen.

Nahezu empört sah ihn sein Gegenüber an. »Glaub’n Sie, ich scherz mit solchen Sachen?«

»Nein«, versuchte ihn der Pastor zu beschwichtigen. »Verstehen Sie mich bitte richtig, aber … das kam überraschend. Auch als Geistlicher wird man nicht jeden Tag mit einer solchen Situation konfrontiert.«

Der Unbekannte lachte gekünstelt auf. »Glauben Sie, ich bring regelmäßig jemanden um?« Er wischte sich mit dem Ärmel über die schweißnasse Stirn. »Für mich war es auch das erste Mal.«

Dann trat eine Pause ein.

Hansen wollte ihn nicht unterbrechen. Er spürte, dass sein Besucher das Geständnis fortsetzen würde.

»Es … es war grauenvoll«, stieß der Mann hervor. Ein leichtes Beben durchfuhr ihn bei der Erinnerung an das Erlebte. Er fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel. »Ich hab so was noch nie gemacht, bin sonst kein gewalttätiger Mensch. Aber … irgendwie … ich weiß gar nicht, wie das geschehen konnte. Keine Ahnung«, schob er nach und zuckte hilflos mit den Schultern.

»Kann ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte Hansen. »Einen Kaffee? Tee? Ein Glas Wasser?«

Der Fremde schüttelte geistesabwesend den Kopf. »Nee, danke!«, gab er zurück. Dann spielte er wieder mit seinen Fingern.

Es entstand eine lange Pause. Zu lange. Hansen schien es, als wäre der mühsam geknüpfte Vertrauensfaden zwischen ihnen gerissen.

»Wer war der Mensch, den Sie getötet haben?«, versuchte der Pastor nach einer Weile vorsichtig das Gespräch wieder aufzunehmen.

»Das will ich Ihnen erklären«, setzte der Besucher an und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, als würde er sich in einer entspannteren Sitzhaltung besser an das Erlebte erinnern können. »Ich muss dazu ein wenig ausholen, damit Sie alles verstehen.«

»Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen. Ich habe Zeit«, ermunterte ihn Hansen.

Der Mann holte erneut tief Luft und begann mit stockenden Worten seine Erklärung.

»Wie ich schon sagte, bin ich seit langem geschieden. Zu meinen erwachsenen Kindern habe ich nur wenig Kontakt. Ich führe ein relativ zurückgezogenes Leben, ohne Eremit zu sein. Ich werde Ihnen gleich mehr über meinen Alltag berichten, wo und wie ich wohne. Doch zunächst muss ich etwas über meinen Beruf erzählen. Die Zeiten haben sich gewandelt. Nichts ist mehr so, wie es einst war. Vielen Menschen bläst der Wind heute direkt ins Gesicht. Davon bin auch ich betroffen, weil … aber, vielleicht sollte ich der Reihe nach erzählen.« Er sah Hansen an. »Macht es Ihnen viel aus, wenn ich jetzt doch um ein Glas Wasser bitten würde?«

»Selbstverständlich nicht«, erwiderte der Pastor, stand auf und wandte sich zur Tür. »Wenn Sie mich einen Moment entschuldigen? Ich hole es schnell aus der Küche.« Damit verließ er das Arbeitszimmer, ließ die Tür zum Flur aber offen.

In diesem Augenblick drang das Geräusch eines sich in der Haustür drehenden Schlüssels durch die Stille des Hauses. Die Tür schwang auf, schlug mit einem dröhnenden Laut gegen die Wand und pendelte leicht zurück. Schlurfende Schritte mischten sich mit dem Klirren von Gläsern, die gegeneinander stießen, und eine Frauenstimme hallte durch den Flur.

»Hallo, Liebling, bist du im Haus? Ich bin zurück. Mit vollen Taschen. Vom Einkaufen. Kannst du mir mal behilflich sein?«

Erschrocken sah der Besucher über die Schulter und gewahrte durch die offene Tür eine blonde Frau mit einer etwas zur Rundlichkeit neigenden Figur, die im selben Moment den Besucher sah und freundlich in das Zimmer hineinrief: »Oh! Hallo! Moin! Ich hatte nicht gesehen, dass wir Besuch haben.«

Sie stellte ihre Einkauftaschen im Hausflur ab und wollte mit ausgestreckter Hand den Gast begrüßen. Der sprang urplötzlich von seinem Stuhl hoch, stieß das Sitzmöbel nach hinten und zwängte sich hastig, ohne ein Wort zu verlieren, an Rubina Hansen vorbei in Richtung der immer noch offenen Haustür.

