Zigeunermädchen - Farina Eden - E-Book
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Farina Eden

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Beschreibung

Große Gefühle in einem dunklen Kapitel der Geschichte: ein historischer Roman voller Faktenkenntnis und gegen Diskrimierung   Im 19. Jahrhundert kannte die Liebe nicht nur Standesgrenzen. »Zigeunermädchen« arbeitet die Ausgrenzung der Roma in einem hautnahen, gefühlvollen historischen Roman auf.   Das schlimme Wort »Zigeuner« sät Furcht vor dem anderen in den Herzen der Preußen, es führt zu Hass und Verfolgung. Doch inmitten der Dunkelheit keimt ein kleines Licht der Hoffnung: Kaufmannstochter Maria verliebt sich in den Roma Kaló und weiß schon bei der ersten Begegnung, dass diese Verbindung unter keinem guten Stern steht. Dennoch will sie um ihre Liebe kämpfen, mit Kaló und ihrem gemeinsamen ungeborenen Kind ein neues Leben beginnen. Die Rache der ehrbaren Bürger lässt allerdings nicht lange auf sich warten.  Der Titel »Zigeunermädchen« spielt auf Diskrimierung und grausamer Ausgrenzung an. Genau deshalb hat ihn Autorin Farina Eden gewählt. Ihr historischer Liebesroman legt den Finger in diese klaffende Wunde der Ungerechtigkeit und erzählt auch ein Stück aus der eigenen Familiengeschichte der Autorin. Ein spannender historischer Roman über das Schicksal der Roma im Preußen des 19. Jahrhunderts   Farina Edens Vorfahren waren ebenfalls Roma. Auch sie entstammt in entfernter Linie einer Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen, denen die Gesellschaft keine Chance gab. Damit wird »Zigeunermädchen« umso authentischer und steht für ein Kapitel in der Geschichte, das in der öffentlichen Diskussion noch längst nicht aufgearbeitet ist.  Ein Frauenroman für Geist, Herz und Seele  Die Autorin begeistert mit genau recherchierten Frauenfiguren, die sich in ihrer historischen Welt gegen alle Konventionen stellen – und damit perfekte Vorbilder für starke, selbstbewusste Weiblichkeit im Heute sind. 

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ISBN 978-3-492-98367-9

© 2018 Piper Verlag GmbH, München

Redaktion: Sandra Lode

Covergestaltung: Favoritbüro, München

Covermotiv: Aptyp_koK/Shutterstock; Serg Zastavkin/shutterstock; Ollyy/shutterstock; Andrew Roland7shutterstock; LutsenkoLarissa/shutterstock

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Prolog

Herbst 1848

Oktober 1855

1. Kapitel: Die Prophezeiung

2. Kapitel: Zigeunermärchen

3. Kapitel: Das Maifest

4. Kapitel: Der »Rotzlöffel«

5. Kapitel: Fluchtpläne

6. Kapitel: Ende eines Traums

7. Kapitel: Gefangen

8. Kapitel: Zweifel

9. Kapitel: Wiedersehen

10. Kapitel: Die Wahrheit

11. Kapitel: Die Korrektionsanstalt

12. Kapitel: Die Enthüllung

13. Kapitel: Nalani

14. Kapitel: Die Entführung

15. Kapitel: Schmerz

16. Kapitel: Überlebenskampf

17. Kapitel: Veränderungen

18. Kapitel: Die Überfahrt

19. Kapitel: Ankunft in London

20. Kapitel: East End

21. Kapitel: Kurz vor dem Ziel

22. Kapitel: Mr Parkhul

23. Kapitel: Radtkes Flucht

24. Kapitel: Ein Mord

25. Kapitel: Rache

26. Kapitel: Neuanfang

Danksagung

Prolog

Herbst 1848

Er hörte sie. Drei, vielleicht vier Männer. Ihre Stimmen wurden lauter. Er verharrte bewegungslos, jedes Knacken der kleinen Äste unter ihm konnte sein Ende bedeuten. Sie kamen näher. Das Gesicht gegen den Boden gedrückt, schloss er die Augen. Er hatte sich hinter einem entwurzelten Baum in einem Erdloch verkrochen und hastig mit Blättern und Zweigen bedeckt. In den dunklen, schmutzigen Kleidern würde er nur schwer auszumachen sein. Seine Schläfen pochten, und er wagte kaum zu atmen. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er wohl mit den Männern fertig würde, falls sie ihn fänden, doch schnell verwarf er diesen Gedanken wieder. Seit Wochen hatte er nichts Nahrhaftes mehr gegessen. Wie dürre Äste lugten seine Arme aus den Kleidern heraus, und wie Äste würden die Angreifer sie zerbrechen. Er lauschte. Plötzlich hörte er ihre Stimmen hinter sich. Er presste das Gesicht fester gegen den Boden. Es roch modrig feucht, nach Pilzen und frischem Regen. Konzentrier dich, ermahnte er sich. Der Erste von ihnen war über den Baumstamm gesprungen, hinter dem er kauerte, und rannte den bewaldeten Hügel hinab. Drei weitere Männer folgten. Er zwang sich dazu, in seinem Versteck zu bleiben. Vielleicht kamen sie ja nicht auf den Gedanken, sich umzusehen.

»Sie müssen hier irgendwo sein.«

»Teilen wir uns auf.«

Zu zweit liefen die Männer in jeweils entgegengesetzte Richtungen. Er schloss die Augen und atmete durch. Als er sie wieder öffnete, war seine Hoffnung dahin. Weniger als dreißig Schritte entfernt hatte sich einer der Verfolger umgedreht und starrte ihn hasserfüllt an. Kaló blieb keine andere Wahl. Er sprang auf, kletterte über den Baumstamm und rannte den Hügel wieder hinauf. So muss sich ein gehetztes Reh fühlen, schoss es ihm durch den Kopf.

Er sah sich um. Die Männer hatten Mühe, ihm zu folgen, der Weg bergauf war weit schwieriger für sie. Erneut brüllten sie sich etwas zu. Er entwischte ihnen, denn sie waren zu träge, um mit seinen flinken Füßen Schritt halten zu können.

»Dann nehmen wir uns eben erst diese Vettel vor!«

Er hörte ihre Schreie und blieb abrupt stehen. Statt sich in Sicherheit zu bringen, fiel er auf die Knie und sackte zusammen. Auf allen Vieren kroch er zurück in ihre Richtung. Sie hatten sich um sie geschart, begierig darauf, über sie herzufallen. Ihn hatten sie offenbar völlig vergessen. Ungesehen kletterte er auf einen Baum. Von oben erkannte er, dass er sich nicht getäuscht hatte.

Die Männer schubsten sie zwischen sich hin und her und brachten sie mitsamt dem Bündel auf ihrem Arm zu Fall. Mit dem Körper federte sie den Aufprall des Neugeborenen ab. Seine kleine Schwester war unverletzt, doch der Sturz hatte sie erschreckt, und sie begann zu brüllen.

»Bitte lasst uns gehen. Wir verschwinden. Versprochen.«

Er hörte das Flehen in der Stimme seiner Mutter, und hätte er an ihren Gott geglaubt, wäre nun wohl der richtige Zeitpunkt gewesen, um zu beten. Stattdessen schloss er die Augen und hoffte, dass sie Mitleid haben würden.

»Natürlich verschwindet ihr. Auf Nimmerwiedersehen!«

Der Mann, den er für den Anführer hielt, trat mit seinem dreckigen Stiefel auf die Brust seiner Mutter. Dann fuhr er mit dem Fuß unter das Bündel und holte aus. Seine Schwester flog im hohen Bogen durch die Luft und landete in einiger Entfernung im Moos. Ihr Kreischen wurde schrill und überschlug sich. Die Männer lachten. Es klang wie das grausame Wiehern einer wild gewordenen Bestie.

»Und jetzt zu dir, meine Schöne!«

Kalós Hände zitterten. Er überlegte fieberhaft, wie er seiner Mutter helfen konnte. Er musste etwas tun. Doch was konnte ein Zwölfjähriger schon ausrichten gegen vier gestandene Männer? Sein Herzschlag schwoll an wie der Trommelwirbel auf einem Schlachtfeld. Trotz seiner Unterlegenheit sprang er vom Ast und stürmte auf den Anführer zu. Das Geschrei seiner kleinen Schwester mischte sich in das Lachen der Männer, die ihn feixend beobachteten.

Mit aller Kraft rammte er dem Mann seinen Kopf in die Seite. Der taumelte, fing sich aber sofort wieder und stimmte in das Gelächter ein. Dann wurde er still und holte aus. Mit der flachen Hand schlug er Kaló ins Gesicht. Die Wucht der Ohrfeige ließ ihn zu Boden stürzen. Er blickte in die Runde und erkannte die unverhohlene Grausamkeit in den Gesichtern der Männer. In den Augen des Anführers spiegelte sich die pure Mordlust. »Kümmert euch um die beiden Bälger. Ich übernehme das Weib!«

»Bitte verschont meine Kinder!«

»Sag nicht, du hattest die Hoffnung, diese Bastarde aufwachsen zu sehen!« Der Mann lachte laut, während er sich hinunterbeugte. Dann zückte er einen Dolch und schnitt Kalós Mutter mit einem Ruck das Kleid auf. Entblößt lag sie vor den johlenden Männern.

Kaló spürte die Tränen, die ihm übers Gesicht rannen. Der Anführer nestelte an seiner Hose, die anderen Männer lachten noch immer, und Kaló nutzte die Gelegenheit, um sich aufzurappeln. Mit einem schnellen Satz sprang er auf den Rücken des Mannes, biss ihm in die Schulter und krallte sich in seine Brust. Der Angreifer schrie auf.

