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Die Tochter eines Apothekers, als Hure verurteilt. Die Dienstmagd eines Vogts, als Findelkind gebrandmarkt. Vom Glück verlassen, verbindet beide Frauen scheinbar nur der Traum von einem selbstbestimmten Leben – und das in einer Zeit, in der den Frauen jedes Träumen verboten war: ein spannender historischer Roman über das Leben zweier Frauen am Rande der Gesellschaft Celle, Mitte des 18. Jahrhunderts: Die 17-jährige Catharine wächst in dem Glauben auf, Tochter der Dienstmagd des Vogts zu sein. Als sie sich jedoch in dessen Sohn verliebt, wird sie nicht nur überraschend als elternloses Findelkind beschimpft, sondern auch sofort aus dem Haus geworfen. Damit rückt ihr Traum, irgendwann ihrer Berufung zu folgen und in einer Apotheke zu arbeiten, in unerreichbare Ferne. Mittellos, obdachlos und ohne Identität muss sich Catharine entscheiden: Ergibt sie sich ihrem Schicksal oder kämpft sie um Vergangenheit, Zukunft und die Liebe?
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© Piper Verlag GmbH, München 2020
Redaktion: Sandra Lode
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Cover & Impressum
Prolog
Kapitel 1 – Magdalena
Kapitel 2 – Catharine
Kapitel 3 – Magdalena
Kapitel 4 – Catharine
Kapitel 5 – Magdalena
Kapitel 6 – Catharine
Kapitel 7 – Magdalena
Kapitel 8 – Catharine
Kapitel 9 – Magdalena
Kapitel 10 – Catharine
Kapitel 11 – Magdalena
Kapitel 12 – Catharine
Kapitel 13 – Magdalena
Kapitel 14 – Catharine
Kapitel 15 – Magdalena
Kapitel 16 – Catharine
Kapitel 17 – Magdalena
Kapitel 18 – Catharine
Kapitel 19 – Magdalena
Kapitel 20 – Catharine
Kapitel 21 – Magdalena
Kapitel 22 – Catharine
Kapitel 23 – Magdalena
Kapitel 24 – Catharine
Kapitel 25
Epilog
Nachwort
Danksagung
Quellen
Nacht vom 5. auf den 6. Dezember 1762
Ein grauer Schatten huschte am Fenster vorbei und erschreckte das kleine Mädchen zu Tode. Sie vermochte nicht zu sagen, warum sie erwacht war, vielleicht war da ein Geräusch gewesen, das sie aus ihrem Traum gerissen hatte. Sie zog ihre Bettdecke hoch bis an die Nasenspitze, richtete sich auf und starrte zum Fenster.
Die Nacht war sternenklar, der Mond stand voll und rund am Himmel und verwandelte die schneebedeckte Landschaft in ein weißes, glitzerndes Meer.
In der Fantasie des kleinen Mädchens wurden die kahlen Äste der Büsche im Vorgarten zu Fangarmen, die nach ihr zu greifen schienen. Mit klopfendem Herzen schlug sie die Decke zurück, tapste mit nackten Füßen über die kalten Holzdielen und drückte ihren schmalen Körper gegen die Rückwand ihres Zimmers, an die das Mondlicht nicht mehr heranreichte. Sie presste ihre winzige Faust auf den Mund und starrte hinaus.
Der Schatten war fort.
Langsam beruhigte sich ihr Puls, und sie spürte die Kälte, die ihre Füße hochkroch. Doch gerade, als sie all ihren Mut zusammennehmen und sich wieder in ihr Bett legen wollte, tauchte der Schatten erneut auf und verharrte ausgerechnet vor ihrem Fenster.
Das kleine Mädchen erkannte, dass es eine Frau sein musste, die da stand, denn es waren eindeutig Frauenkleider, die der Schatten trug. Und nicht nur das. In der Armbeuge des Schattens klemmte ein Korb, nach dem er mit der freien Hand tastete, als würde er etwas streicheln, das darin lag. Dann verschwand er ganz plötzlich wieder, und nur einen Augenblick später wurde heftig gegen die hölzerne Vordertür gehämmert.
Das kleine Mädchen trat aus ihrem Zimmer und schlich über den Flur, um an der Tür zu lauschen. Licht war nicht nötig, denn sie hatte ihr ganzes kurzes Leben in diesem Haus verbracht und fand sich auch im Dunkeln zurecht. Als sie gerade die Eingangstür erreichte, klopfte es erneut.
Nun kamen auch die Mutter und der Vater aus ihren Schlafzimmern und eilten herbei. Die Mutter hielt eine Kerze in der Hand und leuchtete dem Mädchen ins Gesicht.
»Warum liegst du nicht in deinem Bett?«
»Es hat geklopft«, sagte das Mädchen mit zittriger Stimme. »Dabei ist es doch mitten in der Nacht.«
Sie sah, wie ihre Eltern einen sorgenvollen Blick wechselten, dann durchschnitt die tiefe Stimme ihres Vaters die Stille.
»Wer da?«
Niemand antwortete.
»Wer da?«, wiederholte er etwas lauter.
Doch auch diesmal bekam er keine Antwort. Ihre Mutter wandte sich bereits zum Gehen und murmelte, dass sich wohl ein Trunkenbold einen Scherz erlaubt haben müsste, als das kleine Mädchen ein leises Wimmern vernahm.
Sie blickte zu ihren Eltern auf, aber nichts an deren Gesichtern erweckte den Eindruck, als hätten sie etwas gehört. Dann wurde das Greinen lauter.
»Horcht!«, sagte das Mädchen und hob ihren Zeigefinger. Neugierig schob sie sich an den Beinen ihres Vaters vorbei, griff nach der Türklinke und öffnete. Sie hatte sich nicht getäuscht. Auf der Türschwelle stand der Korb, den der Schatten in Frauenkleidern abgestellt haben musste. Sie beugte ihren inzwischen vor Kälte zitternden Körper darüber und sah hinein.
Der Schatten hatte ihnen einen winzigen Säugling vor die Tür gelegt.
Samstag, 10. Oktober 1761, erzählt 1797
Der Kienspan in der Fensternische war lange Jahre ihr einziger Hoffnungsschimmer gewesen, obwohl ihr Verstand ihr immer wieder gesagt hatte, dass kein Licht in irgendeinem Fenster sie zu ihr zurückbringen würde. Es war närrisch zu glauben, dass jemand, der einen anderen Ort seine Heimat nannte, nach ihr suchen und sie finden würde. Wer nicht auf der Suche war, der fand auch nicht, so einfach lagen die Dinge.
Inzwischen war der Kienspan längst einer Öllampe gewichen, doch das Ritual war noch immer dasselbe, Abend für Abend. Das aufflackernde Licht warf sie zurück und erinnerte sie an ihre Jugend und die ausgelassenen Abende in der Spinnstube.
»Mathias«, flüsterte sie leise in den leeren Raum hinein, und beim Klang seines Namens lief ihr auch nach all den Jahren noch immer ein Schauer über den Rücken. Sie zog den Schemel neben das Fenster, setzte sich und dachte daran, wie lange sie seinen Namen nicht mehr laut ausgesprochen hatte.
Es war der 10. Oktober des Jahres 1761 gewesen, als sie ihn im Gasthaus Zur Alten Linde das erste Mal gesehen hatte.
Wirtstochter Gerda war ins heiratsfähige Alter gekommen und nicht gerade eine Augenweide, wie ihre Mutter gern betonte. Darum verwandelte die Wirtin einen Nebenraum des Gasthauses in eine Spinnstube, in der sich Mädchen zum Handarbeiten trafen und die zu später Stunde auch von jungen Burschen aufgesucht wurde.
Gerdas Mutter hegte wohl die Hoffnung, dass ihre Tochter so auf einen anständigen Mann treffen würde, der sie aufgrund ihrer Güte, ihres Humors und ihres Verstandes ins Herz schloss.
Magdalena mochte Gerda schon immer, und ihre äußerlichen Makel waren ihr gleichgültig. Wegen wiederkehrender Krankheiten, die sie plagten, gehörten Gerda Jung und ihre Mutter Charlotte zu den Stammkunden der Casparus-Apotheke, die von Magdalenas Vater betrieben wurde.
Die Mädchen freundeten sich schon in frühen Kindertagen an. Gerdas zugegebenermaßen etwas außergewöhnliches Aussehen hatte dabei nie zwischen ihnen gestanden. In Magdalenas Augen war Gerda eine großartige Spielkameradin, mit der es sich hervorragend lachen ließ. Irgendwann hatte diese nämlich beschlossen, ihre Verwachsungen und die schief stehenden Augen und Zähne mit Humor zu nehmen.
In diesem Oktober hatte es Gerda sich zur Aufgabe gemacht, Magdalena Sticken und Häkeln beizubringen, doch sie scheiterte regelmäßig an den kleinsten Mustern.
