Geteiltes Land – Zwischen Hoffnung und Aufbruch - Farina Eden - E-Book

Geteiltes Land – Zwischen Hoffnung und Aufbruch E-Book

Farina Eden

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Beschreibung

Ein Band, das niemand trennen kann – Eine Familie, mutige Frauen und ihr Traum von Freiheit. Berlin 1979: Die 19-jährige Lydia Richter besucht eine der renommierten Kinder- und Jugendsportschulen in Berlin, wo sie sich mit Christiane Lindig anfreundet. Die jungen Frauen haben ein gemeinsames Ziel: die Olympischen Spiele in Moskau. Das harte Training bringt sie diesem Ziel zwar näher, führt aber auch zu besorgniserregenden körperlichen Veränderungen, die sich die beiden nicht erklären können. Der Leistungsdruck setzt Lydia und Christiane zu, trotzdem schaffen sie es in den Reisekader. Doch dann kommt heraus, dass Lydias Schwestern Republikflüchtlinge sind, und sie wird von der Olympiateilnahme ausgeschlossen. Als Christiane ihren Vater deshalb um Hilfe bittet, entbrennt ein Streit, bei dem sie erkennen muss, dass auch in ihrer Familie nichts so ist, wie es scheint. Was verschweigen Vater und Mutter? Und warum fühlt sich Christiane ihrer besten Freundin näher als den eigenen Eltern? Inspiriert von der eigenen Geschichte der Autorin Farina Eden ist selbst im Osten Berlins und damit in der DDR aufgewachsen. Ein Teil ihrer Familie reiste in den Westen aus, weshalb die in der DDR verbliebenen Angehörigen politischem Druck ausgesetzt waren. Diese Erfahrung diente der Autorin als eine Inspiration für die Trilogie, der jedoch keine einzelne Familienbiografie zugrunde liegt. Vielmehr hat sie verschiedenste historisch belegte Ereignisse zusammengetragen und zu einer »exemplarischen Familiengeschichte« verwoben. Farina Edens  mitreißende DDR-Saga, für die Leser:innen von Claire Winters »Kinder ihrer Zeit« und Ulrike Schweikerts »Friedrichstraßensaga« sowie für Fans der Serie »Weißensee«.

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Sandra Lode

Covergestaltung: t. mutzenbach design, München

Covermotiv: Mondadori Portfolio/Pino Grossetti/Bridgeman Images; ullstein bild – Beck; ullstein bild – CARO/Marius Schwarz; Shutterstock.com

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

1

Christiane

Sonntag, 5. August 1979

2

Katja

Sonntag, 5. August 1979

3

Christiane

Montag, 6. August 1979

4

Katja

Dienstag, 25. September 1979

5

Christiane

Sonntag, 25. November 1979

6

Lydia

Donnerstag, 6. Dezember 1979

7

Katja

Montag, 17. Dezember 1979

8

Katja

Freitag, 21. Dezember 1979

9

Christiane

Freitag, 21. Dezember 1979

10

Lydia

Samstag, 22. Dezember 1979

11

Christiane

Dienstag, 25. Dezember 1979

12

Katja

Dienstag, 8. Januar 1980

13

Katja

Freitag, 11. Januar 1980

14

Lydia

Montag, 14. Januar 1980

15

Christiane

Mittwoch, 6. Februar 1980

16

Katja

Donnerstag, 20. März 1980

17

Katja

Freitag, 28. März 1980

18

Christiane

Montag, 31. März 1980

19

Christiane

Samstag, 5. April 1980

20

Christiane

Sonntag, 6. April 1980

21

Lydia

Samstag, 12. April 1980

22

Katja

Donnerstag, 10. Juli 1980

23

Christiane

Samstag, 19. Juli 1980

24

Christiane

Samstag, 26. Juli 1980

25

Katja

Sonntag, 3. August 1980

26

Lydia

Freitag, 8. August 1980

27

Christiane

Freitag, 8. August 1980

28

Katja

Mittwoch, 17. Dezember 1980

29

Katja

Samstag, 3. Januar 1981

30

Christiane

Freitag, 26. Juni 1981

31

Katja

Mittwoch, 11. November 1981

32

Katja

Dienstag, 3. August 1982

33

Christiane

Sonntag, 29. August 1982

34

Christiane

Samstag, 11. September 1982

35

Katja

Samstag, 11. September 1982

36

Christiane

Samstag, 11. September 1982

37

Montag, 13. September 1982

Epilog

Epilog

9. November 1989

Nachwort

Kinder- und Jugendsportschulen in der DDR

Doping im DDR-Sport

Das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport in Leipzig

Aus aktuellem Anlass

Danksagung

Quellen

Dokumentationen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

1

Christiane

Sonntag, 5. August 1979

»Das Mädchen ist eine einzige Enttäuschung.«

Die Worte ihrer Mutter drangen durch die dünnen Wände, als wären die aus Pappe. Absurderweise dachte Christiane in diesem Moment daran, wie stolz ihre Eltern gewesen waren, als sie die Zusage vom Wohnungsamt erhalten hatten. Eheleute mit Kindern wurden eben bevorzugt, erst recht, wenn er Richter und sie Bankangestellte war. Als eine der ersten Familien waren die Lindigs aus dem maroden Altbau in Friedrichshain in eine der Neubauwohnungen in der Marchwitzastraße gezogen. Anders als in ihrer alten Behausung, in der sie noch mit Kohle heizen und für die Notdurft ein Plumpsklo auf dem Hinterhof aufsuchen mussten, was vor allem in den Wintermonaten zur Tortur wurde, hatte ihr neues Heim fließend warmes Wasser, Zentralheizung und ein in der Wohnung liegendes Bad mit Wasserklosett und Badewanne. Küche und Balkon machten das Wohnglück perfekt, auch wenn die Aussicht bislang nicht mehr hergab als weitere Hochhausskelette, Sandhaufen und Gruben, die davon zeugten, dass in Marzahn unzählige weitere Plattenbauten entstehen sollten.

So luxuriös ihr Zuhause auch war – die Wände waren zu dünn. Oder die Stimme ihrer Mutter Cathleen zu laut. Oder beides.

Christiane tat, als hätte sie nichts von der Diskussion ihrer Eltern mitbekommen, und lief ganz selbstverständlich in die Küche, die nur über das Wohnzimmer zu erreichen war, in dem ihre Eltern saßen.

Sie goss sich ein Glas Milch ein, löffelte anschließend Trinkfix-Kakaopulver hinein und setzte sich auf den Sessel. Ihre Eltern starrten sie schweigend an, und Christiane spürte genau, dass sie unerwünscht war. Allerdings war ihr dieses Gefühl vertraut, weswegen sie es ignorierte.