»Elender Schandbalg!«

In der nächsten Sekunde packten ihn zwei Pranken an den Armen und zerrten ihn weg. Der Anführer warf den Kopf in den Nacken und stieß ein schmerzerfülltes Zischen aus. Dann riss er ein Stück Stoff vom Kleid der Mutter ab und drückte es auf die Bisswunde.

»Bringt es zu Ende!«, forderte er seine Männer auf. »Und vergesst das kreischende Bündel nicht!«

Die Fäuste der Männer prasselten auf ihn nieder. Kaló hob die Arme, um seinen Kopf zu schützen, doch einer der drei riss sie wieder herunter und hielt sie fest, während die anderen beiden weiter auf ihn eindroschen. Aus den Augenwinkeln sah er noch, wie der Anführer über seine Mutter herfiel. Kein Laut kam über ihre Lippen. Stattdessen blickte sie starr in den Himmel.

Irgendwann knickten Kalós Beine ein wie getrocknete Zweige. Zusammengekrümmt lag er auf dem Boden. Seine Lider schwollen zu, die Bilder vor seinen Augen verschwammen. Dann verlor er das Bewusstsein.

 

Als er wieder zu sich kam, war es still. Er wollte sich aufrichten, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Schwindel zwang ihn zurück auf das feuchte Laub. Suchend blickte er sich um und sah seine Mutter in einiger Entfernung liegen. Er kroch zu ihr hinüber. Erleichtert erkannte Kaló, dass sich ihre Brust hob und senkte.

Erneut versuchte er, sich aufzurichten. Der Schmerz in seinen Gliedern raubte ihm den Atem. Er presste die Lippen fest aufeinander, legte sich neben sie und blickte sie von der Seite an. Ihre Worte waren nur ein Flüstern.

»Hörst du?«

»Was?«, fragte er ebenso leise zurück.

»Die Stille des Himmels.«

Er drückte sein Gesicht gegen das seiner Mutter, die Tränen dazwischen spürte er nicht mehr. Erst als er sie mit den übrig gebliebenen Stofffetzen zu bedecken versuchte, sah er, dass der Dolch des Anführers seitlich zwischen ihren Rippen steckte. Lautlos schlug er die Hand vor den Mund und unterdrückte einen Schrei.

»Halt durch. Vater findet uns!«

Seine Mutter antwortete nicht. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und ließ ihren Blick liebevoll auf ihm ruhen. Ihr Atem wurde flacher. Sie hatte keine Kraft mehr, um zu sprechen. Erst als er sich auf die Ellbogen stützte und sein Ohr an ihre Lippen legte, verstand er ihr Flüstern.

»Danke, dass dein liebes Gesicht das Letzte ist, was ich sehen darf.«

Durch den Tränenschleier hindurch sah Kaló, wie seine Mutter die Augen schloss. Er rollte sich zusammen und zog ihren schlaffen Arm fest um sich.

Wie lange er dort kauerte, wusste er nicht. Er wartete darauf, dass die Männer zurückkommen und beenden würden, was sie begonnen hatten. Doch das würde wohl nicht passieren, denn sicher hielten sie auch ihn für tot. Er schmeckte das Blut in seinem Mund und betastete vorsichtig sein geschwollenes Gesicht. Die Schläge hatten ihm die linke Wange aufgerissen, und auch der Rest seines Körpers glühte vor Schmerz. Kaló wünschte sich nichts mehr, als die Augen schließen zu können und einfach zu sterben.

Es war bereits dunkel, als er die Stimme seines Vaters durch den Wald hallen hörte. Zum Zeitpunkt des Überfalls hatte der mit seinem jüngsten Sohn Holz gesammelt. Er war zu weit entfernt gewesen, um seiner Frau und dem Säugling helfen zu können. Alles, was er noch tun konnte, war seinen Zweitgeborenen und sich in Sicherheit zu bringen. Nun war er zurückgekehrt, um Frau und Kinder zu suchen.

Kaló blinzelte und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Erst jetzt konnte er erkennen, dass sein Vater nach dem kleinen Bündel im Moos griff, es hochhob und dann mit weit aufgerissenem Mund auf die Knie sank. Er presste seine tote Tochter fest an sich und brauchte einige Sekunden, bevor er auf Kaló zu taumelte. Er legte den Säugling auf die Brust seiner toten Frau und setzte sich neben sie auf den Boden. Dann nahm er Kaló in die Arme und weinte lautlos.

Oktober 1855

Das alles hatte Kaló schon unzählige Male erlebt. Er war jetzt älter, schneller. Er hängte sie ohne Schwierigkeiten ab. Und als die grausigen Erinnerungen von ihm Besitz ergreifen wollten, schüttelte er auch sie ab und lauschte in den Wald hinein. Alles, was er hörte, waren sein eigener Atem und das leise Rauschen der Blätter. Die Abendsonne drang hier und da durch das Dickicht und tauchte den Wald in warme Herbstfarben.

Er überlegte, wie lange das nun schon so ging. Resigniert stellte er fest, dass er nie etwas anderes kennengelernt hatte. Verjagt zu werden, war noch die barmherzigste aller Restriktionen gegen sie.

Ihm kam das Gespräch in den Sinn, das er mit seinem Vater nach dem Tod der Mutter geführt hatte. Wochenlang hatte er kein Wort gesprochen und kaum etwas gegessen. Er war in sich versunken. Das Einzige, was er ab und an noch in die Hand nahm, war seine Geige. Irgendwann hatte er seinen Vater nach dem Warum gefragt. In seiner Erinnerung sah er wieder die Trauer in dessen Augen, als er ihm sagte, dass er keine Antwort auf diese Frage wusste.

»Sie haben uns schon gejagt, bevor ich auf die Welt kam und sie werden noch Jagd auf uns machen, wenn wir beide nicht mehr sind. Zu meines Großvaters Zeiten bekamen die Jäger sogar Geld.«

»Wofür?«, hatte Kaló ihn gefragt.

»Für jeden, den sie fassen konnten, ob tot oder lebendig. Ein Kopfgeld.«

»Aber diese Zeiten sind doch vorüber, richtig?« Kaló konnte die Erschütterung in seiner Stimme nicht verbergen.

»Deine Mutter ist tot. Was glaubst du?«

Der Junge verstand und nickte wortlos. Die Jäger mochten kein Kopfgeld mehr erhalten, doch Freiwild waren sie noch immer.

 

Kaló griff nach seiner Geige und stand erschöpft auf. Zeit, zurückzukehren und in Erfahrung zu bringen, wie es seinem Bruder ergangen war. Im Lager herrschte angespannte Stille. Er lief an den Wagen vorbei und hielt auf das Zelt der phuri dai zu. Als er näher kam, erkannte er die Stimme seines Vaters.

»Wir müssen fort von hier. Uns bleibt keine Wahl.«

»Wir bleiben. Sie haben uns noch nicht entdeckt. Shavó ist entkommen. Warten wir auf deinen Ältesten, dann sehen wir weiter.«

Die Angst fiel von Kaló ab, als er hörte, dass sein Bruder in Sicherheit war. Sie hatten versucht, etwas Geld zu verdienen. Mit Geige und Mundharmonika hatten sie sich an einen kleinen Brunnen nahe des Landsberger Marktplatzes gesetzt und gespielt. Einen Vormittag lang gingen sie ihrem Broterwerb nach, bevor die Männer sie entdeckten. In Windeseile packten sie zusammen und begannen zu laufen. Unterwegs trennten sie sich, weil sie hofften, ihre Verfolger so abzuhängen. Dieses Mal war es gut gegangen.

Vater würde der phuri dai nicht widersprechen, das wusste Kaló. Niemand tat das. Sie war die Stammesmutter, selbst der Rat der Ältesten gehorchte ihrem letzten Wort. Und vielleicht hatte sie ja recht. Solange niemand das Lager entdeckte, waren sie hier sicher. Wenigstens fürs Erste.

Er betrat das Zelt und bestätigte, dass auch er den Verfolgern entkommen war. Der Ältestenrat schloss sich der Empfehlung der phuri dai an, und das Winterquartier wurde nicht aufgegeben.

Es dauerte eine Weile, bis sich die Aufregung legte und wieder Normalität in ihren Alltag zurückkehrte. Amtmänner, wie etwa Schulzen und Dorfpolizisten, schienen mit zunehmender Kälte zu bequem, um die Jagd auf sie fortzusetzen. Wenn der Winter nicht zu lang wurde, konnten sie ihn ohne größere Not überstehen.

Im März, als der Wald aus dem Winterschlaf erwachte, entschied die phuri dai, dass es nun an der Zeit sei, nach Preußen weiterzuziehen.

Er konnte nur hoffen, dass man dort bei der Verfolgung von Zigeunern und Gesindel weniger hartnäckig vorging.

1. Kapitel: Die Prophezeiung

Es war ein sonniger Februarmorgen. Maria Menz öffnete die Tür, trat auf den Flur hinaus und lauschte. Aus dem Zimmer ihres Bruders Michael drangen gedämpfte Geräusche – er war wach und würde sicher ebenfalls jeden Moment zum Frühstück kommen. Zwei Stufen auf einmal nehmend sprang sie die Treppen hinunter, vorbei am Stockwerk ihrer Eltern bis in die erste Etage. Als sie die Tür zum Esszimmer öffnete, erkannte sie sofort, dass die dunklen Monate begonnen hatten.