»Ich sehe nicht nur aus wie ein Esel, sondern ich habe auch die Geduld eines solchen«, kommentierte Gerda die kläglichen Handarbeitsversuche ihrer Freundin, die sie wieder und wieder ausbessern musste.
Erschrocken sah Magdalena auf, und Gerda brach in lautes Gelächter aus.
»Jetzt, liebe Magda, siehst du aber ausgesprochen dämlich aus! Schau nicht so belämmert. Ist doch kein Geheimnis, wie die Leute mich sehen, einschließlich meiner lieben Mutter, der es wohl nur noch darum geht, mich schleunigst unter die Haube zu bringen.«
»Ich sehe dich nicht so«, antwortete Magdalena leise.
»Das weiß ich doch.« Gerda lächelte, nahm Magdalena den Stickrahmen aus der Hand und begutachtete ihn. Erst zog sie ihre buschigen Augenbrauen hoch, dann begann ihr Mund zu zucken, und schließlich gab sie einen leisen, grunzenden Lacher von sich.
»So wird das nichts mit dir und den Männern, Magda!«, tadelte sie kopfschüttelnd. Dann hob sie den Zeigefinger und imitierte die schrille Stimme ihrer Mutter. »Die Aussteuer, mein Kind, ist lebensnotwendig! Ein Mädchen muss in der Lage sein, Bettwäsche, Kopfkissenbezüge und Tischtücher zu besticken!«
Magdalena presste ihre Hand vor den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken. Gleichzeitig fragte sie sich, ob Gerdas Mutter damit wohl recht hatte.
»Wenn es ohne Sticken und Häkeln und all dem nicht geht, werde ich wohl als alte Jungfer sterben«, seufzte Magda. »Weißt du, während du sticken üben durftest, hat mich mein Vater in Botanik, Mineralogie, Alchemie und Pharmazie unterwiesen. Von Kindesbeinen an musste ich ihm in unserer Apotheke zur Hand gehen und allerlei Tinkturen, Pulver und Salben zusammenrühren.«
»Nun, dann solltest du deinem künftigen Gatten vielleicht eine aufmunternde oder einschläfernde Tinktur verabreichen. Das wird ihn deine schaurigen Handarbeitskünste sicher vergessen lassen.«
In diesem Augenblick musste Mathias hinter Magda getreten sein, ohne dass sie es bemerkt hatte.
»Ich weiß nicht, Gerda. Um diese Stickarbeit schön zu finden, braucht es sicher viel von einer solchen Tinktur.«
Noch heute musste Magdalena schmunzeln, wenn sie daran dachte, wie sehr sie diese Bemerkung verärgert hatte. Es war eine Sache, wenn Gerda sie aufgrund nicht vorhandener Fingerfertigkeit neckte. Ein fremder Mann, der sich darüber lustig machte, war etwas ganz anderes.
»Ich verbitte mir diese Frechheiten«, hatte sie erwidert, ohne sich umzusehen. »Man darf nicht vergessen, dass dies erst der zweite Stickrahmen in meinem Leben ist. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, und ich bin mir sicher, dass ich auch das noch lernen werde.«
»Wirst du nicht«, antworteten Gerda und der junge Mann wie aus einem Munde. Magda drehte sich mit vor Empörung offenem Mund um und wollte gerade lospoltern. Doch seine warmen, lachenden Augen und die vorwitzigen Sommersprossen auf Nase und Wangen ließen sie verstummen. Nichts im Gesicht dieses Rotschopfes wies darauf hin, dass er die Bemerkung tatsächlich böse gemeint haben könnte.
»Darf ich vorstellen?«, sagte Gerda. »Mathias Grene, Sohn des Handschuhmachers.«
Magda deutete ein Kopfnicken an, und Gerda fuhr fort: »Und dieses Handarbeitswunder ist unsere liebe Magdalena Margaretha Casparus, Tochter des Celler Apothekers Ferdinand Casparus.«
»Ich bin entzückt«, sagte Mathias mit entwaffnender Herzlichkeit, griff nach Magdalenas Hand und deutete einen Kuss an. Dann rutschte er in die gegenüberliegende Sitzbank und grinste sie mit schief gelegtem Kopf an.
Magdalena spürte die Hitze, die ihr ins Gesicht schoss, doch bevor der Moment unangenehm werden konnte, setzte plötzlich Musik ein. Ein junger Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, saß neben der Tür und zupfte eine fröhliche Melodie auf der Zither.
»Wer ist das?«, fragte Gerda.
»Ich dachte, du wüsstest das«, gab Magdalena erstaunt zurück, denn sie war bisher immer davon ausgegangen, dass Gerda – als Tochter der Wirtsleute – nicht nur die Mädchen, sondern auch die Burschen kannte, die in der Spinnstube ein und aus gingen.
»Den habe ich hier noch nie gesehen«, antwortete Gerda. Dann erhob sie sich lächelnd, zapfte einen Krug Bier und brachte ihn an den Tisch des Musikers. Der junge Mann dankte mit einem Kopfnicken und plauderte mit Gerda, ohne sein Spiel zu unterbrechen. Immer wieder lachte er, schüttelte den Kopf oder nickte zustimmend. Als Gerda an den Tisch zurückkam, war sie fast ein wenig außer Atem.
»Er heißt Valentin und kommt aus Eicklingen. Er braucht ein Nachtquartier, denn er gedenkt, sich hier bei uns in Celle oder der näheren Umgebung niederzulassen.«
»Und weiter?«, fragte Magdalena neugierig. »Du willst mir doch wohl nicht weismachen, dass ihr aufgrund seiner Herkunft lachen musstet.«
Gerda zog die Augenbrauen hoch. »Hast du mich etwa beobachtet, Magda?«, fragte sie streng.
»Selbstverständlich.« Sie hätte behaupten können, dass es ihre Pflicht als gute Freundin sei, auf sie achtzugeben, doch sie wusste, dass Gerda sehr gut auf sich selbst aufpassen konnte. Dass sie sie beobachtet hatte, lag schlicht und einfach an ihrer Neugier.
Seufzend setzte sich Gerda wieder, ohne Valentin dabei aus den Augen zu lassen.
»Er gefällt dir«, stellte Mathias ruhig fest.
Entsetzt riss Magdalena die Augen auf. Wie konnte er nur so indiskret sein? Doch Gerda schien das nichts auszumachen.
»Natürlich. Sieh ihn dir doch nur einmal an! Diese lockigen Haare, dazu bernsteinfarbene Augen.« Sie gab einen verklärten Seufzer von sich und begann plötzlich zu lachen. »Ein bisschen schwärmen wird doch wohl noch erlaubt sein.« Dann widmete sie sich wieder ihrer Stickerei.
Eine Weile saßen sie schweigend beieinander und lauschten Valentins Musik. Obwohl Magdalena versuchte, sich auf ihre Handarbeit zu konzentrieren, spürte sie genau, dass Mathias sie dabei unverwandt ansah.
»Du starrst noch Löcher in Magdas Kissenbezug«, sagte Gerda, und in diesem Augenblick wurde Magdalena klar, warum Gerda sich nicht an seiner Offenheit störte. Sie gehörten beide zu der Sorte Mensch, die sich ihrer Gefühle nicht schämten und Gedanken grundsätzlich erst einmal aussprachen, bevor sie darüber nachdachten.
»Ich kann einfach nicht anders«, gab Mathias zurück, und als sie aufblickte, legte er seine Hand vorsichtig auf ihre. »Darf ich dich später nach Hause begleiten, Magdalena Casparus?«
Die Frage überraschte Magda. Der Abend war noch jung, und ans Heimgehen hatte sie noch keinen Gedanken verschwendet. Mathias schien zu ahnen, was in ihrem Kopf vorging, denn er erklärte: »Ich frage nur jetzt schon, damit mir niemand zuvorkommt.«
»Ich werde darüber nachdenken müssen.« Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Jemand, der sich darüber lustig macht, wie ich im Schweiße meines Angesichts versuche, eine Blume auf einen Kissenbezug zu sticken, ist womöglich nicht die passende Begleitung für mich. Dieser jemand suche sich vielleicht besser ein Mädchen, dessen Rose auf dem Kissen auch als solche zu erkennen ist.«
Theatralisch hatte Mathias nach dieser vorläufigen Abfuhr die Augen aufgerissen und seine Hände an die Brust gedrückt.
»Du brichst mir das Herz, Lena«, jammerte er. »Was will ich mit all den stickenden Mädchen, wenn ich doch seit Wochen nur dich im Kopf habe?«
Überrascht zog Magdalena die Augenbrauen zusammen. Er hatte sie seit Wochen im Kopf? Das musste bedeuten, dass sie ihm schon zuvor aufgefallen war. Sie selbst hatte ihn vielleicht ein- oder zweimal in Gerdas Spinnstube gesehen, doch sie waren weder ins Gespräch gekommen, noch hatte sie das Gefühl gehabt, dass er Gefallen an ihr gefunden hätte.
