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Für Liebe und Freiheit wagten sie alles – das Schicksal einer Familie im geteilten Deutschland Berlin 1961: Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs sind Vergangenheit, und die Hauptstadt blüht wieder auf. Die 19-jährige Gesine aus Berlin-Mitte und der Westberliner Student Peter sind frisch verliebt, aber ihnen bleiben nur wenige Monate, bevor der Bau der Mauer der Beziehung ein jähes Ende bereitet. Gesine ist verzweifelt. Ihre alleinerziehende Mutter Lotte versteht den Schmerz ihrer Tochter und versucht, Gesine und ihrer Schwester Sonja trotz der schwierigen Situation in Ostberlin ein gutes Leben zu ermöglichen. Doch Gesines Entschluss steht fest: Sie wird zu Peter in den Westen flüchten. Sie ahnt nicht, dass der Preis für ihre Liebe weit mehr sein wird als ihre Freiheit … Inspiriert von der eigenen Geschichte der Autorin Farina Eden ist selbst im Osten Berlins und damit in der DDR aufgewachsen. Ein Teil ihrer Familie reiste in den Westen aus, weshalb die in der DDR verbliebenen Angehörigen politischem Druck ausgesetzt waren. Diese Erfahrung diente der Autorin als eine Inspiration für die Trilogie, der jedoch keine einzelne Familienbiografie zugrunde liegt. Vielmehr hat sie verschiedenste historisch belegte Ereignisse zusammengetragen und zu einer »exemplarischen Familiengeschichte« verwoben. Farina Edens mitreißende DDR-Saga, für die Leser:innen von Claire Winters »Kinder ihrer Zeit« und Ulrike Schweikerts »Friedrichstraßensaga« sowie für Fans der Serie »Weißensee«.
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© Piper Verlag GmbH, München 2023
Redaktion: Sandra Lode
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Covermotiv: Trinity Mirror / Mirrorpix / Alamy Stock Foto; akg-images / Günther Schaefer; Shutterstock.com
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Cover & Impressum
Kapitel 1
Gesine
Freitag, 9. September 1960
Kapitel 2
Gesine
Sonntag, 11. September 1960
Kapitel 3
Gesine
Montag, 12. September 1960
Kapitel 4
Elise
Montag, 12. September 1960
Kapitel 5
Gesine
Montag, 19. September 1960
Kapitel 6
Elise
Mittwoch, 19. Oktober 1960
Kapitel 7
Gesine
Donnerstag, 22. Dezember 1960
Kapitel 8
Gesine
Freitag, 23. Dezember 1960
Kapitel 9
Gesine
Samstag, 31. Dezember 1960
Kapitel 10
Elise
Freitag, 3. März 1961
Kapitel 11
Peter
Donnerstag, 9. März 1961
Kapitel 12
Gesine
Freitag, 10. März 1961
Kapitel 13
Elise
Freitag, 26. Mai 1961
Kapitel 14
Gesine
Sonntag, 13. August 1961
Kapitel 15
Peter
Sonntag, 13. August 1961
Kapitel 16
Elise
Dienstag, 5. September 1961
Kapitel 17
Gesine
Donnerstag, 5. Oktober 1961
Kapitel 18
Peter
Mittwoch, 11. Oktober 1961
Kapitel 19
Elise
Mittwoch, 29. November 1961
Kapitel 20
Gesine
Dienstag, 26. Dezember 1961
Kapitel 21
Peter
Freitag, 29. Dezember 1961
Kapitel 22
Gesine
Freitag, 29. Dezember 1961
Kapitel 23
Elise
Samstag, 30. Dezember 1961
Kapitel 24
Gesine
Samstag, 30. Dezember 1961
Kapitel 25
Gesine
Donnerstag, 1. Februar 1962
Kapitel 26
Peter
Donnerstag, 3. Mai 1962
Kapitel 27
Gesine
Montag, 7. Mai 1962
Kapitel 28
Gesine
Dienstag, 22. Mai 1962
Kapitel 29
Peter
Dienstag, 3. Juli 1962
Kapitel 30
Gesine
Freitag, 24. August 1962
Kapitel 31
Gesine
Montag, 10. September 1962
Kapitel 32
Elise
Dienstag, 18. September 1962
Kapitel 33
Gesine
Freitag, 14. Dezember 1962
Kapitel 34
Elise
Montag, 21. Januar 1963
Kapitel 35
Gesine
Mittwoch, 23. Januar 1963
Nachwort
Die Girrmann-Gruppe
Freikauf politischer Häftlinge
Zwangsadoption
Danksagung
Quellen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
Gesine war außer sich. Einen Moment lang lief sie im dunklen Flur der kleinen Wohnung auf und ab und versuchte, sich zu beruhigen. Dann öffnete sie die Küchentür. Ihre Mutter Lotte saß am Tisch und schälte Kartoffeln. Inzwischen war nicht mehr zu übersehen, dass sie in anderen Umständen war. Auf Anraten des Arztes, galt sie mit ihren zweiundvierzig Jahren doch als Spätgebärende, hätte sie längst kürzertreten sollen, doch das war finanziell nicht machbar. Um ihre fast erwachsenen Töchter durchzubringen, arbeitete Lotte Richter weiter im Schichtbetrieb, war gerade nach einem schweren Tag in der Nachtschicht aufgestanden und hatte sich sofort darangemacht, Mittagessen zuzubereiten. Ihre Augen waren winzig, ihre Haare ungekämmt.
Vermutlich war sie noch gar nicht richtig wach, doch Gesine wollte nicht warten. Die Empörung platzte aus ihr heraus und entlud sich wie ein Sommergewitter. »Das darf nicht wahr sein! Was soll das nun schon wieder werden? Was tun die uns denn noch alles an? Hast du’s schon gehört, Mutti?«
»Ist es aus der Mode, guten Morgen zu sagen?«, fragte Lotte zurück, ohne von ihren Kartoffeln aufzusehen.
»Guten Morgen«, erwiderte Gesine, warf einen Blick auf die Uhr und schaltete dann das Radio ein. »Gleich zwölf. Zeit für Nachrichten.«
»So geheimnisvoll? Was bringt dich denn an einem Freitag im September so in Rage?«
Anstelle einer Antwort hob Gesine den Zeigefinger und deutete auf das Radio. Es dauerte einen Moment, doch dann rückte der Radiosprecher mit der Neuigkeit heraus, die Gesine bereits kannte:
»Das Revanchistentreffen, das vom 1. bis zum 4. September in Westberlin stattfand, stellte eine erhebliche Gefährdung von Ordnung und Sicherheit für unseren Staat dar. Daher wird angeordnet, dass Bürger der Bundesrepublik Deutschland nach unseren Strafgesetzen zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie die Hauptstadt unserer Deutschen Demokratischen Republik ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung betreten.«
»Diesem verschwurbelten Gerede kann doch sowieso keiner folgen«, sagte Lotte achselzuckend.