Schon vor zehn Jahren, im Alter von sieben, hatte sich Maria diese Einteilung angewöhnt. Dunkel wurden die Monate immer dann, wenn ihre Mutter Lucia die Gardinen aus schwerem Samt vor die Fenster zog und das Hausmädchen Amalie anwies, jeden Lichtstrahl aus ihrem Zimmer zu verbannen.

Maria wusste, dass Amalie ihre Einteilung in helle und dunkle Monate närrisch fand. Nun, sie hatte gut reden. Ihre Mutter verfiel nie in diese Schwermut. Amalies Mutter, die gemeinsam mit ihrer Tochter zwei winzige Kammern unter dem Dach bewohnte, kochte und führte den Haushalt der Familie Menz. Beim Kochen blitzten die Augen der kleinen, rundlichen Frau unter einer Haube hervor, die ihre widerspenstigen Locken zähmen sollte. »Ich kann es mir nicht leisten, dass der gnädige Herr eines meiner roten Haare in seiner Suppe findet«, gab sie freimütig zu verstehen. Und mit einem schelmischen Grinsen fügte sie hinzu: »Ich habe ja schließlich nichts davon, wenn er einen Herzanfall erleidet und ich meine Anstellung verliere.«

Frau Johann war eben vollkommen anders. Maria verstand das Leid ihrer Mutter nicht, und Amalie sagte immer, das müsste sie auch nicht. Stattdessen sollte sie besser dafür sorgen, dass die Dunkelheit sich nicht auch in ihrem eigenen Herzen breitmachen würde.

 

Schweigend nahm Maria am Esstisch Platz und begann, ihr Besteck zurechtzurücken. Obwohl sie die Schritte ihres Bruders erkannte, ohne aufzusehen, hoffte sie unsinnigerweise darauf, dass sie sich irrte und an seiner Statt ihre Mutter das Speisezimmer betreten würde. Sein ruhiges »Guten Morgen« zerstörte diese Hoffnung.

Maria beobachtete ihren Bruder Michael. Wie üblich, wenn Mutter bei Tisch fehlte, schlang er sein Frühstück hastig hinunter. Nur mit dem Vater zu essen, war für sie beide eine Qual. Friedrich Menz räusperte sich. Maria wusste, was das bedeutete. Zügig trank sie einen letzten Schluck aus ihrer Teetasse und bat darum, aufstehen zu dürfen. Ihr Vater nahm keine Notiz von ihr. Sie schlich hinaus, setzte sich auf die Treppenstufen und lauschte.

Der Streit zwischen Vater und Michael ließ nicht lange auf sich warten. Wie stets ging es darum, dass Michael schnellstmöglich die Familiengeschäfte übernehmen sollte. Friedrich Menz scherte sich dabei nicht um dessen Talente. Obwohl ihr Bruder zwei Jahre älter war, hatte Maria das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Ausgeschlossen, dass er hinter dem Tresen von Kolonialwaren Menz glücklich würde. Wann immer er Zeit fand, spielte er Geige oder stand vor der Staffelei, die seine Mutter ihm vor einigen Jahren, während einer ihrer seltenen Hochphasen, geschenkt hatte. Sehr zu Vaters Ärger. Für ihn waren die schönen Künste nichts als Zeitverschwendung. Nur Mutters Zureden und die Tatsache, dass Michaels Musik ihren Zustand zu verbessern schien, veranlasste ihn dazu, die musikalische Ausbildung seines Sohnes zu unterstützen – nicht ohne beiden ständig einzuschärfen, dass die Geschäfte keinesfalls vernachlässigt werden durften.

An der Lautstärke ihrer Stimmen erkannte Maria, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis einer von beiden wütend aus dem Speisezimmer gestürzt kam.

Sie beschloss, der feindseligen Stimmung zu entfliehen, griff nach Handschuhen, Schal und Mantel und verließ eilig das Haus.

Der Februarhimmel war blau und wolkenlos und bildete einen hübschen Kontrast zu den schneebedeckten Hausdächern und Straßen. Das herrliche Winterwetter passte nicht zu Marias Gemütslage. Trotz ihrer Trübsinnigkeit spürte sie Erleichterung, je weiter sie sich vom Elternhaus entfernte. Sie sog die eisige Luft tief in ihre Lungen, und der Schmerz überdeckte schon bald die Enge in ihrer Brust. Ihr Weg führte sie hinaus aus Elbing und in ein angrenzendes Waldstück. Sie beschloss, bis zu der Lichtung zu laufen, auf der sie bereits als Kind endlose Stunden Versteck spielend mit Michael und Amalie zugebracht hatte. Anfangs waren sie noch von Frau Johann begleitet worden, doch irgendwann kannten alle drei Sprösslinge den Weg in- und auswendig. Sie wussten sogar, dass sie mindestens fünfundvierzig Minuten brauchten, um von dort wieder nach Hause zu gelangen.

Die Lichtung lag auf einer Anhöhe und in ihrer unmittelbaren Nähe hatten sie vor Jahren eine verfallene Hütte entdeckt. Diese hatte ihnen abwechselnd als Räuberlager oder Ritterburg gedient und bei so manchem Regenschauer Unterschlupf geboten.

 

Die Sonnenstrahlen brachen durch die Bäume. Das gleißende Licht bahnte sich einen Weg durch die kahlen Äste. Maria kannte den Ort nur von warmen Sommertagen her. Zu dieser Jahreszeit wirkte die Waldschneise gespenstisch. Sie fühlte sich unbehaglich. Zitternd zog sie ihren Mantelkragen hoch und lief über den hart gefrorenen Boden. In der Mitte der Lichtung blieb sie stehen und reckte ihr Gesicht in die Wintersonne.

Sie wollte gerade in Richtung Hütte weiterlaufen, als sie ein Geräusch vernahm. Unsicher, ob sie sich nicht geirrt hatte, drehte sie den Kopf und lauschte. Da war es wieder. Ein schmerzerfülltes Stöhnen wie von einem verletzten Tier. Suchend lief sie hin und her und machte unweit von sich einen dunkelbraunen Haufen im Schnee aus. Ohne zu überlegen, ging sie darauf zu.

Vor ihr lag ein Mensch in zerlumpten Kleidern. Maria wich zurück. Wieder hörte sie das schmerzerfüllte Stöhnen.

Was sollte sie tun? Gut möglich, dass das alles nur ein Trick war und sie in der nächsten Sekunde überfallen wurde. Andererseits klangen die Schmerzenslaute echt – aber welche Erfahrung hatte sie schon mit verletzten Menschen? Außerdem musste sie wieder zurück. Der Hauslehrer Herr Peters vermisste sie sicher bereits, war sie doch ohne ein Wort der Erklärung nach dem Frühstück verschwunden, statt wie üblich dem Unterricht beizuwohnen.

Maria dachte daran, wie sehr sie selbst trotz des Mantels fror. Wer immer da vor ihr lag, war nur dürftig bekleidet und den Geräuschen nach zu urteilen auch verwundet. Es war ihre Pflicht, sich um diesen Menschen zu kümmern! Mit klopfendem Herzen lief sie zu ihm zurück und beugte sich hinunter.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie leise und legte ihre Hand vorsichtig an die Stelle, an der sie die Schulter vermutete, doch sie erhielt keine Antwort. Sie kniete sich in den Schnee und stieß immer wieder gegen den Oberkörper, als wollte sie jemanden wecken. Da nichts passierte, drehte Maria die Person behutsam um. Jetzt erst erkannte sie, dass ein Mann vor ihr lag. Sie konnte nicht sagen, ob er jung oder alt war, denn schwarze Locken hingen ihm wirr vor dem Gesicht. Seine Augen waren geschlossen. Ein Augenlid war blau und vollständig zugeschwollen. In seiner blutigen Kleidung bot der Verletzte einen jämmerlichen Anblick.

»Können Sie mich hören?«

Noch immer gab er nicht mehr als ein Stöhnen von sich. Maria zitterte, doch sie konnte nicht sagen, ob vor Kälte oder aus Furcht. Sie hatte niemandem ein Wort davon gesagt, wohin sie wollte. Nun hockte sie hier – mitten im Wald – vor einem Mann, der kaum bei Bewusstsein war. In ihrer Angst begann sie, laut zu reden, ohne zu wissen, ob sie überhaupt verstanden wurde.

»Ich heiße Maria. Ich werde versuchen, Ihnen zu helfen. Nur weiß ich noch nicht wie. Ich bin keine Krankenschwester. Das bräuchten Sie. Eine Schwester. Oder einen Doktor. Aber den können Sie nicht bezahlen, richtig? Und unseren Hausarzt kommen zu lassen ist ausgeschlossen.«

Maria dachte an den dürren Mann, nach dem Frau Johann immer wieder rufen ließ, wenn die Traurigkeit ihrer Mutter bedrohliche Ausmaße annahm. Sie schüttelte sich.

»Nein. Undenkbar. Dieser Quacksalber würde keinen seiner knochigen Finger rühren für einen Landstreicher. Was mache ich nur? Es ist bitterkalt. Sie werden erfrieren.«

Maria fiel die verfallene Hütte ein. Sie lag etwas unterhalb der Lichtung im angrenzenden Wald. In einem Anflug von Mitleid strich sie dem Verletzten, ohne nachzudenken, die Haare aus der Stirn. Erschrocken stellte sie fest, dass die Haut des Mannes glühte.