Irritiert sah die Frau des Pastors dem Mann nach. »Komisch«, murmelte sie vor sich hin.

»Was ist komisch?«, fragte ihr Mann, der mit einem gefüllten Wasserglas aus der Küche zurückkam, sich zu seiner Frau, die ihm nur bis zu den Schultern ragte, herabbeugte und ihr einen Kuss auf die Wange hauchte.

»Na, der da.« Rubina Hansen zeigte mit ausgestrecktem Finger in Richtung Straße. »Der Typ, der wie von der Tarantel gestochen aus deinem Arbeitszimmer gerannt kam und wortlos verschwand.«

»Was? Der ist weg?«

»Was ist mit dem?«

Doch der Pastor schüttelte nur den Kopf. »Das würde ich auch gern wissen«, sagte er.

*

Die Geräusche des Straßenverkehrs wurden kurzfristig durch das Dröhnen der anfahrenden Diesellokomotive vom gegenüberliegenden Bahnhof übertönt, bildeten dann aber wieder die einzige Untermalung zur stillen Betriebsamkeit, die im Büro der drei Kriminalbeamten herrschte.

Die Kriminalpolizeistelle Husum war im Gebäude der Polizeiinspektion in der Poggenburgstraße untergebracht. Als das Telefon schrillte, nahm Christoph den Hörer ab. »Johannes«, meldete er sich.

»Moin, Herr Hauptkommissar«, kam eine Stimme über die Leitung, die Christoph bekannt vorkam, die er im Augenblick aber nicht zuordnen konnte.

»Moin. Mit wem spreche ich?«, wollte er wissen.

»Entschuldigung, Herr Hauptkommissar. Hansen. Aus Bredstedt.«

Christoph lachte kurz auf. Sicher. Jetzt erinnerte er sich an Frode Hansen, den pensionierten Geistlichen. Er war ihm vor einiger Zeit bei den Ermittlungen zu einem mysteriösen Mordfall begegnet. Hansen hatte in diesem Zusammenhang eine recht unglückliche Rolle gespielt.

»Lassen Sie den Hauptkommissar. Ich nenne Sie ja auch nicht Herr Pastor.«

»Gut, Herr Johannes. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie mir weiterhelfen können. Aber ich habe mit meiner Frau gesprochen, und wir sind beide der Auffassung, dass es gut wäre, Sie um Ihren Rat zu fragen.«

Christoph sah vor seinem geistigen Auge das Ehepaar Hansen. Er, der groß gewachsene, hagere Mann mit dem kleinen Pferdeschwanz; sie, die kleine rundliche Rechtsanwältin, gut zwanzig Jahre jünger als ihr Mann.

»Dann schießen Sie mal los«, forderte Christoph den Anrufer auf.

»Ich kann Ihnen die Geschichte nur erzählen, wenn Sie mir zuvor versichern, keine offiziellen Ermittlungen einzuleiten und das, was ich Ihnen berichte, nicht formell zur Kenntnis zu nehmen. Ich unterliege in diesem Fall nämlich der Schweigepflicht meines Amtes.«

»Da kann ich Ihnen keine Versprechungen machen«, erwiderte Christoph. »Wenn ich von einem Vorgang Kenntnis erhalte, dem eine Straftat zugrunde liegt, bin ich gezwungen, von Amts wegen Ermittlungen einzuleiten. Das sollten Sie bedenken, bevor Sie mir etwas anvertrauen.«

»Das wäre nicht in meinem Sinne. Ich fürchte, wir müssen unser Gespräch unter diesen Umständen abbrechen.«

»Das vermute ich auch. Aber warten Sie. Ich hätte da noch eine Idee. Mein Kollege, Oberkommissar Große Jäger, ist katholisch und hat zum Beichtgeheimnis eine andere Beziehung als ich. Wäre Ihnen damit geholfen, wenn Sie mit ihm einen – sagen wir einmal – rein theoretischen Fall erörtern würden?«

Christoph hörte förmlich das breite Grinsen, das sich über dem Gesicht des Pastors ausbreitete.

