Geteiltes Land – Zwischen Verlust und Liebe - Farina Eden - E-Book
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Geteiltes Land – Zwischen Verlust und Liebe E-Book

Farina Eden

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Beschreibung

Gespaltenes Land, gespaltene Herzen – eine Familie, zerrissen zwischen Ost und West Berlin 1964: Nach der Haft darf Gesine ausreisen, doch die Frage, was mit ihrem Kind passiert ist, lässt sie nicht los. Gesines Schwester Sonja steht wegen DDR-kritischer Aussagen unter besonderer Beobachtung. Dass für ihre Überwachung ein enges und geliebtes Familienmitglied angeworben wurde, weiß Sonja nicht. Und so vertraut sie sich ihren Liebsten an, nicht ahnend, dass sie in eine Falle laufen könnte. Mutter Lotte bleibt mit ihrer jüngsten Tochter Lydia in Ostberlin. Denn beim Nesthäkchen der Familie zeigt sich ein sportliches Talent, das Lotte von einer besseren Zukunft träumen lässt. Inspiriert von der eigenen Geschichte der Autorin Farina Eden ist selbst im Osten Berlins und damit in der DDR aufgewachsen. Ein Teil ihrer Familie reiste in den Westen aus, weshalb die in der DDR verbliebenen Angehörigen politischem Druck ausgesetzt waren. Diese Erfahrung diente der Autorin als eine Inspiration für die Trilogie, der jedoch keine einzelne Familienbiografie zugrunde liegt. Vielmehr hat sie verschiedenste historisch belegte Ereignisse zusammengetragen und zu einer »exemplarischen Familiengeschichte« verwoben. Farina Edens  mitreißende DDR-Saga, für die Leser:innen von Claire Winters »Kinder ihrer Zeit« und Ulrike Schweikerts »Friedrichstraßensaga« sowie für Fans der Serie »Weißensee«.

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Sandra Lode

Covergestaltung: t. mutzenbach design, München

Covermotiv: ullstein bild – CARO/Frank Sorge;

akg-images/Mondadori Portfolio; Shutterstock.com

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Kapitel 1

Sonja

Dienstag, 5. März 1963

Kapitel 2

Sonja

Dienstag, 5. März 1963

Kapitel 3

Elise

Montag, 22. April 1963

Kapitel 4

Sonja

Donnerstag, 25. April 1963

Kapitel 5

Elise

Dienstag, 7. Mai 1963

Kapitel 6

Sonja

Mittwoch, 26. Juni 1963

Kapitel 7

Elise

Freitag, 28. Juni 1963

Kapitel 8

Elise

Freitag, 28. Juni 1963

Kapitel 9

Sonja

Freitag, 28. Juni 1963

Kapitel 10

Sonja

Samstag, 29. Juni 1963

Kapitel 11

Sonja

Montag, 1. Juli 1963

Kapitel 12

Elise

Montag, 26. August 1963

Kapitel 13

Sonja

Donnerstag, 29. August 1963

Kapitel 14

Elise

Freitag, 30. August 1963

Kapitel 15

Sonja

Samstag, 31. August 1963

Kapitel 16

Sonja

Samstag, 31. August 1963

Kapitel 17

Elise

Mittwoch, 4. September 1963

Kapitel 18

Sonja

Donnerstag, 5. September 1963

Kapitel 19

Sonja

Sonntag, 20. Oktober 1963

Kapitel 20

Elise

Mittwoch, 30. Oktober 1963

Kapitel 21

Elise

Samstag, 2. November 1963

Kapitel 22

Sonja

Mittwoch, 6. November 1963

Kapitel 23

Sonja

Donnerstag, 7. November 1963

Kapitel 24

Elise

Freitag, 8. November 1963

Kapitel 25

Elise

Freitag, 8. November 1963

Kapitel 26

Sonja

Montag, 11. November 1963

Kapitel 27

Elise

Montag, 11. November 1963

Kapitel 28

Sonja

Mittwoch, 4. Dezember 1963

Kapitel 29

Elise

Freitag, 20. Dezember 1963

Kapitel 30

Sonja

Freitag, 20. Dezember 1963

Kapitel 31

Elise

Freitag, 20. Dezember 1963

Kapitel 32

Sonja

Samstag, 21. Dezember 1963

Nachwort

Flucht durch den Kohleplatztunnel

Durchgangsheime in der DDR

Die Juristische Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit in Potsdam

Die Kostümschneiderei

Quellen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Kapitel 1

Sonja

Dienstag, 5. März 1963

Sie hätte an ihren Schal denken sollen. Genau das fiel Sonja ein, als sie an diesem ersten Dienstag im März die Treppen aus dem U-Bahn-Schacht nach oben stieg und ihr ein eisiger Wind um die Ohren pfiff.

Sie schlug ihren Mantelkragen hoch und hielt die Enden zusammen. Innerhalb weniger Sekunden waren auch die Finger ihrer rechten Hand eiskalt. Sie war zu spät aufgestanden, wie so oft, hatte nicht eingesehen, trotz aller Hektik auf ihr Frühstück zu verzichten, und war am Ende in eine viel zu späte Bahn gestiegen.

Dabei hatte sie sich doch so fest vorgenommen, zukünftig pünktlich zu sein – was nicht etwa an ihrer Lehrstelle lag, sondern allein an der Tatsache, dass sie Schmidtke nicht enttäuschen wollte. Der Schneidermeister würde seine buschig-grauen Augenbrauen unwillig zusammenziehen, über seinen wuchernden, ebenso grauen Backenbart streichen und dann wortlos den Kopf schütteln. Er würde sie den halben Tag lang mit Schweigen strafen, und das ertrug Sonja nicht, denn sie liebte die Geschichten, die der herzliche Mann zum Besten gab.

Karl Schmidtke war Schneider mit Leib und Seele. Seine Stimme war ein einziges sonores Brummen und von einer Wärme, die sie wehmütig daran erinnerte, dass sie ohne Großvater aufgewachsen war.

Während die Passanten um sie herum ihre Augen fest auf das Kopfsteinpflaster richteten, um sich vor dem kalten Wind zu schützen, sah Sonja hoch und ließ ihren Blick lächelnd über den Bebelplatz schweifen. Sie hatte Glück im Unglück gehabt, das wurde ihr jeden Morgen aufs Neue bewusst. Sie glaubte es selbst kaum, doch die Lehre, die man ihr aufgezwungen hatte, machte ihr inzwischen Spaß.

Sie hatte immer Abitur machen und studieren wollen, doch das war ihr verwehrt worden. Ihr Vater lebte im Westen, und ihre Schwester war ein, wie sie es nannten, kriminelles Subjekt, das nach langem Gefängnisaufenthalt ebenfalls in den Westen übergesiedelt war.

