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Entlang der Küste steigt die Zahl der Haus- und Wohnungseinbrüche sprunghaft an. Eine ganze Region fürchtet sich vor der Dunkelheit. Vor allem die wachsende Brutalität der Täter erschüttert die Menschen. Als bei einem Einbruch eines der Opfer vergewaltigt wird, sinnen die aufgebrachten Bürger auf Lynchjustiz. Zeit für Große Jäger, das Heft des Handelns zu übernehmen.
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Seitenzahl: 371
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Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. 1949 in Hamburg geboren, hat er sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Hannes Nygaard lebt auf der Insel Nordstrand.
www.hannes-nygaard.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr.
© 2017 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/imageBROKER/Ulrich Doering Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Dr.Marion Heister eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-196-3 Hinterm Deich Krimi Originalausgabe
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Für Anna-Lena, Rene, Hannes und Henry
Wenn einer keine Angst hat,hat er keine Phantasie.
Erich Kästner
Liebe Krimifreunde,
ich bin langjähriger Fan von Hannes Nygaard und seiner Krimireihe. Als ich vor vielen Jahren die ersten Fälle von Kriminalhauptkommissar Johannes und Oberkommissar Große Jäger in der Polizeidirektion Husum und Kriminalrat Lüders im Landeskriminalamt las, ahnte ich noch nicht, dass ich irgendwann einmal deren Chef in der Realität sein würde.
Der aktuelle Fall »Nacht über den Deichen« beschäftigt sich mit einem Kriminalitätsphänomen, das bei uns im Norden leider weit verbreitet ist. Unsere Ermittlungen führen bedauerlicherweise hier nicht zu so hohen Aufklärungsquoten, wie es beispielsweise im Bereich der Tötungsdelikte der Fall ist.
Sie werden beim Lesen mit dem Phänomen des Wohnungseinbruchdiebstahls(WED) konfrontiert– einem Deliktsbereich, der uns alle vor große Herausforderungen stellt und den Ermittlungsbehörden große Sorgen bereitet.
Das mit der Einbruchskriminalität verbundene Unrecht ist massiv. Über die materiellen Schäden hinaus verletzen die Täter die Privat- und Intimsphäre ihrer Opfer, sie rufen Gefühle der Erniedrigung und Machtlosigkeit hervor und beeinträchtigen das Sicherheitsgefühl der Menschen oft nachhaltig.
Glauben Sie mir, dass weder mich noch unsere Landespolizei diese Erkenntnisse »kaltlassen«. Ich kann Ihnen versichern, dass wir viel Energie, Personal und Kompetenzen aufwenden, um den Einbrecherbanden das Handwerk zu legen. Dazu haben wir das Personal im Ermittlungsbereich zusammengefasst, die Kompetenzen über Ländergrenzen hinaus gebündelt und in den Polizeidirektionen unseres Landes besondere Präsenzkonzepte erstellt. Daneben schöpfen wir sämtliche rechtlichen und technischen Möglichkeiten aus, um Einbrecherbanden dingfest zu machen und die Täter einer schnellen Verurteilung zuzuführen.
Aber auch Sie als Hausbesitzer sind gefragt: Das vorrangige Ziel ist und bleibt es, Einbrüche zu verhindern. Wirkungsvoll zeigt sich hier moderne Sicherheitstechnik an Gebäuden und Wohnungen, da eine Vielzahl von Taten an technischen Schutzmaßnahmen scheitern und die Täter gar nicht erst ins Haus gelangen. Für Bestandsbauten bietet der Bund über die Kreditanstalt für Wiederaufbau(KfW) bereits Förderungen für den nachträglichen Einbau von moderner Sicherheitstechnik an. Sie können sich im Rahmen einer kostenlosen Beratung durch die Polizeibehörden kompetent über geeignete Sicherungstechnik informieren und praktische Verhaltenshinweise erfragen. Hinweise dazu erhalten Sie bei jeder Polizeidienststelle. Ich möchte Sie ausdrücklich ermutigen, die Angebote anzunehmen und uns bei unseren Bemühungen im Kampf gegen den Wohnungseinbruchdiebstahl zu unterstützen.
Ich wünsche Ihnen nun spannende Unterhaltung bei »Nacht über den Deichen« und hoffe, dass die dargestellten Einbrüche Fiktion bleiben!
Stefan Studt
Minister für Inneres und Bundesangelegenheiten
EINS
Die Natur kämpfte mit sich selbst. War es noch Sommer? Oder schon Herbst? Der Hochsommer war vorbei. Morgens war es schon empfindlich frisch, doch tagsüber hatte die Sonne genügend Kraft, um einen Hauch Sommer vorzugaukeln. An geschützten Stellen konnten auch die frühen Abendstunden noch im Freien genutzt werden. Die Pflasterung und die roten Backsteine des Hauses strahlten noch Wärme ab. An manchen Stellen in der Nachbarschaft wurde gegrillt, Menschen saßen auf den Terrassen und genossen die friedliche Stille eines idyllischen Fleckchens Erde.
Schobüll war 2007 nach Husum eingemeindet worden. Rund vier Kilometer über die Nordseestraße trennen den Ort vom Zentrum der Kreisstadt. Hier befindet sich der einzige Abschnitt der schleswig-holsteinischen Westküste, an dem die Geest bis an die Nordsee reicht und der nicht durch einen Deich geschützt werden muss. Der Ortsname geht auf das dänische Skobøl zurück und bedeutet Walddorf. In der waldärmsten Region Deutschlands ist es ein besonderes Privileg, in einem solchen Ort wohnen und leben zu dürfen. Auf großen und zugewachsenen Grundstücken stehen eindrucksvolle Häuser. Hinter vorgehaltener Hand wird Schobüll auch »das Blankenese von Husum« genannt.
Auf einem der Grundstücke stand Hildegard Lüttschwagers Haus, zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von ihrem Großvater erbaut, der mit Überseehandel den Grundstock zu einem kleinen Vermögen gemacht hatte. Ihr Vater hatte das Unternehmen fortgeführt und versucht, es über schlechte Zeiten hinwegzuretten. Ganz war es ihm nicht gelungen. Wenigstens Haus und Grundstück konnten dank ihres Ehemanns erhalten bleiben. Arne Lüttschwager war der Betreiber der alteingesessenen Husumer Marktapotheke, die in einem historischen Gebäude direkt neben der Zeitung seit Generationen die Bevölkerung mit Arzneimitteln versorgte.
Hildegard Lüttschwager seufzte. Leider konnte Arne diesen Abend nicht mit ihr genießen. Die Schmerzen im Rücken waren unerträglich geworden, und ein Bandscheibenvorfall hatte den Aufenthalt in der Neurochirurgie des Husumer Klinikums unumgänglich gemacht. In der vergangenen Woche war er operiert worden. Sie besuchte ihn täglich. Heute hatte Arne sich bei bester Laune gezeigt. Ein Grund für Hildegard Lüttschwager, sich zufrieden auf die Terrasse zu setzen, den Herbstabend zu genießen und kein schlechtes Gewissen zu empfinden, als sie sich das zweite Glas Wein einschenkte. Als die Sonne hinter den hohen Bäumen abtauchte, wurde es schlagartig kühl. Sie kramte ihre Sachen zusammen und trug sie ins geräumige Wohnzimmer, verstaute die Auflagen in der dafür vorgesehenen Box und schloss die Tür.