»Sie haben Fieber. Sie dürfen bei der eisigen Kälte nicht auf dem Boden liegen bleiben. Sie werden erfrieren. Ich bin gleich wieder da. Ich lasse Sie hier nicht allein zurück. Versprochen.«

Eilig erhob sie sich und lief die wenigen Schritte bis zu dem Holzverschlag. Sie rüttelte an der Tür und stellte erleichtert fest, dass sich nichts geändert hatte: Wegen der Unebenheiten im Boden ließ sich die Tür nur öffnen, wenn man den Türriegel griff und leicht anhob. Die Hütte war noch immer leer und ungenutzt.

Sie seufzte, denn sie wusste, was ihr bevorstand. Sie musste den bewusstlosen Mann in diesen Unterschlupf schaffen und dann Decken, warme Kleidung, Verbandszeug, Wasser und Essen besorgen. Grübelnd ging sie zurück zur Lichtung.

»Die Hütte ist leer. Es sind nur wenige Meter, die ich ihn bergab ziehen muss«, murmelte sie vor sich hin. »Sein Körper rutscht im Schnee besser als auf bewachsenem Waldboden«, überlegte sie weiter. Doch dann schüttelte sie den Kopf. Was tat sie hier nur? Und seit wann führte sie Selbstgespräche? Er hörte sie nicht, und sie war nicht in der Lage, ihm zu helfen! Wie sollte sie einen Erwachsenen durch den Wald schleifen? Selbst wenn sie dieses Wunder vollbrachte – was dann? Sie konnte schlecht zu ihrer Mutter gehen, nach dem Leiterwagen im Hof fragen und all die Dinge herschaffen, die der Mann zum Überleben brauchte. Die Situation war schlichtweg aussichtslos.

Maria blickte noch einmal auf den Verletzten herab. Sie fühlte sich elend. Tränen schossen ihr in die Augen, doch ihr blieb keine Wahl, als sich auf den Heimweg zu machen. »Es tut mir leid«, flüsterte sie und wandte sich ab. In diesem Augenblick hörte sie ihn. Es war nur ein einziges Wort. Ein Hauch, nicht mehr. »Bitte!«

Seine tiefe Stimme durchschnitt die Stille. Er war bei Bewusstsein, wenigstens zeitweise. Sie konnte sich nicht einfach heimlich davonstehlen wie ein Dieb in der Nacht. Nicht jetzt, wo sie annehmen musste, dass er ihr Versprechen gehört hatte. Maria blieb einen Augenblick unschlüssig stehen. Dann kniete sie sich erneut neben ihn.

»Ich weiß nicht, wo Sie verletzt sind, und es tut mir leid, wenn ich Ihnen Schmerzen zufüge. Es sind nur wenig Schritte, aber mir bleibt nichts anderes übrig, als Sie durch den Schnee zu zerren.«

Der Mann gab ein leises Stöhnen von sich, und Maria war unsicher, ob es Schmerzenslaute waren oder ob er ihr damit signalisierte, dass er verstanden hatte.

»Ich werde Sie jetzt unter den Achseln greifen.«

Ihr Herz begann zu rasen, und sie kämpfte gegen die aufkommende Panik an. Sie musste es einfach schaffen, nur bis in diese Hütte!

Maria legte die Hände neben seinen Kopf und fuhr unter die schmutzigen Kleider. Nachdem sie die Achseln ertastet hatte, suchte sie einen sicheren Stand und zog mit einem kräftigen Ruck an ihm. Sie rutschte ab, verlor das Gleichgewicht und landete schmerzhaft auf dem Hinterteil. Sie versuchte es erneut. Wieder umfasste sie den Mann von hinten, und diesmal verhakte sie die Hände vor seiner Brust ineinander. Voller Schmerzen stöhnte der Verletzte auf, und sie hielt erschrocken inne. Er war schwer, doch der Schnee erleichterte es ihr, ihn fortzubewegen. Trotzdem litt er unter jeder Bewegung.

»Es geht nicht, oder?« Ihre Stimme klang schrill. Sie sah den Mann aufmerksam an. Er rührte sich nicht. »Ich soll aufhören, ja?« Langsam schüttelte er den Kopf, und sie verstand: Er wollte, dass sie weitermachte. Zentimeter für Zentimeter zog Maria den Unbekannten Richtung Hütte. Innerhalb kurzer Zeit schwitzte sie vor Anstrengung, und ihr Puls raste.

Nachdem sie ihn endlich in den Bretterverschlag bugsiert hatte, ließ sie sich keuchend neben ihm auf dem eisigen Boden nieder und wartete darauf, dass sie wieder zu Kräften kam.

»Danke«, hörte sie den Mann leise sagen. Es klang wie ein sonores Brummen, und Maria nickte erschöpft.

»Ich muss zurück«, begann sie, doch bevor sie aufstehen konnte, griff er nach ihrem Arm. Sein Gesicht verzog sich unter Schmerzen, und er drückte den anderen Arm gegen den Bauch.

»Nicht verraten!«, presste er mühsam hervor.

»Keine Sorge, ich werde niemandem etwas sagen.«

Behutsam schob sie die Hand von ihrem Arm. Die Knöpfe seines Mantels waren abgerissen, weshalb ihm der löchrige Stoff vom Oberkörper rutschte und die Wunden freilegte. Maria presste die Lippen aufeinander, um nicht laut aufzuschreien. Das graue Leinenhemd, das er trug, war blutgetränkt.

»Sie müssen verbunden werden. Aber ich kann solche Dinge nicht. Unsere Haushälterin …«

»Nicht! Sie töten mich.«

Maria zuckte zusammen. Töten? Wo war sie da bloß hineingeraten? Wer war dieser Mann? Und warum wollte ihn jemand umbringen?

»Ganz ruhig. Hier sind Sie sicher. Aber wenn Ihre Wunden nicht versorgt werden, verbluten Sie.«

Er reagierte nicht mehr, und sie erkannte, dass er erneut das Bewusstsein verloren hatte. Sie blickte auf den Unbekannten herab. Durch die geöffnete Tür fiel Licht ins Innere der Hütte, wodurch sie sehen konnte, dass der Verletzte nur wenig älter war als sie selbst. Seine Haut war viel dunkler als ihre und die Wimpern an seinem unverletzten Auge ebenso tiefschwarz wie seine Locken.

Sie spürte plötzlich eine tiefe Traurigkeit. Er war ein Todgeweihter, davon war sie überzeugt. Stichwunden im Oberkörper, dazu kamen die Kopfverletzungen, wenn sie die blutverklebten Haare richtig deutete.

Vorsichtig schob sie sein Hemd nach oben. Sie zählte fünf Einstiche. Aus zweien quoll noch immer Blut, die anderen waren schmutzig und verkrustet.

Kurzentschlossen trat Maria einige Schritte beiseite, zog ihr Unterkleid aus und trennte es an den Nähten auf. Dann biss sie in den Stoff und zerrte daran, bis er riss. Ihr Mund verkrampfte sich, und ihre Hände brannten, doch sie hörte erst auf, als das Kleidungsstück in breiten Stoffbahnen vor ihr lag. Sie streifte ihre Handschuhe ab, presste sie auf die blutenden Wunden und verband ihm den Oberkörper. Entkräftet von der ungewohnten Tätigkeit stand sie auf, drückte ihre Hände ins Kreuz und bog es durch. Ein kurzer Blick auf den Bewusstlosen genügte, um zu erkennen, dass die notdürftige Bandage nicht ausreichte, denn sie verfärbte sich bereits rot.

»Er muss genäht werden«, murmelte Maria und schüttelte resigniert den Kopf. Der Mann war vor seinen Mördern geflüchtet, wie er sagte, und sie wusste nicht, wer die waren. Wenn sie verhindern wollte, dass sie ihn fanden und töteten, blieb ihr nichts anderes übrig, als zu schweigen. Nur: Wie sollte sie ihm dann helfen? Noch nie hatte sie sich um Verletzungen kümmern müssen – schon gar nicht um derart schwere. Die Wunden mussten genäht werden, aber wie? Und womit?

Konzentriert starrte Maria auf den Oberkörper des Fremden. Er hob und senkte sich kaum merklich, was bedeutete, dass er atmete. Sie zog das Hemd über den Verband und schlug den Mantel sorgfältig zu. Ihr war klar, dass ihn dies nicht vor den eisigen Nachttemperaturen schützte, doch es musste reichen, bis sie ihm Decken brachte.

 

Maria rannte den Weg zurück in die Stadt und fasste unterwegs einen Entschluss. Sie war kein Kind mehr, sondern fast erwachsen. Sie wollte sich nicht damit abfinden, dass sie nicht helfen konnte. Erregung machte sich in ihr breit. Zum allerersten Mal würde sie etwas von Bedeutung tun. Sie würde sich um einen bedürftigen Menschen kümmern!

Bisher war ihr Leben nur eintönig dahingeplätschert: Die Vormittage verbrachte sie gemeinsam mit ihrem Bruder Michael im Studierzimmer mit dem Hauslehrer Herrn Peters.

Natürlich war es ein Privileg, dass sie als Mädchen ebenso unterrichtet wurde wie ihr Bruder. Doch nur allzu oft zog sich der Unterricht öde hin. Sie lernte lesen, schreiben und rechnen. Hinzu kamen Sprachen. Dabei war Maria davon überzeugt, dass sie nie in die Länder würde reisen können, in denen sie gesprochen wurden. Der einzige Grund, aus dem sie all diese Dinge zu lernen hatte, war der, dass ihr Vater sicher sein wollte, dass im Notfall auch sie vorübergehend die Geschäfte führen konnte. Immer wieder betonte Friedrich Menz, dass er keine Wahl hätte, als auch in ihre Ausbildung zu investieren, denn es könne ja sein, dass die Schwermut ihrer Mutter Lucia sich auf eines der Kinder übertrug. Sollte Michael also je unfähig sein, den Kolonialwarenhandel zu übernehmen, würde Maria für ihn einspringen müssen.