Wie es dazu gekommen war, wusste Sonja bis heute nicht. Natürlich hatte sie Gesine in Briefen danach gefragt, doch ihre Schwester sprach und schrieb nie davon, warum man sie lange vor dem Ende ihrer Haftstrafe nicht nur entlassen, sondern auch hatte ausreisen lassen.

Doch nicht nur die Lebensumstände ihres Vaters und ihrer Schwester hatten dazu geführt, dass sie ihren Traum vom Studium der Journalistik hatte begraben müssen. Auch sie war schon im Alter von vierzehn Jahren in der Schule auffällig geworden, als sie den »Erlkönig« von Goethe in eine Art Anleitung zur Flucht umgedichtet hatte. Damals wie heute sträubte sich alles in ihr gegen die Bevormundung und die Überwachung, unter denen sie leben musste.

Mit viel Glück hatte sie noch die zehnte Klasse beenden dürfen, jede weitere Schullaufbahn verwehrte man ihr jedoch mit der Begründung, dass sie erst einmal zu einem wertvollen Mitglied der sozialistischen Gesellschaft werden müsste.

Dann also Schneiderin. Warum auch nicht? Es machte keinen Unterschied mehr, was genau sie lernte. Ihren Traum hatte sie vorübergehend begraben, und ob sie nun Schneiderin oder Verkäuferin wurde, war vollkommen unwichtig, denn sie würde nicht bleiben. So einfach war das. Ihr Vater Max lebte in Freiheit. Ihre Schwester hatte es geschafft, wenn auch auf sehr beschwerlichem Weg und mit dem unvorstellbar grausamen Verlust ihres Kindes. Und Sonja selbst, das hatte sie sich geschworen, würde ganz sicher nicht aufgeben, ehe auch sie ihr Ziel erreicht hatte.

Doch fürs Erste lernte sie nun Nähen bei Karl Schmidtke, einem überaus freundlichen und geschickten älteren Herrn, der es tatsächlich schaffte, die Begeisterung für seine Arbeit auch auf seine Schützlinge zu übertragen.

Mitten auf dem Bebelplatz blieb Sonja stehen. Sie musste zugeben, dass sie auch auf ihre Ausbildungsstätte stolz war. Sie lernte das Schneiderhandwerk nicht etwa in irgendeiner kleinen Hinterhofwerkstatt, sondern in der hauseigenen Schneiderei der Berliner Staatsoper Unter den Linden.

»Das ist ein Privileg, sag ick Ihnen«, hatte Schmidtke ihr und den anderen fünf Mädchen in der Werkstatt gleich am ersten Tag erklärt. Dabei sprach er in einem Kauderwelsch, das seine Berliner Schnauze verstecken sollte, was jedoch nie ganz gelang.

»Schon allein das Gebäude, nich wahr? Erinnert an alte englische Landsitze. Mutet dieser Giebelportikus nicht monumental an?«, hatte er in die Runde gefragt und dabei beifallheischend mit den Händen herumgefuchtelt.

»Keine Ahnung, wovon der Mann spricht«, hatte ihr das Mädchen zugeflüstert, das direkt neben ihr saß und sich ihr später als Dorothea Hofer vorgestellt hatte. Dummerweise war Schmidtkes Gehör wider Erwarten ausgesprochen gut.

»Ts«, hatte er gezischt. »Von nix ’ne Ahnung, die jungen Dinger.« Dann hatte er ihnen lang und breit erklärt, dass ein Portikus nichts anderes ist als ein Säulengang.

»Fräulein Hofer, selbst Ihnen dürfte doch die Ähnlichkeit zu antiken griechischen Tempeln nicht entgangen sein.«

Dorothea, die inzwischen von allen nur noch Dora gerufen wurde, hatte damals ein schüchternes Lächeln gezeigt, das sie nur zu gern aufsetzte, wenn sie sich in eine Notlage hineinmanövriert hatte.

»Entschuldigen Sie, Herr Schmidtke. Ich hab’s nicht so mit Gebäuden. Aber ich verspreche, dass ich gleich in der Pause eine Runde um die olle Oper herumlaufen und sie mir genau anschauen werde.«

Bei den Worten »olle Oper« hatte Schneidermeister Schmidtke sich entsetzt über den Backenbart gestrichen, dann aber resigniert abgewunken. Dora hatte allerdings Wort gehalten und sich das Gebäude tatsächlich angesehen, mit Sonja im Schlepptau.

Inzwischen war Sonja der Gang um die Oper zum Ritual geworden. Obwohl sich die Schneiderwerkstatt in dem Gebäude hinter der Staatsoper befand, lief sie jeden Morgen die Stufen zum Portikus hinauf und schlenderte den Säulengang entlang, ehe sie auf der anderen Seite wieder hinunterging und weiter zum gegenüberliegenden Gebäude, in dem sich die Schneiderei im obersten Stockwerk befand.

Sonja rannte die Stufen zur Schneiderei hinauf und kam vollkommen abgehetzt oben an.

»Guten Morgen, Frau Karstens«, grüßte sie die Schneiderin, die im ersten Zimmer über ihre Nähmaschine gebeugt war.

»Das Fräulein Richter. Wie gewöhnlich auf den letzten Drücker«, kam es grußlos zurück.

Sie schielte Sonja über den Rand ihrer Brille hinweg an und lächelte kopfschüttelnd. »Heute haste Glück, Mädel. Er holt gerade noch Zeugs aus dem Kostümfundus für euch Gören.«

Sonja presste ihre Handflächen auf die Brust und verdrehte die Augen zur Decke, als wäre sie dankbar. Dann huschte sie in den Nebenraum und setzte sich zu den anderen Mädchen an den großen Tisch.

»Heute geht’s wirklich los«, sagte Dora und imitierte dabei Schmidtkes tiefe Stimme.

»Und das heißt was?«

»Keine Ahnung«, gab Dora schulterzuckend zurück.

Kurze Zeit später kam ein Stapel Kostüme zur Tür herein, zumindest sah es auf den ersten Blick so aus, denn von Schmidtke war hinter dem Berg aus Stoffen, die er schleppte, nichts weiter zu sehen als zwei dünne Beine.

Schnaufend warf er die Kleider auf den großen Tisch, um den die Mädchen saßen.

»So«, sagte er noch immer leicht außer Atem. »Nachdem ihr wochenlang mit Zuschneiden und Ausbessern beschäftigt wart, also einfache Hilfstätigkeiten, geht es nun um echte Arbeit. Also höchste Konzentration bitte! Wir wollen schließlich nicht, dass die Sängerinnen über einen zu langen Kleidersaum stolpern oder Sänger ihre Hosen verlieren, weil ein Knopf fehlt. Auslegen!«, forderte Schmidtke die Mädchen auf und machte eine wedelnde Handbewegung.