»Kannst du nicht sparsamer sein?«, knurrte ihr Vater Martin mit Blick auf die dunkelbraune Flüssigkeit in ihrem Glas. Genervt verdrehte Christiane die Augen. Warum sollte sie? Im Vergleich zu vielen anderen Berliner Familien hatten ihre Eltern genug Geld, um im Deli einzukaufen. Kakaopulver, echter Kaffee, Gewürze oder teure Spirituosen – die Lindigs dachten nicht daran, sich auf das knappe Angebot der nahe gelegenen Kaufhalle zu beschränken. Stattdessen kauften sie in einem der neuen Delikatessenläden ein, zu Preisen, die sich der normale Berliner nicht leisten konnte. Die Lindigs waren eben nicht normal, und ihre Mutter wurde nicht müde, sie immer wieder daran zu erinnern, wie gut sie es doch hatte.

Frau Lindig erwartete Gehorsam, ausgezeichnete Leistungen und Dankbarkeit. Echte Gefühle zwischen Mutter und Tochter gab es nicht mehr, und Christiane fragte sich, ob das je anders gewesen war.

»Musste das sein?«, holte die Stimme ihrer Mutter sie ins Hier und Jetzt zurück. »So kurz, bevor die Schule beginnt? Was sollen die Lehrer und Trainer von dir denken? Und deine Freunde werden Reißaus nehmen, so, wie du jetzt aussiehst. Ich werde mich jedenfalls nicht mehr mit dir zeigen.«

Christiane hob ihr Glas vor die Lippen, damit Mutti, wie sie gern genannt wurde, ihr selbstzufriedenes Grinsen nicht sah. Sie hatte das erreicht, was sie wollte: Cathleen Lindig war wütend. Diesmal war Christiane das dank ihrer Haare gelungen. Dabei hatte ihre Mutter doch vor Freunden und Bekannten so gern mit den engelsgleichen blonden Locken ihrer Tochter angegeben.

Nach außen hin gab sie die perfekte Mutter ab: liebevoll, fürsorglich, stolz. Doch Christiane konnte sie mit diesem aufgesetzten Getue nicht täuschen. Solange sie sich zurückerinnern konnte, bezeichneten ihre Eltern sie in den eigenen vier Wänden abwechselnd als Enttäuschung oder als Versagerin. Mal war das selbst gebastelte Geschenk aus dem Kindergarten nicht akkurat genug zusammengeklebt, dann hätten die Zweien in Werken, Mathe und Zeichnen im Zeugnis doch wohl besser Einsen sein sollen. Hinzu kam, dass sie in den Augen ihrer Mutter faul war. Kam sie für ein Wochenende oder die Ferien aus dem Internat nach Hause, erledigte sie ihre häuslichen Pflichten angeblich nur widerwillig, mit Druck und grundsätzlich nie zur Zufriedenheit ihrer Eltern.

Was immer Christiane auch tat – es war nie genug.

Inzwischen hatte sie sämtliche Versuche, die Zuneigung ihrer Mutter zu gewinnen, aufgegeben. Stattdessen fachte sie deren Enttäuschung immer wieder neu an. Wenn sie sich schon über die missratene Tochter beschwerten, sollten sie es doch wenigstens aus gutem Grund tun.

»Es sind nur Haare«, gab sie zurück, wohl wissend, dass ihre Mutter das ganz anders sah.

»Sie sind schwarz! Und kurz! Du siehst aus, als hättest du dir einen Nachtpott auf den Kopf gesetzt und einmal drum herum geschnitten.«

Christiane lachte, fing sich aber sofort wieder. »So ein Quatsch«, sagte sie ruhig. »Ich habe meinen Pferdeschwanz ein paar Zentimeter abgeschnitten, und zur Abwechslung war mir eben mal nach dunklen Haaren. Was ist schon dabei? Bei meinem Sportpensum ist das ohnehin viel praktischer als der lange Zopf.«

»Sag du doch auch mal was, Martin!«

Gespannt sah Christiane zu ihrem Vater, doch der zuckte nur mit den Schultern. »Ist ja jetzt nicht mehr zu ändern.« So war Vati eben. Äußerlichkeiten an seiner Tochter scherten ihn wenig, doch die Menge Trinkfix im Milchglas wurde bissig kommentiert.

»Stimmt«, gab Cathleen ihrem Gatten recht. »Ändern können wir es nicht mehr. Aber sie soll mir aus den Augen gehen. Ich werde mir jedenfalls nicht von den Leuten anhören, was für eine missratene Tochter ich habe.« Sie sah Christiane aus zusammengekniffenen Augen an. »Sieh nur, was aus dir geworden ist«, giftete sie weiter. »Dein Vater ist ein angesehener Richter. Hast du mal daran gedacht, was das für seinen Ruf bedeutet, wenn du rumläufst wie ein Penner? Oder schlimmer. Wie ein Rowdy. Du kennst den Straftatbestand des Rowdytums?«

»Jetzt mach aber mal halblang.« Die Worte waren heraus, ehe Christiane darüber nachgedacht hatte. Das Donnerwetter wegen dieser unverschämten Äußerung ließ nicht lange auf sich warten. Es folgte eine endlose Tirade aus Beschimpfungen, Tränen, wütendem Geschrei und Schlägen auf das Sofakissen. Ihre Eltern hatten zwar nie die Hand gegen sie erhoben, doch die Lieblosigkeit ihrer Mutter und die Gleichgültigkeit ihres Vaters waren nicht weniger schlimm.

»Was haben wir nur falsch gemacht?«, jammerte Cathleen. »Haben wir nicht immer gut und aufopferungsvoll für dich gesorgt? Du bist zu verwöhnt, das ist es. Du hättest eine strengere Hand gebraucht, dann wüsstest du uns und all das, was wir für dich tun, auch zu schätzen. Und jetzt ab auf dein Zimmer. Und am besten gehst du mir für den Rest der Ferien ebenfalls aus dem Weg!«

Christiane trank den Kakao in einem Zug leer, knallte das Glas auf den Tisch und verließ den Raum. Mit dem Rücken lehnte sie sich gegen die Tür ihres Zimmers und versuchte, ihren Puls wieder unter Kontrolle zu bringen. Die ständigen Kämpfe mit ihrer Mutter laugten sie aus. In ihren vier Wänden und hinter verschlossener Tür ließ sie zu, was sie sich unter den Augen ihrer Eltern schon seit Jahren nicht mehr gestattete: Sie weinte.

Enttäuschung, Wut, Hilflosigkeit und die ewige Frage nach dem Warum raubten ihr seit Monaten, wenn nicht gar Jahren, jedes Gefühl von Fröhlichkeit oder Unbeschwertheit.

Das Zuschlagen der Badezimmertür riss sie aus ihren verzweifelten Gedanken. Jetzt geht das wieder los, dachte sie. Trauer verwandelte sich in Wut, denn wenn ihre Mutter die Badezimmertür so geräuschvoll schloss und anschließend den Schlüssel herumdrehte, hatte das nur einen einzigen Grund. Sie würde den Medizinschrank durchwühlen und sich mit Faustan beruhigen.