Nun nannte er sie Lena, als wäre es das Normalste auf der Welt. Doch wer sie nicht bei ihrem vollen Namen rief, sagte Magda. Sie grübelte darüber nach, ob sie protestieren sollte, ließ es dann aber bleiben, denn ihr gefiel, dass er sie anders rief als alle anderen. Es machte ihn besonders und schuf auf unerklärliche Weise eine Art Vertrautheit zwischen ihnen.
Magdalena hätte auf sein theatralisches Geständnis gern etwas Schlagfertiges erwidert, doch ihr fiel nichts ein.
Mathias Grene machte ihr unübersehbar den Hof. Darauf war sie nicht vorbereitet. Sie musste nicht darüber nachdenken, was sie von ihm hielt, denn das hatte sie in dem Augenblick gewusst, als sie in seine frechen, funkelnden Augen gesehen hatte: Er gefiel ihr. Sein Wesen war zurückhaltend und höflich, gleichzeitig schien ihm der Schalk im Nacken zu sitzen. Er verstellte sich nicht und blieb bei der Wahrheit, auch wenn das bedeutete, dass er ihr ehrlich sagte, dass ihre Stickkünste erbärmlich waren.
Während Magdalena sich mit den Blättern der Rose abmühte, dachte sie darüber nach, welche Gesprächsthemen es wohl zwischen ihr und Mathias geben könnte.
Sie hatte einige Fragen, doch es wäre vermutlich nicht besonders höflich, ihn auf dem Heimweg ununterbrochen auszuhorchen. Aber vielleicht kam er ja von selbst auf die Idee, ihr mehr über sich zu erzählen. Hatte er Geschwister? Wollte er in die Fußstapfen seines Vaters treten und ebenfalls Handschuhmacher werden? Wo wohnte er überhaupt? Sie hatte ihn vor den Spinnabenden in der Alten Linde noch nie irgendwo gesehen, zumindest nicht bewusst.
»Oh nein«, seufzte Gerda in diesem Augenblick. Zeitgleich beendete Valentin sein Spiel, und es wurde ruhig in der Stube.
»Was ist?«, fragte Magda leise und folgte ihrem Blick.
»Konrad«, antwortete sie und deutete mit dem Kopf in Richtung Tür. »Als er das letzte Mal hier war, musste mein Vater eingreifen und den Abend vorzeitig beenden.«
Magdalena erkannte sofort, wovon Gerda sprach. Konrads Schritte waren schwer, und er schwankte, als er zur Theke ging. Ganz offensichtlich war er angetrunken. Er hatte seinen Freund Jeremias dabei, ein langer, hagerer Bursche mit vernarbter Haut und schütterem Haar.
Magdalena war davon überzeugt, dass Konrad sich ihn nur deshalb als Freund ausgesucht hatte, weil er neben dem unscheinbaren Jeremias besonders gut zur Geltung kam. Der Sohn des Celler Tischlers war kräftig und muskulös, was sicher mit seiner Arbeit zusammenhing. Seine Haare waren schwarz und lockig und gaben ihm etwas Verwegenes. Bei genauerer Betrachtung war jedoch nicht mehr zu übersehen, wie sehr er dem Alkohol zugetan war.
Kaum hatte er die Spinnstube betreten, begannen die Mädchen auch schon zu flüstern und zu kichern, und Konrad sonnte sich in deren Bewunderung. Trotzdem schien er an diesem Abend ein anderes Ziel zu haben. Besorgt erkannte Magdalena, dass sein Interesse ihr galt. Mit vollem Bierkrug und Jeremias im Schlepptau kam er an ihren Tisch und setzte sich, ohne dass sie ihn darum gebeten hätten.
»Das ist ja mal ein Anblick«, lallte er. »Das Fräulein Casparus gibt sich die Ehre. Wo warst du denn in der letzten Woche?«
Magdalena warf Gerda einen kurzen Blick zu und starrte dann wieder konzentriert auf ihren Stickrahmen. Wenn sie ihm antwortete, würde er womöglich wie eine Klette an ihr hängen und ihr den Abend verderben, der dank Mathias gerade begann, interessant zu werden. Nicht zu antworten könnte allerdings dazu führen, dass er ungehalten oder gar wütend wurde.
»Viel los in der Apotheke«, murmelte sie leise und hoffte inständig, dass er das Interesse an ihr verlor. Natürlich erfüllte sich dieser Wunsch nicht. Statt von ihr abzulassen und sich den kichernden Hühnern am Nebentisch zuzuwenden, rückte er mit seinem Stuhl näher an sie heran.
»Eine Mutter wüsste, wie wichtig die Abende in der Spinnstube für junge Frauen im heiratsfähigen Alter sind«, sagte er und blies ihr seinen alkoholschweren Atem ins Gesicht.
Angeekelt wandte sie sich ab. Gleichzeitig spürte sie die Wut, die in ihr hochstieg. Dieser Widerling! Jeder hier in Celle wusste, dass Christiane Casparus die Geburt ihrer Tochter nicht überlebt hatte und Magdalena deshalb bei ihrem Vater aufgewachsen war, der sein Bestes gab.
Wie konnte Konrad Brandmiller es wagen, sie auch nur zu erwähnen und gleichzeitig ihrem Vater damit einen Vorwurf zu machen?
»Ich habe mir sagen lassen, dass ich außer randalierenden Trunkenbolden nichts verpasst hätte«, zischte sie empört zurück. Die Veränderung in Konrads Gesicht folgte sofort, und Magdalena wusste, dass sie sich diese Bemerkung besser hätte schenken sollen.
Der Tischlersohn stand so abrupt auf, dass sein Stuhl umkippte. Mit wutverzerrtem Gesicht starrte er Gerda an. »Der hässliche Krüppel hätte besser das Maul gehalten.«
»Das wäre dann mein Stichwort«, erwiderte Gerda ruhig, erhob sich und wies Konrad die Tür. »Du kennst ja den Weg, Konrad. Den Krug darfst du gern mitnehmen – ich bin da mal nicht so. Und jetzt muss ich dich bitten zu gehen!«
»Ich nehme keine Anweisungen von einer Frau entgegen, schon gar nicht von so einer wie dir!«
Schlagartig wurde es still in der Stube, und es gab niemanden, der nicht gespannt zu ihrem Tisch starrte.
»Was soll das, Konrad? Du bist hier in ihrer Gaststube. Warum benimmst du dich nicht zur Abwechslung mal anständig, trinkst etwas weniger, und alles ist gut«, versuchte Mathias, den Tischlersohn zu besänftigen.
»Halt dich da raus, Grene!«, kam Jeremias seinem betrunkenen Freund zu Hilfe.
Magdalena bemerkte, dass Konrad seine Hände zu Fäusten ballte, und war sicher, dass er jeden Moment zuschlagen würde. Gerda hatte es ebenfalls gesehen. Ruhig stellte sie sich zwischen Konrad und Mathias und sah dem Tischler fest in die Augen.
»Du gehst jetzt«, sagte sie schlicht.
Magda hielt den Atem an. Da Konrad sich nicht von der Stelle rührte, erhob sie sich und stellte sich neben Gerda. Valentin, der Musiker, tat es ihr gleich, wobei er sich vorsichtig von Tisch zu Tisch tastete, und auch Mathias bezog Stellung.
Konrad schien zu erkennen, dass er gegen sie alle wohl kaum etwas ausrichten konnte, doch noch zögerte er, den Raum zu verlassen. Für jemanden von seiner Sorte dürfte es das Schlimmste überhaupt sein, in einer vollen Spinnstube das Gesicht zu verlieren.
Glücklicherweise betrat nun auch Gerdas Mutter den Raum. Die Wirtin hatte genug Erfahrung, um die seltsam angespannte Situation richtig einzuschätzen. Noch im Türrahmen stehend rief Charlotte Jung nach ihrem Mann.
»Brandmiller!«, polterte Gerdas Vater, der sofort herbeieilte. »Machst deinem Namen wieder alle Ehre, was?«
Konrads dümmlicher Gesichtsausdruck zeigte, dass er nicht verstand, dass Hannes Jung mit dieser Bemerkung darauf anspielte, dass er ein Unruhestifter war. Doch immerhin sah der Tischler ein, dass er hier den Kürzeren zog.
Der Wirt schubste Konrad und Jeremias abwechselnd in Richtung Ausgang und warf beide hinaus, dann erklärte er seiner Tochter Gerda, dass sie ihn zukünftig sofort zu rufen hätte, wenn diese beiden Lumpen je wieder einen Fuß in die Alte Linde setzen würden.
Die Anspannung legte sich allmählich, und nachdem Valentin sich schon so mutig und selbstverständlich auf Gerdas Seite geschlagen hatte, bat sie ihn mitsamt seiner Zither an ihren Tisch.