Nachdem sie die Kleidungsstücke auseinandersortiert und einzeln ausgebreitet hatten, teilte er jedem der Mädchen ein Kleidungsstück zu und gab kurze Anweisungen, was damit zu geschehen hatte.

»Und du«, sagte er an Sonja gewandt, »nähst Flicken auf diese Hose. Die trägt ein Bettler, sieh also zu, dass das Beinkleid am Ende möglichst schäbig aussieht.«

Sonja nickte lachend. »Das schaffe ich ganz bestimmt«, sagte sie aus tiefster Überzeugung, denn sie ging davon aus, dass es wohl weit weniger schwer sein dürfte, etwas so zu nähen, dass es am Ende verlottert aussah, als exakte Nähte zu fabrizieren.

Wie immer, wenn die Aufgaben für den Tag verteilt waren, begannen die Mädchen zu schwatzen. Dora erzählte von einem jungen Mann, mit dem sie seit einigen Wochen ausging und der ihr, nach anfänglicher Begeisterung, mehr und mehr auf den Geist ging.

»Und du und die Männer?«, wollte sie schließlich wissen, hob ihren Stoff an die Lippen und biss den Faden ab, den sie gerade vernäht hatte.

»Schere, Fräulein Hofer!«, mahnte Schmidtke sofort.

Sonja verdrehte grinsend die Augen und sagte dann: »Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Es gab da einen Jungen, den ich ganz gern mochte. Aber wir haben uns irgendwie voneinander entfernt.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Er war einfach nicht der Richtige für mich.«

Das entsprach nur entfernt den Tatsachen. Sie hatte Ullrich zwar kennengelernt, als sie vor ihrem fünfzehnten Geburtstag stand, er aber schon kurz vor dem Abitur, doch das war nicht der ausschlaggebende Grund dafür, dass sie nun allein war.

Sonja sah konzentriert auf den Flicken, den sie gerade mit Stecknadeln auf dem linken Hosenbein befestigte, um ihn anschließend anzunähen. Obwohl sie spürte, dass Doras Blick noch immer neugierig auf ihr ruhte, schwieg sie. Wenn sie eins gelernt hatte, dann war es, Geheimnisse für sich zu behalten. Obwohl sie tagein, tagaus mit den Mädchen zusammenarbeitete, wusste sie nicht, ob und wem sie wirklich trauen konnte. Jeder, das hatte sie spätestens nach der Verhaftung ihrer Schwester begriffen, konnte ein Verräter sein. Und jeder, der etwas wusste, konnte in langen Verhören dazu gebracht werden, Menschen zu verraten, die er eigentlich schützen wollte. Sie selbst war aufgrund ihrer Beziehung zu Ullrich in die Mühlen der Stasi geraten und verhört worden. Spätestens in diesem Moment war Sonja damals aufgegangen, wie gut es war, dass Ullrich ihr nicht mehr über seine Fluchtpläne verraten hatte. Hätte sie Details gewusst, wäre sie vermutlich irgendwann eingeknickt und hätte ausgesagt.

Ihre Leben auf gegenüberliegenden Seiten der Mauer hatten Ullrich und sie auseinandergetrieben. Anfangs hatte Sonja noch gehofft, dass er Kontakt zu ihr halten würde und sie ihm eines Tages folgen konnte. Doch er hatte sein altes Leben gänzlich hinter sich gelassen und ihr nicht einmal mehr geschrieben. Nach anfänglicher Enttäuschung hatte sie eingesehen, dass es so sicher das Beste war, denn auch Briefe konnten irgendwann dazu führen, dass ihre Gesinnung und ihr Wunsch, die DDR zu verlassen, ans Licht kamen.

Sonja hatte gelernt, dass es überlebenswichtig war, selbst Menschen, die sie liebte und denen sie vertraute, nicht alles zu erzählen. Denn diese Verschwiegenheit konnte am Ende Freiheit und Leben retten.

Und genau diese Einsicht führte jetzt dazu, dass sie auch Dora gegenüber nicht allzu viel preisgab. Ein junger Mann, den sie einst gemocht hatte, war eben am Ende nicht der Richtige gewesen. Das sollte und würde als Information für die neu gewonnene Freundin reichen müssen.

»Was soll das denn sein?«, brummte Schmidtkes Stimme plötzlich hinter ihr.

Sonja wandte den Kopf und sah in das unzufriedene Gesicht des Schneidermeisters.

»Flicken auf den Hosenbeinen. Oder nicht?«, gab sie unsicher zurück.

»Himmel, Arsch und zugenäht«, fluchte Schmidtke und riss ihr die Hose aus der Hand. »Schaun Se doch mal hin, Mädel! Wie, dachten Sie, schlüpft der Bettler denn in seine Hosen, wenn Sie das ganze Hosenbein zunähen?«

Sonja starrte verdattert auf den bebenden Backenbart und musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Es sah ihr überaus ähnlich, dass sie selbst das vermeintlich einfache Annähen von Flicken vermasselte.

»Ich bin für derlei Dinge wohl nicht die Richtige«, seufzte sie und gab sich reumütig.

»Da sind wir uns doch mal einig, Fräulein Richter«, polterte Schmidtke zurück.

Die Tatsache, dass er sich diesmal nicht geduldig zeigte, sondern ihr schlichtweg jedes Talent fürs Nähen absprach, kränkte Sonja. Obwohl sie wusste, dass er ihr Können völlig richtig einschätzte, war ihr nach Diskutieren zumute.

»Ich hab auch nie gesagt, dass ich Talent zum Nähen hätte«, gab sie pampig zurück. »Wenn es nach mir ginge, würde ich jetzt die Schulbank drücken und nach bestandenem Abitur so was Spannendes wie Journalistik studieren.«

In der Schneiderwerkstatt war es plötzlich so still, dass man die buchstäbliche Stecknadel hätte fallen hören können. Sonja wollte ihre heftige Reaktion schon bedauern, doch Schmidtke nickte plötzlich verständnisvoll.

»Tja, ist nicht immer Wunschkonzert, nich wahr?« Dann trat er plötzlich einen Schritt an sie heran und beugte sich zu ihr hinunter. »Ihr Abitur können Sie auch an irgendeiner Abendschule machen, Fräulein Richter.«

Sonja sah den Schneider schweigend an. Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie sich vielleicht verhört hatte. Doch Schmidtke nickte erneut und flüsterte ihr dann zu, dass dieser Weg bei seiner rebellischen Enkelin auch funktioniert habe.

»Da schaut niemand so genau hin. Einen Versuch ist es wert, oder nich?«

Sonja hätte den Mann am liebsten an Ort und Stelle und vor all den Mädchen umarmt. Auf die Idee, für ihr Abitur an eine Abendschule zu gehen, war sie bisher nicht gekommen und vermutlich wäre das auch so geblieben.