Sie machte kein Geheimnis aus dieser Angewohnheit. Im Gegenteil: Es war ihr sogar überaus wichtig, Christiane klarzumachen, dass nur sie der Grund dafür war, dass Cathleen zu Medikamenten greifen musste. Manchmal spülte sie die Tabletten sogar mit Korn herunter und war dann in einem Zustand, den Christiane im Stillen als »vollkommen neben sich« bezeichnete.

Im Türrahmen stehend, belauschte sie das Gespräch ihrer Eltern, nachdem ihre Mutter das Bad wieder verlassen hatte.

»So geht es nicht weiter, Martin. Wir müssen etwas tun!« Cathleens Stimme war nun schlaftrunken und immer kurz davor, in ein undeutliches Lallen abzurutschen.

»Nun reg dich doch nicht so auf. Noch ein paar Tage, und das Mädchen ist zurück auf der Sportschule. Dann kommt sie nur noch an den Wochenenden, wenn überhaupt. Reiß dich noch ein wenig zusammen. Auch wenn es schwerfällt.«

»Das Mädchen«, dachte Christiane. Ihre Eltern sprachen über sie, als wäre sie eine Fremde, die nur mal eben zu Besuch gekommen war. Wenn sie es recht bedachte, war sie das auch. Eine Fremde in ihrem eigenen Zuhause. Schon vor der Aufnahme an der Kinder- und Jugendsportschule Heinrich Rau waren ihre Eltern immer nur dann freundlich gewesen, wenn sie Außergewöhnliches leistete. Die Tatsache, dass sie nun im Sportinternat lebte und nur in den Ferien und an einigen Wochenenden nach Hause zurückkehrte, hatte die emotionale Distanz nur noch weiter vergrößert. Gleichzeitig verschaffte genau das ihr aber auch Raum zum Atmen.

Auf Socken schlich Christiane in den Flur und setzte sich mit klopfendem Herzen auf den Boden. Würden Vati oder Mutti sie hier erwischen, stand ihr weiterer Ärger ins Haus, doch das kümmerte sie nicht mehr. Sie musste wissen, was ihre Mutter vorhatte.

»Ich finde, Christianes Verhalten braucht Konsequenzen. Sie sollte packen und frühzeitig ins Internat zurückkehren.«

»Damit zeigst du den Lehrern und Trainern doch nur, dass wir Schwierigkeiten mit ihr haben. Sie werden eins und eins zusammenzählen und am Ende noch denken, wir hätten unsere eigene Tochter nicht unter Kontrolle.«

»Womit sie wohl nicht danebenliegen«, fauchte Cathleen. »Ich habe mich entschieden. Sie packt und geht. Vielleicht nutzt sie ja die Zeit bis zu den nächsten Ferien, um ihr rebellisches Verhalten zu überdenken.«

Christiane hielt die Luft an und presste die Handflächen gegeneinander, als würde sie beten. Bitte, dachte sie nur. Bitte lass es wahr werden. Ich halte es hier ohnehin nicht mehr aus. Dann doch lieber im halb verwaisten Wohnheim der Sportschule. Sie würde endlich wieder ihre Ruhe haben, und das wog weit mehr als ihre Einsamkeit und der Drill der Trainer, die auf sie zukamen.

»Ja«, fauchte Cathleen in diesem Moment. »Ich ertrage sie nicht mehr in meiner Nähe, und es ist offensichtlich, dass sie alles tut, um mich zu ärgern. Sollen sich doch Lehrer, Trainer und Erzieher mit ihr herumschlagen. Die letzten siebzehn Jahre haben mir alles abverlangt. Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich nie …«

»Vorsicht«, unterbrach Martin Lindig zischend.

Christiane hörte seine Schritte, war jedoch nicht schnell genug, um in ihr Zimmer zu flüchten.

»Na, Madam? Alles mitgehört?«

»Ich soll packen«, sagte Christiane, ohne auf den Vorwurf ihres Vaters einzugehen.

»Das tun wir nicht, um dir eine Freude zu machen«, gab er mit ausdruckslosem Gesicht zurück. »Deine Mutter ist am Ende ihrer Kräfte, und ich werde nicht zulassen, dass du sie noch weiter terrorisierst. Ja, du gehst. Und zwar gleich morgen. Der Abstand wird deiner Mutter guttun, und vielleicht benimmst du dich in Zukunft, wenn du uns in den Ferien besuchen kommst. Womöglich lernst du ja doch noch, zu schätzen, welche Möglichkeiten wir dir ein Leben lang eröffnet haben.«

Christiane wusste, dass sie in diesem Moment eigentlich bestraft wurde. Doch sie fühlte sich nicht gestraft, obwohl sie gegen die Tränen ankämpfen musste. Was sie in sich fühlte, war weder Trauer noch Freude. Es war pure Erleichterung. Früher als gedacht entkam sie der Lieblosigkeit dieser beiden Menschen, die doch eigentlich die wichtigsten in ihrem noch jungen Leben sein sollten. Keine Demütigungen mehr, keine Beschimpfungen, kein Ignorieren. Bis zu den nächsten Ferien hatte sie Ruhe. Sie würde sich auf die Schule und den Sport konzentrieren und aufgrund hoffentlich herausragender Leistungen auch Anerkennung erfahren.

»Wann?«, brachte Christiane stotternd hervor.

»Sagte ich doch. Hörst du nicht zu? Morgen. Du kannst sofort anfangen zu packen. Und jetzt zurück auf dein Zimmer. Mutti hat den Stubenarrest noch nicht aufgehoben.«

Christiane warf sich auf ihr Bett und starrte an die Decke. Sie dachte an den Moment vor etwa drei Jahren zurück, als ein Mann und eine Frau mit Klemmbrett und Kugelschreiber in der Hand die Sporthalle ihrer alten Schule betraten und sie und ihre Klassenkameraden begutachteten. Anschließend hatten sie sich Christiane als Trainer der Kinder- und Jugendsportschule Heinrich Rau zu erkennen gegeben und um ein Gespräch mit ihren Eltern gebeten.

Sie war damals sicher gewesen, dass Mutti nun gar nicht mehr anders konnte, als stolz auf sie zu sein. Doch das Einzige, was sie im Anschluss an das Gespräch zu ihr sagte, war: »Wenigstens eine Sache, die du passabel hinkriegst.«

»Zwei«, hatte Christiane frech geantwortet, denn sie gehörte zwar zu den Leichtathletinnen, war aber in zwei Disziplinen besonders gut. Sprinten und Hürdenlauf.

»Beides zählt nicht wirklich, wenn du nicht irgendwann wenigstens die DDR-Jugendmeisterschaften gewinnst. Von Olympia, Europa- oder Weltmeisterschaften wage ich gar nicht erst zu träumen. Das schaffst du ohnehin nicht.« Mit diesen harten Worten hatte ihre Mutter das Gespräch im Keim erstickt.