Gesine stemmte beide Hände in die Hüften und starrte ihre Mutter an. »Tu nicht so! Du hast ganz genau verstanden, was das heißt. Ab jetzt können uns Westberliner nur noch mit Genehmigung besuchen. Vati muss also von nun an jedes Mal nett fragen, bevor er kommt. Und was passiert, wenn ihm der Passierschein verweigert wird?«
Ihre Mutter verdrehte die Augen, erhob sich und stellte den Kartoffeltopf auf den Herd, der seit etwa anderthalb Jahren zu ihrer Küchenausrüstung gehörte und sowohl mit Holz als auch mit Gas befeuert werden konnte.
Lottes Schweigen brachte Gesine nur noch weiter auf. »Deine Gleichgültigkeit nehme ich dir nicht ab, Mutti! Du kannst mir nichts mehr vormachen. Du und Vati – ihr tut beide so, als käme er nur wegen Sonja und mir. Aber er kommt auch wegen dir. Was, wenn das nun nicht mehr geht? Wenn er diese dumme Erlaubnis nicht bekommt?«
»Dann ist das eben so«, gab Lotte kurz angebunden zurück. »Es wird schon seine Gründe haben, dass diese Anordnung nun in Kraft tritt.«
Gesine ließ sich auf den Küchenstuhl plumpsen, von dem ihre Mutter gerade aufgestanden war, und atmete hörbar aus. Es war sinnlos, mit ihr über Politik zu diskutieren. Ein einziges Mal hatte Lotte ihrer Tochter erklärt, dass nichts auf der Welt so schlimm wäre wie die Nazis. Mehr gab es für Lotte Richter zu diesem Thema offenbar nicht zu sagen.
»Du würdest ihn doch auch vermissen, Mutti«, sagte Gesine etwas leiser in der Hoffnung, ihre Mutter doch noch aus der Reserve zu locken.
»Ach ja?«, fragte Lotte zurück, und ihre Stimme bekam plötzlich einen giftigen Unterton. »Was genau sollte ich deiner Meinung nach denn vermissen? Dass er sich alle acht Wochen hier zum Kaffee einlädt, einige Tage bleibt und unsere karge Speisekammer leer futtert? Dass er trotz diesem Wurm hier«, sie deutete auf ihren gewölbten Bauch, »noch immer nicht daran denkt, mehr für mich und euch zu tun, als ab und an mal aufzukreuzen? Dass er Sonja und dir jedes Mal erzählt, dass da drüben, wo er lebt, alles viel besser und bunter und größer und überhaupt ist? Er setzt euch Kindern Flausen in den Kopf und verschwindet dann wieder. Ich stehe da mit all der Arbeit und den Geldsorgen und muss sehen, wie ich euch Mädchen durchbringe! Mag ja sein, dass du bemerkt hast, dass ich noch etwas für deinen Vater empfinde. Gefühle lassen sich schlecht in Schachteln verpacken und auf dem Dachboden verstauen. Aber Tatsache ist nun mal, dass er nach jedem Besuch wieder geht, weil ihm andere Dinge wichtiger sind. Es hilft nicht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Dann kann er eben nicht mehr kommen. Was ändert das in unserem Alltag schon groß?«
Ihre Mutter wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab, verließ eilig die Küche und ging ins Bad.
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Gesine ihr hinterher. Noch nie hatte sie sich so offen und ausführlich zu ihrem getrennt lebenden Mann Max Richter geäußert. Die Worte waren aus ihr herausgesprudelt, als hätten sie schon lange Zeit an der Oberfläche geschlummert.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der Vati mit ihnen unter einem Dach gelebt hatte. Die Streitereien der beiden waren Gesine unauslöschbar im Gedächtnis geblieben. Andere Frauen waren das immer wiederkehrende Problem ihrer Eltern. Oder besser gesagt, das Problem ihrer Mutter, denn sicher genoss Vati seine unzähligen Liebschaften und empfand diese nicht als problematisch.
Sie musste etwa elf oder zwölf gewesen sein, als sie das Gespräch ihrer Eltern belauscht hatte, das das vorläufige Ende ihrer Familie darstellte. Vati hatte beteuert, dass ihm all die anderen Frauen nichts bedeuteten und lediglich ein spielerischer Zeitvertreib für ihn waren.
Doch von diesem Tag an hatte sich Gesines Mutter nicht mehr erweichen lassen und ihren Mann endgültig vor die Tür gesetzt. Er dürfe die Mädchen sehen, wann immer er wolle, hatte Gesine sie sagen hören. Er dürfe auch sie besuchen, wenn ihm der Sinn danach stand. Doch nie wieder würde sie einem Schürzenjäger wie ihm gestatten, auf ihren Gefühlen herumzutrampeln, während sie damit beschäftigt war, ihm das Leben so angenehm wie nur möglich zu machen.
Damals war Gesine stolz gewesen auf die Stärke ihrer Mutter. Inzwischen wusste sie jedoch, dass ihre Worte nie Realität geworden waren, denn Lotte Richter ließ noch immer zu, dass ihr Mann sie verletzte. Er mochte nicht mehr bei ihnen wohnen, doch wann immer er kam, gab es nur noch ihn. Gesine konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals Nein gesagt hätte, wenn er seinen Besuch ankündigte, sie in den Arm nahm oder gar vor aller Augen küsste.
Gesine starrte auf die geschlossene Badezimmertür. Da ihre Mutter keinerlei Anstalten machte herauszukommen, packte sie das schlechte Gewissen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, sie so zu bedrängen? Sie wusste doch, dass sie ihr Bestes gab, um für sie und ihre Schwester zu sorgen. Lotte hatte es geschafft, für sie drei eine Wohnung in der Stalinallee zu ergattern, in einem erst Ende der Fünfzigerjahre neu gebauten Wohngebiet zwischen Alexanderplatz und Strausbergerplatz. Schule, Kindergarten, Poliklinik, Kino, all diese Einrichtungen lagen fußläufig zu ihrem Zuhause, und als wären diese Annehmlichkeiten nicht schon genug, verfügten die Richters sogar über ein Innenbad mit fließendem Wasser und Badeofen. Die Toilette lag zwar einen Treppenabsatz tiefer und musste mit weiteren Mietern geteilt werden, doch das war nur ein winziger Nachteil, mit dem sich leben ließ.