»Danke«, sagte sie leise. »Darüber werde ich nachdenken.«

»Tun Sie das, Fräulein. Aber bis es so weit ist, haben Sie noch zu tun. Nähte auftrennen und noch mal das Ganze. Und diesmal bitte so, dass der Bettler nicht in seiner Schlüppi auf die Bühne muss, weil die Hose nicht zugänglich ist.«

Sonja gluckste und hielt sich die Hand vor den Mund. Dann salutierte sie albern und rief: »Aye, Käpt’n.«

Kurz vor Ende des Arbeitstages rief Schmidtke Sonja noch einmal zu sich, besah ihre Arbeit und nickte schließlich. »Für ein Bettlerkostüm wird’s schon gehen«, murmelte er. »Und jetzt sei’n Sie so gut und schnappen Sie sich einen Wäschekorb, sammeln Sie die Kostüme ein und bringen Sie sie rüber.«

»Rüber?«, fragte Sonja.

»Sie gehen nach nebenan ins Operncafé. Dort in den Keller und durch den unterirdischen Gang zur Staatsoper. So müssen Sie den Korb nicht quer über die Straße tragen und Sie sehen gleich noch die Katakomben. Spannend, oder nich?«

Der Gedanke, einen Wäschekorb mit Kostümen durch ihr unbekannte unterirdische Gänge zu wuchten und an einem Ort abzuliefern, den sie nicht kannte, behagte Sonja zwar nicht gerade, aber nach Schmidtkes Tipp, doch eine Abendschule zu besuchen, hätte sie ihm heute wohl jeden Gefallen getan.

»Nu gucken Se mal nich so ängstlich«, lachte Schmidtke. »Wenn Ihnen das nicht geheuer ist, nehmen Se halt das Fräulein Hofer mit. Zu zweit trägt sich der Korb ohnehin viel leichter.«

Dora war augenblicklich Feuer und Flamme und machte sich eilig daran, die umgenähten Kostüme einzusammeln.

»Ein echtes Abenteuer. Vielleicht treffen wir ja einen berühmten Opernsänger«, überlegte sie laut.

»Kennst du denn irgendwelche Opernsänger?«, fragte Sonja.

Dora schnalzte ungehalten mit der Zunge. »Ach woher denn? Aber wer auch immer uns auf der anderen Seite des Tunnels in die Arme läuft, könnte doch eine Berühmtheit sein, richtig?«

»Oder ein Botenjunge«, gab Schmidtke zu bedenken. »Und nun raus mit Ihnen. Und dass Sie mir spätestens in einer halben Stunde zurück sind.«

»Ist der Weg so lang?«, fragte Sonja überrascht.

»Nein. Aber wie ich die Damen kenne, finden Sie die eine oder andere interessante Ablenkung unterwegs.«

Der Schneider lächelte geheimnisvoll, und Sonja lächelte mit Herzklopfen in der Brust zurück. Ein Tunnel unter der Erde Berlins, der nichts mit dem Schienenverkehr zu tun hatte. Wer konnte schon von sich behaupten, so etwas sehen zu dürfen?

Kapitel 2

Sonja

Dienstag, 5. März 1963

Der Weg durch die Katakomben, wie Schmidtke sie genannt hatte, war unspektakulär, denn der Tunnel war ausreichend beleuchtet und weit weniger geheimnisvoll, als Sonja ihn sich vorgestellt hatte.

»Sind wir jetzt unter dem Bebelplatz?«, fragte Dora.

»Ich denke schon, ist doch irgendwie alles der Bebelplatz hier. Wenn ich mich nicht täusche, müssten wir unter dem kleinen Park sein, der zwischen der Werkstatt und der Oper liegt.«

Dora riss theatralisch ihre Augen auf und legte dann den Zeigefinger auf die Lippen. »Psst. Vielleicht sind wir ja genau unter dem Gneisenau-Denkmal.«

»Und du glaubst, die Statue erwacht zum Leben, wenn wir zu laut sprechen?«, kicherte Sonja. »Jetzt komm schon«, trieb sie Dora an. »Der Tunnel ist langweilig. Vielleicht können wir uns ja noch ein bisschen in der Oper umsehen, ehe wir zurückmüssen.«

Der Aufgang zum Opernhaus war nicht zu verfehlen. Die Mädchen liefen die Stufen hinauf und trafen oben auf eine Frau, die damit beschäftigt war, das blitzende Geländer der Treppe abzuwischen.

»Wat wollt ihr denn hier?«, fragte sie überrascht.

»Wir kommen aus der Schneiderei und bringen die Kostüme zurück, die abzuändern waren«, antwortete Sonja und lächelte freundlich.

»Durchs Foyer, die halbe Treppe hoch und durch eine der Türen in den Zuschauerraum. Die Kostüme gehören hinter die Bühne in Kostümlager zwei.«

»Aber Schmidtke hat doch was von Kostümfundus gesagt.« Dora sah die Frau fragend an, doch die winkte ab.

»Doch nicht die für die aktuelle Vorstellung. Oder sollen die Sänger erst noch zwischen Hunderten von Requisiten und Kostümen nach dem richtigen Wams suchen?«

Sonja und Dora stimmten in das Lachen der Frau ein und bedankten sich für die Hilfe. Dora öffnete die Tür zum Saal und pfiff anerkennend. Sonja blieb mit offenem Mund stehen und sah sich um.

Obwohl der Zuschauerraum im Halbdunkel lag, waren Prunk und Pracht nicht zu übersehen. Wunderschöne Stucksäulen, vergoldete Geländer zwischen den Sitzreihen und mit rotem Samt überzogene Stühle verliehen dem Raum selbst ohne Licht, Musik und Sänger einen Zauber, der Sonja sofort einfing.

»Hier passen sicher tausend Zuschauer hinein«, murmelte Dora, und ihre gesenkte Stimme verriet, dass sie mindestens genauso beeindruckt war wie Sonja.

»Lass uns auf die Bühne gehen.«

Sonja sah in das fragende Gesicht von Dora, warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Sei kein Frosch. Hier ist doch niemand. Nur ganz kurz. Wir haben doch den Kostümkorb als Alibi. Wenn uns jemand erwischt, sagen wir eben, wir haben die Garderobe nicht gefunden.«

Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte Sonja die Treppen hinunter zur Bühne. Sie stellte sich in die Mitte, breitete ihre Arme theatralisch aus und schmetterte aus voller Kehle: »Solang noch untern Linden die alten Bäume blüh’n, kann nichts uns überwinden, Berlin bleibt doch Berlin!«

In diesem Augenblick hörte sie ein klackendes Geräusch, und in der nächsten Sekunde war ein einzelner Scheinwerfer auf sie gerichtet. Erschrocken presste sie die flache Hand vor den Mund und wusste nicht, ob sie sich entschuldigen, laut lachen oder einfach von der Bühne stürzen sollte.

»Nur weiter, die Dame!«, hörte sie eine Stimme aus der Dunkelheit. Sehen konnte sie allerdings niemanden.