An diese ersten Gespräche mit Lehrern und Trainern hatten sich anderthalb Jahre harte Arbeit in einem der Berliner Trainingszentren des SV Dynamo angeschlossen. Während dieser Zeit war sie gefördert worden und hatte gleichzeitig unter ständiger Beobachtung gestanden. Am Ende gelangten Trainer und Lehrer zu der Überzeugung, dass sowohl ihre schulischen als auch sportlichen Leistungen hervorragend waren und einer Aufnahme an die KJS nichts weiter im Wege stand als ihre eigene Mutter. Die hatte sich eine Weile geziert, doch der Direktor der Sportschule konnte sie schließlich überzeugen. Am Ende wechselte Christiane nicht nur auf die Sportschule, sondern zog auch gleich in das dazugehörige Wohnheim.

Trotz der Enttäuschung über die Reaktion ihrer Mutter war Christiane erleichtert gewesen. Sie liebte den Sport, und sie war gut darin. Eigentlich war es nur logisch, dass sie diesen Weg nun konsequent weiterging.

2

Katja

Sonntag, 5. August 1979

Katjas Puls raste, als hätte sie einen ihrer legendären Sprints absolviert. Grund dafür war diesmal allerdings nicht sportliche Anstrengung, sondern Aufregung. Sie betrat den Leipziger Burgkeller und fand ihre Erwartungen bestätigt.

Alexander stand mit weit ausgebreiteten Armen vor ihr, hinter ihm hatten sich ihre gemeinsamen Freunde versammelt, und sie alle stimmten »Zum Geburtstag viel Glück« an, als sie den Raum betrat.

Alexander lief auf sie zu und nahm sie fest in den Arm.

»Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe.«

Katja lehnte ihren Kopf an die Schulter ihres Freundes und lächelte. In diesem Augenblick war sie überglücklich, und sie hatte allen Grund dazu. Sie konnte auf eine erfolgreiche Karriere als Sprinterin zurückblicken, hatte es immerhin zur dreifachen DDR-Meisterin geschafft. Nach ihrem Karriereende hatte sie an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig ihr Studium begonnen, mit dem Ziel, schon bald dem sportlichen Nachwuchs zu Höchstleistungen zu verhelfen. Im Anschluss an ihr Studium hatte sie acht Monate lang diverse Trainingskurse absolviert, in denen sie selbst noch einmal an ihre sportlichen Grenzen gebracht wurde, gleichzeitig aber auch lernte, welche Methoden die effektivsten waren, um ihre zukünftigen Schützlinge an die Spitze zu bringen.

Während dieser Zeit hatte sie Alexander kennengelernt und sich in ihn verliebt. Auch ihm stand eine beeindruckende Karriere bevor, seine Leidenschaft galt allerdings der Sportmedizin.

Katja konnte es kaum erwarten, mit ihm ein gemeinsames Leben zu beginnen. Sie träumten davon, zusammen an einer der renommierten Kinder- und Jugendsportschulen, die es längst DDR-weit gab, eine Anstellung zu finden. Allerdings hatten weder er noch sie bisher eine Zusage erhalten.

»Willst du nicht aufmachen?« Alex deutete auf einen Umschlag, der auf dem üppig beladenen Geschenketisch unter dem Fenster des Gastraumes lag.

»Von dir?«

Er schüttelte den Kopf und lächelte geheimnisvoll. Katja gab ihm einen Kuss, griff nach dem Kuvert und erkannte sofort, wie wichtig die folgenden Minuten sein würden.

»Ist es das, was ich denke?«

»Ja, mach schon auf«, drängte Alex sie liebevoll. »Ich musste mich so zusammenreißen, ihn nicht vor dir zu öffnen.«

»Wie kommst du denn da ran?«, fragte sie, während sie den Briefumschlag aufriss.

»Als du vorgestern für uns gekocht hast, habe ich ihn in deiner wieder einmal ungeöffneten Post entdeckt und herausgefischt.«

Katja lachte. Ihre Angewohnheit, Briefe wochenlang ungeöffnet liegen zu lassen, hatte schon für so einige Diskussionen zwischen ihnen gesorgt. Dabei hatte sie gerade in den vergangenen zwei Wochen die Post stets zumindest durchgesehen, eben weil sie auf genau dieses Schreiben gewartet hatte. Übersehen hatte sie es offenbar trotzdem.

Sie nahm den Brief aus dem Kuvert, überflog die Zeilen und fiel Alexander mit einem glücklichen Aufschrei in die Arme.

»Berlin. Die KJS Heinrich Rau. Ich bin drin!«

Alex wirbelte sie überschwänglich durch den Raum, und ihre Freunde applaudierten.

»Dann haben wir alles erreicht, was wir uns erträumt haben.« Alexander setzte sie behutsam wieder ab und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Katja schüttelte nachdenklich den Kopf. »Das haben wir erst, wenn wir wissen, dass du nicht ans andere Ende des Landes geschickt wirst.«

»Werde ich nicht.« Er griff in die Innentasche seiner Jacke und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor. Noch ehe Katja es lesen konnte, platzte er mit der Neuigkeit heraus. »Ich komme auch nach Berlin.«

Zum zweiten Mal an diesem Tag gab Katja einen spitzen Schrei von sich und warf sich in Alexanders Arme. Dann schob sie ihn ein Stück von sich und gab ihm einen Klaps auf den Oberarm. »Und das hast du vor mir verheimlicht?«

»Ich wollte erst sichergehen, dass du auch nach Berlin kommst.«

»Und wenn das nicht geklappt hätte?«

»Dann hätte ich dir meine Zusage noch eine Weile länger verschwiegen und mich um eine Versetzung bemüht. Ich habe mein Medizinstudium mit Bestnoten abgeschlossen und war überzeugt, dass ich einen Weg finden würde, in deine Nähe zu kommen. Aber glücklicherweise sind weitere Bemühungen nun ja nicht mehr nötig. Und damit kommen wir zum wichtigsten Teil des Abends.«

»Wichtiger als mein dreißigster Geburtstag und diese erfreulichen Nachrichten bezüglich unserer beruflichen Zukunft?«

Alexander zuckte leicht mit den Schultern, drehte sich dann zu den noch immer wartenden Freunden im Gastraum um und nickte ihnen zu. Klaus, sein bester Freund, nickte zurück und ging zum Lichtschalter. Gleichzeitig zogen die etwa zehn Freunde, die zum Feiern gekommen waren, Kerzen hervor und zündeten sie an. Klaus löschte das elektrische Licht im Raum, und die Freunde bildeten mit ihren brennenden Kerzen einen Kreis um Katja und Alexander.