»Ja, sicher doch. Und – vielen Dank auch, Herr Johannes.«

Am anderen Ende des Raumes standen sich zwei Schreibtische als Block gegenüber. An einem saß der Oberkommissar. Er hatte eine Schreibtischschublade herausgezogen und parkte seine Füße darauf. Das ungekämmte dunkle Haar mit den grauen Strähnen glänzte ein wenig und hatte sich mangels Waschen und Kämmen in der jüngsten Zeit selbstständig gemacht. Die Bartstoppeln im unrasierten Gesicht schimmerten grau und verstärkten den düsteren Eindruck, den Große Jäger auf Fremde machte. Das rot karierte Holzfällerhemd wurde durch die offen stehende Lederweste mit den Flecken, die schon so lange darauf wohnten, dass sie fast ein Stück seiner Persönlichkeit geworden waren, nur unzureichend verdeckt und verbarg auch nicht den Schmerbauch, der so weit über den Gürtel hinaushing, dass er die Schnalle unsichtbar werden ließ.

»Wer will was von mir?«, grummelte der Oberkommissar und griff zu dem Kaffeebecher mit den Spuren lang währenden Gebrauchs. In aller Seelenruhe zündete er sich eine Zigarette an, blies geräuschvoll den Rauch in die Luft und nahm erst dann das Gespräch entgegen, das Christoph auf seinen Apparat durchgestellt hatte.

Frode Hansen schilderte Große Jäger den Besuch des Fremden.

»Wie sah Ihr Besucher aus? Können Sie ihn beschreiben?«, wollte der Oberkommissar vom Pastor wissen.

In diesem Punkt verweigerte Hansen aber die Antwort. »Ich habe mein Gewissen schon arg genug strapaziert, indem ich Ihnen von diesem Gespräch berichtet habe. Es ist mir aber unter Hinweis auf das Vertrauen, das Menschen in Notlagen von uns Geistlichen einfordern können, nicht möglich, Ihnen weiter gehende Informationen zu vermitteln.«

»Von mir aus«, knurrte Große Jäger, »obwohl eine Personenbeschreibung uns auch nicht weitergebracht hätte. Die Polizei ist ja eh doof. Und die Kripo in Husum ganz besonders, meint jedenfalls unser genialer Chef in Flensburg.«

»Ich war mir meiner Sache nicht sicher«, rechtfertigte sich Pastor Hansen. »Schließlich hat mein unbekannter Besucher vorgegeben, ein Mörder zu sein.«

»Und Sie kannten den Mann nicht? Nie gesehen?«

»Nein! Er war mir völlig fremd. Ich glaube, viele der rund fünftausend Bredstedter zu kennen, wenn auch nicht alle mit Namen. Diesem Mann bin ich aber noch nie begegnet. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern.«

»Es soll ja auch pensionierte Pastoren geben, die im Alter unter dem Phänomen der Vergesslichkeit leiden«, murmelte Große Jäger undeutlich in den Hörer, was seinen Gesprächspartner am anderen Ende zu der Frage »Was haben Sie eben gesagt?« veranlasste.

»Nicht nur vergesslich, auch noch schwerhörig, die Ollen«, schob der Oberkommissar hinterher. »Wir haben nur ein kleines Problem«, gab er stattdessen verständlich zur Antwort.

»Und das wäre?«

»Es liegt derzeit keine Leiche auf unserem Fundbüro, zu der wir jemand suchen, der Besitzansprüche stellen könnte. Mit anderen Worten: Im braven Nordfriesland ist kein einziger Mord begangen worden.«

»Da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen«, antwortete Hansen pikiert. »Ich habe nur geglaubt, der Polizei einen interessanten Hinweis geben zu können. Schließlich steht nicht jeden Tag ein Mensch vor meiner Haustür und behauptet von sich, ein Mörder zu sein.«

»Ist schon in Ordnung. Vielen Dank für den Hinweis. Wir werden überlegen, ob wir mit Ihrer Information etwas anfangen können.«

Große Jäger bohrte mit dem Zeigefinger im Ohr, besah sich wie immer nach einer solchen Aktion intensiv das Ergebnis und berichtete dann Christoph und seinem anderen Kollegen im Raum von seinem Telefonat.

Harm Mommsen, der junge Kriminalkommissar mit der sportlich-durchtrainierten Figur, dem braunen Teint und insgesamt einem Erscheinungsbild, das Frauenherzen höher schlagen ließ, legte den Vorgang, an dem er gerade saß, zur Seite und lauschte den Ausführungen seines Gegenübers.

»Was sollen wir nun anfangen?«, fragte Christoph in den Raum hinein.