Sonja entschied, dass es wohl besser war, nicht zu weit zu gehen, immerhin konnte, wer auch immer da zu ihr sprach, leicht herausfinden, dass sie zur Schneiderei gehörte, und wenn sie eines nicht wollte, dann war es, Ärger heraufzubeschwören.

»Tut mir leid!«, rief sie deshalb und hielt die flache Hand schützend über ihre Augen, als würde sie in die Sonne schauen. »Wir kommen aus der Schneiderei und bringen die Kostüme.«

Der Spot, der auf sie gerichtet war, ging wieder aus, und Sonja sah eine dunkle Gestalt, die auf der linken Seite des Saals die Treppen hinunter in Richtung Bühne kam.

»Da hast du uns ja was Schönes eingebrockt«, zischte Dora, die inzwischen mit dem Kostümkorb neben Sonja stand.

»Das ist eine Bühne. Ich habe gesungen. So schlimm wird das schon nicht sein!«

»Keine Sorge, ist es nicht«, hörte sie die Stimme wieder, in der eindeutig ein Lachen mitklang.

Das Erste, was Sonja von dem jungen Mann sah, waren die strohblonden, zerzausten Haare. Er stieg die fünf Stufen auf die Bühne hinauf und grinste übers ganze Gesicht. »Hier ist heute niemand mehr«, sagte er beruhigend. »Außer euch.«

Sonja ging auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich bin Sonja Richter, das ist Dorothea Hofer. Wir sind Lehrlinge der Schneiderei und suchen Kostümlager zwei.«

»Gerd Ziegler. Ich kümmer mich hier um Licht und Ton.« Er wackelte mit dem Kopf hin und her, als entspräche seine Aussage nicht ganz der Wahrheit, und ergänzte dann: »Na gut, ich lerne noch. Aber wenn wir mal ehrlich sind, versteh ich mehr von der ganzen Technik hier als der Alte.«

»Der Alte? Ist das dein Vorgesetzter?«, fragte Dora und reichte Gerd ebenfalls die Hand.

»Ja. Na, dann kommt mal, ich bring euch zum Lagerraum zwei. Beeindruckend übrigens, deine Stimme.« Er wandte den Kopf und warf Sonja einen kurzen, schelmischen Blick zu.

»Ja, nicht wahr?«, fragte sie mit ironischem Unterton zurück, zog die Augenbrauen in die Höhe und ergänzte: »Kein Mensch sagt, dass man nur singen darf, wenn man es kann.«

»Völlig richtig«, pflichtete Gerd ihr bei.

»Ich singe eben gern. Was für Zuhörende leider zur Qual werden kann, denn etwas gern zu tun, heißt ja noch lange nicht, es auch zu können.«

»Und wieder: völlig richtig.«

Sonja hörte Dora leise neben sich kichern, doch sie zwang sich dazu, ein möglichst ernstes Gesicht zu machen. »Was genau ist nun deiner Meinung nach richtig?«

Gerd strich sich mit dem Zeigefinger zweimal über die Nase. »Na, dass dein Gesang eine Qual für die Zuhörer …« Er unterbrach sich lachend und stotterte, als hätte er sich versehentlich verhaspelt. »Ich meinte natürlich, dass es jedermann erlaubt sein sollte zu singen.«

»Da hat er aber gerade noch die Kurve bekommen, findste nicht?« Dora rammte Sonja ihren Ellbogen in die Rippen und hakte sich anschließend bei ihr unter.

»Hier entlang, die Damen.« Gerd deutete eine Verbeugung an und öffnete eine Tür, auf der groß und deutlich die Zahl 2 geschrieben stand. Im Innern hängten Sonja und Dora die Kleider auf eine leere Kostümstange.

Natürlich wusste Sonja, dass Schmidtke sie sicher längst zurück erwartete, doch Neugier und Faszination, die sie in diesem Moment packten, waren einfach zu groß.

»Zeigst du uns den richtigen Kostümfundus?«

»Lass uns lieber zurückgehen«, wandte Dora ein. »Ich will keinen Ärger kriegen.«

»Ach was. Schmidtke hat doch selbst gesagt, dass wir sicher die eine oder andere interessante Ablenkung finden werden.«

Dora schnaubte ungehalten. »Sei mir nicht böse, aber ich geh zurück«, erklärte sie. »Ich sag einfach, du musstest noch dringend auf die Toilette, in Ordnung?«

Sonja nickte. Ein Gang zur Toilette gab ihr nicht gerade endlosen Spielraum; wenn sie aber behauptete, sich in den Gängen verlaufen zu haben, könnte sie zumindest noch eine halbe Stunde herausschlagen.

»Hat mich gefreut, Dora«, sagte Gerd galant.

Kurz darauf war Sonja mit ihm allein. »Wo lang?«

Gerd deutete mit dem Kopf links den Flur hinunter. »Erst hier den Gang hinunter.«

»Wo genau sind wir denn gerade?«

»Das ist der Korridor. Links geht es die Treppen runter in Richtung Foyer. Rechts führen die Türen in den Opernsaal. Am Ende des Gangs sind wir hinter der Bühne. Dort gibt es einen weiteren Raum für Kostüme und Requisiten. Der eigentliche Kostümfundus ist allerdings bei euch drüben.«

»Wie meinst du das?«, fragte Sonja überrascht.

»Ganz einfach: Es gibt Unmengen an Requisiten, Kostümen und Bühnenbildern, und die Räumlichkeiten hier in der Oper sind sehr begrenzt. Deswegen wird im Opernhaus immer nur das aufbewahrt, was für die aktuellen Stücke benötigt wird. Am Ende der Spielzeit schaffen wir Kleider und Requisiten wieder rüber und zu euch in den Keller. Da ist schlicht und einfach mehr Platz als hier. Sobald ein neuer Spielplan mit neuen Opern angesetzt wird, suchen Requisiteure und Kostümbildner wieder zusammen, was benötigt wird. Oder sie besorgen oder geben neue Stücke in Auftrag.«

»Woher weißt du das alles?«, fragte Sonja und strich sich verlegen eine ihrer weißblonden Locken aus dem Gesicht. Sie arbeitete inzwischen seit einem Dreivierteljahr in der Schneiderei und hatte noch nicht einmal herausgefunden, dass der Keller unter ihrer Werkstatt eine wahre Fundgrube an Schätzen sein musste.

»Dreimal darfst du raten. Ich bin einer von denen, die körbeweise Requisiten hin und her wuchten, säckeweise Kostüme schleppen und die überdimensionalen Bühnenbilder auf Rädern in die Oper rüberrollen müssen.«

Sonja hatte keine Vorstellung, von welchen Dimensionen Gerd sprach, und vermutlich spiegelte sich genau das gerade in ihrem Gesicht wider.