Katjas Herz schlug ihr bis zum Hals. Ihr wurde in dieser Sekunde klar, was nun passieren würde, und noch ehe Alexander ein Wort gesprochen hatte, liefen ihr Tränen über die Wangen.

Vor den gemeinsamen Freunden zog Alexander ein kleines Schmuckkästchen aus der Hosentasche und ging auf die Knie.

»Katja Fiedler«, begann er, und das Zittern in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Möchtest du meine Frau werden?«

Katja war so gerührt, dass sie kein Wort herausbrachte. Stattdessen legte sie ihre flache Hand vor den Mund, ging ebenfalls auf die Knie und schlang dann die Arme um den Hals ihres Freundes. Dabei schluchzte sie laut hörbar, und obwohl sie noch immer nichts gesagt hatte, stimmten ihre Freunde ein fröhliches Jubelgeschrei an.

»Ist das ein Ja?«, flüsterte Alex in ihr Ohr.

»Ja«, presste sie tränenerstickt hervor. »Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen. Ich möchte als Frau Fritsche durchs Leben gehen.«

»Ihr seid mir vielleicht Glückskinder.« Mit einem breiten Grinsen trat Klaus auf sie zu und legte jeweils einen Arm um Katja und Alex. »Ihr habt nicht nur das große Los in der Beziehung gezogen, sondern erreicht auch noch beruflich alles, was ihr euch erträumt habt. Das muss euch erst mal einer nachmachen. Wenn ich euch nicht so lieben würde, müsste ich euch dafür hassen, dass ihr solche Glückspilze seid.«

Die folgenden Stunden flogen nur so dahin. Katja genoss ihre Geburtstagsfeier, schlug sich den Bauch voll und öffnete ein Geschenk nach dem anderen. Jedes einzelne zeigte ihr, dass ihre Freunde von dem Heiratsantrag gewusst haben mussten, denn sie erhielt nützliche Haushaltsgegenstände, die in ihrer gemeinsamen Wohnung nicht fehlen durften.

»Jetzt brauchen wir nur noch die Wohnung dazu.«

Alexander nickte. »Ich denke nicht, dass das ein größeres Problem werden wird. Wir werden gebraucht und sind schon bald verheiratet. Außerdem bin ich ab September einer der Sektionsärzte des SV Dynamo und gehöre noch dazu einer sehr wichtigen Forschungsgruppe des Instituts für Körperkultur und Sport an.«

Katja sah ihren Verlobten überrascht an. »Davon weiß ich ja noch gar nichts.«

Alexander presste die Lippen zusammen und wich ihrem Blick auf eine Art aus, dass sie sofort verstand.

»Du darfst nicht darüber sprechen?«

»Nein.«

»Nicht einmal ein klitzekleiner Hinweis?« Katja schmiegte sich an ihn und sah ihn aus großen Augen an. Sie wusste, dass er diesem Augenaufschlag selten widerstehen konnte. Lachend warf er den Kopf in den Nacken.

»Kleiner Schlingel.« Er küsste sie liebevoll auf die Nasenspitze und erklärte dann: »Irgendwann sicher. Immerhin sind wir im gleichen Team, arbeiten für den gleichen Verein und haben dasselbe Ziel, nämlich das sportliche Vorankommen unserer Athleten. Wenn wir erst verheiratet sind, wirst du sicher irgendwann mehr erfahren. Aber leider nie mehr als das, was mir erlaubt sein wird. Das musst du verstehen.«

Katja nickte und ließ das Thema auf sich beruhen. Wenn die Zeit reif war, würde sie schon erfahren, was genau Alex in diesem Forschungsinstitut tat. Und erfuhr sie es nicht, unterstrich das nur die Wichtigkeit seiner Aufgabe, denn unterstand sein Tun der Geheimhaltung, gab es dafür überaus dringende Gründe.

 

Alexander sollte recht behalten. Ehe die Sommerferien vorüber waren, wurde ihnen eine Wohnung im Neubauviertel in Lichtenberg zugewiesen. Damit fügte sich all das zusammen, was zusammengehörte.

Das Umzugschaos in die hübsche Dreizimmerwohnung in der Rummelsburger Straße fiel zusammen mit den Vorbereitungen für ihre Hochzeit. Doch mithilfe von Freunden und Familien schafften sie auch diese letzte Hürde.

3

Christiane

Montag, 6. August 1979

Christiane wischte sich mit dem Ärmel ihrer leichten Sommerjacke über die Stirn. Zwar war es an diesem verregneten Augusttag ungewöhnlich kühl, doch die Tatsache, dass sie zwei schwere Taschen kreuz und quer durch Berlin schleppen musste, reichte aus, um ihr trotz beinahe frühherbstlicher Temperaturen die Schweißperlen auf die Stirn zu treiben.

Ihre Eltern hatten sich nicht die Mühe gemacht, sie zu begleiten. »Kennst ja den Weg«, hatte ihr Vater zum Abschied gesagt. »Landsberger Allee raus und dann in die Straßenbahn.«

Christiane hatte genickt und nach den Taschen gegriffen, ehe ihre Mutter noch auf die Idee kam, sie – weil es sich doch trotz aller Differenzen so gehörte – zum Abschied in den Arm zu nehmen. Nun wuchtete sie den gesamten Inhalt ihres Kleiderschrankes über den Bahnsteig. Sie konnte nur hoffen, dass die Straßenbahn nicht allzu voll war und sie sich zumindest einen kurzen Moment setzen konnte.

Gute dreißig Minuten später stand sie vor ihrem Wohnheim und atmete durch. Ihr Puls ließ sich allerdings nicht so leicht unter Kontrolle bringen. In diesem Schuljahr würden einige Neuerungen auf sie zukommen, das wusste sie. Ihre frühere Mitbewohnerin Karla hatte im Sommer ihr Abitur abgelegt und sowohl Wohnheim als auch Sportschule hinter sich gelassen. Ihren Andeutungen nach hatten ihre Eltern einen Ausreiseantrag gestellt und damit Karlas Sportkarriere ein für alle Mal beendet.

Wie zu erwarten, war es ruhig im Haus, denn noch waren Sommerferien. Christiane wuchtete ihre Taschen in den vierten Stock. Vor der letzten Tür links am Ende des Flurs blieb sie stehen und zog ihren Zimmerschlüssel aus der Hosentasche. Doch ehe sie aufschließen konnte, wurde die Tür von innen aufgerissen.

»Ha!«, schallte es laut und fröhlich über den verwaisten Flur. »Hab ich doch richtig gehört. Da kommt jemand. Ein Mensch. Ein echter Mensch.«

»Lydia, du?«, fragte Christiane atemlos.