Sie bereitete sich ein leichtes Abendessen aus einer Scheibe Vollkornbrot mit Quark und einer zweiten Scheibe mit Tomaten und Zwiebeln zu, die in mundgerechte Häppchen geschnitten wurden. Arne mochte es nicht, dass beim Essen ferngesehen wurde. Wenn sie allein war, war es ihr zu langweilig, am Esstisch zu hocken. Sie achtete kaum auf das Programm. Es diente nur der Berieselung. Komisch, dachte sie. Manchmal diskutierten sie darüber, was man gemeinsam ansehen wollte. Wenn Arne nicht anwesend war, vermisste sie ihn und konnte die Freiheit, selbst entscheiden zu können, nur bedingt genießen.
Hildegard Lüttschwager leerte das Glas. Sie kämpfte mit sich, ob sie sich ein drittes Glas Rotwein gönnen sollte. Am nächsten Tag standen keine Termine an. Und ins Krankenhaus würde sie erst am Nachmittag gehen. Mit einem Seufzer auf den Lippen stand sie auf und füllte das Glas noch einmal voll.
Eine angenehme Leichtigkeit breitete sich in ihr aus, als sie auch dieses Glas genossen hatte. Sie spürte die wohltuende Müdigkeit in sich aufkommen, schaltete den Fernseher ab, räumte das Geschirr in die Küche und blieb auf dem Rückweg für einen kurzen Moment in der Diele stehen. Arne fehlte ihr. In wenigen Tagen würde er aus dem Krankenhaus entlassen werden. Es würden hektische Tage für sie werden, wenn sie sich um alles kümmern musste. Noch einmal horchte sie in die Stille des Hauses, ging automatisch zur Haustür und prüfte, ob sie verschlossen war. Dieser Rundgang war eigentlich Arnes Aufgabe. Heute übernahm sie es. Halbherzig. Reine Routine. Schobüll war ein ruhiges Pflaster. Husum war sicher und keine kriminalitätsbelastete Region in der Peripherie der Metropolen.
Sie besah sich im Bad ihr Spiegelbild und kicherte ein wenig, als sie beschloss, heute Abend ein wenig nachlässiger zu sein. Niemand würde es bemerken, wenn sie den Durchgang durch das Bad abkürzen und dafür etwas zügiger ihr Bett aufsuchen würde. Sie griff zum Buch, das auf dem Nachttisch lag, schlug es auf der Seite mit dem Lesezeichen auf und begann zu lesen. Nach drei Zeilen stellte sie fest, dass sie den Stoff nicht aufnahm. Achselzuckend legte sie das Buch wieder zurück, löschte das Licht und verkroch sich unter der Bettdecke.
Rotwein war ein besseres Einschlafmittel als irgendwelche Pillen, die ihr Arne aus der Apotheke verabreichte. Natürlich durfte sie ihm nicht widersprechen. Von Tabletten lebten sie, und zwar gut. Das Haus in Schobüll, der Lebensstandard, all die Kleinigkeiten…
Sie wollte nicht unzufrieden sein. Sicher gab es viele Menschen, denen es nicht so gut ging. Das Ehepaar Lüttschwager konnte sich viele Extras leisten. Ja, dachte sie. Du darfst morgen nicht vergessen, Marita und Elisabeth anzurufen. Ein Klönschnack unter Frauen, ein Glas Sekt am Nachmittag, ein bisschen Käsegebäck, ein wenig… Weiter kam sie nicht. Morpheus hatte sie umarmt.
Hildegard Lüttschwager mochte ihre Schwägerin nicht. Angeliki, die gebürtige Griechin, war Melfs zweite Frau. Hildegard hatte nie verstanden, weshalb Arnes Bruder sich von der bodenständigen Christina getrennt hatte. Angeliki war keine Schönheit, sprach bis heute nur gebrochen Deutsch und tat– nichts. Die Frau saß untätig den ganzen Tag herum. Sicher– manchmal war das gut so. Wenn sie etwas in die Hand nahm, ging es oft zu Bruch. Angeliki war tumb. Hildegard erschrak, als die Schwägerin den siebenarmigen Porzellanleuchter anhob, um sich den Herstellerstempel auf der Unterseite anzusehen.
»Königlich Kopenhagen«, rief ihr Hildegard zu. »Vorsichtig!«
Zu spät. Angeliki hatte das teure Stück aus den Händen gleiten lassen. Mit einem Scheppern fiel es zu Boden und zerbrach.
Hildegard Lüttschwager fuhr in die Höhe. Sie ärgerte sich. Selbst im Traum verfolgte Angeliki sie. Mit einem Knurrlaut auf den Lippen drehte sie sich um. Dann machten sich der Rotwein, das Mineralwasser und der Kaffee vom Nachmittag bemerkbar. In ihrem Alter begann es, dass man die Nachtruhe durch eine »biologische Pause«, wie Arne es nannte, unterbrechen musste. In der Apotheke hatten sie früher ein Plakat auf dem Tresen stehen gehabt. Dort wurde für ein Kürbiskernprodukt geworben. »Wenn Sie nachts zu oft müssen müssen«, hieß es. Oder so ähnlich.
Sie schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Erst im zweiten Versuch gelang es ihr, aufzustehen. Der Rotwein, dachte sie. Ohne Licht zu machen, tapste sie zur Tür und öffnete sie.
Schlagartig war sie wach. Es dauerte den Bruchteil einer Sekunde, bis sie begriff, dass ihr eine Gestalt gegenüberstand. Das Dunkel des Flurs verhüllte sie.
Ein Stich fuhr ihr ins Herz. Der Atem setzte aus. Sie spürte, wie ihr schwarz vor Augen wurde. Hildegard Lüttschwager griff sich ans Herz. Es begann zu rasen. Der Kreislauf drohte zusammenzubrechen. Sie spürte, wie eisige Kälte sie erfasste. Dann begann sie zu beben. Das alles spielte sich in zwei, drei Atemzügen ab.
Die Gestalt schien genauso überrascht zu sein und richtete den Strahl der Taschenlampe auf sie. Aus dem Hintergrund meldete sich eine Stimme.
»I mallkuar.«
Dann war die erste Gestalt bei ihr und presste eine Hand auf ihren Mund.
Es war ein fester Druck. Es tat weh.
»Halt den Schnabel«, sagte eine fremdländisch klingende Stimme. »Bist du allein?«
Sie wollte nicken, aber der Körper versagte den Dienst.
Der Mann wiederholte seine Frage. Um ihr Nachdruck zu verleihen, schlug er leicht mit der Taschenlampe gegen ihren Oberarm. »Los, sag.«
Jetzt gelang es ihr, zu nicken.
Ihr Widersacher sprach in einer fremden Sprache, daraufhin tauchte der zweite Mann aus dem Dunkeln auf, zwängte sich an ihnen vorbei und huschte ins Schlafzimmer. Kurz darauf kehrte er zurück und sagte etwas.
Der Mann, der ihr den Mund zuhielt, schien zufrieden zu sein.
»Ist noch jemand in Haus?«, fragte er.
Hildegard Lüttschwager verneinte es.
»Hund?«
Sie hustete. Dann gelang es ihr, ein »Nein« zu hauchen.
»Alarmanlage?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Mach nix Ärger, sonst…«, drohte der Mann. »Ist klar?«
Sie nickte.