»Interessieren dich diese Dinge wirklich?«

Als Sonja nickte, fragte er: »Wann hast du Feierabend?«

»Um fünf.«

»Gut. Dann komm nach Feierabend zum Seiteneingang der Oper. Steht Ensemble-Eingang dran, ist nicht zu verfehlen. Ich warte da auf dich.«

Voller Aufregung presste Sonja ihre flachen Hände gegen ihre glühenden Wangen. »Au ja!«, rief sie wie ein Kleinkind, dem gerade eröffnet wurde, dass der sonntägliche Ausflug die Familie in den Zirkus führt.

»Und das hier«, sagte Gerd, während er eine Tür aufstieß, »sind die Kostüme, die für ›Don Giovanni‹, ›Tannhäuser‹, den ›Freischütz‹ und den ›Rosenkavalier‹ benötigt werden.«

Der Raum vor ihr war gefüllt mit in langen Reihen sortierten Kostümstangen, die mit dem Titel der jeweiligen Oper beschriftet waren. Sonja lief zwischen all den Kleidern hindurch, zog hier und da eines heraus und hielt es sich an den Körper.

»Wofür waren denn die Kleider, die wir heute umändern mussten?«, rief sie quer durch den Raum, denn Gerd war in der Tür stehen geblieben.

»Für die morgige Aufführung. Sie spielen ›Don Giovanni‹.«

»Ich sollte in die Schneiderei zurück.« Sonja lief an Gerd vorbei aus dem Raum. Im Flur stellte sie fest, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, in welche Richtung sie zu gehen hatte. Sie blieb stehen und sah sich um.

»Orientierung verloren?« Gerd grinste frech und deutete nach links. »Dort entlang. Ich bring dich noch durch den Tunnel, und dann sehen wir uns nach Feierabend.«

»In Ordnung.«

Als Sonja am späten Nachmittag die Werkstatt verließ, war sie so aufgeregt wie an ihrem ersten Tag in der Schneiderei. Wie vereinbart, erwartete Gerd sie am Seiteneingang der Oper. Sie sah in seine fröhlich lachenden Augen, und ihr Herzschlag beschleunigte sich.

»Bereit?«, fragte er.

Sie nickte und folgte ihm ins Innere.

»Ich geh voraus, wenn es recht ist. Du kennst den Weg ja schon. Es geht erst durch den Tunnel und dann zurück unter die Schneiderei.«

»Aber Schmidtke und Frau Karstens sind sicher noch nicht im Feierabend.«

»Dann sollten wir wohl leise sein.«

Sie schafften es ungesehen in die Kellerräume, und als Gerd die Tür öffnete, verstand Sonja, dass er von anderen Dimensionen gesprochen hatte. Entlang der Wände standen meterhohe Bühnenbilder. Es gab Hauswände mit offen stehenden Fenstern, originalhohe Bäume, ein Wohnzimmer, Brunnen, einen Ballsaal, ja sogar detailgetreu gezeichnete Schlossfassaden.

»An das offene Fenster der Hausfassade wird einfach nur eine Treppe herangerollt.«

»Also kann Julia am Fenster stehen, während Romeo ihr darunter seine Liebe gesteht.«

»Ganz genau.«

Sonja sah sich schweigend um und dachte darüber nach, ob sie wohl jemals eine zweite Gelegenheit bekommen würde, diesen ganz besonderen Ort zu betreten.

»Willst du mal?«, hörte sie Gerds Stimme plötzlich von irgendwo im hinteren Teil des Raumes, der Halle, wenn man es ganz genau nahm.

»Was meinst du?«, rief sie in die Richtung, aus der seine Stimme gekommen war.

Anstelle einer Antwort vernahm sie ein rollendes Geräusch, und kurz darauf sah sie Gerd. Er fuhr mit einer fünfstufigen Holztreppe Roller – direkt auf sie zu.

»Ich schiebe sie hinter die Schlossfassade, dann kannst du oben das Fenster öffnen und noch mal zur Sängerin werden.«

Ungläubig sah Sonja ihn an, begriff dann jedoch, dass er seinen Vorschlag tatsächlich ernst meinte.

»Wenn, dann richtig«, gab sie kess zurück, und weil Gerd sie fragend ansah, ergänzte sie: »Natürlich nur in passender Garderobe und du musst mitmachen.«

»Sicher nicht!« Gerd hob abwehrend die Hände, doch Sonja hatte bereits Feuer gefangen, und was die Kostüme betraf, kam ihr in diesem Moment eine Idee.

»Ich suche ein Kostüm für dich, du eins für mich. Und das wird dann ohne Widerspruch angezogen. Der jeweils andere wählt das passende Lied dazu aus und gekniffen wird nicht.«

»Du spinnst doch«, entfuhr es ihm. Aus weit aufgerissenen Augen sah er sie an und schüttelte den Kopf.

»War doch deine Idee, hier mit der Treppe aufzukreuzen. Jetzt komm schon, nur zum Spaß. Und wenn du darauf bestehst, verlieren wir hinterher nie wieder ein Wort darüber.«

Gerd wackelte ablehnend mit dem Zeigefinger vor Sonjas Nase hin und her. »Das wird nicht reichen. Wenn ich mich hier vor dir schon zum Gespött mache, dann nur unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Du gehst danach mit mir aus.«

Sie musste keine Sekunde über seine Bedingung nachdenken. Es gab Schlimmeres, als mit dem gut aussehenden, fröhlichen Gerd auszugehen.

»Abgemacht. Und jetzt geh mir aus dem Weg, ich muss das passende Kostüm für dich suchen.«

Kapitel 3

Elise

Montag, 22. April 1963

Elise hatte ihren Umzug nach Potsdam nicht bereut. Sie vermisste weder die überfüllten Straßen noch den Lärm oder den Gestank Berlins. Auch ihre anfängliche Befürchtung, in ihrer rar gesäten Freizeit in Einsamkeit zu versinken, hatte sich nicht bewahrheitet. Es war vielmehr so, dass sie ihr altes, unglückliches Leben abgestreift und ein neues, aufregendes begonnen hatte.

Nachdem ihre einstige Kollegin Tanja im Frauengefängnis Hoheneck den Freitod gewählt und ihr so jede Möglichkeit genommen hatte, um Vergebung zu bitten, hatte Elises neue Zukunft plötzlich ganz deutlich vor ihr gelegen.

Bereits wenige Tage nach der vergeblichen Reise zu Tanja hatte sie Kuno aufgesucht. Gönnerhaft hatte er sie in seine Arme sinken lassen, ihr erklärt, dass er die Beziehung mit ihr wieder aufnehmen und ihr selbstverständlich mit Rat und Tat zur Seite stehen würde, wenn sie sich tatsächlich dazu entschlösse, den richtigen Weg einzuschlagen.