Den Unterrichtsstunden folgten endlose Stunden im Laden, in denen sie Waren abwog, verpackte und in Regale räumte oder Kunden bediente.

Nichts in Marias Leben war je aufregend gewesen. Ohne Höhen und Tiefen folgte ein Tag auf den nächsten.

Doch nun war etwas Unvorhersehbares geschehen. Sie hatte sich heimlich aus dem Elternhaus davongeschlichen und war buchstäblich in einen Fremden hineingestolpert. So groß ihr Mitgefühl für diesen armen, verletzten Landstreicher auch war, Neugier und Aufregung, die sie plötzlich spürte, waren noch größer.

 

Ungesehen schlüpfte Maria ins Haus. In ihrem Zimmer wechselte sie die Kleidung, suchte anschließend das Studierzimmer auf und schützte Unwohlsein vor. Herr Peters war ungehalten, doch sie wusste, dass er sie nicht an ihre Eltern verraten würde. Deren private Räumlichkeiten betrat er nie. Und da ihre Mutter unpässlich war und ihr Vater sich in seiner Arbeit vergraben hatte, bestand keine Gefahr, dass der Lehrer mit einem von beiden sprach. Außerdem war sie davon überzeugt, dass die Eltern ihre Abwesenheit noch nicht einmal bemerkt hatten.

Sauber gekleidet und mit klopfendem Herzen lief Maria in die Küche. Wie erwartet fand sie Frau Johann bei den Vorbereitungen für das Abendessen.

»Du hast beim Mittagstisch gefehlt, Kindchen«, begann die Haushälterin. »Und wenn ich dich so ansehe …« Sie unterbrach sich, zog beide Augenbrauen hoch und sah Maria prüfend an.

»Ich habe mich unwohl gefühlt und konnte nichts essen«, gab sie zurück. »Darf ich eine Frage stellen?«

»Na, ich höre?«

»Wenn jemand schwer verletzt wäre und genäht werden müsste – wie ginge das?«

Die Haushälterin sah Maria aus aufgerissenen Augen an. »Was ist passiert?«, fragte sie streng.

»Nichts. Bitte, ich muss es einfach wissen!«

Frau Johann schürzte die Lippen und zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. »Nun, du bräuchtest wohl Nadel und Faden, nicht?«

»Welcher Art müsste der Faden sein?«

»Ich bin kein Arzt, Kindchen. Aber ich kann dir sagen: Einer meiner Verflossenen war Soldat. Er hat erzählt, dass sie Verwundete im Feld mit Rosshaar genäht haben, wenn nichts anderes zur Hand war. Sie haben die Pferdehaare vorher gekocht, um sie weicher zu machen.«

»Und womit würde ein Doktor die Wunde säubern?«

»Alkohol. Oder Wasser und Seife? Frag besser einen Arzt.«

»Gibt es denn noch Reste vom Mittagessen?«, fragte Maria unvermittelt.

»Aha! Also doch hungrig, was?«, polterte Frau Johann, während sie mit einem Lächeln die Topfdeckel hob und Maria hineinsehen ließ.

»Ich nehme eine große Schüssel von allem, bitte.« Sie klimperte bettelnd mit den Augenlidern und wusste, dass sie die fürsorgliche Frau längst um den Finger gewickelt hatte.

 

Maria nahm die Speisen mit auf ihr Zimmer. Dann horchte sie in den Flur. Nebenan war alles ruhig, ihr Bruder saß entweder beim Unterricht oder arbeitete schon im Laden. Sie schlich in den Nebenraum und durchwühlte Michaels Schrank. Kleider, die er nicht mehr trug, da sie zu abgewetzt waren, packte sie in eine Tasche: Hose, Unterhemd, Leinenhemd und eine wärmende Weste. Dazu Strümpfe und ein Mantel, aus dem ihr Bruder herausgewachsen war. Selbst ein Paar alte Stiefel fand sie. Decken, Lumpen, ein Handtuch, eine verstaubte Petroleumlampe und drei leere Krüge holte sie aus der Abstellkammer. Die wollte sie unterwegs mit Wasser aus der Elbing füllen. Jetzt musste sie nur noch darauf warten, dass Frau Johann die Küche verließ. In einer Schublade bewahrte die Haushälterin allerlei Krimskrams auf, wozu auch Nähgarn und Verbandszeug gehörten. Den Schnaps zum Desinfizieren der Wunde entwendete Maria aus der Speisekammer. Sie füllte etwas davon in einen der Krüge mit eisernem Deckel und versteckte ihn zusammen mit den anderen Utensilien und den Kleidern unter dem Bett.

Den Rest des Tages verbrachte sie damit, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Sie half ihrem Bruder im Laden, kassierte ab oder plauderte höflich mit den Kunden. Kurz vor Ladenschluss warf sie einen Blick auf den Leiterwagen im Innenhof. Die große Plane, die der Vater bei Regenwetter auf den Einspänner zog, lag fein säuberlich gefaltet darin. Maria wollte auch sie mitnehmen und sich ahnungslos geben, sobald Friedrich Menz den Verlust bemerkte.

 

Am nächsten Morgen erklärte sie beim Frühstück, dass sie starke Kopfschmerzen hätte.

»Ich fühle mich unwohl, Vater. Ich möchte mich noch einmal hinlegen und anschließend einen längeren Spaziergang unternehmen. Vielleicht kann ich dann ja zumindest am Nachmittag wie gewohnt meinen Pflichten nachkommen.«

»Ganz die Mutter«, sagte Friedrich Menz verächtlich, bevor er sich wieder dem Frühstück zuwandte. Michael sah seine Schwester fragend an, doch sie zuckte nur mit den Schultern, stand wortlos auf und stieg die Treppe hoch. Bei angelehnter Zimmertür wartete sie geduldig darauf, dass der Vater das Haus verließ und ihr Bruder im Studierzimmer verschwand. Dann machte sie sich auf den Weg.

 

Noch bevor die Kirchturmglocken die Mittagsstunde ankündigten, erreichte Maria die Lichtung im Wald. Sie fand den verletzten Mann an genau der Stelle, an der sie ihn tags zuvor zurückgelassen hatte. Ob er schlief oder bewusstlos war, vermochte sie nicht zu sagen.

Einen Moment lang stand sie unschlüssig in der Hütte, dann begann sie damit, die Dinge auszupacken, die der kleine Handwagen hergab. Die Krüge, die sie auf dem Weg im Fluss mit eisigem Wasser gefüllt hatte, und den Alkohol stellte sie ebenso neben den Verletzten wie das Verbandszeug. Die Schüssel mit Bohnen und Kartoffeln ließ sie vorerst auf dem Leiterwagen.

Die robuste Plane breitete sie mehrfach gefaltet auf dem Boden aus. Obwohl sie einigen Lärm machte, erwachte der Mann nicht. Maria befühlte seine Stirn und erkannte, dass er noch immer im Fieber lag. Sie rollte den Bewusstlosen auf die Seite, schob ihm die Stoffbahnen unter den Körper und drehte ihn dann zurück.

Einen der Wasserkrüge zog sie zu sich, griff nach einem Lappen und begann, das Gesicht des Mannes zu reinigen. Das kalte Wasser ließ ihre Finger innerhalb weniger Minuten steif werden. Vorsichtig wusch sie ihm das Blut von Wangen, Stirn und Kinn. Je sauberer er wurde, desto mehr erkannte sie, dass sie mit ihrer Vermutung richtig gelegen hatte: Er war nicht viel älter als Michael. Seine Haut war dunkler, und Maria war sich sicher, dass er kein Elbinger sein konnte.

Aufmerksam sah sie ihn an. Das linke Auge war noch immer zugeschwollen. Doch das andere war von langen, dichten Wimpern umrahmt. Nachdem sein Gesicht von Blut und Schmutz gesäubert war, begann sie damit, den Verband vom Vortag zu entfernen.

»Du bist zurück. Ich wusste nicht mehr, ob du nicht nur Einbildung warst.«

Maria zuckte zusammen, als sie die flüsternde Stimme hörte.

»Ich muss die Wunden nähen«, antwortete sie, nachdem sie sich wieder gefangen hatte.

Er nickte erschöpft.

»Du sprichst unsere Sprache«, stellte sie fest.

»Ja.«

»Wer hat sie dir beigebracht?

»Niemand. Kalderaš hören zu, wenn Menschen sprechen. Wir müssen. Damit wir verstehen, was um uns herum passiert.«

»Dein Name ist Kalderaš?«

»Nein.« Er lächelte. »Kalderaš heißt mein Volk. Ich bin Kaló.«

»Ich bin Maria.«

»Wunderschön. Lolodzji.«

»Lolodzji?«, fragte sie zurück, doch er antwortete nicht mehr. Maria fädelte den Faden in das Nadelöhr, säuberte die Nadel und seine offenen Verletzungen mit dem Alkohol und hörte ihn schmerzerfüllt zischen. Ihre Finger waren in der Zwischenzeit steifgefroren, und sie zitterte, allerdings nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Angst. Sie dachte panisch daran, dass sie dem Jungen gleich in den Oberkörper stechen und die tiefen Risse in seiner Haut vernähen musste. Angespannt legte sie das Nähzeug wieder in das kleine Holzkästchen und schob ihre Hände in die Manteltaschen.

»Augenblick noch«, bat sie ohne weitere Erklärung. Ihr Herz raste vor Nervosität. Sie atmete ein und aus, blies ihren warmen Atem in ihre Fäuste und griff nach der Nadel.