»Tadaa!« Lydia breitete die Arme aus und griff dann völlig selbstverständlich nach einer von Christianes Taschen. »Ja, zu Hause ist es einfach langweilig, weil Mutti entweder arbeitet oder müde ist von der Schicht und schläft. Dann lieber hier. Und du? Bist du mit dem Kopf in Muckefuckpulver gefallen, oder warum sind deine Haare plötzlich schwarz?«

Christiane lachte. »Was immer meine Mutter ärgert, ist genau richtig. Von nun an also schwarze Haare.« Dann fragte sie: »Also hat sich deine Mutter nun doch breitschlagen lassen?«

Lydia nickte, und Christiane dachte daran, wie sehr die Sportfreundin darum gekämpft hatte, ebenfalls ins Wohnheim ziehen zu dürfen. Lydia und sie trainierten schon anderthalb Jahre zusammen, doch bisher war Lydias Mutter nie davon zu überzeugen gewesen, das Mädchen auch aufs Internat zu schicken.

»Endlich. Ich meine, ich verstehe Mutti ja«, erklärte Lydia, während sie Christianes Tasche unter dem Fenster abstellte. »Ich habe meine ganze Kindheit im Kindertagheim verbracht, weil Mutti Schichtdienst hatte. Irgendwann war ich alt genug, um auch allein daheimzubleiben, wenn sie zur Arbeit musste. Mit vierzehn hat sie mich aus dem Heim nach Hause zurückgeholt …«

»… und wollte dich natürlich nicht gleich wieder ziehen lassen«, beendete Christiane ihre Ausführungen.

»Ganz genau. Aber die Stunden, die ich mit Bus und Bahn zwischen der Schule und unserem Zuhause hin und her gegurkt bin, waren einfach verlorene Zeit. Jetzt kann ich meinen Tag viel effektiver nutzen. Zusätzliche Trainingseinheiten, wenn mir danach ist. Oder eben lernen, je nachdem, was so anfällt.«

Mit Schwung warf Christiane ihre zweite Tasche aufs Bett und ließ sich danebenfallen.

»Sollen wir noch eine halbe Stunde laufen gehen vor dem Abendessen?«

Lydias Frage überraschte Christiane. »Puh. Lust habe ich nicht wirklich. Mein Gepäck quer durch die Stadt zu schleppen, war eigentlich genug Training für einen Tag.«

»Ach, komm schon. Ich sollte noch ein bisschen Wasser ausschwitzen, bevor es vor dem Abendessen wieder auf die Waage geht.«

»Seit wann werden wir vor dem Essen gewogen?«

»Vor dem Essen, nach dem Essen, vor dem Klogang, nach dem Klogang. Und ein Vergnügen ist das nicht gerade. Und jedes Gramm mehr wird neuerdings bissig kommentiert.«

»Was soll dieser Blödsinn denn? Im letzten Jahr haben sie uns höchstens alle drei Tage mal gewogen. Wie groß kann der Unterschied zwischen morgens und abends schon sein?«

»Hundert Gramm. Zweihundert Gramm.«

»Das wäre dann gerade der Pudding zum Nachtisch. Was soll dieses Theater um ein paar Gramm?«

Lydia zuckte mit den Schultern. Sie sah plötzlich traurig aus, und ihre Augen wirkten riesig in ihrem schmalen Gesicht. »Vielleicht sind die Trainer so streng, weil es jetzt endlich um die Frage geht, ob wir es in den Reisekader und damit zu den internationalen Wettkämpfen schaffen.«

Christiane konnte kaum glauben, was sie da hörte. Sicher hatten sie schon immer auf gesunde Ernährung achten müssen, um bei Kräften zu bleiben. Doch Rainer, ihr alter Trainer, wäre nie auf die Idee gekommen, sie mehrmals täglich auf die Waage zu stellen. Sie brauchten Schnellkraft. Klein und zierlich zu sein, war als Sprinterin nicht von Vorteil. Wozu also dieser Drill?

»Du kennst den neuen Trainer schon?«, fragte Christiane.

Lydia schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Das Wiegen hat Co-Trainer Stefan übernommen, der ist nämlich den ganzen Sommer über hiergeblieben. Komm schon, ich will mir heute Abend nicht schon wieder anhören müssen, dass ich besser auf den Nachtisch verzichten sollte.«

Sie sah Lydia an und konnte deren Not regelrecht spüren. »Also gut, laufen wir eine Runde. Kann nicht schaden, wenn ich mir noch vor Schuljahresbeginn meine Ausdauer wieder antrainiere.«

Sie durchwühlte ihre Tasche nach Sporthose, Oberteil und Schuhen und zog sich um. Kurz darauf liefen die Mädchen schweigend ihre Runden um den Sportplatz. Die ersten Minuten waren quälend, doch je mehr Zeit verging, desto besser fühlte sich Christiane. Sie fand ihren Rhythmus und genoss das Gefühl, ihren Körper wieder zu spüren.

»Ich zieh mal durch.«

Ohne Lydias Reaktion abzuwarten, setzte sie zum Sprint an. Sie richtete ihren Oberkörper auf, verlängerte ihre Schritte und lief, so gut es nach der wochenlangen Trainingspause eben ging, auf den Ballen. Jede Faser ihres Körpers war angespannt, und obwohl sie bewusst die Haltung annahm, die sie in endlosen Trainingsstunden geübt hatte, war sie viel zu langsam.

»Glaub nicht, dass ich dich einfach so gewinnen lasse!«

Lydia hatte ebenfalls zum Sprint angesetzt, und es gelang Christiane nicht, sie abzuschütteln. Christiane war wirklich außer Form, und es wurde höchste Zeit, das Training wieder aufzunehmen.

Sie dachte daran, dass Rainer sich vor den Sommerferien von ihnen verabschiedet hatte, weil er im Harz eine neue Stelle als Sportlehrer antrat. Schon in den nächsten Tagen würden die Mädchen also auf ihren neuen Trainer treffen, und sie konnte nur hoffen, dass sie mit ihm, oder möglicherweise ihr, genauso gut zurechtkam wie mit Rainer.

Nach ihrer selbst auferlegten Sporteinheit gingen die Mädchen gemeinsam in den Waschraum und duschten kalt. Erst dann kam Christiane dazu, die restlichen Kleider auszupacken und sich häuslich einzurichten.

 

In den folgenden Tagen kamen mehr und mehr Sportler aus den Sommerferien zurück, und als die Mädchen am letzten Sonntag im August den Speisesaal zum Abendessen betraten, erkannte Christiane die Frau sofort.

»Das gibt’s doch nicht«, stieß sie atemlos hervor.

»Was?«, wollte Lydia wissen.

Weil sie ihr Tablett mit beiden Händen hielt, deutete Christiane mit dem Kopf in Richtung Fenster. »Erkennst du sie?«

Lydia folgte ihrem Blick und schüttelte dann den Kopf.