»Wo ist Geld? Nicht sagen, du hast nix. Nicht gut für dich.«
»In meiner Handtasche. Dort ist mein Portemonnaie.« Sie bewegte den Kopf in Richtung Schlafzimmer.
Der zweite Mann verschwand erneut ins Schlafzimmer. Sie hörte, wie der Verschluss der Handtasche geöffnete wurde, dann kam er zurück und sagte etwas.
»Du lügst. Nicht genug. Wo ist anderes Geld? Und Schmuck? Los.« Um seine Forderung zu unterstreichen, stieß er sie ein Stück zurück.
»Wir haben kein…«, begann Hildegard Lüttschwager, aber der Mann stieß sie erneut. Sie stolperte rückwärts ins Schlafzimmer. Der Täter suchte den Lichtschalter. Dann flammte die Deckenbeleuchtung auf. Sie konnte die beiden Männer erkennen. Beide trugen Kapuzenpullis, die nur das Gesicht freigaben. Dunkle Augen starrten sie an. Der Teint ihrer Gesichter war dunkel. Der dünne Oberlippenbart des einen Täters ebenfalls. Alles wirkte düster und bedrohlich.
»Mach. Wo ist mehr Geld?« Der Mann hob die Hand, als wolle er zuschlagen.
Hildegard Lüttschwager riss die Hände schützend vors Gesicht.
»Wir haben kein Bargeld im Haus. Nur noch ein bisschen für die Putzfrau. Unten in der Küche, in der Schublade neben dem Geschirrspüler.«
Der Mann vor ihr übersetzte es, der andere verschwand. Sie hörte ihn in der Küche rumoren. Als er zurückkam, zeigte er sich enttäuscht. Sie erhielt einen neuen Stoß vor die Brust. Diesmal tat es weh.
»Du lügst. Nur achtzig Euro. Du hast mehr Geld. Los.«
»Nein«, stammelte Hildegard Lüttschwager. »Wir haben kein Geld im Haus. Wirklich nicht.«
»Wo ist Schmuck?«
Sie streckte den Arm aus. »Da, im Schrank.«
Der zweite Täter riss die Schranktür auf und schimpfte in der unbekannten Sprache.
»Los. Aufmachen.«
Hildegard Lüttschwager erhielt einen Stoß und wurde in Richtung des eingebauten Möbeltresors geschubst. Mit zittrigen Fingern versuchte sie, die Kombination einzustellen. Als es ihr nicht sofort gelang, bekam sie einen Schlag auf den Oberarm.
»Keine Tricks«, presste der Mann zwischen den Zähnen hervor.
Endlich hatte sie es geschafft, und die Tür schwang auf.
Eilig raffte der Zweite die Sachen zusammen.
»Du lügst. Immer lügen«, zeigte sich der Täter an ihrer Seite enttäuscht. »Ihr seid reich. Apotheker immer reich. Wo sind Medikamente?«
Die Frau schluchzte. »Hier doch nicht. Die sind im Laden.«
»Apotheker immer haben Vorräte im Hause«, behauptete der Mann. »Ich nicht zufrieden mit dir. Mehr. Wo ist mehr?«
»Wir haben nichts. Das ist alles.«
»Fernseher? Computer?« Der Griff um ihren Oberarm war schmerzhaft.
»Aua«, schrie sie auf. »Das ist im Arbeitszimmer. Auf dem Flur. Gleich gegenüber.«
Der zweite Täter erhielt eine übersetzte Anweisung und verschwand.
»Du bist unzufrieden«, sagte der Mann und korrigierte sich: »Ich unzufrieden mit dir. Das alles nicht genug.«
Erneut packte er sie am Oberarm und schob sie auf Armeslänge von sich. Er kniff die Augen zusammen und sah ihr in die Augen, bis sie auswich. Dann wanderte sein Blick abwärts zum Hals, senkte sich zu den oberen Knöpfen ihres Nachthemds. Anschließend heftete er sich auf ihre Brüste. Sie spürte, wie sich der Druck auf den Oberarm verstärkte, als er sie Richtung Bett schob. Der Daumen grub sich tief in die Haut. Plötzlich ließ er die Taschenlampe fallen und ergriff ihren zweiten Arm. Ehe sie reagieren konnte, hatte er sie aufs Bett geworfen. Ein Schmerz durchfuhr sie, als sie mit den Waden gegen die Bettumrandung stieß.
»Nein«, rief sie, aber er war schneller und hatte sich auf sie geworfen. Mit seinem Gewicht drückte er sie nieder, während die Hand den Oberarm losließ und sich auf ihren Mund legte. Vor Schreck vergaß Hildegard Lüttschwager zu atmen. Sie begann zu röcheln.
Dann hob der Mann seinen Oberkörper und kniete sich auf ihre Oberschenkel. Mit einem Ruck riss er das Nachthemd auf.
»Nein«, rief sie und wollte sich wehren.
Er verpasste ihr eine kräftige Ohrfeige, dass ihr Kopf zur Seite geschleudert wurde. Der Schlag hatte ihr erneut den Atem genommen. Ihr nächster Versuch, sich zu wehren, wurde mit einer weiteren Ohrfeige geahndet. Dieses Mal noch heftiger.
»Bitte«, jammerte sie, »bitte nicht. Bitte… bitte…«
Es war die Hölle auf Erden. Sie hielt die Luft an. Das ersparte ihr die Wahrnehmung des widerwärtigen Schweißgeruchs, der von ihm ausging. Ganz aus der Ferne bekam sie das Keuchen des Mannes mit.
Das war nicht genug. Auch der zweite Täter verging sich an ihr.
Das Blut pochte in ihren Schläfen. Der Puls raste. Sie versteifte sich wie ein Brett. Der Mann spürte ihren Widerstand. Er schrie sie an. Sie schüttelte wie wahnsinnig den Kopf. Daraufhin legte er seine gespreizte Hand auf ihr Gesicht und presste den Kopf in das Kissen.
Hildegard Lüttschwager bekam eine Hand frei und versuchte, seine Finger fortzudrücken. Sie erwischte den Handrücken des Mannes und krallte ihre Finger zusammen. Ruckartig zog er seine Hand zurück und spürte, wie sich ihr Nagel in seine Haut eingrub.
Er begann, unablässig zu fluchen, schlug ihr noch einmal ins Gesicht und wälzte sich dann von ihr herab.
ZWEI
Der Oberkommissar hielt den fleckigen Kaffeebecher in der Hand und sah fasziniert über die beiden Schreibtische hinweg zu seinem Kollegen.
»Mach das noch einmal«, sagte er und vergaß zu trinken.
Sein Gegenüber lächelte, öffnete die linke Handfläche und zeigte den Kugelschreiber. Dann schloss sich die Hand um das Schreibgerät. Er sagte kurz »Schwupp«– und öffnete die rechte Hand. »Da«, sagte er und zeigte den Kugelschreiber.