»Tja«, gab der Oberkommissar mit spitzem Mund zurück, »darüber muss ich mir keine Gedanken machen. Dafür haben wir einen Dienststellenleiter, unseren leibhaftigen Hauptkommissar. Mit seiner übermäßig großen kriminalistischen Erfahrung …«

Er sah dabei Christoph an, der vor einem Jahr nach Husum versetzt worden war. In der Tat fehlte ihm damals die Erfahrung in der Arbeit vor Ort, nachdem er die letzten zehn Jahre im Verwaltungsdienst in Kiel zugebracht hatte. Auch war er nicht freiwillig an die Westküste gekommen.

»Du wirst ein Provinzkommissar«, hatten seine Kollegen in der Landeshauptstadt damals gelästert. Inzwischen hatte er sich nicht nur hervorragend in das neue Aufgabengebiet eingearbeitet, sondern auch seine Sympathie für die aufstrebende kleine Stadt entwickelt, für die unbeschreiblich schöne Landschaft und vor allem für die Menschen hinterm Deich. Es war nicht einfach, als Zugereister Anschluss zu gewinnen. Manche blieben über Generationen die Fremden, wer aber die Einheimischen und ihre nach außen hin bedächtig wirkende Lebensweise verstand, wollte nur ungern wieder fort. So war es auch ihm ergangen, auch wenn seine Ehefrau immer noch am Familienwohnsitz in Kiel lebte und dort als Rechtsanwältin praktizierte. Selbst wenn die Arbeitsmöglichkeiten hier in Husum nicht immer optimal waren – insbesondere fehlte es aus Geldmangel an moderner Technik und an ausreichenden Sachmitteln –, wog die hervorragende Zusammenarbeit im Team viele Probleme des Polizeialltags auf.

Und an all dies hatte ihn der Oberkommissar mit einer einzigen spitzen Bemerkung erinnert.

»Ein Dienststellenleiter hat das Privileg, seine besten Mitarbeiter um ihre Meinung zu fragen. Unter Abwägung aller Interessen entscheidet er dann genau entgegen dem Rat seines dienstältesten Oberkommissars«, gab Christoph lachend zurück.

Große Jäger nahm den Ball auf. »Unter diesen Umständen schlage ich vor, dass wir uns nicht weiter um die Sache kümmern, schon gar nicht nachfragen, ob in irgendeinem amtlichen Kühlschrank eine Leiche ohne Heimatanschrift liegt.«

»Unter Berücksichtigung meiner zuvor gemachten Äußerungen schlage ich deshalb vor, dass …«

»Okay! Okay!«, fiel ihm Harm Mommsen ins Wort, sich ebenfalls dem Grinsen seiner beiden Kollegen anschließend. »Ich bin schon dabei, entsprechende Erkundigungen einzuziehen.«

Dann griff der junge Kommissar zum Telefon.

»Moment«, unterbrach ihn Christoph. »Wenn wir eine offizielle Anfrage starten, wecken wir schlafende Hunde.«

»Du meinst eher, einen schlafenden Kriminaloberrat in Flensburg«, warf Große Jäger ein. Gemeint war Kriminaloberrat Dr. Starke, der Leiter der Bezirkskriminalinspektion in Flensburg.

»Richtig. Wenn wir den oder das K1, die Mordkommission, informieren, müssen wir uns wieder dafür rechtfertigen, dass wir ungefragt in fremden Gewässern angeln und darüber unsere eigentliche Arbeit vernachlässigen. Ihr wisst, diese Vorwürfe sind das Lieblingsthema unseres verehrten Vorgesetzten, der davon überzeugt ist, die Husumer wären die miserabelste Dienststelle in ganz Schleswig-Holstein.«

»Hör mir mit dem Scheiß-Starke auf«, war der einzige Kommentar des Oberkommissars zu Christophs Einwand.

»Ich habe eine andere Idee«, sagte Christoph laut und griff selbst zum Telefonhörer. Er lauschte einer Weile dem Freizeichen, bis am anderen Ende abgenommen wurde. Statt einer Meldung vernahm er ein Niesen und Husten. Das bestätigte ihm, dass er den richtigen Teilnehmer am anderen Ende der Leitung hatte.