»Ich fange jetzt an«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihm. Dann stach sie dem armen Kerl in die Haut. Er stöhnte auf, während sie ihn nähte. Die ganze Zeit über kniff Kaló die Augen fest zu, und Maria fragte sich, warum er nicht einfach wieder bewusstlos werden konnte. So musste sie sein herzzerreißendes Wimmern ertragen.

Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sie die beiden Wunden zusammengenäht hatte. An den Einstichstellen blutete er noch immer, Maria erkannte jedoch, dass er bei Weitem nicht mehr so viel Blut verlor wie zuvor.

Nachdem sie den letzten Stich vernäht hatte, biss sie den Faden ab. Sie vermied es, den jungen Mann anzusehen, denn ihr war durchaus bewusst, dass sie damit seinem Oberkörper viel zu nahe kam. Da sie jedoch nicht an eine Schere gedacht hatte, blieb ihr keine Wahl.

»Fertig«, sagte sie und lächelte ihn vorsichtig an.

»Danke.«

»Ich weiß nicht, ob ich alles richtig gemacht habe. Ich lege dir jetzt einen frischen Verband an. Danach kannst du die sauberen Kleider meines Bruders anziehen.«

Maria säuberte den Oberkörper ein letztes Mal mit dem Schnaps ihres Vaters, dann umwickelte sie Kalós geschundene Brust sorgfältig.

»Ich habe solchen Durst.«

»Augenblick.« Sie holte den Wasserkrug und stellte auch gleich die gut gefüllte Schüssel neben ihn. »Es ist leider längst kalt«, sagte sie bedauernd, obwohl sie sicher war, dass ihm diese Tatsache vollkommen egal sein dürfte.

»Nur trinken«, murmelte der Junge, doch Maria schüttelte energisch den Kopf.

»Ich muss bald zurück. Wer weiß, wann ich es schaffe, wiederzukommen. Du verlierst noch immer in regelmäßigen Abständen das Bewusstsein, und dein Fieber ist hoch. Solange du wach bist, musst du trinken und essen. Nur so kommst du zu Kräften und kannst nach Hause.«

Maria dachte plötzlich daran, dass sie gar nicht wusste, woher er kam oder wer ihm diese Verletzungen zugefügt hatte. Sie sah zu, wie er gierig das Wasser trank, das sie ihm reichte, und stellte ihre Fragen fürs Erste zurück. Stattdessen zog sie den Leiterwagen näher heran, damit Kaló sich anlehnen konnte, und half ihm, sich aufzurichten. Sie stellte die Speisen neben ihn, doch er war zu schwach, um allein zu essen.

»Schon gut. Ich mach das«, sagte sie und begann, ihn geduldig zu füttern. Während er aß, schwiegen sie. Maria war von sich selbst überrascht. In den vergangenen zwei Stunden hatte sie zu keiner Zeit Berührungsängste verspürt. Nur der Moment, in dem sie zur Nadel greifen musste, hatte sie Überwindung gekostet. Jetzt so dicht bei ihm zu sitzen, hatte etwas Beruhigendes. Es fühlte sich weder falsch noch bedrohlich an. Wie ein unsichtbares Band hatten die letzten Stunden Nähe zwischen ihnen geschaffen, ohne dass sie auch nur irgendetwas voneinander wussten.

Maria hätte nie für möglich gehalten, dass sie in der Lage sein würde, einem Menschen auf diese Art zu helfen.

Beim nächsten Löffel, den sie ihm an den Mund hob, schüttelte er den Kopf.

»Jetzt fehlen noch die warmen Kleider«, sagte Maria mit Nachdruck und stellte die halb volle Schüssel beiseite. Sie zog ihm ein sauberes Unterhemd über den Verband und darüber Leinenhemd, Weste und Mantel. Die Hose hielt sie unschlüssig in der Hand und legte sie dann in Reichweite neben ihn.

»Später«, murmelte sie vage, doch Kaló hörte sie nicht mehr. Sein Kopf war zur Seite gekippt. Er atmete ruhig, aber flach. Maria stützte ihn, gab dem Handwagen einen kleinen Schubs und ließ seinen Oberkörper auf die Plane zurücksinken. Nachdem sie ihm die löchrigen Schuhe und Strümpfe ausgezogen und die von Michael wieder angezogen hatte, wickelte sie ihn in die wärmenden Decken, die sie mitgebracht hatte. Dann stellte sie die Petroleumlampe in erreichbare Nähe neben ihn und verließ die Hütte.

 

Als Maria den Bretterverschlag das nächste Mal betrat, waren zwei volle Tage vergangen. Friedrich Menz hatte ihr weitere Unpässlichkeiten nicht durchgehen lassen und verlangt, dass sie ihren Pflichten nachkam. Erst am Freitag, dem Tag, an dem der Vater üblicherweise neue Waren auf der Speicherinsel entgegennahm und überprüfte, stahl sich Maria aus dem Haus.

An der Hütte angekommen, legte sie zögernd die Hand auf den Riegel und wartete darauf, dass sich ihr Herzschlag beruhigte. Immer wieder hatte sie in den letzten Tagen an den jungen Mann mit dem ungewöhnlichen Namen gedacht und sich gefragt, was sie erwartete, wenn sie wiederkam. War Kaló noch da? Hatte sich sein Zustand verschlimmert, oder war er gar …

Ihr Magen verkrampfte sich. Sie schob die trüben Gedanken beiseite und öffnete die Tür. Das Sonnenlicht fiel direkt auf Kaló, der an der Rückwand der Hütte lehnte und zu ihr hochblinzelte. Die Schwellung am Auge war zurückgegangen, und nun, da Kalós Gesicht nicht mehr blutverschmiert war, brachte sein Anblick sie in Verlegenheit. Er sah gut aus. Die Erkenntnis ließ sie unaufmerksam werden, und fast wäre sie über einen knorrigen Ast gestolpert.

»Vorsicht«, sagte er, und sie lächelte schüchtern.

»Danke. Wie geht es dir?«

»Ich habe Hunger. Ich wollte ja aufstehen, aber …« Kaló deutete auf sein rechtes Bein. Noch immer trug er die schmutzige Hose. Er schob das Hosenbein hoch. »Ich fürchte, sie haben es mir gebrochen.«

Maria schlug erschrocken die Hand vor den Mund. Reiß dich zusammen!, ermahnte sie sich. Sie atmete tief ein und aus, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Sein Unterschenkel war blutverkrustet und seltsam verbeult. Sie kniete sich neben ihn und sah sich das Bein genauer an.

»Ein gerader, offener Bruch«, sagte sie leise. In diesem Fall war sie sich ihrer Sache ganz sicher, denn ein ähnliches Bild hatte sie vor Jahren einmal bei ihrem Bruder Michael gesehen. Er hatte erste Kletterversuche auf einem der Bäume entlang der Wasserstraße unternommen, war hinuntergefallen und hatte sich einen ebensolchen Bruch zugezogen.

»Es tut mir leid. Ich war so mit dem Nähen deiner Wunden beschäftigt. Danach wurdest du ohnmächtig. Ich wollte dir ja auch die Hose meines Bruders …« Maria brach ab und sah zu Boden.

Als sie Kaló wieder anblickte, grinste er schief. »Hast du Schmerzen?«, fragte sie.

Kaló lachte kurz auf. »Es tut höllisch weh. Aber die Angst davor, hier nicht mehr herauszukommen, war schlimmer. Keine Ahnung, was ohne dich aus mir geworden wäre.«

Maria strich sich verlegen die Haare aus der Stirn und wechselte schnell das Thema. »Ich habe bei meinem Bruder gesehen, wie man einen Bruch schient. Aber die Knochen müssen wieder zurückgeschoben werden. Ich brauche dicke Äste.« Sie griff nach Verbandszeug und Alkohol. »Ich suche draußen ein geeignetes Holzstück.« Zögernd fügte sie hinzu: »Du musst die Hose wechseln. So dreckig, wie die ist, entzündet sich dein Bein noch.«

»Ich fürchte, das ist schon passiert.«

»Vielleicht sollte ich doch unseren Arzt rufen«, grübelte Maria laut.

Kaló griff fast panisch nach ihrer Hand. »Nein!« Seine Augen flackerten unruhig. »Kein Doktor behandelt unsereins. Meldung würde er machen. Und dann ginge alles von vorn los.«

»Wovon sprichst du?«

»Ich bin ein Zigeuner«, sagte er leise, und nun endlich verstand sie. Als er ihr vor wenigen Tagen gesagt hatte, dass sein Volk Kalderaš hieß, hatte sie sich nichts darunter vorstellen können und war am Ende nicht einmal mehr sicher, ob er nicht im Fieber gesprochen hatte.

Maria wusste, dass er mit seiner Befürchtung richtig lag. Kein Arzt, der etwas auf sich hielt, würde ihn behandeln. Sie galten als Verbrecher. Und anständige Menschen ließen sich nicht mit solchem Gesindel ein. Machte sie sich nicht gar mitschuldig an seinen Missetaten, wenn sie ihm half? Ihr lief ein Schauer über den Rücken, und sie zog ihre Hand zurück. Einen Augenblick lang bedauerte sie, dass sie vor zwei Tagen überhaupt das Haus verlassen hatte. Niemals durfte jemand erfahren, was sie hier tat. Weder ihre Eltern noch irgendwelche anderen Elbinger hätten Verständnis für ihre Barmherzigkeit gegenüber Kaló.