Mit glühenden Wangen hatte sie ihm versichert, dass sie nichts so sehr wolle wie eine echte Karriere, denn sie hatte es satt, als geheimer Informant immer nur Kollegen oder Schüler auszuspionieren.

»Dann zieh nach Potsdam«, hatte Kuno vorgeschlagen und ihr von der Hochschule berichtet, die es dort gab und in der die Staatssicherheit ihre Kader ausbildete.

Mit ihren einunddreißig Jahren hatte sie die Altersgrenze noch nicht überschritten, dank ihres Abiturs war sie zugangsberechtigt, und Kunos Kontakte sorgten zusätzlich dafür, dass sie sich schon in diesem Sommersemester hatte einschreiben können.

Lächelnd sah Elise in den stumpfen Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Wie alle anderen Studenten auch, lebte sie nun in einem der Wohnblocks auf dem Hochschulareal. Die dreigeschossigen, kasernenartigen Blocks lagen auf einem weitläufigen Gelände, zu dem Nichtstudierende keinen Zutritt hatten.

Ihr Zimmer war klein, aber für ihre aktuellen Bedürfnisse mehr als ausreichend. Es gab ein Bett, einen großen Schrank, Schreibtisch und Stuhl unter dem Fenster, und das Waschbecken neben der Tür hatte sogar fließend warmes Wasser.

Toiletten und Duschraum befanden sich im Erdgeschoss, und nach vorheriger Terminabsprache konnte sie sogar wöchentlich ein Wannenbad nehmen, wenn sie das wollte.

Elise warf einen Blick auf die kleine Standuhr, die sie sich auf den Schreibtisch gestellt hatte. Höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen. Beim Verlassen ihres Zimmers sah sie noch einmal in den großen Spiegel, der an der Innenseite der Tür hing. Sie lächelte. Was sie sah, gefiel ihr. Es war etwas Besonderes, die dunkle Uniform tragen zu dürfen, denn sie verlieh ihr Autorität, obwohl sie doch gerade erst mit dem Studium begonnen hatte.

Am heutigen Montag stand Spezialdisziplin auf dem Plan, ein Lehrfach, in dem es der Beschreibung nach nicht nur um Grundfragen operativer Arbeit ging, sondern auch um Abwehr, Untersuchungsarbeit und die Destabilisierung des Feindes. Was genau sich hinter all den Begriffen verbarg, wusste sie zwar noch nicht, doch das würde sich womöglich schon heute ändern. Am Nachmittag ging es mit der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, militärischer Ausbildung und Sport weiter.

Während sie in den Hörsaal ging, dachte sie an ihren allerersten Tag an der Hochschule, der gerade einmal eine Woche zurücklag. Sie hatte sich unter ihresgleichen sofort wohlgefühlt, was vermutlich auch daran lag, dass sie eine von nur fünf Frauen im Kurs war und aufgrund ihrer äußeren Erscheinung von den männlichen Kursanten angehimmelt wurde.

An das Wort Kursanten hatte sie sich erst gewöhnen müssen, doch inzwischen ging es ihr ganz leicht von den Lippen. Sie waren eben keine gewöhnlichen Studenten, sondern zählten zu einer unschätzbaren Elite, auf die sich das fortschrittliche System der noch jungen Republik schon bald gründen würde.

Obwohl sie heute über dreißig war, fühlte sie sich wieder wie zwanzig und frisch an der Uni. Damals war ihre Fachrichtung die Pädagogik, und anders als hier in Potsdam waren Männer weit in der Unterzahl gewesen.

Mitte letzter Woche hatte Kuno sie am Ende des Tages zum Essen abgeholt und augenblicklich registriert, dass man ihr nachblickte. »Ich möchte doch annehmen, dass die Kursanten dir nicht zu nahe treten? Ich wäre überaus verärgert, wenn ich gegen einen dieser Knaben ausgetauscht würde, vor allem, da ich doch selbst dafür gesorgt habe, dass du an dieser überaus renommierten Ausbildungsstätte angenommen wurdest.«

Elise hatte seine Eifersucht zur Kenntnis genommen und sich im Stillen darüber gefreut. Natürlich schmeichelte ihr die Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwurde. Andererseits wusste sie genau, dass sie niemals zulassen würde, dass eine unwichtige Liebelei ihren Karriereplänen im Weg stand. Hinzu kam, dass sie tatsächlich mit Kuno glücklich war. Er war von imposanter Statur, trat selbstsicher auf und war von einer geheimnisvollen Aura umgeben, die Elise geradezu magnetisch in ihren Bann zog. Was machte es da schon, dass ihm die fünfzehn Jahre, die er älter war als sie, inzwischen anzusehen waren?

Mit beschwingten Schritten betrat Elise den Hörsaal, suchte sich einen Platz in der zweiten Reihe und legte Papier und Stift zurecht.

»Rühren!« Major Werner Kollwitz betrat den Hörsaal und schien an einer militärischen Begrüßung, wie sie von anderen Dozenten verlangt wurde, nicht interessiert. Er winkte ab, warf seine schmale Aktentasche schwungvoll auf das Pult und sah erst dann ruhig in die Runde.

»Gut, dann wollen wir mal.«

Mit langen Schritten ging er durch den Raum und öffnete einen Schrank, der an der Rückwand stand.

»Wenn bitte jemand so gut wäre, die Vorhänge zu schließen«, befahl er, während er einen Diaprojektor, der auf einem Schwenkarm befestigt war, in Position brachte und einschaltete.

»Was sehen Sie?«

Ein Kursant, der direkt neben der Tür saß und von dem Elise inzwischen wusste, dass er Alfred Körber hieß, hob die Hand. »Eine attraktive Frau im Sommerkleid, Major Kollwitz.«

Ein leises Lachen ging durch die Stuhlreihen, doch da der Major keine Miene verzog, wurde es augenblicklich wieder still. Die Frau war zwar nur von hinten zu sehen, doch Elise musste zugeben, dass der weite, wehende Blumenrock und der durcheinandergefallene Pagenschnitt auch ohne Gesicht sehr anziehend wirkten.

»347 war Republikflüchtling«, erklärte Kollwitz, und während er fortfuhr, zeigte er Dia für Dia. »Ich sage: war, weil sie inzwischen den Freitod gewählt hat, was bei der Feigheit unserer Staatsfeinde leider ein nicht seltenes Mittel ist, sich einer gerechten Strafe zu entziehen.«

Das nächste Dia hakte, und Kollwitz brauchte einen Moment, ehe schließlich das Gesicht der Frau zu sehen war. Elise schlug die Hand vor den Mund und atmete entsetzt und leider auch für alle Anwesenden hörbar ein.

»Fräulein Grieger?«

»Ich bitte um Entschuldigung. Unterdrückter Schluckauf, nichts weiter.« Elise hätte gern »Bitte fahren Sie doch fort« hinterhergeschoben, doch sie befürchtete, dass ihre zitternde Stimme sie verraten würde.