Vati hatte immer wieder angedeutet, dass sicher Lottes Schwester Elise bei der Wohnungsvergabe die Finger im Spiel gehabt haben musste. Elise und er gerieten über diese Frage regelmäßig in Streit, denn während Vati davon überzeugt war, dass die Tante als linientreue Pädagogin beste Kontakte in höhere Parteikreise hatte, hielt Elise ihm stets entgegen, dass er paranoid sei und sie lediglich von Herzen gern Lehrerin wäre.
In ihrer Dreizimmerwohnung hatten sich Gesine und Sonja zunächst einen Raum geteilt, doch inzwischen hatte ihre Mutter ihre vier Wände hergegeben und war auf die Schlafcouch im Wohnzimmer ausgewichen. Gesines Vorschlag, dies wieder rückgängig zu machen, damit Lotte nach der schweren Arbeit wenigstens in einem vernünftigen Bett schlafen konnte, schlug Lotte regelmäßig mit der Begründung aus, dass Mädchen mit neunzehn und vierzehn ihre Privatsphäre bräuchten und sie selbst ja auch die Wohnzimmertür ohne Weiteres schließen könnte, wenn sie nach der Arbeit ihre Ruhe haben wollte.
Lotte Richter fuhr jeden Tag von Berlin Mitte mit Bus und Bahn nach Oberschöneweide, um im Werk für Fernsehelektronik schwere Röhren hin und her zu wuchten. Und nun war Gesine nach solch einem schweren Arbeitstag und einer kurzen Nacht nichts Besseres eingefallen, als ihrer Mutter eine Szene zu machen und ihr Dinge vorzuhalten, die ohnehin niemand von ihnen ändern konnte. Gesine seufzte und lief zum Bad. »Mutti?«
»Was denn?«, kam es ungehalten durch die geschlossene Badezimmertür.
»Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht aufregen.«
Da ihre Mutter nichts erwiderte, nahm Gesine einen neuen Anlauf. »Soll ich Möhren putzen und aufsetzen?«
»Schon gut«, antwortete Lotte und trat aus dem Bad. »Ich mach das. Aber du könntest in der Zwischenzeit Wäsche sortieren. Wenn du mir wirklich helfen willst, kannst du dich nach dem Essen um die Kochwäsche kümmern, während ich mit Sonja den Einkauf erledige.«
»In Ordnung«, sagte Gesine sofort. Natürlich hatte sie sich ihren freien Tag anders vorgestellt, aber nachdem sie ihrer Mutter den Vormittag verdorben hatte, konnte und wollte sie keinen Rückzieher mehr machen.
»Ach und Gesine«, rief Lotte aus der Küche, »dein Vater ist am Wochenende da! Bitte sei so gut, such sein Bettzeug raus, und hol das Klappbett aus der Kammer.«
Gesine kniff ihre Lippen fest zusammen und schluckte den bissigen Kommentar herunter, der ihr auf der Zunge lag. Nach allem, was ihre Mutter ihr gerade erklärt hatte, kam diese Nachricht überraschend. Trotzdem freute sie sich, denn Vatis letzter Besuch lag nun schon anderthalb Monate zurück.
Das Geschrei ihrer Schwester ließ Gesine am Sonntagmorgen aus dem Bett hochfahren. Es dauerte einen Moment, bis sie den Wortfetzen, die durch die geschlossene Zimmertür an ihr Ohr drangen, einen Sinn entnehmen konnte. Es war ein Thema, das seit einigen Monaten immer dann zur Sprache kam, wenn Vati zu Besuch war.
Gesine schwang die Beine aus dem Bett und schlüpfte in die luftige Sommerhose, die sie gestern Abend einfach nur hatte fallen lassen. Sie lauschte den Worten ihrer jüngeren Schwester, nickte zustimmend und wusste doch, dass Sonja bei Mutti damit auf Granit biss. Es war gleichgültig, wo und wie ihre Schwester leben wollte. Sie war minderjährig und würde sich dem Willen ihrer Mutter fügen müssen.
»Weil du meine Tochter bist und bei mir bleibst und damit Schluss!«
Im Gegensatz zu der ihrer Schwester war Lottes Stimme ruhig. Zu ruhig. Eisig traf es eher. Der gestrige Abend, den sie scherzend und diskutierend mit Vati am Küchentisch hatten ausklingen lassen, konnte niemanden in diesen vier Wänden darüber hinwegtäuschen, dass Lotte das Sagen hatte – und sie dachte nicht daran, ihrer jüngsten Tochter zu erlauben, den Ostsektor zu verlassen, um bei ihrem Vater zu leben.
Gesine selbst hatte diesen Gedanken inzwischen hinter sich gelassen, denn sie sagte sich, dass es ihr hier doch eigentlich ganz gut ging. Ihr zweites Ausbildungsjahr zur Krankenschwester hatte begonnen. Eigentlich hatte sie davon geträumt, Publizistik an der Freien Universität Berlin zu studieren. Doch der Zugang zum Abitur war ihr ohne Angabe von Gründen verweigert worden, was jedes Studium unmöglich machte. Gesine ging davon aus, dass ihr in Westberlin lebender Vater der Grund dafür war.
Nach dieser enttäuschenden Absage hatte sie noch eine Zeit lang darüber nachgedacht, zur Grenzgängerin zu werden, um in Westberlin ihr Abitur abzulegen und täglich zwischen Ost- und Westsektor zu pendeln. Am Ende hatten die finanziellen Sorgen ihrer Mutter Gesine jedoch dazu gebracht, eine Ausbildung zu beginnen, um möglichst schnell eigenes Geld zu verdienen und ihr nicht mehr auf der Tasche zu liegen.
Die Arbeit war zwar nicht immer einfach, doch sie gefiel ihr, und die Kollegen waren fast ausnahmslos freundlich und hilfsbereit. Abgesehen davon wollte sie ihre Mutter nicht allein lassen. Schlimm genug, dass Vati in den Westen gegangen war und ihr damit das Herz gebrochen hatte.
»Guten Morgen«, sagte Gesine in die bedrückende Stille hinein, die in der Küche herrschte.
»Gut?«, fauchte Sonja zurück. »Dass ich nicht lache!« Sie griff nach dem Kanten im Brotkorb, rauschte aus der Küche und ließ krachend die Tür ins Schloss fallen, als sie die Wohnung verließ.