Trotz des unschönen Vorfalls wurde der Abend lustig. Die Mädchen erfuhren, dass Valentin sich erst vor Kurzem einer Musikantengruppe angeschlossen hatte, die eines Tages, nach einer langen und ausschweifenden Hochzeit in Eicklingen, bei der sie aufgespielt hatten, schlicht und einfach vergessen hatte, dass er und seine Zither nun dazugehörten. Als er in den Mittagsstunden endlich erwachte, waren die Musiker fort und Valentin auf sich gestellt gewesen.
Eigentlich war die Geschichte nicht zum Lachen, immerhin hatte er so sein Einkommen verloren, doch er erzählte die Ereignisse auf solch unbekümmerte Art und Weise, dass Magdalena am Ende die Tränen vor Lachen über die Wangen liefen.
»Nun bleibt mir nichts anderes übrig, als neu anzufangen, was nicht einfach werden dürfte, da ich fast blind bin. Aber andererseits bin ich ein sehr zuversichtlicher Mensch. Alles im Leben hat seinen Grund, und es gab sicher auch einen Grund dafür, dass ich ausgerechnet heute diese Spinnstube betreten habe.«
Während er sprach, kniff er die Augen zusammen, als würde er seinen Blick schärfen, und sah Gerda unverwandt an. Sie senkte den Blick und errötete.
Mathias schien nicht zu bemerken, was sich da gerade zwischen Gerda und Valentin abspielte. Völlig ungeniert fragte er: »Wie kannst du die Zither spielen, wenn du fast blind bist?«
»Wie könnte ich nicht? Fast blind dürfte es schwierig werden, ein Dach zu decken, einen Tisch zu zimmern oder einem anderen Handwerk nachzugehen. Ich habe zu spielen begonnen, als meine Sehkraft noch nicht so sehr erschöpft war. Wer sein Instrument beherrscht, kann es auch mit verbundenen Augen spielen. Mir lässt mein nachlassendes Augenlicht ganz einfach keine Wahl, denn mit irgendetwas muss ich meinen Lebensunterhalt ja bestreiten.«
Gerda lächelte ihre Freundin über den Tisch hinweg selig an, und Magdalena wusste genau, was sie dachte: Diesem Musikanten dürften Äußerlichkeiten vollkommen gleichgültig sein.
Nach dem unschönen Vorfall beendete Hannes Jung den Abend in der Spinnstube etwas später als sonst. »Konrad Brandmiller hätte euch und uns fast den Abend verdorben. Da ist es nur gerecht, wenn ihr heute ausnahmsweise eine halbe Stunde länger bleiben dürft.«
Einen Moment lang beobachtete Magda Gerda und Valentin, die sich noch immer angeregt unterhielten und deren Gespräch inzwischen bei Eintopfrezepten angelangt war.
Ihr Blick wanderte zu Mathias, und sein Lächeln verriet ihr, dass er das Gleiche dachte wie sie: Hannes Jung war vermutlich gleichgültig, wie der Tischlersohn sich benommen hatte. Der wahre Grund für die Verlängerung des Abends war seine Frau Charlotte, die sofort bemerkt hatte, dass Gerda sich gut mit dem Musikanten verstand. Sicher hatte sie ihrem Gatten befohlen, den beiden noch etwas mehr Zeit zu geben.
»Ich sollte mich so langsam auf den Heimweg machen«, unterbrach Magdalena das Gespräch der beiden. »Mein Vater macht sich sonst sicher Sorgen.«
Mathias erhob sich sofort. »Darf ich?«, fragte er höflich, griff nach ihrem Cape und half ihr hinein.
Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, Mathias nicht auszufragen, als würde sie eine Kanonensalve abfeuern, tat sie in ihrer Aufregung genau das: Sie fragte und fragte.
»Du bist also der Sohn des Handschuhmachers? Außer den zwei Malen in Gerdas Spinnstube habe ich dich noch nie zuvor in Celle gesehen. Seid ihr erst hergezogen?«
»Wir wohnen in der Blumlage und sind uns schon einige Male über den Weg gelaufen, denn auch wir Handschuhmacher werden bisweilen krank oder verletzen uns und brauchen einen Apotheker. Allerdings muss ich zu meinem Bedauern gestehen, dass du in mir nie mehr als einen Kunden deines Vaters gesehen hast, wenn du mich überhaupt gesehen hast.«
»Dann lebst du schon immer hier?«
»Nein. Meine Eltern sind vor fünf Jahren hierher gezogen, weil neueste Verordnungen aus Celle den Eicklinger Handwerkern das Leben immer schwerer machten. Am Ende durften wir unsere Waren nur noch in unserem Heimatflecken verkaufen. Märkte in umliegenden Städten aufzusuchen, war uns ebenso verboten worden, wie mit der Ware hausieren zu gehen. Die Einnahmen reichten irgendwann nicht mehr zum Überleben.«
»Und heute geht es euch besser?«
»Ja. Danke der Nachfrage.«
Sie liefen eine Weile schweigend nebeneinander her, und Magdalena spürte, dass Mathias sie unverwandt von der Seite ansah.
»Was?«, fragte sie schließlich.
»Diese dumme Bemerkung von Konrad …«, begann er zögernd.
Magdalena seufzte. »War überflüssig und verletzend. Da hast du recht.«
Sie hatten inzwischen den Marktplatz erreicht. An kalten Herbstabenden war der jedoch mit Einbrechen der Dunkelheit wie ausgestorben, und abgesehen vom fahlen Mondlicht waren die wenigen Laternen, die inzwischen entzündet worden waren, die einzige Beleuchtung.
»Er hätte das nicht sagen dürfen.«
»Konrad Brandmiller hat sich noch nie um die Gefühle anderer gekümmert. Vermutlich wollte er mich absichtlich provozieren. Jeder in Celle weiß, dass Vater durch meine Geburt seine Frau verloren hat. Es waren schlimme Jahre für ihn, trotzdem hat er mich mit Liebe überschüttet. Er hätte wieder heiraten können, doch er wollte nicht. In den vergangenen siebzehn Jahren galt seine ganze Aufmerksamkeit nur mir, und es waren glückliche Jahre.«
Das Feuer war inzwischen heruntergebrannt. Magdalena erhob sich, schob den hölzernen Schemel beiseite und legte einige Scheite nach. Als das Feuer wieder loderte und die Wärme in ihre kleine Wohnstube zurückkehrte, dachte sie daran, wie unvorsichtig und naiv sie damals doch gewesen war. Sie hätte aufmerksamer sein müssen. Sie hätte die Gefahr, die von Konrad Brandmiller ausging, realistischer einschätzen müssen. Doch Mathias hatte sie in seinen Bann gezogen, und sie genoss seine Nähe, statt auf die beiden dunklen Schatten zu achten.
Mathias war in dieser Nacht stehen geblieben, hatte ihr liebevoll in die Augen gesehen und nach ihren Händen gegriffen. Magdalenas Herz raste, und sie hatte das Gefühl, dass ihre Knie in der nächsten Sekunde nachgeben würden.
Dann war der Zauber plötzlich vorbei, denn sie bemerkte die beiden Männer, die hinter Mathias aus einer Seitenstraße kamen.
»Vorsicht!«, rief sie entsetzt.
Mathias sah sie verständnislos an, und sie flüsterte: »Konrad und Jeremias. Hinter dir!«
Er drehte sich um, schob sich schützend vor Magdalena und starrte die beiden an, die torkelnd auf sie zukamen.
»Wenn das nicht die aufgeblasene Casparus ist. Hält sich doch glatt für was Besseres«, lallte Konrad. »Danke, dass du sie hergebracht hast, Grene. Den Rest ihres Weges übernehmen Jeremias und ich.«
»Wohl kaum«, gab Mathias mit eisiger Stimme zurück.
Magdalena flüchtete in einen Hauseingang und wartete bewegungsunfähig darauf, dass Konrad und Jeremias zuschlugen. Doch was auch immer die beiden versuchten – es verlief im Sande, denn ihre Fäuste waren ähnlich schwer wie ihre alkoholvernebelten Schritte. Mathias war wendig und wich ihren Hieben geschickt aus. Er rief den Angreifern zu, dass sie aufhören sollten, da er sie nicht verletzen wollte.
Magdalena beobachtete das unwirkliche Schauspiel atemlos. Immer wieder versuchten Konrad und Jeremias, einen Treffer zu landen oder sich an Mathias vorbeizuschieben, um an sie heranzukommen. Doch je mehr Zeit verstrich, desto klarer wurde, dass sie nicht gegen ihn ankamen.
Der Sohn des Handschuhmachers knöpfte sich erst Jeremias vor. Konrad nutzte die Gelegenheit, schwankte an den beiden vorüber und zerrte Magdalena aus dem Hauseingang.