»Hallo Klaus«, begrüßte er Hauptkommissar Jürgensen, den Leiter des K6, Kriminaltechnik und Erkennungsdienst. »Hier ist Christoph, Kripo Husum.«

»Ach du Schreck. Nun sag mir nicht, ihr habt wieder einmal eine Leiche gefunden. Davon will ich nichts wissen. Eure Toten liegen entweder in winterlichen Gräben, fallen vom Himmel oder weisen sonstige Merkwürdigkeiten auf. Wir nehmen nur noch Todesopfer entgegen, die in sauberem Zustand, gewaschen und gebügelt, in einem warmen und klinisch sauberen Raum liegen und während der normalen Dienstzeit an Werktagen gefunden werden. Aber das begreift ihr Schlickrutscher von der Westküste ja nie.«

Diese Art des Dialoges gehörte zum Ritual. Daran hatte sich Christoph gewöhnt. Dafür konnte man sich in der Sache hundertprozentig auf den kleinen, fast glatzköpfigen Mann und sein Spezialistenteam verlassen.

»Einverstanden!«, sagte Christoph. »Unter diesen Umständen werden wir unsere Leichen künftig nach Berlin schicken. Die haben schon genug im Keller. Da fällt eine mehr oder weniger nicht auf. Nun aber im Ernst. Wir haben einen dezenten Hinweis auf einen Mord bekommen, den ein Unbekannter begangen haben will. Leider ist alles sehr vage, sodass wir nicht wissen, ob sich jemand einen üblen Scherz erlaubt hat. Bevor wir den offiziellen Dienstweg beschreiten, möchte ich wissen, ob du von einem ungeklärten Todesfall weißt.«

»Nein«, antwortete Jürgensen spontan. »Da muss ich dich enttäuschen. Hier, bei uns im Norden, haben wir derzeit keinen offenen Fall. Mir ist auch kein anderer bekannt, der den Kollegen vor Ort Rätsel aufgibt. Aus dem Informationsdienst weiß ich von einem Mord aus dem Hamburger Umland, an dem die Kollegen aus Itzehoe von der Inspektion West aber schon arbeiten und eine heiße Spur verfolgen. Tut mir Leid, dass ich dir nicht helfen kann.«

Christoph bedankte sich beim Flensburger Kollegen und informierte kurz die beiden anderen Beamten.

»Das wird ganz schön mühselig«, meinte Große Jäger, »in der Weite der Marsch und im Nationalpark vor dem Deich nach einem unbekannten Toten zu suchen. Trotzdem …«

Christoph sah den Oberkommissar nachdenklich über den Brillenrand an. Die äußerlich ungepflegt wirkende Erscheinung passte überhaupt nicht zum Engagement, mit dem dieser von seinen Vorgesetzten missverstandene Polizist seinem Beruf nachging. Auch wenn er sich eine etwas eigenwillige Auslegung von Polizeiarbeit zu eigen machte, verfügte er über das Gespür, in kritischen Situationen instinktiv das Richtige zu tun. »Unser Schnüffelschwein« hatte Christoph ihn einmal genannt und dabei offen gelassen, ob er damit die Spürnase des Oberkommissars oder den von ihm ausgehenden, nicht immer angenehmen Körpergeruch meinte.

»Wir können unmöglich offizielle Ermittlungen einleiten. Wonach sollten wir fahnden? Nach einer Leiche, die noch keiner entdeckt hat? Nach einem Phantom? Und irgendwo sitzt ein Spaßvogel und lacht sich ins Fäustchen über die dumme Polizei, die Gespenster sucht.«

»Trotzdem! So wie Pastor Hansen seinen Besucher und die Begegnung mit ihm geschildert hat, würde ich das Ganze nicht als Hirngespinst abtun«, blieb Große Jäger hartnäckig. »Aber eine Idee, wie wir uns schlauer machen könnten, habe ich auch nicht.«

ZWEI

Es war ein herrlicher Oktobertag. Ein strahlend blauer Himmel hatte den ganzen Tag das helle Licht des Nordens gezeigt, das immer wieder die Maler faszinierte und in die Region lockte. Die Temperaturen waren auch jetzt, zwei Stunden nach Mitternacht, noch angenehm, sodass die zwei Nachtschwärmer die klare Luft hätten genießen können, wären sie nicht zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen.

Mit unsicheren Schritten wankten sie die »Neustadt«, eine Straße mit gemütlichen kleinen Geschäften, die ins Zentrum der Stadt führte, in Richtung »Hohle Gasse« entlang und nahmen dabei den überwiegenden Teil der Fußgängerzone für sich in Anspruch.

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