»Muss das sein?«, fragte Lotte nun, an ihren Mann gewandt. »Jedes Mal wieder?«
»Glaubst du, ich sehe euch gern streiten?«, gab Gesines Vater zurück und griff nach den Händen seiner Frau. »Aber wir haben da zwei eigenständig denkende Mädchen herangezogen, und wenn du mich fragst, ist das auch gut so. Du kannst sie nicht mehr behandeln wie kleine Kinder. Früher oder später werden sie das Leben führen, das sie sich selbst aussuchen.«
»Haltet mich da raus«, unterbrach Gesine sofort. »Ich habe nicht vor, mein Zuhause zu verlassen.«
Ihr Vater sah sie lange und aufmerksam an, und Gesine wich seinem Blick aus. Sie wusste, dass er sie durchschaut hatte, und wären sie jetzt allein, würde sie zugeben, dass sie in erster Linie wegen ihrer Mutter blieb.
»Bevor Sonja explodiert ist, haben wir über Weihnachten gesprochen«, sagte Max Richter unvermittelt.
»Weihnachten?«, gab Gesine wenig geistreich zurück, während sie ihr Brot mit Margarine bestrich und einen Klecks Marmelade obendrauf gab.
»Weihnachten«, antwortete ihr Vater und goss Kaffee ein.
Gesine hielt die Nase über ihre Tasse und sog den herben Duft genüsslich ein. Wie jedes Mal, wenn Vati zu Besuch kam, brachte er Kaffee mit. Wie jedes Mal nahmen sie sich vor, sparsam mit der Packung umzugehen, damit sie möglichst bis zu seinem nächsten Besuch reichte. Doch sie schafften es nie. Der Kaffee, den sie sich in ihrem bescheidenen Alltag gönnten, Kathreiners Malzkaffee, reichte nicht annähernd an den echten Bohnenkaffee heran, den Vati ihnen mitbrachte.
»Jetzt nimm deine Nase aus der Tasse«, lachte Max, während er seiner Tochter die Kondensmilch reichte. »Deine Mutter und ich sind uns darüber einig, dass ihr dieses Jahr Weihnachten und Silvester bei mir verbringt.«
Gesine riss die Augen auf und sah ihre Mutter verwundert an.
»Jetzt tu nicht so.« Lotte wischte verlegen über die saubere Tischdecke. »Ihr sollt nicht für immer gehen, aber natürlich dürft ihr euren Vater besuchen. Wir müssen uns nur erkundigen, welche Papiere ihr dafür braucht. Aber da Max letztes Weihnachten auf euch verzichten musste, ist es nur gerecht, dass er euch in diesem Jahr bekommt.«
Gesine lag ein frecher Kommentar auf der Zunge, denn es klang fast so, als würden ihre Schwester und sie wie eine Trophäe hin und her geschoben. Doch da sie wusste, dass ihre Eltern das so nicht meinten, lächelte sie und freute sich schlicht und einfach auf das Abenteuer, das ihr bevorstand.
»Komm doch einfach mit«, schlug sie ihrer Mutter vor.
»Geht leider nicht. Ich kriege in diesem Jahr nicht frei. Hab schon gefragt.«
Gesine wusste, dass etwas passiert sein musste, noch ehe sie den Schlüssel ins Schloss steckte und die Wohnung betrat. Nach einem langen Ausbildungstag im Krankenhaus – heute hatte sich alles um die besonderen Pflegebedürfnisse von Wöchnerinnen und Kleinkindern gedreht – sehnte sie sich nach einem heißen Wannenbad und Ruhe, doch der schwere Duft im Treppenhaus machte ihre Hoffnungen zunichte. Es roch nach Tante Elise, und das verhieß nichts Gutes.
Sie stieg die Stufen zum zweiten Stock hinauf und fand ihre Vermutung bestätigt. Auf dem schmalen Schuhregal, das ihre Mutter vor die Tür gestellt hatte, damit der Flur ihrer Wohnung reinlich blieb, standen die weinroten Lackstiefel ihrer Tante.
Gesine stellte ihre nassen Halbschuhe daneben, schloss auf und lief direkt ins Wohnzimmer. »Tante Elise«, sagte sie bemüht fröhlich, »das ist aber eine Überraschung!«
»Keine gute, fürchte ich«, kam es postwendend zurück. Elise zog ihre akkurat gezupften Augenbrauen in die Höhe und sah ihre Nichte ohne jede Freundlichkeit an.
»Oh«, gab Gesine zurück, die sofort ahnte, dass es um Sonja gehen musste. Sie selbst hatte die Schule rechtzeitig vor Tante Elises Anstellung verlassen. Dieses Glück hatte ihre Schwester allerdings nicht. Elise unterrichtete Sonja nicht selbst, war jedoch über jede einzelne Verfehlung ihrer Nichte bestens im Bilde. »Was ist denn passiert?«
»Wir warten auf Sonja.« Elise griff nach der Teetasse, die Gesines Mutter ihr reichte, gab drei Stück Zucker hinein und rührte laut und klirrend in dem dünnen Porzellan.
Unaufgefordert setzte sich Gesine zu ihrer Mutter auf das abgewetzte Zweisitzersofa.
»Tee?«, fragte Lotte.
»Später vielleicht.« Gesines Stimme war angespannt, doch das schien Tante Elise nicht zu bemerken.
Mit noch immer hochgezogenen Augenbrauen starrte sie in ihre Tasse und genoss die Aufmerksamkeit, die sie mit der Geheimniskrämerei auf sich gezogen hatte.
»Jetzt rede schon«, bat Lotte ihre Schwester, doch die schüttelte energisch den Kopf.
»Nur in Sonjas Anwesenheit. Anschuldigungen sollten nie in Abwesenheit der Hauptperson erhoben werden.«
In diesem Augenblick hörte Gesine, dass ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Kurz darauf tauchte der weißblonde Lockenkopf ihrer Schwester im Türrahmen auf.
»Scheiße«, fluchte Sonja grußlos. »Das ging ja schnell.«
»Achte auf deinen Ton!«, ermahnte Lotte sie sofort.
Sonjas Blick ging zwischen ihrer Mutter und ihrer Tante hin und her. Dann zuckte sie mit den Achseln, griff in die Keksdose und setzte sich scheinbar teilnahmslos auf den noch leeren Sessel.
»Du weißt, warum ich hier bin«, stellte Elise fest, und Sonja nickte.