»Ich werde dich jetzt nach Hause begleiten, kleine Casparus. Und du solltest dankbar sein. Ich bin eine gute Partie, und es ist nicht selbstverständlich, dass jemand wie ich Interesse an einer Halbwaisen hat.«
In Panik schrie Magdalena auf. Mathias sah sich nach ihr um und setzte Jeremias dann mit einem einzigen, gezielten Hieb in die Nieren außer Gefecht. Dann packte er Konrad bei den Schultern und riss ihn herum. Ohne Vorwarnung schlug er zu und flüsterte gefährlich leise: »Du gibst ein schändliches Bild ab, Brandmiller. Du warst ja schon früher ein Scheusal, aber der Schnaps scheint dir auch das letzte bisschen Anstand aus dem Hirn zu brennen!«
»Halt dein Maul, Grene«, gab Konrad lallend zurück. »Überlass mir einfach die kleine Casparus, und unser Problem hat sich erledigt.«
Wortlos schüttelte Mathias den Kopf und rammte dem Tischlersohn seine Faust erst in den Magen, dann ins Gesicht. Konrad kippte zur Seite, und der Spuk war vorüber.
»Der wird einen ziemlichen Brummschädel haben, wenn er aufwacht. Und vermutlich auch ein Veilchen.« Mathias griff nach Magdalenas Hand. »Ich kann nicht glauben, dass er uns wirklich angegriffen hat.«
»Danke«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn du mich nicht begleitet hättest.«
Mathias nickte und legte behutsam seinen Arm um ihre Schulter. »Nun ist es ja vorbei.«
»Warum hattest du keine Angst vor ihm?«
»Ich kenne Konrad sehr gut. Als wir vor Jahren herzogen, freundeten sich unsere Väter an, und schon damals wollte er sich wieder und wieder mit mir messen. Dass sein eigener Vater ihn dabei einen Nichtsnutz schimpfte, der sich lieber ein Beispiel an mir nehmen sollte, machte uns nicht gerade zu Freunden.«
»Also wollte er nicht mich treffen, sondern eigentlich dir eins auswischen«, stellte Magdalena fest.
Mathias zuckte mit den Schultern. »Oh – du gefällst ihm ganz sicher. Dass du ausgerechnet mit mir gesprochen hast, dürfte seine Wut allerdings ins Unermessliche gesteigert haben.«
»Muss ich mich jetzt vor ihm in Acht nehmen?« Ihr Mund wurde plötzlich trocken, und ihr Puls beschleunigte sich.
»Keine Sorge. Ich werde mit seinem Vater sprechen. Konrad mag ein Trunkenbold sein, doch ich glaube nicht, dass er Hand an eine Frau legen würde.«
Magdalena sah ihn an und schob die Zweifel beiseite, die sich in ihrem Kopf breitmachen wollten.
»Warum kannst du so gut kämpfen?«, fragte sie schließlich und konnte sich dabei ein Grinsen nicht verkneifen.
»Ich bin mit zwei älteren Brüdern aufgewachsen.«
»Und unter Brüdern sind Prügeleien an der Tagesordnung?«, neckte sie ihn.
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, und ein trauriger Zug trat um seinen Mund. »Das waren sie. Ich würde liebend gern jeden Tag Prügel von ihnen einstecken, wenn sie das wiederbringen würde. Sie zogen vor zwei Jahren in den Krieg und kehrten nicht zurück.«
Im Stillen schalt sich Magdalena dafür, das Thema angeschnitten zu haben, denn die Traurigkeit in seinem Gesicht war kaum zu ertragen.
»Bitte entschuldige«, murmelte sie, griff nach seiner Hand und drückte sie. »Dein Verlust tut mir unendlich leid.«
»Du musst dich nicht entschuldigen, Lena. Woher hättest du das wissen sollen?«
»Ich werde deine Brüder in meine Gebete einschließen. Wer weiß, wie das heute ohne deren harte Ausbildung ausgegangen wäre.«
In diesem Moment huschte ein Lächeln über Mathias’ Gesicht, und er legte seine Hand gegen Magdalenas kalte Wange.
»Ich hätte dich auch bis zum letzten Atemzug verteidigt, wenn ich keine Brüder gehabt hätte. Und wenn es mein Untergang geworden wäre.«
***
Als Konrad Brandmiller erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel, ein sicheres Zeichen dafür, dass er sowohl das Frühstück als auch das Sonntagsgebet, auf das vor allem seine Mutter so viel Wert legte, verpasst hatte. Wieder einmal.
Stöhnend wälzte er sich im Bett herum, denn das grelle Sonnenlicht verstärkte seine unerträglichen Kopfschmerzen noch. Er zog sich die Decke bis ans Kinn und starrte die graue Steinwand an, während sich die Geschehnisse der vergangenen Nacht langsam wieder in sein Gedächtnis schlichen – zusammen mit einer unbändigen Wut, die sich zeitgleich in ihm breitmachte.
Magdalena Casparus hatte ihn abgewiesen, und sie und diese verkrüppelte Wirtstochter hatten ihn vor allen Gästen in der Spinnstube bloßgestellt. Und als wäre das nicht Demütigung genug, hatte ausgerechnet der ihm verhasste Grene beschlossen, ihren Beschützer zu spielen.
Zu seiner Schande musste Konrad sich eingestehen, dass seine Versuche, ihm Magdalena abspenstig zu machen, zu keiner Zeit Aussicht auf Erfolg gehabt hatten.
»Das wird sich ändern, Grene«, fauchte Konrad in die Stille seines Zimmers hinein, denn ihm war klar, wie es zu seiner Niederlage gekommen war: Er war betrunken gewesen. So sehr, dass er nicht einmal mehr sagen konnte, wie er nach der Schlägerei auf der Straße überhaupt nach Hause und in sein Bett gelangt war.
Wie so oft in den vergangenen Monaten würde er Jeremias danach fragen müssen, denn die letzten Stunden vor Tagesanbruch waren aus seinem Gedächtnis gelöscht.
Konrad presste seine Handflächen gegen die pochenden Schläfen und setzte sich auf. Die wichtigste Aufgabe für ihn würde heute darin bestehen, seinem Vater aus dem Weg zu gehen, denn er musste verhindern, dass der erfuhr, in welch erbärmlichem Zustand er nach Hause gekommen war.
Mühsam stand er auf und wusch sich mit dem abgestandenen Wasser aus seiner Waschschüssel. Normalerweise würde er das Wasser wechseln, doch der Gang zum Brunnen hinter dem Haus war ihm an diesem Morgen zu heikel. Die Wahrscheinlichkeit, seiner Mutter oder seinem Vater in die Arme zu laufen, war zu groß. Zunächst einmal musste er dafür sorgen, dass ihm zumindest äußerlich nichts mehr anzumerken war.
Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich nach der Morgenwäsche frisch anzukleiden, als es an seiner Zimmertür klopfte.
»Junge!«
Es war die unbarmherzige Stimme seines Vaters, die durch die geschlossene Tür drang. Wäre es seine Mutter gewesen, hätte er um einen Augenblick Geduld gebeten und wäre dann aus dem Zimmer getreten, doch sein Vater ließ ihm diese Zeit nicht.
Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete Gustav Brandmiller die Tür und betrat sein Schlafzimmer.
»Deine Mutter ist außer sich«, schimpfte er sofort los. »Sie hat mehrfach versucht, dich zu wecken, und war dabei wieder einmal zu nachsichtig. Einen Kübel Wasser hätte sie dir ins Gesicht schütten sollen, du Lümmel. Das ist der dritte Gottesdienst, den du verpasst hast, und ich schwöre beim Allmächtigen, es war der letzte. Wie kannst du deiner Mutter nur solche Schande bereiten? Ganz Celle zerreißt sich inzwischen das Maul über dich.«
Konrad schloss für einen Moment die Augen und atmete durch. »Sollen sie doch!«, murmelte er schließlich. »Sie selbst haben mir beigebracht, mich nicht darum zu scheren, was die Leute reden.«
»Verdreh mir nicht das Wort im Mund, Junge!«
Die Stimme seines Vaters wurde lauter, und Konrad wusste, dass er schleunigst klein beigeben musste. Andernfalls würde sein Vater ihn in einen handfesten Streit verwickeln, und momentan war Konrad weder körperlich noch mental in der Verfassung, ihm die Stirn zu bieten.
»Ich fühle mich nicht wohl, Vater«, log er.
»Sei keine Memme und sieh zu, dass du dich bei deiner Mutter entschuldigst. Ich habe keine Lust, mir das Gejammer über ihren missratenen Sohn noch länger anzuhören!«
Konrad nickte, doch das sah sein Vater nicht mehr. Gustav Brandmiller hatte bereits kehrtgemacht und stürmte aus dem Zimmer.
Konrad fand seine Mutter Helene in der Küche, wo sie das Mittagessen vorbereitete. Er schüttelte den Kopf. Noch immer fiel es ihm schwer zu akzeptieren, dass sich die Dinge geändert hatten und die Brandmillers sich nun nicht einmal mehr eine Köchin leisten konnten.