Große Jäger staunte. »Das verstehe ich nicht. Wie machst du das?«
Kommissar Cornilsen lachte. »Soll ich dir das noch einmal zeigen?«
»Lass man«, winkte Große Jäger ab. »Der Laie sieht das nicht. Seit wann bist du Zauberkünstler?«
Cornilsen zog die Stirn kraus. »Als Kind habe ich irgendwann einen Zauberkasten geschenkt bekommen.«
»Von Oma?«
»Nein, ausnahmsweise einmal nicht. Aber Oma fand das toll und hat mich darin bestärkt, mehr Tricks zu lernen.«
»Und nun trittst du auf?«
»Ganz selten. Bei Familienfeiern oder Vereinsfesten, als Pausenclown beim Umbüdeln und so was. Ich habe dabei auch schon einmal Karlchen getroffen, der als Animateur auf Kinderfesten begeistert.« Cornilsen schüttelte leicht den Kopf. »Wie kommt es, dass so ein bunter Geselle der Lebenspartner vom Kriminalrat ist? Mommsen ist doch ein klassischer Womanizer. Dem schauen doch alle Frauen hinterher. Und ausgerechnet der hat einen Mann zum Partner.«
»Wenn alle Partnerschaften so glücklich und harmonisch wären wie zwischen den beiden, wären die Scheidungsanwälte arbeitslos«, erwiderte Große Jäger und sah zur Tür, die mit Schwung aufgerissen wurde. Ein rotgesichtiger Mann steckte den Kopf zur Tür herein.
»Sind Sie zuständig?«, fragte er, nach Luft ringend.
»Kommt darauf an, was Sie suchen«, antwortete Große Jäger.
»Der Hundt dahinten«, dabei zeigte der Mann den Flur entlang, »schickt mich. Jäger oder so, hat er gesagt.«
»Sie meinen Hauptkommissar Hundt?«
»Hundt oder Katze. Ist doch egal. Verflixt noch mal. Das ist doch eine einzige Verarsche hier in diesem Laden.« Er tapste ins Zimmer, gefolgt von einer blondierten Frau, die ebenso wie er eine stabile Figur aufwies.
»Um was geht es?«, wollte Große Jäger wissen.
»Ich erzähl den ganzen Mist nicht noch mal. Wo sind wir denn? Tun Sie endlich was.«
»Okay«, erwiderte Große Jäger gelassen. »Hamburg oder Westerland?«
»Wie? Was?« Der Rotgesichtige sah ihn irritiert an.
»Ich dachte, ich soll Ihnen eine Zugverbindung heraussuchen.«
»Wollen Sie mich verarschen?«, keuchte der Mann.
Große Jäger zeigte auf sein Gegenüber. »Dafür ist er zuständig.«
»Jetzt reicht es aber. Ich werde…«
»Moment«, unterbrach ihn der Oberkommissar. »Los, Hosenmatz.«
Der Kommissar nahm den Kugelschreiber in die Hand, zeigte sie dem Rotgesichtigen, sagte »Schwupp«, und ließ den Schreiber in der anderen Hand wieder auftauchen. Verblüfft sah der Mann Cornilsen an.
»Sagte ich doch: Fürs Verarschen ist er zuständig. Ich mache alles andere.«
»Hundt hat uns hierhergeschickt. Es geht um den Einbruch bei uns in Hattstedt. Schweinerei– so was.«
»Wie ist Ihr Name?«
»Rahn aus Hattstedt. Das ist meine Frau.« Er drehte sich suchend um.
»Hier, Schatz«, flötete die Blonde.
»Haben Sie auch einen Vornamen?«
»Helmut.« Der Mann wedelte mit der Hand in der Luft herum. »Sparen Sie sich Ihre Kommentare. Ich spiele keinen Fußball.«
»Mein Name ist Oberkommissar Große Jäger. Nehmen Sie Platz.« Er zeigte auf den Stuhl an der Querseite des Schreibtisches.
Rahn ließ sich schwer atmend fallen. Er achtete nicht auf seine Frau, die sich suchend umsah und sich auf Cornilsens Fingerzeig hin auf den zweiten Besucherstuhl setzte.
Seit einigen Wochen wurde die Region rund um Husum von Einbrechern heimgesucht. Allein elf Mal war in den letzten zwei Wochen eingebrochen worden. Nicht mitgezählt waren dabei die Einbrüche in Ferienhäuser rund um St.Peter-Ording. Die Kollegen »vom Einbruch« hatten alle Hände voll zu tun. Die Bevölkerung war verunsichert, und jede neue Tat, die in der Zeitung erschien, verstärkte das Gefühl. Der Dienststellenleiter, Kriminalrat Mommsen, hatte die Ermittler um Hauptkommissar Hundt verstärkt. Ob der eine wirkliche Hilfe war? Große Jäger bezweifelte es. Jedenfalls hatte Hundt das Ehepaar zu ihm geschickt.
»Ich kenne Ihren Vorgang nicht«, sagte der Oberkommissar. »Berichten Sie bitte.«
»Wir wohnen in Hattstedt, am Wiedeblick. Ruhige Gegend. Tolle Nachbarn. Alles ist perfekt. Und dann kommen solche Verbrecher.«
»Bei Ihnen ist eingebrochen worden?«
»Sag ich doch. Ein richtiger nächtlicher Überfall.«
»Ist jemand verletzt worden?«
Rahn schnaufte. »Das wäre noch schöner. Reicht das nicht auch so?«
»Haben Sie die Täter gesehen oder gar erkannt?«
Rahn drehte sich zu seiner Frau um.
»Wenn das der Fall gewesen wäre, dann würden die nicht mehr leben. Das sage ich Ihnen. Nicht mit mir. Die haben Glück gehabt, dass wir geschlafen haben. Als meine Puschi«, erneut sah er seine Frau an, »nachts mal musste, spürte sie, dass es irgendwie gezogen hat. Puschi friert nämlich leicht. Sie hat mich geweckt. Ich also hoch und sofort runter. Und? Da sehe ich die Bescherung. Die Terrassentür war aufgebrochen. Ich also– sofort habe ich die Polizei angerufen. Das war die erste Schweinerei. ’ne volle halbe Stunde hat das gedauert, bis die da waren. Die hatten einen Einsatz in Viöl, haben die gesagt. Wieso Viöl? Das ist fast bei Flensburg«, übertrieb Rahn. »Wir haben doch eine eigene Polizei in Hattstedt. Warum ist die nicht gekommen?«
Große Jäger unterließ es, ihm zu erklären, dass kleinere Stationen nicht rund um die Uhr besetzt waren. Nachts waren gemischte Präsenzstreifen, die sich aus Beamten verschiedener Polizeistationen zusammensetzen, unterwegs. Da war es durchaus möglich, dass es eine Weile dauerte, bis die Polizei vor Ort eintraf.
»Was soll ich Ihnen sagen? Statt hinter den Gangstern her zu sein, haben die nach meinem Ausweis gefragt, sich das angesehen und gesagt, ich soll hierherkommen. Ja– wo sind wir denn?«
»Wo sollen die Kollegen nachts suchen?«, fragte Große Jäger. »Sie haben vom eigentlichen Einbruch nichts mitbekommen. Der lag möglicherweise schon Stunden zurück.«
»Trotzdem. Ich erwarte mehr von der Polizei. Früher, da war alles anders. Da hat man den Schutzmann auf der Straße gesehen. Wie oft ist ein Peterwagen durch die Straßen gefahren.«
Rahn musste aus Hamburg stammen. Dort nannte man die Polizeifahrzeuge »Peterwagen«.