»Das ist Katja Fiedler.«

»Quatsch!«

»Ganz bestimmt.«

»Die Katja Fiedler? Dreifache DDR-Meisterin im Sprint und Vorbild aller Sprinterinnen dieser Schule?«

»Genau die.«

»Meinst du …?«

»Ob sie unsere Trainerin wird? Das wäre ja fast noch besser, als in den Reisekader aufgenommen zu werden. Wenn wir von jemandem lernen können, dann von ihr.«

»Fragen wir sie.«

Noch ehe Christiane reagieren konnte, ging Lydia auf den Tisch zu, an dem die Frau zwischen Trainern und Lehrern saß.

»Die Damen«, polterte Herr Neugebauer mit vollem Mund. Christiane trat gleich hinter Lydia an den Tisch und grüßte im Gegensatz zu ihrer Freundin höflich.

»Guten Abend, Herr Neugebauer.« Dann sah sie in die Runde und ergänzte: »Schön, Sie alle wiederzusehen.«

»Ach, du liebe Güte! Haben wir nicht mal beim Essen Ruhe vor euch Gören?« Theatralisch verdrehte der Mathelehrer die Augen, und Christiane hoffte, dass er ihnen auch in diesem Schuljahr erhalten blieb. Trotz seines brummigen Verhaltens gab er alles für seine Sportklasse.

»Guten Abend«, grüßte nun auch Lydia. »Wir hätten da eine überaus wichtige Frage.«

»Ich hab ja so eine Ahnung«, murmelte Herr Neugebauer und grinste die neue Trainerin an.

»Sie sind Katja Fiedler, richtig?«, platzte Christiane in diesem Moment heraus.

»Nein. Die bin ich nicht«, kam es ruhig zurück.

Christiane spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Sie stotterte eine Entschuldigung, während Lydia mit einem verwunderten »Echt nicht?« noch einmal sichergehen wollte.

»Ich heiße Katja Fritsche.«

Christiane brauchte nur Sekunden, dann klatschte sie in die Hände. »Ha! Also doch.«

»Bis vor genau einer Woche hieß ich noch Fiedler. Ich bin frisch verheiratet.«

»Also sind Sie die dreifache DDR-Meisterin. Oh«, Christiane schlug sich gegen die Stirn. »Wie unhöflich von mir. Herzlichen Glückwunsch zur Hochzeit.«

»Danke schön. Gibt es denn noch was, Mädels? Euer Essen wird kalt und unseres auch.«

Christiane wandte sich schon ab, doch Lydia schob die Frage, die ihnen eigentlich von Beginn an unter den Nägeln gebrannt hatte, noch schnell hinterher.

»Sie werden nicht zufällig unsere neue Trainerin?«

»Doch. Zufällig werde ich das. Und nun ab mit euch, sonst muss ich mir gleich ein erstes Straftraining für euch überlegen.«

»Weswegen das denn?«, mischte sich Herr Neugebauer jetzt lachend in das Gespräch ein.

»Oberste Regel«, gab Katja Fritsche zurück. »Komm niemals zwischen mich und mein Essen. Das geht selten gut aus.«

Lehrer und Trainer lachten, und Christiane und Lydia verzogen sich grinsend an einen Tisch auf der anderen Seite des Speisesaals.

In diesem Moment war Christiane glücklich. Ihr stand ein aufregendes Jahr bevor. Wenn ihre sportlichen Leistungen stimmten, würde sie womöglich, sofern sie denn bei den nationalen Vorentscheidungen erfolgreich war, zum ersten Mal zu Wettkämpfen im Ausland zugelassen werden. Ihre neue Trainerin Katja war ihr großes Vorbild und schien trotz all ihrer Erfolge freundlich und bodenständig zu sein. Der Ärger mit ihren Eltern würde schon bald vergessen sein, und sie konnte sich wieder voll und ganz auf das konzentrieren, was sie seit Kindertagen liebte: ihren Sport.

4

Katja

Dienstag, 25. September 1979

Der Versammlungsraum, in dem sich Katja einzufinden hatte, war bereits gut gefüllt. Sie kannte zwar noch nicht alle Trainer namentlich, doch zumindest die Gesichter waren ihr inzwischen vertraut.

»Katja, hier!«

Sie sah nach links und nickte Stefan zu, der einen Platz für sie freigehalten hatte.

»Ich hoffe, das geht hier heute schnell. Ich habe noch eine Verabredung.« Ihr zweiter Trainer grinste schief, zog seine Augenbrauen anzüglich in die Höhe, und Katja verstand.

»Verlierst du nicht langsam den Überblick bei all deinen Frauengeschichten?«

Stefan klopfte sich lachend auf die Brusttasche, aus der ein kleines Notizbuch hervorlugte. »Aber nicht doch. Alle Verabredungen werden fein säuberlich protokolliert. Da kann gar nichts schiefgehen.«

Katja schüttelte den Kopf und wusste nicht, ob sie das Verhalten ihres zweiten Trainers amüsierte oder anwiderte.

»Wenn du nur auch mit deinen Berichten so sorgfältig wärst«, murmelte sie zurück und brachte Stefan so zum Schweigen.

Er genoss als Silbermedaillengewinner der Olympischen Spiele von 1976 eine Sonderbehandlung an der KJS, doch Katja ahnte, dass er die verspielen würde, wenn er sich nicht auf das konzentrierte, wofür er angestellt worden war. Die Berichte, die er über die Sprinterinnen anzufertigen hatte, waren lückenhaft und oberflächlich, die Trainingsmethoden, die er vorschlug, rückständig. Er war der Meinung, dass etwas, das bei ihm funktioniert hatte, wohl kaum falsch sein konnte, und ließ sich deswegen auch nicht von seinen Methoden abbringen.

Katja hatte zunächst noch versucht, ihm ins Gewissen zu reden. Inzwischen hatte sie es allerdings aufgegeben. Machte er so weiter, würde man ihn ersetzen, und das war für sie und das Vorankommen ihrer Mädchen möglicherweise nicht einmal von Nachteil.

»Guten Abend, Genossen!«

Überrascht sah Katja auf, zückte dann Stift und Notizheft und konzentrierte sich auf die Worte des stellvertretenden Referatsleiters der Hauptabteilung XX/3, Genosse Brandner.

Normalerweise wurden die wöchentlichen Sitzungen von Kreisdienststellenleiter Fuchs abgehalten. Dass sich Genosse Brandner, der nicht nur eine wichtige Funktion bekleidete, sondern auch praktizierender Arzt war, persönlich hier eingefunden hatte, konnte nur bedeuten, dass wichtige Themen zu besprechen waren.

Brandner begann zunächst damit, die Berichte einzelner Abteilungen zu analysieren. Er lobte die ausführlichen Protokolle der Radsportabteilung und der Handballer, erklärte nochmals penibel, welche Beobachtungen bei den Sportlerinnen und Sportlern zu dokumentieren waren, und rügte dann die Abteilungen, die diesen Anforderungen noch nicht sorgfältig genug nachkamen.