»Nun, ich weiß es nicht«, warf Lotte ein. »Also bitte, klär mich auf.«
»Ärger in der Schule«, antwortete Sonja vage.
Gesine verkniff sich ihr Grinsen. Sie wusste, dass ihre Schwester Mutter und Tante provozieren wollte, denn statt zu erklären, was passiert war, schabte sie den Rand ihres Mürbeteigkekses mit den Schneidezähnen herunter und ließ sich dabei unendlich viel Zeit.
»Gut, dann kläre ich dich eben auf. Deine Tochter wird einen Schulverweis erhalten. Du kannst von Glück reden, dass ich so einen guten Draht zum Direktor habe. Deine Göre hätte dich wohl noch eine ganze Weile im Ungewissen gelassen, und du wärst irgendwann aus allen Wolken gefallen.«
Gesine schluckte. Hatte Elise ihre Schwester gerade als Göre bezeichnet? Sie schüttelte ungehalten den Kopf und musste sich zusammenreißen, um sich nicht sofort auf Sonjas Seite zu schlagen und hier und jetzt einen Streit mit ihrer Tante zu beginnen. Seit wann sprach sie in diesem Ton über eine ihrer Nichten?
Um ihre Wut zu überspielen, griff Gesine nun doch nach Tasse und Teekanne und schenkte sich dampfenden Schwarztee ein.
»Die Göre«, begann Sonja in sarkastischem Ton, nachdem sie den letzten Rest ihres Kekses endlich gegessen hatte, »musste heute Goethes ›Erlkönig‹ aufsagen.«
»Und? Hat sie das getan?«, fiel Tante Elise ihr sofort ins Wort.
»Du musst mich nicht in der dritten Person ansprechen«, sagte Sonja ruhig. »Ich sitze direkt vor dir und bin, ob es dir nun passt oder nicht, Teil deiner Familie.«
»Jetzt rück schon raus mit der Sprache!« Die Stimme ihrer Mutter wurde ungeduldig, und Sonja nickte schließlich.
»So leid es mir tut, du wirst wohl in den nächsten Tagen Post von der Schule erhalten und um einen Termin bei Kruppke nicht herumkommen.«
»Herr Kruppke!«, warf Elise ein.
Sonja ignorierte sie und fuhr fort: »Ich habe mich lange darauf vorbereitet, Mutti. Ich wusste natürlich, dass ich mir damit Ärger einhandeln würde, aber ich konnte einfach nicht anders. Ich hab den ›Erlkönig‹ etwas umgedichtet …«
»Pah! Etwas?«, giftete Elise.
In diesem Moment platzte Lotte endgültig der Kragen, jedoch nicht im Hinblick auf das Verhalten ihrer Tochter. »Wenn du deine Zwischenkommentare nicht lässt, kannst du gern draußen warten, Elise.«
Gesines Tante hob beschwichtigend beide Hände, ihre Mimik verriet jedoch, dass die Zurechtweisung ihrer Schwester sie kränkte.
»Was genau hast du denn vorgetragen?« Es war das erste Mal, dass Gesine sich in das Gespräch einmischte.
Sonja grinste sie an und begann aufzusagen, was sie vor der versammelten Klasse von sich gegeben hatte: »Wer reitet so spät durch Kraut und Rüben? Es ist Sonja Richter, sie will nach drüben.«
Gesine hätte nicht ausgerechnet in diesem Augenblick an ihrer Tasse nippen sollen. Sonjas Worte überraschten sie so sehr, dass sie ihren Tee prustend wieder ausspuckte.
»Entschuldigt bitte«, murmelte sie sofort und versteckte ihren Mund hinter einer Serviette. Es war nicht zum Lachen, das wusste sie natürlich. Es war der Anfang von etwas, das ihrer kleinen Schwester möglicherweise zum Verhängnis werden würde, trotzdem konnte sie sich ihr Lachen kaum verkneifen.
»Während meine Mitschüler Goethes Verse brav heruntergebetet haben, hab ich mich für eine eigene Version entschieden. Unser Klassenprimus Stefan kassierte seine Eins, dann hab ich mich freiwillig gemeldet. Frau Lange war ganz überrascht, wusste aber auch nicht, was ich vorhatte.«
Sonja machte eine kurze Pause, und Gesine dachte an Frau Lange. Sie kannte die Deutschlehrerin mit den schulterlangen dunklen Haaren noch aus ihrer eigenen Schulzeit und wusste, dass die noch recht junge Lehrerin, die auch Staatsbürgerkunde unterrichtete, durch und durch überzeugte Sozialistin war.
»Erst hat sie mich ignoriert«, erzählte Sonja weiter. »Sie mag mich eben nicht, das wissen wir ja.«
»Das ist Quatsch«, warf Elise sofort ein. »Wir Lehrer behandeln alle Schüler gleich. Das gilt auch für Tanja Lange. Streng ist sie nur, wenn es sein muss – und das muss es bei dir ja wohl!«
Sonja schüttelte ungehalten den Kopf und rollte die Augen zur Decke. Dann fuhr sie fort: »Als sie mich dann doch endlich drannahm, fragte sie ironisch, wie es denn sein könnte, dass ausgerechnet ich mich freiwillig melde.«
»Hättest du’s mal lieber gelassen«, seufzte Gesine leise.
»Warum sollte ich? Wer ist Frau Lange, dass sie mir meine eigene Meinung verbietet?« Sonjas Stimme wurde hitzig, und ihre Wangen röteten sich. »Sie ist das, was ich von Herzen verachte: der Obrigkeit treu ergeben und überzeugt davon, dass Querulanten die ganze Härte«, nun äffte Sonja auch noch die schrille Tonlage der Lehrerin nach, »des noch so jungen Staatsapparates verdient hätten.«
»So ist es auch!«, ereiferte sich Tante Elise.
Sonja ignorierte sie erneut und sprach weiter. »Ich hab mich vor die Tafel gestellt und tief durchgeatmet. Anton, mein bester Freund und der Einzige, der wusste, was kommen würde, schüttelte noch ein letztes Mal den Kopf, um mich davon abzuhalten, aber das war natürlich sinnlos. Erst waren alle erschrocken, aber dann haben viele gelacht und mich für meinen Mut bewundert.«
»Klar haben sie das«, murmelte Lotte. »Sie müssen die Konsequenzen ja auch nicht tragen, sondern du. Besser gesagt wir.«
Zum ersten Mal, seit sie die Wohnung betreten hatte, zeigte sich so etwas wie Bedauern in Sonjas Gesicht. Es tat ihr sichtbar leid, ihrer Mutter Kummer bereitet zu haben.