»Die Kollegen haben doch sicher…«
»Ja. Die haben mal in den Garten gesehen. Das war alles.«
»Der Einbruch war vorgestern. Weshalb kommen Sie erst heute?«
»Hören Sie«, fauchte Rahn. »Ich hatte gestern einen Arzttermin. Was glauben Sie, wie lange man in dieser Gegend darauf warten muss? Sie kriegen eher eine Audienz beim Papst. Dann kommen Sie zur bestellten Zeit zum Doktor und sitzen stundenlang im Wartezimmer. Alles Scheiße. Und dann auch noch der Einbruch. Das muss man alles nicht haben.« Er wedelte mit der Hand. »Was ist nun? Haben Sie eine Spur? Das kann doch nicht so schwer sein. Wozu ist die Polizei eigentlich da? Tun Sie was.«
Er klopfte mit dem Knöchel auf die Tischplatte. »Aber fix. Sonst gibt es Ärger. Muss der Bürger sich selbst auf die Suche begeben? Dann aber gnade Gott, wenn ich diese Halunken erwische. Meine Puschi«, dabei sah er erneut seine Frau an, »will nicht mehr allein bleiben. Sie schläft seitdem nicht mehr. Drei Mal hat sie mich in der letzten Nacht geweckt, weil die Heizung angesprungen ist und sie glaubte, da wären wieder welche im Haus.«
»Mein Kollege«, dabei zeigte Große Jäger auf Cornilsen, »wird das Protokoll aufnehmen. Haben Sie ein Verzeichnis der Gegenstände mitgebracht, die gestohlen wurden?«
»Und wie.« Er drehte sich ein weiteres Mal um. »Los, Puschi. Gib’s ihm. Ist aber handschriftlich. Die Scheißkerle haben auch den Computer geklaut. Und das Tablet von Puschi.«
»Da waren alle meine Rezepte drauf«, mischte sich die Frau das erste Mal mit weinerlicher Stimme ein.
»Da sehen Sie es«, schimpfte Rahn. »Und jetzt? Da steckt die ganze Arbeit eines Lebens drin. Und Puschis Rezepte. Die sind unersetzlich.«
Das mag stimmen, dachte Große Jäger und musterte die wohlgenährten Rundungen seiner Besucher. Dann strich er sich versonnen über seinen Schmerbauch, der die Gürtelschnalle der schmuddeligen Jeans bedeckte. Das Holzfällerhemd und die speckige Lederweste mit dem Einschussloch beachtete er nicht.
Cornilsen, stellte er mit einem Seitenblick fest, warf ihm einen bösen Blick zu.
Große Jäger stand auf und griff zu seinem Kaffeebecher. »Ich muss zur Lagebesprechung zu Kommissarin Hauck«, sagte er und verließ das Büro.
Als er nach einer halben Stunde zurückkehrte, saß Cornilsen missmutig am Rechner und bearbeitete die Anzeige.
»Das war unfair«, beschwerte er sich.
»Jede Straftat ist unfair. Den Opfern entsteht bei einem Einbruch nicht nur ein wirtschaftlicher Schaden. Viel schlimmer ist häufig die Angst, in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher zu sein. Viele brauchen eine ganze Weile, bis sie diesen Schock überwunden haben. Ihnen ist es auch unbehaglich beim Gedanken, dass Fremde in ihren Schränken herumgewühlt hatten. Ich kenne einen Fall, da hat die Frau die ganze Kleidung ausgewechselt, weil sie nicht mehr in die Wäsche hineinschlüpfen konnte, die die Täter– möglicherweise– angefasst haben.«
»Schon, aber…«
»Du bist nicht hier, um Blumen zu gießen«, unterbrach Große Jäger den Kommissar. »Trotzdem. Ich gehe jetzt den Hundt beißen.«
Er lief über den Flur und stürmte ein paar Türen weiter in das Büro des Hauptkommissars. Hundt sah auf.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, fluchte Große Jäger. »Wenn du deine Arbeit nicht schaffst, kannst du vorher Bescheid sagen. Aber nicht auf diese Weise. Ist das klar?«
Hundt sprang erregt auf. »Einbruch ist nicht mein Job. Du weißt, dass ich die Allzweckwaffe der Dienststelle bin. Wenn die vom Einbruch unfähig…«
Große Jäger machte einen Schritt auf Hundt zu und erhob die Hand, als würde er ihn ohrfeigen wollen. »Hundt! War der Knochen zu hart, den du zuletzt vorgeworfen bekommen hast? Die Kollegen machen einen guten Job. Wenn sie in der letzten Zeit von der Einbruchswelle überrascht wurden, die derzeit grassiert, ist es selbstverständlich, dass wir ihnen helfen. Da man dich für anderes nicht gebrauchen kann, sollst du Einbruch unterstützen.«
»Ich bin Hauptkommissar«, beklagte sich Hundt. »Und zwar der dienstältere. Deshalb teile ich dich mit ein.«
»Sag mal, Hundt: Hast du die letzte Dose Frolic aus dem Stapel ›Verfallsdatum überschritten‹ herausgeholt? Du hast nicht mitbekommen, dass alle anderen hier in Husum geknobelt haben. Die Kollegen vom Einbruch haben verloren. Deshalb bist du dort gelandet.«
Hundt lief rot an. »Das ist… Das ist…« Wutentbrannt stieß er Große Jäger zur Seite. »Ich muss zum Chef«, sagte er und verschwand.
Große Jäger kehrte in sein Büro zurück, zog die Schreibtischschublade heraus und parkte seine Füße darin. Er drehte sich auf dem Stuhl so weit herum, dass er auf den leeren Schreibtisch hinter sich blicken konnte.
»So ein Idiot«, schimpfte er. »Dunker, der dich auf dem Gewissen hat, Christoph, hätte zwei Mal lebenslänglich verdient, weil er nicht Hundt erschossen hat.«
Cornilsen räusperte sich vernehmlich. »Das war nicht korrekt«, mahnte er.
Große Jäger drehte sich nicht um. »Der Hosenmatz hat ja recht«, sagte er. »Mensch, Christoph. Ich bin stinksauer. Wärst du jetzt Pensionär, würde ich zu dir kommen, und wir würden einen Kaffee trinken. Ach!« Er winkte ab. »Kaffee war nie deine Welt. Von mir aus. Für dich hätte ich sogar einen Tee getrunken.«
Er wurde unterbrochen, als die Tür geöffnet wurde.
»Wilderich.« Kriminalrat Mommsen stand im Türrahmen. »Hast du mal Zeit? Ich möchte mit dir reden.«
»Wegen Hundt? Können wir auch hier machen.«
»Wilderich!« Das war ein Ordnungsruf. »Ich möchte so etwas nicht in Husum. Wenn das noch mal vorkommt, gibt es eine Ermahnung. Für alle beide. Klar?«
»Ich bin doch nicht…«
»Schluss jetzt. Keine Diskussion.«
Große Jäger hatte Mommsen noch nie so entschlossen erlebt. Er zog es vor, nicht weiter zu widersprechen.
»Wir haben Wichtigeres zu tun«, sagte der Kriminalrat. »Heute Nacht ist in einem Einfamilienhaus in Schobüll eingebrochen worden. Diesmal gab es nicht nur Sachschaden. Die Täter haben sich über die allein im Hause anwesende Frau hergemacht und die Achtundfünfzigjährige missbraucht. Alle beide.«
»Oh verdammt«, sagte Große Jäger.
»Ich möchte, dass ihr den Fall übernehmt.«
Große Jäger nickte, während Cornilsen ein »Das tun wir machen« beisteuerte.
»Die Tat wurde heute Morgen von einer Nachbarin entdeckt, die sich gewundert hat, dass Frau Lüttschwager…«
»Die Frau von der Marktapotheke?«, unterbrach ihn Große Jäger.