Früher hatten neben ihnen dreien noch zwei weitere Häuslinge unter dem Dach der Tischlerei gelebt: ein Gehilfe für die Werkstatt und eine Haushälterin. Doch die Zeiten, in denen die Brandmillers zusätzliche Mieter mitversorgen konnten, waren vorbei, selbst wenn diese mit anpackten und für Kost und Logis arbeiteten.
Konrads Vater gab ihm auch dafür die Schuld: Er arbeitete zu langsam und zu schlecht, weswegen Kunden zur Konkurrenz gingen.
Auch deswegen war Konrad in den Sinn gekommen, dass die kleine Casparus genau die richtige Frau für ihn sein könnte. Ihr Vater hatte niemanden als sich selbst und seine Tochter zu versorgen, und die Apotheke lief, so machte es zumindest den Anschein, ganz hervorragend.
»Guten Morgen, liebe Mutter«, säuselte Konrad, nachdem Helene ihn bemerkt hatte.
Sie starrte ihn an, kniff ihre Augen zu engen Schlitzen zusammen und sagte kein Wort. Konrad seufzte. Sie hatte offenbar nicht vor, es ihm leicht zu machen. Vielleicht sollte er gleich schwere Geschütze auffahren. War seine Mutter erst besorgt um ihn, vergaß sie ihre Wut in der Regel sehr schnell.
»Bitte verzeihen Sie mir mein Fernbleiben vom Gottesdienst. Aber ich bin gestern Abend in eine ganz fürchterliche Situation geraten.«
Konrad bemerkte, dass sich das Gesicht seiner Mutter veränderte. Er beschloss in dieser Sekunde, die Geschehnisse der letzten Nacht ein bisschen verdreht wiederzugeben.
»Ich höre!«
»Wir waren schon auf dem Nachhauseweg. Weil er ein wenig zu tief ins Glas geschaut hatte, musste ich Jeremias nach Hause begleiten. Nur um sicherzugehen.« Konrad machte eine kurze Pause. Sein Plan schien aufzugehen, denn seine Mutter nickte verständnisvoll. »Wir hörten plötzlich eine Frau schreien und waren, wie Sie sich sicher denken können, in großer Sorge.«
»Oh nein!«, rief Helene Brandmiller und presste eine Hand vor den Mund. Gleichzeitig beugte sie sich weit nach vorn, um ja nichts von der Geschichte zu verpassen, die ihr Sohn nun erzählen würde.
»Ein betrunkener Bursche hatte Magdalena Casparus in einen Hauseingang gedrängt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn wir nicht ihren Weg gekreuzt hätten.«
»Du hast das Mädchen gerettet?« Ein freudiges Funkeln trat in Helenes Augen.
»Selbstverständlich, Mutter. Aber es war nicht einfach. Dieser fremde Bursche war ziemlich gut mit seinen Fäusten. Bevor ich ihn niederstrecken konnte, verpasste er mir einen Schlag gegen die Schläfe. Deswegen konnte ich heute Morgen auch nicht aufstehen. In meinem Kopf glüht noch immer dieser stechende Schmerz.«
Seine Mutter erhob sich von ihrem Stuhl, trat auf ihn zu und legte vorsichtig ihre Handflächen gegen seine Schläfen.
»Und ich dachte, du hättest nur einmal wieder zu viel getrunken. Wie konnte ich nur so dumm sein! Nicht du musst dich entschuldigen, Konrad. Ich bitte dich um Verzeihung. Ich hätte wissen müssen, dass du deiner Mutter nicht absichtlich Kummer bereitest.«
Kopfschüttelnd ging sie zu ihrem Platz zurück und hackte gedankenverloren Lauch und Zwiebeln für die Suppe.
»Da rettet mein Sohn das Fräulein Casparus. Wenn das nicht eine ganz wunderbare Fügung des Schicksals ist«, murmelte sie.
Konrad konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Schnell drehte er den Kopf zur Seite, um keinen Verdacht zu erregen. Seine Mutter war der gutgläubigste Mensch, der ihm je untergekommen war.
Er hatte sein Ziel erreicht. Sie war nicht nur nicht mehr böse auf ihn. Sie hatte offenbar genau den gleichen Gedanken wie er selbst: Magdalena Casparus würde eine hervorragende Ehefrau für ihn abgeben. Sie war ausgesprochen hübsch, doch das war zweitrangig. Hübsche Mädchen gab es wie Sand am Meer, und er, Konrad Brandmiller, würde die Freuden, die man mit jeder Einzelnen erleben konnte, auch als verheirateter Mann niemals aufgeben. Viel ausschlaggebender war dagegen das Vermögen von Ferdinand Casparus. Eine Apotheke und eine Tischlerei in seinem Besitz würden sicher dafür sorgen, dass er sich in Zukunft um niedere Arbeiten wie das Kochen keine Gedanken mehr machen müsste.
Mittwoch, 7. April 1779
Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wann Johann Benedict mir zum ersten Mal seine Gefühle gestanden hatte.
Ich war neun Jahre alt und er zehn, als er mir in kindlich-besorgtem Überschwang erklärte, dass er mich von nun an und für immer beschützen würde, weil er niemanden auf der Welt so lieb hätte wie mich.
Damals wollten wir auf den Kirschbaum klettern. Doch Benis ältere Schwester Annegret, die uns an diesem sonnigen Nachmittag beaufsichtigen sollte, hatte uns die Kletterei untersagt. Johann Benedict kannte seine Schwester allerdings gut genug. Er wusste, dass sie sich mit ein wenig Bettelei erweichen lassen würde. Irgendwann sagte Anni nicht mehr nein, sondern zuckte gleichgültig mit den Schultern, verzog sich auf die Bank, die seitlich an der Hauswand im Schatten stand, und schloss die Augen.
Wir kletterten, und Beni zog mich währenddessen damit auf, dass ich ein Angsthase wäre und es niemals wagen würde, so hoch zu klettern wie er. Dummerweise ließ ich mich auf seine Provokation ein. Am Ende hing ich bäuchlings und weinend über einem Ast und wusste nicht mehr, wie ich es je von dort herunterschaffen sollte.
Das war der Moment, in dem Beni plötzlich vom Aufschneider zum Beschützer wurde. Er kletterte vom Baum, und als er den Boden erreicht hatte, rief er mir zu, was ich tun sollte.
»Schieb deinen linken Fuß noch ein wenig weiter, Catharine! Dann stehst du auf einer Astgabel und hast sicheren Halt.«
Ich zog schniefend die Nase hoch und versuchte, besagte Astgabel zu erreichen, doch meine Beine waren zu kurz. Mein Blick ging nach unten, und mir wurde erst schwindelig und dann übel. »Ich werde abstürzen!«
»Keine Angst, so hoch ist es gar nicht«, versuchte er, mich zu beruhigen.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie sehr meine Hände zitterten, doch irgendetwas musste ich tun, denn ich wollte verhindern, dass Anni uns so sah, sonst würden Beni und ich unweigerlich Ärger bekommen.
Ich schwang das rechte Bein nach oben, und nach einigen missglückten Versuchen schaffte ich es tatsächlich, mein Bein über den Ast zu hieven. Kopfüber hing ich nun an Armen und Beinen am Baum und hangelte mich Stück für Stück näher an den Stamm heran, bis ich endlich die Astgabel erreichte.
Es kostete mich einige Mühen, doch irgendwie schaffte ich es schließlich auch, mich auf die Astgabel zu setzen.
Noch einmal zog ich die Nase hoch und wischte die Tränen weg. Ich atmete tief ein und aus und versuchte, mich zu beruhigen, während Beni pausenlos von unten nach oben quasselte und mir erklärte, wie großartig ich das gemacht hatte.
»Und jetzt springst du, Catharine! Ich fang dich auf«, beendete er seinen Lobgesang auf meine Kletterkünste, streckte seine dünnen Ärmchen weit nach oben und strahlte übers ganze Gesicht.
»Du willst, dass ich springe?«, fragte ich entsetzt, denn die Entfernung zwischen dem Ast, auf dem ich saß, und dem Boden erschien mir aus meiner Perspektive unendlich groß. Zögernd wanderte mein Blick zum Haus der Waldenburgs. Annegret schlug gerade ihre Augen auf und suchte den Garten nach uns ab. Wenn ich Ärger vermeiden wollte, blieb mir nichts weiter übrig, als zu springen.
Mit einem spitzen Schrei fiel ich hinab. Beni behielt recht – so weit oben hatte ich nicht gesessen. Doch der freie Fall reichte aus, um ihn umzuwerfen. Wir kugelten übereinander, und ich schlug mir den Kopf an einer Wurzel an. Genau in diesem Moment stieß Annegret zu uns.
»Was ist passiert?«, rief sie atemlos.
»Ich bin hinuntergesprungen und hab das Gleichgewicht verloren«, log ich und rieb mir den schmerzenden Hinterkopf.
Dann bemerkte ich, dass Beni und Anni mit aufgerissenen Augen und Mündern auf meine Hand starrten. Ich drehte meine Handfläche nach außen. Sie war blutverschmiert. Das war der Moment, in dem auch ich die Fassung verlor und zu schluchzen begann.