Gesine wusste allerdings, dass kein Bedauern ihre ungestüme Schwester je davon abhielt, weitere Dummheiten zu begehen.
»Ich hatte ja auch nicht damit gerechnet, dass mich die Lange einfach so alles aufsagen lässt. Ich dachte, nach der ersten Strophe verbietet sie mir den Mund und schmeißt mich raus.«
»Hat sie nicht?«, fragte Gesine.
»Nein. Ihr Gesicht war wie erstarrt, und sie bekam dort überall so markstückgroße rote Flecken.«
»Wie ging dein Gedicht weiter?«, fragte Lotte.
»Ihr Leben in winzige Taschen gepackt, läuft sie davon, sie flieht durch die Nacht«, antwortete Sonja und ergänzte: »Ich hab alles preisgegeben, was mich schon seit Wochen und Monaten umtreibt. Ich habe dich von Herzen lieb, Mutti. Das weißt du. Aber ich kann hier nicht bleiben. Ich will zu Vati und so leben, wie es mir passt. Bei ihm klingt alles so leicht und frei und unbeschwert. Er darf sagen, was er denkt, und gehen, wohin er möchte. Ich sehe einfach nicht ein, dass mir das alles verboten sein soll.«
»Verrückte Flausen und nichts weiter als Unwahrheiten, die euer Vater da erzählt.« Elises Haare waren inzwischen zerzaust, denn sie hatte die Angewohnheit, sich immer wieder durch die hellblonden Locken zu fahren, wenn sie wütend wurde. »Und möchtest du deiner armen Mutter vielleicht noch sagen, wie dein Gedicht endete?«
Sonja zuckte mit den Schultern. »In diesem Land – die Freiheit ist tot.«
Im Wohnzimmer herrschte plötzlich gespenstische Stille. Lotte hatte ihren Kopf in die Hände gestützt. Elise hielt die Arme vor dem Körper verschränkt, als hätte ihre Nichte sie mit den Gedichtzeilen persönlich beleidigt.
Sonja wurde von Sekunde zu Sekunde bleicher. Sie ließ die Schultern hängen und sank auf dem Sessel in sich zusammen.
Gesine hielt die quälenden Minuten nicht mehr aus. Sie erhob sich, trat zu ihrer Schwester und legte ihr den Arm um die Schultern. »Das überstehen wir schon. Aber dir bleibt nur eine Wahl: Du musst dich reumütig geben.«
»Aber …«
»Kein Aber«, unterbrach Gesine sofort. »Mit ganz viel Glück kommst du mit vierzehn Tagen Schulverweis davon. Du brauchst einen Abschluss, alles andere findet sich danach.«
»Ich kann die Schule auch bei Vati beenden. Außerdem bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich noch in meine Klasse zurückwill«, wandte Sonja trotzig ein. »Du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein Theater war nach meinem Vortrag. Aufgerissene Augen, offene Münder und ganz viel gehässiges Grinsen von den Idioten, die mir die Strafe, die jetzt wohl auf mich zukommen wird, voller Inbrunst wie die Pest an den Hals wünschen.«
»Was passiert als Nächstes?«, fragte Lotte, wobei sie sich diesmal an ihre Schwester wandte.
»Walter und ich sind sehr gut befreundet, wie du weißt.« Elise straffte stolz ihre Schultern, und Gesine hätte sie am liebsten geschüttelt. Wie konnte sie in einem Moment wie diesem damit prahlen, dass sie und der Direktor der Schule, Walter Kruppke, sich gut verstanden?
»Er wird dich in die Schule zitieren, und du musst eine Abschrift des Gedichts mitbringen. Die kommt dann in Sonjas Akte, und die wiederum wird weitergeleitet.«
»Ich habe Frühdienst, den kann ich nicht einfach sausen lassen. Wie erkläre ich denn mein Fernbleiben? Mit dem Fehlverhalten meiner Tochter und einem Termin in der Schule? Da kann ich es ja gleich in die Welt hinausposaunen: Hört her, mein Mann hat sich in den Westen abgesetzt, um dort ein besseres Leben zu führen, und nun wird meine Tochter auch noch zum Klassenfeind.«
Gesine starrte ihre Mutter entsetzt an. Es kam selten vor, dass Lotte Richter derart deutliche Worte wählte. Sie hatte weder das rebellische Gemüt ihrer jüngsten Tochter noch die Gelassenheit, die Gesine so oft weiterhalf. Hier und jetzt stand ihr die Angst vor dem, was nun auf sie als Mutter oder auf ihr Kind zukommen könnte, ins Gesicht geschrieben.
»Ich kann das doch übernehmen«, schlug Gesine vor. »Ich bin volljährig und erkläre Herrn Kruppke, dass du natürlich Bescheid weißt, aber eben in der Fabrik nicht abkömmlich bist.«
»Das würdest du tun?«, fragte Lotte matt.
Gesine nickte und sah dann zu ihrer Tante.
»Schon gut«, erklärte Elise gönnerhaft. »Ich setze mich noch heute Abend mit Walter in Verbindung. Seine Wohnung ist nur zwei Stationen entfernt, und ich helfe gern, wenn ich kann. Er wird einverstanden sein, wenn ich ihm versichere, dass du Bescheid weißt und wirklich untröstlich darüber bist, bei dem Termin nicht anwesend sein zu können. Er vertraut mir schließlich.«
Gesine sah das verklärte Grinsen im Gesicht ihrer Tante und fragte sich in dieser Sekunde, wie eng sie und Kruppke wohl tatsächlich befreundet waren.
»Aber du«, wandte sich Elise nun an Sonja, »solltest schleunigst eine Abschrift dieses schändlichen Textes anfertigen. Am besten wäre, du verfasst auch gleich noch eine Entschuldigung. Vielleicht belässt es Walter dann ja bei einem Akteneintrag, den er noch nicht weiterleitet.«
»Weiterleitet – das hast du vorhin bereits erwähnt«, sagte Lotte. »An wen denn?«
»Referat Jugendhilfe, Abteilung Volksbildung«, antwortete Elise knapp, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass ihre Schwester mit derlei Begrifflichkeiten etwas anzufangen wusste.
Kurz darauf verließ Elise sie wieder mit den Worten, dass es ja noch einiges mit Walter zu klären gäbe und dass sie sich besser beizeiten auf den Weg machen sollte. Während sie in ihre lächerlichen Lackstiefelchen schlüpfte, glänzten ihre Augen verräterisch.