Mommsen nickte. »Genau die. Ihr Mann liegt nach einer Bandscheiben-OP im Krankenhaus. Deshalb war sie allein zu Hause. Die Nachbarin hat sich gewundert, dass es bei Lüttschwagers entgegen sonstiger Gewohnheit ruhig geblieben ist. Sie hat geklingelt und ist dann ums Haus herum. Dabei hat sie die aufgebrochene Terrassentür entdeckt. Als sich auf ihr Rufen niemand rührte, hat sie die Polizei verständigt. Die Streife hat die Hausbewohnerin in deren Bett gefunden. Sie war nicht ansprechbar, sondern hat panisch reagiert, als die Beamten eingetroffen sind. Auch der herbeigerufene Notarzt konnte der Frau nur mit Mühe mittels einer Beruhigungsspritze helfen. Im Klinikum hier in Husum hat man bei der Untersuchung festgestellt, dass ihr Gewalt angetan worden war. Das Einzige, was wir bisher erfahren konnten, ist, dass es zwei Täter waren.«
»Und tatsächlich beide haben…?« Große Jäger brach den Satz ab.
Mommsen nickte. »Das ist unser jetziger Erkenntnisstand.«
»Wir fahren nach Schobüll«, sagte der Oberkommissar.
»Gut«, erwiderte Mommsen. »Die Flensburger Spurensicherung ist schon da.«
Es waren nur wenige Fahrminuten bis in den eleganten Husumer Vorort. Vor dem Haus standen ein Streifenwagen und der Mercedes Vito der Flensburger Spurensicherung. Große Jäger war enttäuscht, dass Klaus Jürgensen nicht dabei war.
Einer der beiden Spurensicherer erklärte, der Hauptkommissar komme nur an die Westküste, wenn es dort »schmutzige Leichen« gebe. Sonst würden ihm die Dialoge mit Große Jäger fehlen.
Dann zeigte er die Aufbruchspuren.
»Hier. Die Täter haben einen großen Schraubendreher…«
»Du meinst Schraubenzieher«, korrigierte ihn Große Jäger.
Der Kriminaltechniker lachte. »Technischer Novize, was? Hast du schon einmal eine Schraube gezogen? Nee. Aber gedreht. Entweder rein oder raus.« Er sah auf Große Jägers Hände. »Dir traue ich zu, dass du sie auch abgedreht hast. Also. Die Einbrecher haben entweder einen großen Schraubendreher oder ein Brecheisen benutzt und hier angesetzt. Das Haus ist sicher fünfzig Jahre alt. Seit damals wurde nichts an der Sicherung unternommen. Den Zapfen der Terrassentür drückst du lässig mit einer Nagelfeile auf. Ich wundere mich immer wieder, wie leichtsinnig die Leute sind. In den Medien wird stets gewarnt, dass man sein Eigentum schützen soll. Und dann so etwas.« Er zeigte in das Wohnzimmer. »Sie sind durch den Garten gekommen. Vor der Terrasse haben wir Trittspuren in einem Beet gefunden. Ich würde auf Schuhgröße einundvierzig bis zweiundvierzig tippen. Zwei unterschiedliche. Also handelt es sich um zwei Täter, die nicht sehr groß sind.«
»Auf großem Fuß leben die erst nach der Tat«, sagte Große Jäger.
Der Spurensicherer nickte. »Die sind dann im Wohnzimmer herumgelaufen. Das sieht man an den Erdkrumen. Dabei haben sie in den Schränken herumgewühlt. Einer muss einen mehrarmigen Porzellanleuchter umgeworfen haben. Erstaunlich, dass die Bewohnerin das nicht gehört hat. Vielleicht liegt es daran, dass sie am Abend Wein getrunken hat. Wir haben in der Spüle ein benutztes Rotweinglas gefunden. Außerdem stand dort eine Flasche Rotwein, in der nur noch eine Neige vorhanden war. Wenn man das nicht gewohnt ist«, dabei streifte sein Blick wie zufällig Große Jägers Schmerbauch, »ist eine Flasche Wein schon eine ganze Menge.«
»Und dann?« Der Oberkommissar ging nicht auf die Anspielung ein.
»Dann haben sie das Erdgeschoss durchwühlt und sind anschließend die Treppe ins Obergeschoss hoch. Da sind sie dann auf die Bewohnerin gestoßen. Wir sind oben noch nicht fertig, sondern haben uns erst einen Überblick verschafft.« Er zeigte auf die Tür. »Die haben sich relativ zügig Zugang zum Haus verschafft. Das sieht professionell aus. Andererseits haben wir Fingerabdrücke am Türrahmen gefunden. Nach weiteren suchen wir noch.«
»Die könnten von den Hausbesitzern stammen«, sagte Große Jäger.
»Das stellen wir später fest.«
»Wann?«
»Später«, antwortete der Spurensicherer ungnädig.
»Sucht ihr im Schlafzimmer, auf dem Bett und so, auch nach DNA-Spuren?«
»Danke für den Tipp. Da wären wir nicht drauf gekommen.« Jetzt klang es abweisend.
»Schon gut«, besänftigte ihn Große Jäger.
»Die gesicherten Spuren haben nur einen halben Wert. Wir können nicht bei jedem Einbruch das große Geschirr auffahren. In vielen Fällen nimmt die Streife ein Protokoll auf. Wer soll bei jedem Einbruch die Spurensicherung losschicken? Es ist zum Mäusemelken, aber wir kämpfen gegen Windmühlenflügel.«
»Ihr seid aber sehr erfolgreich«, lobte ihn der Oberkommissar. »Viele Grüße an Klaus.«
Cornilsen folgte ihm vor die Tür. Auf dem Fußweg stand eine kleine Gruppe von Anwohnern.
»Hat jemand etwas beobachtet?«, fragte Große Jäger.
Eine Frau im Jogginganzug hob schüchtern den Zeigefinger.
»Sind Sie von der Polizei?«, fragte sie. Als Große Jäger nickte, fuhr sie fort: »Ich habe mich heute Morgen gewundert.« Dann wiederholte sie das, was Mommsen ihnen schon berichtet hatte. »Wer ahnt denn so was? Wir wohnen da drüben. Gegen halb zwölf heute Nacht hat unser Hund angeschlagen. Mein Mann ist noch einmal durchs Haus und hat in den Garten gesehen. Da war nichts. Hier in der Gegend sind alle verunsichert durch die vielen Einbrüche in der letzten Zeit. Zum Glück haben wir den Hund. Der meldet sich. Aber das bei Lüttschwagers… Das trifft einen doch, wenn es direkt nebenan passiert. Hoffentlich ist es nichts Schlimmes. Wir haben gesehen, dass Frau Lüttschwager mit dem Rettungswagen abtransportiert wurde.«
Große Jäger ging nicht auf die Frage ein. Mehr konnte die Nachbarin nicht berichten. Sie verneinte auch die Frage, ob ihr in der letzten Zeit etwas Verdächtiges aufgefallen sei. Nein, sie habe keine unbekannten Personen bemerkt, die sich auffällig in diesem ruhigen Wohngebiet aufgehalten hätten. Auch andere Nachbarn hatten nichts gesehen. Leider.