Andererseits: Wer sagte denn, dass er ein Verbrecher war? Sie hatte einen Verletzten gefunden – nicht mehr und nicht weniger. Es war also ihre Pflicht, einen hilfsbedürftigen Menschen nicht elend verrotten zu lassen.

Kaló blickte sie aufmerksam an, und Maria fühlte sich ertappt. Eilig stand sie auf, schüttelte das Blut zurück in ihre Beine und strich ihren Rock glatt. Sie wollte nicht, dass er ihre Zweifel bemerkte, und gleichzeitig fragte sie sich, warum es ihr überhaupt wichtig war, was er von ihr dachte.

»Du hättest die Wunde längst säubern müssen«, lenkte sie ab. Ihre Stimme klang ungehalten, doch sie konnte ihre Worte nicht mehr zurücknehmen.

»Ich bin erst seit heute Morgen wirklich wach«, gab er entschuldigend zurück.

Er hatte demnach zwei volle Tage im Fieber gelegen. Einen Moment lang machte sie sich Vorwürfe, dass sie nicht eher gekommen war. Dann straffte sie die Schultern. Es war sinnlos, jetzt darüber nachzudenken. Sie musste sich um den Bruch kümmern. »Ich bin gleich zurück.«

Maria brauchte eine Weile, bis sie gerade, stabile Äste fand, mit denen sie das Bein schienen wollte. Es war ein Jammer, dass sie Kaló nicht einfach zu einem Doktor bringen durfte. Sie würde ihr Bestes geben, wusste jedoch, dass das mitnichten eine Garantie dafür war, dass der Bruch sauber verheilte. Viel wahrscheinlicher war, dass sein Schienbein krumm zusammenwuchs. Sie hörte die Stimme des Arztes, der vor Jahren ihren Bruder behandelt hatte, noch ganz deutlich: »Absolute Ruhe für den kleinen Mann, Frau Menz! Mindestens sechs Wochen. Wenn Sie nicht wollen, dass sich das Bein für immer versteift, sorgen Sie dafür, dass es nicht – und ich meine überhaupt nicht – bewegt wird.«

Die nächste Stunde war eine Tortur für den Zigeuner. Nachdem Maria die Wunde gesäubert hatte, stellte sie fest, dass die Äste vollkommen ungeeignet waren, um den Unterschenkel zu schienen. Sie überlegten gemeinsam, was sie stattdessen verwenden könnten. Kaló sah sich um und deutete schließlich auf die morschen Holzlatten in der Seitenwand der Hütte. Maria trat dagegen, bis ein Teil herausbrach. Sie umwickelte die Latte sorgfältig mit sauberen Stoffbahnen. Anschließend presste sie das Holzstück auf den Bruch und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht darauf. Mit einem leisen Knirschen rutschte der herausstehende Knochen wieder zurück in die Ausgangsposition. Kaló schrie auf. Maria verband Unterschenkel und Holzlatte fest miteinander, dann war der Spuk vorüber.

Ihre Nervosität verflog, als sie erkannte, dass sein Atem ruhiger wurde und er sich langsam von den Strapazen erholte.

»Wie lange wird es wohl dauern, bis das Bein geheilt ist?«, fragte Kaló und scherte sich nicht darum, dass er mit vollem Mund sprach.

»Das Bein meines Bruders durfte sechs Wochen nicht bewegt werden.«

Kaló riss entsetzt die Augenbrauen hoch. »So lange?« Dann entdeckte er den Korb, den Maria mitgebracht hatte, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Sie grinste ebenfalls und holte den Korb, der noch an der Tür stand. Sie hatte Frau Johann einen halben Laib Brot, Käse, Speck und zwei gekochte Eier stibitzt. Außerdem hatte sie statt Wasser diesmal einen Krug gesüßten Pfefferminztee dabei. Natürlich war er längst kalt, aber Kaló schien sich zu freuen. »Du bist meine Rettung, Lolodzji.«

»So hast du mich schon einmal genannt. Was heißt das?«, fragte sie zurück, doch er winkte ab und machte sich über das Essen her. Maria nutzte den Moment und stellte dem Zigeuner endlich die Frage, die sie längst hatte stellen wollen. »Wer hat dir das angetan?«

»Namentlich vorgestellt haben die sich nicht«, gab Kaló resigniert zurück. »Es ist überall das Gleiche. Wir sind nirgends erwünscht. Wir haben unsere Zelte außerhalb der Stadtmauern aufgeschlagen, damit wir nicht sofort wieder entdeckt und vertrieben werden. Trotzdem haben sie mich und meinen Bruder erwischt. Ich beschimpfte die Verfolger so wüst, wie es nur ging. Da ließen sie von Shavó ab und nahmen mich in die Zange.«

Maria schüttelte verständnislos den Kopf. Sie hatte nie darüber nachgedacht, wie Zigeuner lebten. Es war ihr bis heute schlicht egal gewesen. Trotzdem verstand sie nicht, wie ein Mensch einen anderen derart zurichten konnte.

»Und du?«, unterbrach er ihre Gedanken. »Ein Mädchen aus gutem Hause allein im Wald unterwegs. Ist das hier üblich?«

»Nein. Sicher nicht.«

»Erzähl mir, wie ist es, in deiner Welt aufzuwachsen!«

Seine Bitte überraschte Maria. Andererseits: Warum sollte er nicht ebenso neugierig auf ihr Leben sein, wie sie es umgekehrt auf seines war?

»Es ist sehr geordnet«, gab sie zurück.

»Geordnet?«, fragte Kaló verdutzt.

»Ja. Mein Leben ist so sortiert wie die Garnschublade unseres Schneiders. Aufstehen, frühstücken, Unterricht im Studierzimmer. Dann essen wir zu Mittag, und nachmittags helfen mein Bruder und ich im Laden meines Vaters.«

»Eure Familie besitzt einen Laden?«

»Kolonialwarenhandel Menz. Ja.«

»Klingt sorgenfrei, dieses Leben«, sagte Kaló, und es schien fast so, als spräche er zu sich selbst.

Maria dachte über seine Worte nach, bevor sie antwortete. »Mag schon sein, dass ich mich nicht um Nahrung, Kleidung oder ein Dach über dem Kopf sorgen muss. Aber sorgenfrei?«

Sie schüttelte den Kopf und war einen Augenblick lang versucht, ihm zu erklären, dass sie durchaus Sorgen hatte. Ihr Vater war ein Scheusal, das seine eigenen Kinder hasste, und sie hatte nie herausfinden können, warum das so war. Ihre Mutter war die meiste Zeit nur körperlich anwesend. Ihre Schwermut bestimmte ihrer aller Leben. Von früh bis spät mussten sie Rücksicht nehmen, durch ein abgedunkeltes Haus schleichen und dabei die gehässigen Bemerkungen des Vaters ertragen, der es sich nicht nehmen ließ, über das Befinden der Mutter zu lamentieren.

Maria sah Kaló ruhig an und schämte sich plötzlich. Ihre Gedanken waren selbstsüchtig, ihre Sorgen verglichen mit seinem täglichen Überlebenskampf einfach lächerlich.

Kaló schien ihr Schweigen zu verstehen, denn er hakte nicht weiter nach. Stattdessen griff er nach ihren Händen. »Hätte ich mich nicht totgestellt, wärst du nicht über einen Verwundeten, sondern einen Leichnam gestolpert. Ich verdanke dir mein Leben.«

Maria wusste nichts zu erwidern, und so sah sie ihm schweigend beim Essen zu. Als er satt war und den Teller beiseiteschob, stand sie auf. »Ich muss zurück.«

»Du kommst doch wieder?«

Maria drehte sich zu ihm um. Sie lächelte und nickte und verließ mit klopfendem Herzen die Hütte.

 

In den nächsten Wochen spielte sich fast so etwas wie Routine ein. Sobald ihr Vater zur Speicherinsel aufbrach, was spätestens alle drei Tage nötig war, schlich Maria aus dem Haus. Die Haushälterin hatte längst durchschaut, dass sie diejenige war, die die Lebensmittel stahl, und half ihr irgendwann sogar dabei, den Korb zu packen.

»Das machst du schon richtig, Kindchen. Nur Wenigen geht es so gut wir uns, nicht?« Frau Johann packte ein und fragte nicht weiter.

Maria spürte, dass sie den jungen Zigeuner mit jedem Treffen mehr in ihr Herz schloss. Sie war nervös und fahrig in den Stunden und Minuten, bevor sie ihn wiedersah. Ihre Knie wurden weich, wenn sie die Lichtung erreichte, und sie dachte ständig darüber nach, was sie wohl heute von ihm erfuhr. Kalós Leben war ein einziges Abenteuer. Er erzählte von der Sippe, zu der er zurückkehren wollte, sobald er die Hütte verlassen konnte. Er berichtete über unbekannte Sitten und Bräuche und ferne Orte und ließ Maria in seine Welt eintauchen, die ihr wie ein aufregendes Märchen erschien.

Die Welt, die sie kannte, bestand aus tausenden Dingen, die sich nicht gehörten. Mit einem Mann wie Kaló so vertraut zu sprechen war beispielsweise ein Unding für eine junge Frau ihres Standes.

Die Frau des Schneiders, die sich selbst immer dann zum Tee im Hause Menz einlud, wenn es der Mutter wieder besser ging, schimpfte ununterbrochen über Mädchen in der Stadt, die sich nicht zu benehmen wussten.

»Wie gut, dass Ihre Tochter so wohlerzogen ist, Frau Menz«, lobte das alte Klatschweib dann. »Ihr Gatte führt ein strenges Regiment in diesem Haus. Das einzig Richtige, damit ein so hübsches Ding tugendhaft bleibt, nicht wahr? Stellen Sie sich vor …« Es folgten endlose Monologe über sündige Frauen, die guter Hoffnung waren, ohne einen Ehering zu tragen.