»Wird er denn nicht unangenehm überrascht sein, wenn du unangekündigt bei ihm aufkreuzt?«, fragte Gesine hinterhältig.
»Aber doch nicht bei mir«, gab Elise selbstgefällig grinsend zurück. Und obwohl ihre Tante sich jede weitere Bemerkung darüber, wie es um das Verhältnis zwischen ihr und Kruppke stand, verkniff, hatte Gesine ihre Antwort: Elise hatte eine Affäre mit dem Mann, der ihrer Schwester nun womöglich das Leben schwer machen würde.
Nach dem Abendbrot wollte sich Gesine endlich das heiße Bad einlassen, nach dem sie sich schon nach der Arbeit gesehnt hatte. Doch auch diesmal musste sie ihre eigenen Wünsche zurückstellen.
»Komm mal«, bat Sonja, als Gesine im Flur an deren offener Zimmertür vorbeiging.
»Aber mach’s kurz. Ich brauche dringend meine Ruhe.«
»Hier ist das Gedicht.«
Gesine griff nach einem zusammengefalteten Papier, das Sonja ihr reichte, und faltete es auf. Überrascht starrte sie auf das Durcheinander aus Buchstaben, durchgestrichenen Wörtern und Pfeilen, die offenbar Verweise darauf waren, dass sie einige Zeilen gegeneinander ausgetauscht hatte. Blitze und Totenköpfe, die ihre Schwester an die Seite gekritzelt hatte, zeugten außerdem von den Emotionen, die Sonja während des Dichtens durchlebt haben musste.
»Was ist das denn? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kruppke das so annimmt.«
»Sollte er aber. Es ist das einzige existierende Exemplar. Sozusagen das Original. Ich denke eher, dass Kruppke nicht will, dass ich weitere Abschriften davon anfertige.«
»Deine Sauklaue ist wirklich herausragend.« Gesine grinste und faltete das Papier wieder zusammen. Vermutlich hatte Sonja recht, und es war das Beste, dem Direktor genau dieses Blatt ohne jede weitere Abschrift zu übergeben, zusammen mit einer sorgfältig formulierten Entschuldigung.
»Nennt sich kreatives Chaos«, erklärte Sonja und fragte dann kleinlaut: »Bin ich zu weit gegangen?«
Gesine seufzte und ließ sich auf das Bett ihrer Schwester plumpsen. Natürlich war sie das. Aber welchen Sinn hatte es, ihr jetzt noch Vorhaltungen zu machen? Sie mussten darauf vertrauen, dass Elise trotz unterschiedlicher Gesinnung nur das Beste für Sonja wollte und dass sie Kruppke mit welchen Mitteln auch immer dazu brachte, noch einmal über Sonjas Betragen hinwegzusehen.
»Also ja«, beantwortete sich Sonja ihre Frage selbst und ließ sich schwer auf den harten Holzstuhl fallen, der ihr als Schreibtischstuhl diente und seine besten Jahre längst hinter sich gelassen hatte. »Hilfst du mir dabei, diese dämliche Entschuldigung zu verfassen? Mir wird schon kotzübel, wenn ich daran denke, mich so verleugnen zu müssen.«
»Warum machst du’s dann?«, fragte Gesine. Dabei ging es ihr nicht darum, Sonja vom Verfassen einer Entschuldigung abzuhalten, sondern lediglich darum, die Beweggründe ihrer wankelmütigen Schwester zu verstehen.
»Mutti könnte Schwierigkeiten auf der Arbeit bekommen. Das ist mir jetzt klar. Ehrlich gesagt, habe ich keine Sekunde an Mutti gedacht.«
»Du hast gar nicht viel gedacht«, sagte Gesine. »Du hast auf deinen impulsiven Bauch gehört und jegliche Warnlämpchen ignoriert. Überleg doch mal: Vati braucht jedes Mal eine Genehmigung, um uns zu besuchen. Dein Auftritt in der Schule war seiner nächsten Besuchserlaubnis sicher nicht gerade zuträglich.«
Sonja riss ihre hellblauen Augen auf und sah Gesine entsetzt an. »Du meinst, er kann uns jetzt wegen mir nicht mehr besuchen?«
»Gut möglich.« Gesine zuckte mit den Schultern. »Aber wenn wir Glück haben, findet Tante Elise einen Weg, um Kruppke milde zu stimmen.«
Sonja rümpfte angewidert die Nase und schüttelte sich dann. »Vielleicht müssen wir ihn ja demnächst Onkel Walter nennen.«
»Du hast es also bemerkt?«
»War ja nicht zu übersehen.« Sonja schüttelte sich erneut und gab dabei Würgegeräusche von sich.
Gesine nickte. »Verstehe ich auch nicht. Elise ist zwar nicht mein Fall, aber immerhin ist sie jung und hübsch.« Sie sah auf die hellblonden, fast weißen Locken, die ihre Schwester eindeutig von ihrer Tante hatte.
»Kruppke ist doch sicher hundert«, überlegte Sonja.
»Und hässlich«, ergänzte Gesine. »Und ein Glatzkopf. Und er ist verheiratet, oder nicht? Zumindest war er es noch zu meiner Schulzeit.«
Noch eine ganze Weile ließen sich die Schwestern darüber aus, warum Elise sich wohl ausgerechnet auf diesen alten Kauz eingelassen hatte.
»Völlig egal«, beendete Gesine das Thema schließlich. »Solange sie Kruppke nur dazu kriegt, deinen Gedichtvortrag nicht zu melden.«
Vermutlich sollte Elise ihrer rebellischen Nichte dankbar sein, hatte die doch dafür gesorgt, dass es nun einen Grund gab, um Walter aufzusuchen. Natürlich würde er anfangs nicht erfreut sein. Wann immer sie unangemeldet auftauchte, musste er sich seiner Frau gegenüber erklären, und das hasste er. In diesen Momenten gab er sich überheblich und herablassend, wies sie zurecht und behandelte sie wie ein Schulmädchen. Sobald seine Gattin allerdings die Finte geschluckt hatte, grinste er sie schelmisch an und freute sich diebisch darüber, wie er Klara Kruppke an der Nase herumführen konnte.
Dieses Theater war inzwischen fast schon zu einer Art Vorspiel zwischen ihnen geworden. Elise gab sich gekränkt, wies ihn zurück und vermittelte ihm so das Gefühl, sie erneut erobert zu haben, wenn sie schließlich nachgab und in seine Arme sank.