Die beiden Polizisten fuhren ins Klinikum Nordfriesland, das in der letzten Zeit aufgrund wirtschaftlicher Probleme in den Fokus der Öffentlichkeit geraten war. Man sprach davon, einige Standorte des Klinikums zu schließen. Das waren Maßnahmen, die für manche Patienten sehr weite Anfahrtswege bedeuten würden. Der Klinikstandort Husum stand allerdings nicht zur Disposition. Dort hatten in der Vergangenheit umfangreiche Modernisierungsmaßnahmen stattgefunden.
Es war schwierig, einen Parkplatz zu finden. Die wenigen Abstellmöglichkeiten an der Straße waren belegt. Große Jäger fluchte, als Mommsen ein Stück zurückfahren musste.
»Das ist eine Tageswanderung«, schimpfte er. »Und dann wollen die auch noch Geld fürs Parken.«
Die freundliche Mitarbeiterin an der Rezeption erklärte ihnen den Weg zur gynäkologischen Abteilung. Dort hörte sich eine Krankenschwester ihren Wunsch an, mit Frau Lüttschwager zu sprechen.
»Moment bitte«, sagte die Frau, während Cornilsen die Zeit nutzte, um den Oberkommissar aufzuklären, dass man schon lange nicht mehr von »Krankenschwester« sprach.
»Das ist doch nicht diskriminierend«, grummelte Große Jäger. »Ich nasche auch noch leidenschaftlich gern einen Negerkuss, ohne dabei einen rassistischen Gedanken zu hegen. Und du willst ins Restaurant gehen und dir ein Sinti-und-Roma-Schnitzel bestellen? Die weiblichen Pflegekräfte im Krankenhaus werden immer noch mit Schwester Ariane angesprochen. Aber niemand konnte mir bisher erklären, wie man korrekt ihre männlichen Kollegen anredet. Schwester Ariane? Bruder Thorben?« Er sah zu Cornilsen hinauf. »Bei dir wäre es kein Problem. Zu dir würde ich ›Bruder Leichtfuß‹ sagen.«
Ein Mann im weißen Arztkittel kam auf sie zu.
»Guten Tag. Mein Name ist Al Shami.« Das Namensschild an seiner Brusttasche verriet, dass Dr.Wessam Al Shami Oberarzt war. »Sie möchten mit Frau Lüttschwager sprechen?«
Große Jäger nickte und wies sich unaufgefordert als Polizist aus.
Der Arzt schüttelte sanft den Kopf. »Unmöglich. Die Patientin ist nicht ansprechbar.« Das von Falten durchzogene Gesicht wirkte ein bisschen traurig. »Die Frau ist schwer traumatisiert. Sie wird von uns nicht nur medizinisch betreut, sondern bedarf auch psychologischer Hilfe. Abgesehen davon, dass ich es nicht gestatten würde, liegt die Einwilligung für ein erstes Verhör beim Psychologen.«
»Können Sie etwas zu den medizinischen Folgen sagen?«, fragte Große Jäger.
Der Mediziner wiegte bedächtig seinen Kopf mit den kurz geschorenen dunklen Haaren, die von silbernen Fäden durchzogen waren.
»Die äußeren Spuren sind nicht sehr ausgeprägt. Ein paar blaue Flecken, leichte Blutergüsse. Im Genitalbereich waren allerdings unverkennbar die Spuren eines schweren Missbrauchs nachweisbar. Wir haben Proben sichergestellt. Heute Morgen war ein Kollege von Ihnen aus Flensburg da und hat sie mitgenommen. Er sagte, die müssen nach…« Dr.Al Shami zögerte kurz.
»Kiel«, half Große Jäger aus.
»Richtig.«
»Es wäre für uns wichtig, von Frau Lüttschwager ein paar Informationen zu erhalten, solange die Spuren noch frisch sind.«
»Ich habe volles Verständnis für Ihren Wunsch. Aber das Patientenwohl hat Vorrang. Niemand– ich betone es ausdrücklich: niemand!– kann mit ihr sprechen. Wir haben hier leider oft Fälle, in denen Frauen Gewalt angetan wird, meistens von Angehörigen. Nur selten kommt es zur Anzeige. Aber das, was Frau Lüttschwager geschehen ist, sprengt den auch sonst schon entsetzlichen Rahmen. Da sind der Einbruch, das Eindringen fremder Personen in ihr Reich, ihre Schutzlosigkeit, die sonst durch die Nähe ihres Ehemannes verhindert wird, und dann die Schändung durch die Täter.«
»Sie möchten doch auch, dass die gefasst werden. Es ist auch wichtig, alle erdenklichen Maßnahmen zu ergreifen, damit es keine Folgetaten gibt.«
Dr.Al Shami nickte bedächtig. »Sie haben in allen Punkten recht. Aber in diesem Fall geht es nicht. Der Ehemann ist auch Patient hier im Haus. Natürlich ist er informiert. Aber selbst er kann nicht mit seiner Frau sprechen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Patientin unter einer dissoziativen Amnesie leiden wird. Dabei werden die integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Wahrnehmung, des Erlebten bis hin zur eigenen Identität beeinträchtigt.« Der Arzt unterstrich seine Erklärungen mit sparsamen Bewegungen seiner gepflegten Hände. »Das Gehirn kombiniert die Vielzahl der erlebten Eindrücke aus visuellen, auditiven, taktilen, olfaktorischen und anderen Signalen zu einer Erlebniseinheit. Die Signale stammen– vereinfacht ausgedrückt– von unterschiedlichen Orten. Auge. Ohr. Haut. Tastsinn. Geruch. In ihrer gesamten Komplexität bilden sie das Ereignis ab. So wird es auch gespeichert. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Der Volksmund sagt, auch Auge und Nase essen mit. Bei der dissoziativen Amnesie ist der Zusammenhang aller Reizsignale gestört. Wir erleben es oft, dass Vergewaltigungsopfer auch noch Jahre nach der Tat psychogene Schmerzen im Unterleib verspüren. Wir müssen uns bei der Therapie vorsichtig der Patientin nähern. Wenn Sie oder auch speziell geschulte Polizisten«, er musterte Große Jäger eindringlich, »nehmen Sie es bitte nicht persönlich, wenn also jemand mit einem Holzhammer auf das Opfer einwirkt, können nicht reparierbare Schäden entstehen. Deshalb ein ganz klares Nein.«
Das war endgültig, aber Große Jäger hatte Verständnis.
»Danke, Dr.Shami. Unternehmen Sie bitte alles, um die Patientin wiederherzustellen. Auch psychologisch.«
»Das ist eine Selbstverständlichkeit.«
»Wissen Sie, auf welcher Station der Ehemann liegt?«
Der Arzt sah sich um. »Schwester Conny.« Er winkte eine Pflegekraft herbei. »Können Sie den beiden Herren behilflich sein?«
Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich der Oberarzt und ging den Flur entlang davon.
Arno Lüttschwager saß in seinem Krankenbett. Er hatte ein Einzelzimmer. Er war bleich. Das wurde durch die schlohweißen Haare zusätzlich unterstrichen, die ein wenig wirr vom Kopf abstanden.
»Aber natürlich«, erwiderte er mit müder Stimme, nachdem Große Jäger gefragt hatte, ob er für ein paar Informationen zur Verfügung stehen würde.
»Ich kann das nicht glauben. Das ist alles so wirklichkeitsfremd«, begann der Apotheker. »Vorhin war ein Arzt aus der Gynäkologie hier und hat mit mir gesprochen. Ein Iraner, der einen netten und kompetenten Eindruck machte.«
»Dr.Al Shami«, fügte Große Jäger ein.