Benedict kniete sich neben mich. »Komm auf meinen Rücken. Ich trag dich huckepack ins Haus.«
Doch in dieser Sekunde schaffte ich es nicht mehr, mich auch nur einen Millimeter zu rühren. Starr vor Schreck saß ich unter diesem Baum und sah Beni an.
»Es ist meine Schuld«, flüsterte er so leise, dass seine Schwester ihn nicht hören konnte. »Ich bin der Ältere und hätte auf dich aufpassen müssen. Es wird alles wieder gut, Catharine.« Dann straffte er seine Schultern und sah mich fest an. »Ich sorge dafür. Ich hab dich lieber als alles auf der Welt, hörst du? Ich werde nicht zulassen, dass es dir schlecht geht. Von jetzt an passe ich auf dich auf!«
Wie gern hätte ich ihm damals schon gesagt, dass es mir genauso ging. Doch ich hatte gerade noch meinen Kopf zur Seite drehen können, bevor ich mich übergeben musste.
Die auf den Sturz folgenden Wochen waren in meiner Erinnerung verschwommen. Leopold von Waldenburg, der Vater von Beni und Annegret, hatte einen Arzt rufen lassen, und ich hatte viele Tage im Bett verbracht. Beni hielt in all der Zeit Wort und kümmerte sich um mich – so aufopfernd, dass Mutter irgendwann die Geduld mit ihm verlor.
»Johann Benedict«, tadelte sie ihn. »Warum bist du Tag für Tag an Catharines Bett? Entweder stehst oder sitzt du mir im Weg herum! Und warum machst du dabei ein Gesicht, als hättest du ein schlechtes Gewissen? Man könnte glauben, du hast meine Catharine vom Baum gestoßen. «
»Gar nicht«, verteidigte ich ihn sofort. »Ich bin gesprungen, obwohl er noch gesagt hat, ich sollte das besser lassen.«
Beni lächelte mich dankbar an und drückte gedankenverloren seine kleine Faust gegen die Brust. Und er schlich sich weiterhin täglich in mein Zimmer und las mir vor. Wir lachten und alberten herum, und Beni wiederholte dabei mehr als nur einmal, dass er nie wieder etwas tun würde, was mir schadete.
Weder er noch ich machte sich dabei je Gedanken darum, dass dieses unschuldige Gefühl zwischen uns falsch sein könnte.
Etwa zwei Wochen nach meinem Sturz vom Baum betrat Annegret allerdings genau in dem Augenblick meine Kammer, als Beni mir gerade eröffnete, dass ich das schönste Mädchen auf der Welt sei, weit schöner noch als seine Mutter oder seine Schwester.
»Was faselst du denn da für einen Unsinn?«, unterbrach Annegret seine Schwärmerei.
»Das ist kein Unsinn«, erwiderte Beni sofort. »Wenn ich groß bin, werde ich Catharine heiraten.«
Annegret riss entsetzt die Augen auf, dann begann sie schallend zu lachen. Ein Blick in Benis Gesicht genügte, um zu erkennen, wie sehr ihn die Reaktion seiner Schwester kränkte. »Du wirst schon sehen!«
»Johann«, sagte Annegret mit sanfter Stimme, »du bist der Sohn eines Vogtes, nun gut: eines Untervogtes, und …«
»Die Großvogtei wurde längst aufgelöst. Das weiß ich von Vater«, widersprach Beni trotzig.
Annegret wischte seinen Einwand einfach fort. »Dann ist unsere Amtsvogtei eben anderen lüneburgischen Ämtern gleichgestellt. Was macht das schon? Unser Vater ist einer der angesehensten Amtmänner Celles. Ganz gleich, ob er nun Amtmann oder Untervogt genannt wird: Du bist sein Sohn. Du kannst Catharine nicht heiraten. Außerdem wirst du noch unzählige Mädchen treffen, die dir den Kopf verdrehen werden. Aber du bist erst zehn. Das verstehst du noch nicht.«
Beni kniff seine Augen zu Schlitzen zusammen und schüttelte so entschlossen den Kopf, dass ihm die blonden Locken in die Augen fielen. Dann war er türknallend aus dem Zimmer gestürmt.
Es war nicht verwunderlich, dass ich mich genau jetzt an diesen Moment zurückerinnerte. Ich war inzwischen siebzehn, fast doppelt so alt wie damals. Doch entgegen Annis Prophezeiung hatte sich Beni nie für ein anderes Mädchen interessiert.
Längst erwiderte ich seine Gefühle, doch das hatte ich ihm gegenüber natürlich noch nie erwähnt. Womöglich ahnte er es, weil ich oft nicht verbergen konnte, wie wohl ich mich in seiner Nähe fühlte. Nun war ich aber in einem Alter, in dem mir meine gesellschaftliche Stellung schmerzlich bewusst war.
Nicht, dass ich mich beschweren konnte. Sophie von Waldenburg, die Gattin des Vogts, hatte mich und meine Mutter Josefine Zietsch zwar oft von oben herab, aber doch immer anständig behandelt. Jegliche Kommunikation zwischen den Herrschaften und uns erfolgte über die gnädige Frau, der Hausherr Leopold von Waldenburg pflegte Mutter und mich in der Regel zu ignorieren.
Ich war mit den Kindern der von Waldenburgs aufgewachsen als wären wir Geschwister, und die Vogtei war auch zu meinem Zuhause geworden. Wie oft hatten wir uns als Kinder auf den Kornboden unters Dach verzogen oder zwischen Weinkeller, Gemüsekeller und Milchkammer Verstecken gespielt. Einzig die Tatsache, dass die besondere Bindung zwischen mir und Beni Annegret oft eifersüchtig werden ließ, trübte die Stimmung zwischen uns dann und wann.
»Du bist meine beste Freundin«, betonte Anni dann gern. »Ich habe dich gewickelt und gefüttert. Du warst die Schwester, die ich mir immer gewünscht habe.«
Ich hatte mir angewöhnt, Reden dieser Art nur mit einem stillen Lächeln zu quittieren, denn ich wusste, dass sie ihrem Bruder Beni das Gleiche erzählte: Sie wäre seine leibliche Schwester und nichts und niemand dürfte zwischen ihnen stehen – selbst ich nicht, auch wenn wir miteinander aufwuchsen.
Ich griff nach der Kiepe, einem hohen Weidenkorb mit Gurten, die über die Schulter gespannt wurden, und nahm anschließend die zwei Tragekörbe an mich, die mir Mutter bereitgestellt hatte. Dann schüttelte ich die Gedanken an Beni ab. Ich musste damit aufhören, meinen Tagträumen nachzuhängen, schließlich hatte ich an diesem sonnigen Aprilnachmittag noch eine Menge zu erledigen – allem voran den Einkauf, denn heute war Markttag.
Die mir auferlegten Pflichten fielen mir nicht schwer, waren sie doch eine willkommene Abwechslung zu den Vormittagen, die ich zusammen mit Annegret und Beni in der Stube des Schulmeisters Eduard Langenkamp verbrachte, in der er neben uns auch seinen eigenen Sohn und das eine oder andere Kind betuchter Händler unterrichtete.
Als ich acht geworden war, hatte die gnädige Frau mir gestattet, am Unterricht teilzunehmen. So hatte ich lesen und schreiben gelernt, und der Schulmeister hatte mehr als nur einmal betont, wie begabt ich vor allem in der Alchemie und den Naturwissenschaften war.
Mutter wurde indes nicht müde, mir immer wieder einzubläuen, welch ein Privileg es wäre, dass ich als Tochter einer Magd eine Schule besuchen durfte. Abgesehen davon wusste ich natürlich, dass sie sich die Kosten für meinen Schulbesuch vom Munde absparen musste – ein Grund mehr, mich an den Vormittagen in Langenkamps Stube von meiner besten Seite zu zeigen und auch an den Nachmittagen dafür zu sorgen, dass Sophie von Waldenburg keinen Grund zur Klage hatte und keine der mir aufgetragenen Hausarbeiten je liegen blieb.
Ich warf einen Blick durch das geöffnete Küchenfenster. Der Himmel war wolkenlos, und die strahlende Sonne kündigte den bevorstehenden Sommer an. Die kühle Brise, die hereinwehte, ließ mich frösteln, und so entschied ich mich trotz des schönen Wetters, mein Cape überzuwerfen. Ich wollte gerade zur Tür hinaus, als Beni mir den Weg versperrte.
»Ich begleite dich zum Markt, und wir nehmen den Einspänner«, entschied er, und ich musste zugeben, dass ich erleichtert war, denn es waren einige Dinge, die ich zu besorgen hatte. Es wäre sicher kein Vergnügen geworden, die schweren Körbe heimzuschleppen.