Mutter schwieg in diesen Momenten fast immer, und Maria hatte jedes Mal das Bedürfnis, aus dem Raum zu flüchten.

Kaló schien keine Ahnung davon zu haben, was sich schickte und was nicht. Er hatte Maria gegenüber keinerlei Scheu. Elbinger Burschen wahrten stets gebührenden Abstand zu ihr und wagten es nicht, ihr zu nahe zu treten. Kaló hingegen saß nur Zentimeter von ihr entfernt. Sie genoss die Zweisamkeit, und so manches Mal griff der Zigeuner nach ihrer Hand und hielt sie gedankenverloren. Wenn sie die Hütte dann verließ, schwebte sie wie auf Wolken. Sie war glücklich und ausgeglichen und wusste gleichzeitig, dass dieses Hochgefühl schon am Abend verflogen sein und sie trübselig werden würde.

 

Die Tage zwischen den Treffen waren für Maria nur dann erträglich, wenn sie ihren Tagträumen nachhängen oder sich mit Arbeit ablenken konnte.

Amalie und Frau Johann bemerkten, dass sie stiller war als sonst. Fragen nach ihrem Befinden beantwortete Maria jedoch stets gleich. »Es geht mir gut. Was sollte schon sein?«

 

Der März war inzwischen fast vorüber, und Maria wurde schmerzlich bewusst, dass Kaló mehr und mehr zu Kräften kam. Als sie eines Nachmittags die Hütte betrat, fand sie ihn ohne Schiene und Verband vor.

»Hilfst du mir?«, fragte er ungeduldig.

Maria stellte die Lebensmittel ab, trat auf ihn zu und griff ihm unter die Achseln. Er zuckte zusammen und begann zu lachen. »Du sollst mir bei meinen ersten Gehversuchen behilflich sein. Von kitzeln war nicht die Rede.«

Grinsend packte sie erneut zu und half ihm auf. Zunächst stand Kaló minutenlang neben ihr. Dann legte er den linken Arm über ihre Schulter. Sie ergriff seine linke Hand und schlang gleichzeitig ihren rechten Arm um seine Taille. Die körperliche Nähe zu ihm verwirrte sie. Maria schluckte schwer und atmete einige Male tief durch.

»Auf drei«, sagte Kaló und begann zu zählen. Schritt für Schritt liefen sie durch die Hütte. Seine Schritte waren wackelig und sein Fuß unbeweglich, doch er biss die Zähne zusammen. Erst als sie die Tür erreichten, setzte er sich wieder.

»Ich bräuchte Krücken. Dann könnte ich jeden Tag ein bisschen üben.«

Maria nickte und spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass ihre gemeinsame Zeit bald vorüber war.

»Ich suche dir einen stabilen Ast«, erwiderte sie, ohne ihn anzublicken. Er sollte nicht sehen, wie sehr sie die Vorstellung bedrückte, auf ihre Treffen verzichten zu müssen. Sie fand eine robuste Astgabel und einen weiteren Stock und lief zurück zur Hütte. Kaló saß nicht mehr, sondern stand aufrecht und stützte sich am Türrahmen ab. Er nahm die Äste entgegen, lehnte sie an die Wand und griff plötzlich nach ihren Händen.

»Das vergesse ich dir nie, Maria! Ohne dich wäre ich nicht mehr am Leben, und ich weiß nicht, wie ich dir das je danken soll. Aber ich kann nicht ewig hier hausen. Ich muss zurück.«

In seinem Blick lag Bedauern. Vorsichtig strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und Maria kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen.

»Wir sehen uns wieder. Versprochen. Solange wir nicht vertrieben werden, siedeln wir hier in der Gegend. Ich werde dich finden.«

Maria ließ zu, dass er sie mit einem Arm zu sich zog.

»Du bist meine Retterin«, flüsterte er.

 

Einmal noch war Maria zur Lichtung gelaufen, doch Kaló war fort gewesen. Eintönigkeit kehrte in ihr Leben zurück, und sie kämpfte gegen die Schwermut, die sie gefangen hielt.

Ein Klopfen an ihrer Tür unterbrach ihre trüben Gedanken. Amalie betrat das Zimmer, gefolgt von Michael, der die Tür hinter sich schloss. Maria wusste, dass der Vater die Nähe der Kinder zu Amalie und ihrer Mutter verabscheute. Doch Frau Johann war im Laufe der Jahre zur Ersatzmutter für sie geworden. Wann immer Lucia Menz von ihrer Schwermut eingeholt wurde, hatte sich die Haushälterin der Geschwister angenommen, und so war es unausweichlich, dass Amalie neben ihnen aufwuchs wie eine weitere Schwester.

Amalie und Michael dachten, Maria würde nicht bemerken, wie gern sie sich hatten. Aber sie sah, wie die Freundin immer dann mit ihren roten Locken spielte, wenn Michael in der Nähe war. Und aus ihrem sonst so verschlossenen Bruder wurde ein unbeholfener Clown, der versuchte, Amalie zum Lachen zu bringen.

»Ratet!«, forderte Amalie.

»Was?«

»Raus damit!«, verlangte auch Michael.

»Ich sage nichts, müsst schon mitkommen!«

Maria verdrehte die Augen. Typisch Amalie. Sie liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Maria blickte ihren Bruder an, was überflüssig war, denn er würde Amalie überall hin begleiten, wenn sie ihn darum bat. Da auch Maria keine Lust darauf hatte, den Vormittag in diesem traurigen Haus zu verbringen, warf sie sich ihren Mantel über und stapfte an beiden vorbei.

 

Amalie führte sie am Ufer der Elbing entlang. Kurz hinter den Stadttoren erkannte Maria, wovon die Freundin gesprochen hatte. Ihr Magen zog sich zusammen. Aufgeregt zupfte sie ihre Haare zurecht und strich ihren Rock glatt.

»Das ist deine Sensation?« Michael klang enttäuscht. »Die kommen doch jedes Jahr. Vater meint, sie stehlen Kinder.«

»Ach ja? Er sagt auch, du wärst ein guter Nachfolger für den Laden!«, fauchte Maria ihren Bruder an. Sie kannte Friedrichs Gerede. Früher hatte sie sich sogar vor ihnen gefürchtet. Die dunkle Haut, dazu fast schwarze Haare. Und die Frauen waren laut, sie rauchten und fielen ihren Männern ins Wort, wenn ihnen der Sinn danach stand. Liefen Spaziergänger an ihrer Siedlung vorüber, sprangen die Gören auf sie zu, umtänzelten sie, plapperten und lachten ohne jede Scheu. Maria kannte niemanden, der auch nur irgendetwas Nettes über sie zu sagen wusste. Aber Kinder stehlen? Ein solcher Unsinn konnte unmöglich wahr sein. Sie dachte an Kaló, und das Flattern in ihrem Magen verstärkte sich. Würde sie ihn endlich wiedersehen?

»Kommt schon, nur mal gucken! Uns werden sie bestimmt nicht klauen!«, warf Amalie ein, und Maria ließ sich von ihrer Neugier anstecken. Sie hakte sich bei ihr unter, und gemeinsam liefen sie auf die Siedlung zu. Ihre Behausungen bestanden aus Zelten und Wagen. Es gab einige Feuerstellen, vor einer davon stand eine junge Frau. Sie trug mehrere bunte Röcke übereinander, was Maria an den verschiedenfarbigen Säumen erkannte. Um ihre Taille hatte sie ein grünes Tuch mit Fransen geschlungen, an dem ein ledernes Tabaksäckchen hing. Ihre dunklen Haare waren zu zwei dicken Zöpfen geflochten. Einzelne Strähnen fielen ihr ins Gesicht, während sie eine Art Fladenbrot zubereitete. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Maria konnte nicht aufhören, sie anzustarren. Noch nie hatte sie eine schönere Frau gesehen. Die Zigeunerin scherzte mit den Kindern, die um das Feuer herumsprangen und Fangen spielten. Ihr Lachen war ansteckend, und durch ihre dunkle Haut, die Maria sonst Angst einflößte, strahlten ihre weißen Zähne wie unzählige kleine Monde. Immer wieder versuchte die junge Frau vergeblich, sich mit dem Unterarm eine widerspenstige Haarlocke aus dem Gesicht zu wischen. Schließlich gab sie auf und strich die Strähne mit ihren schmutzigen Fingern hinters Ohr. Sie beschmierte sich dabei mit Ruß und sah trotzdem bezaubernd aus.

Als die Frau Maria und ihre Begleiter bemerkte, wechselte sie kurz einige Worte mit dem ältesten der Mädchen. Vermutlich bat sie das junge Ding, ein Auge auf die Feuerstelle zu haben. Dann rief sie zu ihnen herüber: »Blondes Mädel, du bist sehr hübsch. Komm, ich schaue in deine Zukunft.« Sie deutete auf das Zelt, vor dem sie noch bis eben gekocht hatte.

»Hat sie wohl gleich erkannt, wo es was zu holen gibt«, kicherte Amalie leise.

Maria erschrak und wich zurück. Aber ihre Freundin, bei der sie noch immer untergehakt war, zog sie weiter Richtung Zelt.

»Nur nicht schüchtern, Mädel!«, rief die Zigeunerin.

»Angsthase! Bist du nicht neugierig?«, fragte Amalie.

»Doch …«, gab sie zögerlich zu.

»Dann geh!«