»Ja. Ich hatte noch nie mit ihm persönlich zu tun, aber in meinem Beruf kennt man die Leute aus dem Gesundheitswesen. Dr.Al Shami ist schon eine ganze Weile in Husum tätig. Er hat mir erzählt, wie es um Hildegard steht. Große Hoffnungen konnte er nicht machen.«
»Wir hätten gern mit Ihrer Frau gesprochen, aber der Arzt meinte, das sei nicht möglich«, sagte Große Jäger. »Uns interessiert, ob die Täter es gezielt auf Ihr Haus abgesehen hatten. Ist Ihnen in der letzten Zeit etwas aufgefallen? Fremde, die Sie in Ihrem Wohngebiet beobachtet haben? Anrufe, bei denen sich niemand gemeldet hat? Fahrzeuge, die dort nicht hingehören?«
»Nein, nichts. Im Nachhinein klingt das alles logisch, was Sie fragen. Aber– ehrlich. Wer achtet auf solche Dinge? Man geht doch stets davon aus, dass solche Ereignisse immer woanders passieren, weit weg. Man selbst ist davon nicht betroffen.«
»Das ist ein gesunder Schutzmechanismus«, fügte Cornilsen ein. »Das ist gut so.«
Lüttschwager nickte versonnen. »Mag sein. Doch, ja. Sie haben recht. Umso schlimmer ist es, wenn das Unheil über einen hereinbricht.« Er klopfte auf die Bettdecke. »Meine Bandscheibe. Ich habe es immer wieder hinausgezögert. Jetzt ging es nicht mehr. Und ausgerechnet dann schlägt das Schicksal zu. Hildegard ist bestimmt nicht überängstlich, aber besonnen vorsichtig. Wir leben in Husum doch in einer friedlichen Welt, gemessen an dem, was woanders geschieht. Wenn man von Verbrechen hört, dann ist das so unendlich weit weg. Deshalb kommt es ja auch so unverhofft.« Er griff zum Wasserglas auf dem Nachttisch und führte es mit zittriger Hand an den Mund. »Ich mache mir Vorwürfe, weil ich nicht da war, als Hildegard mich brauchte. Wir sind seit vierunddreißig Jahren verheiratet. Meine Frau ist so lebensbejahend. Sie ist vielseitig interessiert, entdeckungsfreudig und auch lebenslustig. Wenn wir auf einer Feier sind und Musik erklingt, ist sie immer eine der Ersten auf der Tanzfläche. Jeder mag ihr einnehmendes Wesen.«
»Haben Sie Kinder?«
»Ja. Zwei. Unsere Tochter lebt mit ihrem Partner in Hannover. Sie hat Pharmazie studiert und ist gerade dabei, ihr Examen zu machen. Ich würde mich freuen, wenn sie die Apotheke übernimmt.«
»Sie sprachen von zwei Kindern.«
»Lars, unser Sohn. Er ist Berufsoffizier bei der Bundeswehr. Ich muss gestehen, dass wir als Eltern uns etwas anderes gewünscht hätten. Die Aufgaben unserer Armee sind in den letzten Jahren nicht einfacher geworden. Die vielen Auslandseinsätze lassen uns als Eltern schon ein wenig bange werden.«
»Was macht Ihr Sohn bei der Bundeswehr?«
»Lars hat Geografie und Geschichte studiert. Wir hatten immer gehofft, dass er mit dieser Grundlage ins Lehramt wechselt. Er ist jetzt vierunddreißig.«
Große Jäger räusperte sich. »Ist er in einer fachlichen Verwendung tätig, die seinen Studienfächern entspricht?«
»Was? Wie?« Lüttschwager war irritiert. »Haben Sie Kinder? Sie wissen, dass die Mädchen sich oft zum Vater hingezogen fühlen, während die Söhne zur Mutter hin tendieren. Hildegard und unser Sohn– das kann man nicht beschreiben. Das muss man erlebt haben. Die beiden sind mehr als ein Herz und eine Seele. Deshalb hat meine Frau auch besonders darunter gelitten, dass Lars mehr ein Draufgänger ist. Er hat einfach Spaß am Abenteuer.« Der Apotheker seufzte. »Na ja, was heißt das schon? Es war ein Zufall, dass er damit in Berührung kam. Aber dann hat es ihn fasziniert, und er hat nicht mehr davon ablassen können.«
»Wovon sprechen Sie?«
»Vom Fallschirmspringen. Lars ist Kompaniechef einer Fallschirmjägerkompanie. Noch in diesem Jahr soll er stellvertretender Regimentskommandeur werden. Er ist informiert und kommt heute aus Iserlohn nach Husum. Unsere Tochter ist mit ihrem Partner auch unterwegs.«
»Haben Sie einen Überblick, was die Täter gestohlen haben?«
Lüttschwager hob den Arm, verzog aber schmerzhaft das Gesicht. »Wie denn? Ich bin an dieses verdammte Bett gefesselt.«
»Haben Sie besondere Wertgegenstände im Hause? Hohe Geldbeträge? Schmuck?«
»Nichts Ungewöhnliches. Viel Bargeld haben wir nicht gehortet. Nicht in diesen unsicheren Zeiten.«
»Sie sagten doch, Husum sei sicher«, warf Große Jäger ein.
»Einerseits ja, aber es gab für uns nie die Notwendigkeit, viel Geld im Haus zu haben. Nur das, was man für den Alltag benötigt.«
»Es gibt Jungnationalspieler, die tragen fünfundsiebzigtausend Euro mit sich herum und vergessen es im Taxi«, warf Cornilsen ein.
»Das ist nicht unsere Welt. Schmuck?« Der Apotheker zog die Stirn kraus. »Da hat sich im Laufe einer langen Ehe etwas angesammelt. Auf Anraten unseres Versicherungsvertreters haben wir es vor zwei Jahren fotografiert. Die Datei muss auf dem Rechner sein.«
»Der wurde gestohlen.«
»Es gibt eine Kopie auf einer SD-Karte. Die liegt in der Apotheke.«
»Haben Sie Medikamente zu Hause aufbewahrt? Könnten es die Täter darauf abgesehen haben?«
»Nein. In unserem Badezimmer finden Sie nur die Arzneien für den häuslichen Gebrauch. Und das in kleinen Mengen.«
»Wie sieht es mit Kunstgegenständen aus? Tafelsilber? Wertvolle Elektronik?«
»Wir haben uns ein paar Bilder hingehängt, die keine Reproduktion der ›Zigeunerin‹ sind. Vereinzelt mögen sie einen vier-, vielleicht fünfstelligen Wert im unteren Bereich haben. Und was die Elektronik anbetrifft… Auch in diesem Punkt unterscheiden wir uns nicht von vergleichbaren Familien. Ich habe weder eine Briefmarken- noch eine Münzsammlung. Mein einziges Hobby sind seltene Spirituosen. Die stehen im Wohnzimmer in einer Vitrine. Da stecken für den Kenner Werte hinter.«
»Haben Sie sonst noch Hinweise, die uns weiterführen können?«, fragte Große Jäger.
Lüttschwager sah an ihm vorbei und nagte an seiner Unterlippe. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Ich werde alles unternehmen, damit diese Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden.«
»Was meinen Sie damit? Die Strafverfolgung ist Aufgabe der Polizei.«