Mit klopfendem Herzen und vor Aufregung geröteten Wangen, die sich selbst in den Scheiben der S-Bahn widerspiegelten, fuhr Elise von der Stalinallee über den Zentralviehhof bis zur Leninallee und ging dann die wenigen Häuserblocks zu Fuß weiter. Sie hätte auch den Bus nehmen können, doch die kühler werdende Abendluft tat ihr gut. Außerdem konnte sie so noch einmal durchatmen und sich ihre Worte zurechtlegen.
Sie war inzwischen überzeugt, dass dem abweichlerischen Wesen ihrer Nichte Sonja ohne eine empfindliche Strafe nicht mehr beizukommen war. Das Mädchen entwickelte sich in eine Richtung, die Elise nicht gutheißen konnte, und wenn sie es recht bedachte, war ihr die Verwandtschaft mit Sonja mehr als nur unangenehm. Früher hatte sie das Mädchen gern einmal als ihre eigene Tochter ausgegeben, denn die Ähnlichkeit zwischen ihnen war schon aufgrund der ungewöhnlich hellen Haare, die sie beide hatten, frappierend. Auch das wilde und ungestüme Wesen teilten sie, wohingegen Gesine eher die ruhige Art ihres Vaters geerbt hatte. Doch statt ihre Energie in die richtige Richtung zu lenken, wurde Sonja zu einem Problemfall und vergiftete so das einst enge Verhältnis zwischen Tante und Nichte.
»Was soll’s«, murmelte Elise vor sich hin, während sie die drei Stufen zur Eingangstür hinaufstieg und beherzt die Klingel drückte. Heute würde sie sich ein letztes Mal für ihre aufsässige Nichte einsetzen, brachte ihr das doch immerhin ein weiteres Treffen mit Walter ein. Dann allerdings, das nahm sie sich fest vor, würde sie sich weigern, ihrer Schwester und ihren Nichten weiterhin aus der Patsche zu helfen.
Walter und seine Frau Klara wohnten im vierten Stock, und so hübsch die Aussicht von dort oben auch sein musste, es war jedes Mal aufs Neue beschwerlich hinaufzulaufen.
»Wer ist denn da?«, hörte sie Walters tiefe Stimme durchs Treppenhaus tönen.
»Fräulein Grieger in einer wichtigen Angelegenheit«, rief sie die letzten zwei Treppenabsätze hinauf. Kurz darauf hörte sie das Klappern eines Schlüsselbundes und das Schlagen der Wohnungstür.
Elise wusste, was das bedeutete: Klara war zu Hause. War dem nicht so, empfing er sie gewöhnlich an der geöffneten Tür oder bat sie gar herein. Heute jedoch verließ er seine vier Wände, was im besten Fall bedeuten konnte, dass er sie nach Hause begleiten und einige Stunden dort mit ihr verbringen würde. »Guten Abend, Walter.«
»Fräulein Grieger«, gab er kühl zurück und deutete mit dem ausgestreckten Arm die Treppe hinunter.
Verunsichert wandte ihm Elise den Rücken zu und ging die Stufen hinunter. Seit wann sprach er sie mit dem Nachnamen an? Und warum umarmte er sie nicht, wie er es sonst immer tat, wenn sie unter sich waren. Hatte er sie überhaupt angelächelt? Ihr Puls beschleunigte sich, und das hatte nichts mit ihrer Vorfreude auf die kommenden Stunden zu tun. Hier stimmte etwas nicht.
»Warum bist du hier?«, fragte Walter ganz direkt, nachdem sie den Häuserblock hinter sich gelassen hatten.
»Es geht um meine Nichte«, erwiderte sie ebenso direkt.
»Dacht ich’s mir doch.« Seine Stimme klang noch immer kühl und abweisend.
»Was hast du denn?« Elise gab sich größte Mühe, möglichst unbekümmert zu klingen, doch als sie sich wie sonst auch bei ihm unterhaken wollte, schob er sie unsanft von sich.
»Das geht nicht, Fräulein Grieger. Wahren Sie bitte Abstand.«
»Entschuldige. Bitte was?« Elise war so verdattert, dass sie den eigentlichen Grund ihres Besuches völlig vergaß. »Was ist denn los?«
»Klara weiß Bescheid. Das ist los. Sie weiß nicht, um wen es geht, aber sie weiß von meinem außerehelichen Verhältnis. Und keinesfalls möchte ich riskieren, dass dein Name fällt. Sie hat mir erklärt, dass ich nur diese eine Gelegenheit zur Wiedergutmachung bekäme. Sollte sie dahinterkommen, dass ich meinen schäbigen Lebenswandel, wie sie sich ausdrückte, weiterführe, würde sie mich ohne mit der Wimper zu zucken ans Messer liefern.«
Elise ließ ihre angespannten Schultern fallen und atmete fast schon beruhigt aus. Das war es also. Er hatte es sich nicht etwa anders überlegt, sondern Klara setzte ihn unter Druck.
Sie schenkte Walter einen verführerischen Augenaufschlag und lächelte ihn verständnisvoll an. »Verstehe«, sagte sie leise.
»Das bezweifle ich«, stieß er hervor. »Für mich steht viel auf dem Spiel. Diese Affäre könnte mich meine Autorität in der Schule und mein Ansehen unter den Genossen kosten, schlimmstenfalls entbindet man mich meines Postens als Direktor.«
Elise schluckte. Schweigend gingen sie nebeneinander her, und sie dachte angestrengt darüber nach, welches Verhalten wohl das richtige in einem solchen Moment wäre. Ginge es nach der Wut, die gerade in ihr hochkochte, hätte sie ihm am liebsten an Ort und Stelle eine Szene gemacht und ihm erklärt, dass sie sich so nicht von ihm behandeln lassen würde. Andererseits war er in einer prekären Lage, und wollte sie ihn nicht verlieren, würde sie Geduld und Verständnis zeigen müssen.
»Ich verstehe dich und respektiere deine Entscheidung. Wenn es dir lieber ist, gehe ich ab sofort wieder zum höflichen Sie über, Herr Kruppke.«
Sie sah ihn aufmerksam an, und dabei entging ihr nicht, dass Walter entsetzt die Augen aufriss. Ohne das Gesicht zu verziehen, lächelte Elise in sich hinein. Er war eben kein Mensch, der sich besonders gut verstellen konnte. Vermutlich hatte Klara deshalb von seiner Affäre erfahren. Es hatte sicher gereicht, ihn direkt danach zu fragen, ob es da noch eine andere Frau in seinem Leben gab.