Während Beni das Pferd aus dem Stall holte und den Wagen anspannte, wartete ich im Hof und streckte mein Gesicht in die Sonne. Dann atmete ich tief ein und aus, um mich zu beruhigen, doch das half nichts. In wenigen Augenblicken würde ich neben Beni auf dem Kutschbock sitzen. Nach Wochen, in denen sich keinerlei Gelegenheit ergeben hatte, mit ihm allein zu sein, sah es nun ganz danach aus, als würden wir den Vormittag tatsächlich zu zweit verbringen, ohne dabei ständig von Annegret beobachtet zu werden.
Ich dachte an die hochgewachsene, fast schon hagere Frau, zu der Anni herangewachsen war. In jungen Jahren hatte ich zu ihr aufgeschaut und sie als ältere Freundin verehrt. Doch inzwischen hatte sich das Verhältnis zwischen uns verändert. Immer häufiger bemerkte ich, dass sie mich argwöhnisch musterte und stets dann anwesend zu sein schien, wenn ich mit Beni in ein- und demselben Raum war.
Natürlich wusste ich, dass Annegrets Argwohn vor allem aus einer Sorge heraus entstanden war, die durchaus ihre Berechtigung hatte. Johann Benedicts sonniges Wesen hatte mich verzaubert, solange ich mich zurückerinnern konnte, und aus der einst kindlichen Zuneigung waren längst tiefe Gefühle geworden. Inzwischen schoss mir das Blut ins Gesicht, wenn er mich neckte, mein Herz raste, wenn wir aufeinandertrafen, und Tage, an denen wir uns nicht über den Weg liefen, waren für mich ein wahrer Albtraum. Mir war längst klar, dass Annegret es gut mit uns meinte. Eine Verbindung zwischen dem Sohn des Celler Untervogts und einer Magd war undenkbar. Und doch konnte ich meine Gefühle für ihn nicht unterdrücken, selbst wenn ich es gewollt hätte.
Ich blinzelte gegen die Sonne, hielt meine Hand schützend über die Augen und sah zum Stall hinüber, aus dem Beni gerade den Schimmel führte.
»Ich bin gleich soweit!«, rief er herüber, und ich hörte an seinem Tonfall, dass auch er aufgeregt war.
Als ich über den Hof und auf Beni und die Kutsche zulief, nahm ich im Augenwinkel eine Bewegung wahr, blieb stehen und wandte den Kopf.
Ich hatte mich nicht getäuscht. Hinter dem Fenster stand Annegret und beobachtete mich mit zusammengekniffenen Lippen. Sie hatte den schweren Vorhang zur Seite geschoben, und als sie meinen Blick bemerkte, schüttelte sie ungehalten den Kopf.
Ich tat, als hätte ich ihren Gesichtsausdruck nicht bemerkt, und winkte ihr betont fröhlich zu. Natürlich erwiderte Benis Schwester die Geste nicht. Stattdessen zog sie mit einer wütenden Handbewegung den Vorhang wieder vors Fenster.
»Komm schnell«, bat Beni, der Anni ebenfalls bemerkt haben musste. »Gleich wird meine griesgrämige Schwester im Hof stehen und uns Vorhaltungen machen. Aber ich bin der Meinung, dass es vollkommen ausreicht, wenn wir uns ihre Schimpftirade nach unserem Ausflug anhören.«
Er grinste und zwinkerte mir fröhlich zu. Dann griff er nach meiner Hand und half mir auf den Kutschbock.
Als wir das Hoftor erreichten, sah ich mich noch einmal um. Beni hatte recht behalten: Anni war tatsächlich vor die Tür getreten. Die Hände in die Hüfte gestemmt, stand sie da und warf mir einen finsteren Blick zu.
»Das wird sicher Ärger geben«, seufzte ich.
»Was soll schon passieren?«, fragte Beni unbekümmert. »Anni wird schimpfen wie immer, und sie wird sich beruhigen wie immer.«
»Was, wenn deine Eltern von unserem Ausflug erfahren?«
»Warum sollten sie auch nicht? Da ist nichts, was wir verbergen müssten: Ich wollte bei dem wunderbaren Wetter in die Stadt, und da du Einkäufe zu erledigen hattest, habe ich dir angeboten, dich mitzunehmen. Nicht mehr und nicht weniger.« Grinsend fügte er hinzu: »Nun gut, vielleicht ja doch ein bisschen mehr, aber das muss ja niemand wissen.«
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, erwiderte jedoch nichts und blickte stumm geradeaus. Wie gern hätte ich in diesem Moment nach Benis Hand gegriffen, doch dazu fehlte mir der Mut. Außerdem hielt er die Zügel. Der Weg war von diversen Frühjahrsschauern noch immer schlammig, und Beni musste sich aufs Lenken konzentrieren.
»Du lächelst«, stellte er fest. »Das hat mir gefehlt. Du hast mir gefehlt.« Ohne Scheu sprach er aus, was er dachte.
»Es gab viel zu tun.« Mein Herzschlag beschleunigte sich, und ich knetete nervös meine Hände.
»Nicht nur das«, stimmte Beni zu. »Anni spielt sich auch neuerdings auf wie eine Anstandsdame.«
»Es ist dir also auch aufgefallen?«
»Natürlich. Wir müssen es irgendwie schaffen, ihr aus dem Weg zu gehen. Du könntest für dein Wohlbefinden regelmäßige Spaziergänge entlang der Aller unternehmen, und ich könnte in dieser Zeit ausreiten. Dann hätten wir eine Gelegenheit …«
Ein dumpfer Knall ließ Beni verstummen. Unsanft wurde ich in die Höhe und wieder zurück auf den Kutschbock geschleudert. Ich verlor das Gleichgewicht, bekam in letzter Sekunde Benis Arm zu fassen und krallte mich an ihm fest. Hektisch suchte ich auch mit der anderen Hand irgendwo Halt, denn die Kutsche war gefährlich in Schieflage geraten.
Dann bäumte sich auch noch das Pferd auf, und wieder wankte der Einspänner. Beni riss die Arme hoch, zog die Zügel fest an sich, um den Schimmel im Zaum zu halten, und redete beruhigend auf das Tier ein. Ich hingegen verlor endgültig das Gleichgewicht. Während Beni das Pferd wieder unter Kontrolle brachte, rutschte ich vom Kutschbock und fiel genau in die tiefe Pfütze, die unseren Unfall ausgelöst haben musste.
Das matschige Pfützenwasser spritzte mir ins Gesicht und in die Haare. Innerlich fluchte ich und dachte daran, dass es ausgerechnet Beni war, der mich in diesem Zustand sah – genau der Mensch, vor dem ich mich am allerwenigsten blamieren wollte.
Eilig rappelte ich mich wieder hoch, doch es war zu spät. Die Nässe kroch durch meine Kleider, und die rechte Körperhälfte, auf die ich gefallen war, war nicht nur nass, sondern auch über und über mit Schlamm beschmutzt.
»Catharine!«, rief Beni erschrocken. Er sprang von der Kutsche und griff nach meinen Händen. »Bist du verletzt?«
Ich bemerkte die Angst in seinem Gesicht und schüttelte den Kopf. Dann sah ich an mir herunter und konnte nicht mehr an mich halten. Ohne jede Vorwarnung prustete ich los. Beni blickte so verdattert drein, dass ich noch lauter lachen musste. Als er begriff, dass es mir tatsächlich gut ging, fiel er mit ein. Es dauerte einen Augenblick, bis wir uns beruhigt hatten. Dann stellte ich fest: »In deiner Nähe scheine ich tollpatschiger zu sein als unter normalen Umständen.«
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Beni lächelnd. »Ich habe die Kutsche doch in ein Schlammloch gelenkt. Ich habe nicht einmal bemerkt, dass da eine Pfütze war, weil du mich abgelenkt hast.«
»Dann ist der Unfall also meine Schuld?«, fragte ich mit gespielter Empörung.
Beni holte ein besticktes Tuch aus der Tasche. »Natürlich ist es deine Schuld«, sagte er mit ernster Miene. Dann zog er mich an sich und wischte mir die Schlammspritzer aus dem Gesicht.
Seine Nähe und seine sanften Berührungen trieben mir einen Schauer über den Rücken, und ich zog fröstelnd die Schultern hoch. Natürlich bemerkte er diese winzige Regung sofort. Er zog seinen Herrenrock aus und legte ihn mir um.
»Was würdest du nur ohne mich tun?«, fragte er, als wäre er mein Lebensretter.
»Nun«, gab ich zurück und zog die Augenbrauen hoch, »ich würde weder auf Bäume klettern, von denen ich falle, noch in Kutschen fahren, die in Schlammlöchern stecken bleiben.«
Beni stutzte, gab ein überraschtes Grunzen von sich und wurde dann sofort wieder ernst. »Und du hättest Langeweile. Es würde etwas fehlen – oder jemand. Du würdest dich nach etwas sehnen, ohne zu wissen, was es ist.« Er legte den Kopf schief und sah mir in die Augen. »Ist es nicht so?«
Ende der Leseprobe