347 war Tanja.

Elise starrte in das übergroße Gesicht ihrer früheren Kollegin und Freundin. Sie versuchte, sich auf die Worte des Majors zu konzentrieren, doch das war schwieriger als gedacht. Wie hübsch sie gewesen war! Auf dem nächsten Bild hatte sie ihre dunklen Haare auf einer Seite hinters Ohr gestrichen und war gerade dabei, sich eine Zigarette anzuzünden.

Elise schluckte schwer. Das Rauchen hatte Tanja mit ihr zusammen begonnen. Auf dem Balkon, der zum Lehrerzimmer gehört hatte.

»Hören Sie schlecht, Kursantin Grieger?«

Elise zuckte zusammen. Sie war angesprochen worden, ohne dass sie es bemerkt hatte. »Ich bitte um Verzeihung, Major Kollwitz. Wie war die Frage?«

»Ich wiederhole meine Fragen nicht. Aber das dürfte auch nicht nötig sein.« Er legte das nächste Dia ein, und sofort ging ein Raunen durch den Hörsaal.

»Möchten Sie fortfahren, Fräulein Grieger?«

Elises Herz schlug so schnell, dass sie befürchtete, im nächsten Moment zusammenzubrechen. Sekundenlang schloss sie die Augen, während ihre Gedanken rasten. Auf dem Dia war sie zu sehen. Unverkennbar. Tanja, ihr Ehemann Michael und sie standen auf dem Schulhof und redeten miteinander, als wären sie Freunde. Und sie waren dabei fotografiert worden, ohne dass Elise auch nur die leiseste Ahnung davon gehabt hatte.

»Wir warten«, drängte Kollwitz. Elise sah ihn an, sah, wie seine Lippen sich wölbten, weil er bei geschlossenem Mund mit der Zunge immer wieder über seine Zähne fuhr.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte sie und erhob sich. Sie wusste, dass nicht weniger als ihre gesamte Laufbahn davon abhing, was sie nun von sich gab. Immerhin war nicht zu leugnen, dass sie mit Tanja, die hier als Beispiel für die Erarbeitung eines operativen Vorgangs herangezogen wurde, bekannt gewesen war.

»Ich muss zugeben, dass mich der Anblick meiner einstigen Kollegin Tanja Lange auf der großen Leinwand erschreckt hat.«

Elise sah zu Major Kollwitz und glaubte, so etwas wie ein teilnehmendes Nicken zu sehen. Zumindest dafür schien er Verständnis zu haben.

»Wir haben zusammen an einer Schule gearbeitet«, erklärte sie und beschloss in diesem Moment, die Terminologie des Majors zu verwenden und auf den Namen ihrer Kollegin zu verzichten.

»347 unterrichtete Deutsch und Staatsbürgerkunde und gab sich mir gegenüber stets als überzeugte Sozialistin. Wir wurden fast so etwas wie Vertraute. Umso entsetzter war ich, als sie von einem Tag auf den nächsten nicht mehr zur Arbeit erschien.«

»Möchten Sie uns vielleicht ein wenig aus dem Privatleben von 347 berichten?«

Elise nickte und schalt sich innerlich für ihre Naivität. Natürlich! Sie hätte davon ausgehen müssen, dass der Major genau über die privaten Schwierigkeiten, in denen Tanja gesteckt hatte, unterrichtet war. Immerhin wurde sie an dieser Einrichtung als Lehrbeispiel herangezogen und war zu ihren Lebzeiten über Monate, wenn nicht Jahre hinweg beobachtet worden.

Nur warum eigentlich? Wenn es je jemanden gegeben hatte, der unverschuldet Opfer äußerer Umstände geworden war, dann doch wohl Tanja!

»Der Herr, den Sie auf dem Dia neben mir sehen, ist der Ehemann von 347«, erklärte Elise knapp.

»Was wissen Sie über ihn?«, fragte Major Kollwitz mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen.

»347 kam eines Tages mit blauen Flecken an den Oberarmen in die Schule. Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich außerdem das Veilchen unter dem Auge, das sie zu überschminken versucht hatte. Sie gestand mir, dass ihr Gatte nicht nur zu viel trank, sondern sie auch schlug.«

»Das«, unterbrach Major Kollwitz, »ist die Version von 347 gewesen. Danke, Fräulein Grieger. Sie dürfen sich setzen, ich fahre fort.«

Er schaltete den Diaprojektor aus, zog die Vorhänge auf und stellte sich mit verschränkten Armen vor das Pult.

»Der Fall 347 ist eines von vielen Beispielen dafür, wie wichtig ihre zukünftige Zusammenarbeit mit den GIs, den geheimen Informanten, werden wird. Ihr oberstes Ziel wird darin bestehen, den Feind zu destabilisieren, Herrschaften. Das funktioniert selbstverständlich nicht, wenn nur ein einziger Mitarbeiter auf einen Staatsfeind angesetzt wird. Dazu braucht es schon etwas mehr. Der Gatte von 347 war und ist ein geheimer Informant. Er wusste, dass seine Frau ihre Flucht plante, und wandte sich an uns. Nur durch die effiziente Zusammenarbeit auf allen Ebenen – privat wie beruflich – war es am Ende möglich, die staatsfeindlichen Absichten von 347 aufzudecken und sie in die Enge zu treiben. Es geht bei der Destabilisierung, in Kriegszeiten sprach man übrigens auch von Zersetzung des Feindes, immer nur darum, dem Feind alles, wirklich alles, zu nehmen. Was also tun Sie als Offizier irgendwann?« Kollwitz sah in die Runde und zog abwartend die Augenbrauen hoch. Da niemand die Hand hob, beantwortete er seine Frage selbst.

»Sie entziehen dem Feind jede Lebensgrundlage, ruinieren seinen Ruf. Sie sorgen dafür, dass er den Arbeitsplatz, den Ehepartner oder die Freunde aus dem Kegelclub verliert. Nach ebendieser Strategie sind wir auch hier vorgegangen. Der auf 347 angesetzte Offizier Meier allein wäre nicht so zügig so erfolgreich gewesen, hätte er nicht die Unterstützung seiner GIs gehabt. Die GIs haben dafür gesorgt, dass 347 keine Vertrauensperson mehr blieb, und genau so«, Kollwitz schlug plötzlich mit der flachen Hand auf das Pult, sodass sämtliche Kursanten im Raum erschrocken zusammenzuckten, »entledigen wir uns unserer Feinde.«

Elise starrte Major Kollwitz an. Unter dem Tisch krallten sich ihre Finger in den Rock ihrer Uniform. Ihr war eiskalt, und sie hatte das Gefühl, der ganze Raum schien sich um sie zu drehen.

Offizier Meier. Kuno Meier. Ihr Kuno!

Ende der Leseprobe