Er hob einen Stapel Papiere hoch und polterte wütend: »Das hier ist die reinste Papierverschwendung. Was gegessen wird, wann geschlafen wird, wer aus welchem Grund nicht pünktlich zum Training erscheint. Sicher, auch das gehört in Ihre Berichte, werte Genossen. Aber wir sind uns doch wohl einig, dass Informationen dieser Art die eigentlichen Beobachtungen nur ergänzen können. Muss ich Sie wirklich daran erinnern, dass die nächsten Olympischen Spiele vor der Tür stehen? Winterspiele im Februar, Sommerspiele im Juli. Wie können wir über Loyalität und Verlässlichkeit unserer Diplomaten im Trainingsanzug entscheiden und Reisekader zusammenstellen, wenn Sie uns lediglich berichten, was unsere Sportler frühstücken? Ich weise Sie ausdrücklich an, Ihre Aufgaben ernster zu nehmen. Das Sportreferat erwartet allumfassende Aufklärung und Bearbeitung der operativen Schwerpunkte. Es ist Ihre Aufgabe, feindliche Pläne unter Ihren Zöglingen rechtzeitig zu erkennen. Hängen Poster von Sängern oder Schauspielern aus dem imperialistischen Ausland an der Wohnheimwand? Dann müssen wir das wissen! Gibt es Kontakte ins feindliche Ausland? Dann berichten Sie das gefälligst! Werden abfällige Bemerkungen über unser Land gemacht, oder wird das kapitalistische Ausland verherrlicht? Melden Sie es! Sie alle wissen über den Umfang der von Ihnen zu verfassenden Berichte Bescheid. Nehmen Sie sich die Zeit dafür, arbeiten Sie sorgfältig. Andernfalls behalten wir uns vor, Sie zu ersetzen!«

Im Sitzungssaal herrschte minutenlang Schweigen. Katjas Puls raste. Sie hatte Glück im Unglück. Weder die Abteilung Leichtathletik noch ihr Sprintbereich waren ausdrücklich gerügt worden. Doch wenn sie selbst schon bemerkte, dass Stefans Berichterstattung nur oberflächlich war, würde eine offizielle Maßregelung wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen. Sie musste dringend mit ihrem zweiten Trainer sprechen. Stefan und sie hatten die Mädchen unter sich aufgeteilt, und sie hatte weiß Gott nicht die Zeit, die ihm zugeteilten Sprinterinnen auch noch zu übernehmen.

»Genossin Fritsche, wenn ich Sie wohl um ein Gespräch unter vier Augen bitten dürfte?«

Katja erschrak, versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen. »Aber selbstverständlich.« Sie erhob sich und folgte Albert Brandner ins Nebenzimmer.

»Nun schauen Sie mal nicht so verängstigt, Genossin«, eröffnete der Offizier lächelnd das Gespräch. »Es gibt keinen Grund zur Sorge.« Er deutete auf einen Stuhl, und Katja setzte sich.

»Wir sind mit Ihrer Arbeit bisher überaus zufrieden, auch wenn wir bemerken, dass nicht alle Ihre Berichte ausführlich genug sind.«

Katja nickte mit zusammengepressten Lippen, verkniff sich aber den Hinweis darauf, dass die schlampigen Berichte auf Stefans Konto gingen.

»Ich möchte Sie heute ganz offiziell als IM anwerben. Sie wissen, was das bedeutet?«

Obwohl sie durchaus eine Vorstellung davon hatte, was auf sie zukommen könnte, schüttelte sie den Kopf.

»Nun«, begann Brandner, zog eine Zigarette aus einer zerknitterten Schachtel und zündete sie an. »Erklären Sie Ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit, geht Ihre Tätigkeit über das hinaus, was Sie bisher leisten. Sie sind eine gute Trainerin, daran besteht bisher kein Zweifel. Und was Sie an Berichten abliefern, entspricht voll und ganz dem, was von Ihnen erwartet wird.«

Katja zog überrascht ihre Augenbrauen in die Höhe, und der Offizier lachte. »Das wundert Sie? Sollte es nicht, denn natürlich wissen wir, welche Berichte von Ihnen und welche von Herrn Pietsch verfasst wurden.«

»Aber woher …«

»Tut eigentlich nichts zur Sache. Die einfachste Antwort ist wohl der Wortschatz, der bei Herrn Pietsch etwas begrenzt ist. Wir haben ihn im Auge und werden wohl schon bald ein ernstes Gespräch mit ihm führen müssen.«

Katja sagte nichts. Sie mochte Stefan, wenn sie einmal von seinen schlampigen Berichten und der Tatsache absah, dass er jedem Rock hinterherjagte.

»Das soll Sie nicht weiter kümmern. Heute geht es mir darum, Ihnen Ihre neuen Aufgaben zu erläutern. Dazu muss ich allerdings vorab wissen, ob Sie sich dieser Herausforderung gewachsen fühlen.«

Obwohl sie am liebsten vor Freude von ihrem Stuhl aufgesprungen wäre, bemühte sie sich um einen besonnenen Tonfall.

»Es wäre mir eine Ehre – und ja, ich fühle mich dieser Aufgabe durchaus gewachsen. Mir ist vollkommen klar, dass auf unsere Zöglinge Verlass sein muss, sind sie doch eine Art Aushängeschild für unser Land.«

Brandner nickte zufrieden, aschte ab und erläuterte dann, was von Katja erwartet wurde. »Der Rahmen der Personen, auf die Sie für uns ein Auge haben werden, wird sich mit dem heutigen Tag erweitern. Es geht uns nicht mehr nur um die Sportler. Trainer, Sportfunktionäre, Ärzte, Journalisten. Sie alle können einen negativen Einfluss auf unsere Sportler haben oder aber geheimnisverräterische Absichten hegen. Nehmen wir zum Beispiel die Reporter aus dem imperialistischen Ausland, die immer wieder versuchen, das Geheimnis unserer siegreichen Sportler zu lüften und unsere Trainingsmethoden auszuspionieren.«

Katja nickte. Sie erinnerte sich daran, dass auch sie als aktive Sportlerin von ausländischen Journalisten interviewt worden war. Ganz beiläufig fielen dabei die Fragen nach Trainingshäufigkeit und -methoden. Als junge Sportlerin war ihr dies harmlos erschienen. Heute wusste sie, dass sie nur dem Zweck dienten, die modernsten Praktiken auszuspionieren, die im DDR-Sport angewendet wurden.

»Wenn Sie Ihre Sprinterinnen im Sommer zu den Olympischen Spielen nach Moskau begleiten, brauchen wir Ihre Augen und Ohren überall. Nimmt der Feind Kontakt zu Ihren Mädchen, zu anderen Trainern oder Teamärzten auf? Gehen die Mädchen in den Aussagen während möglicher Interviews zu weit? Sollen Sportlerinnen gar dazu verführt werden, unserem Land den Rücken zu kehren? Vor allem Letzteres fügt unserer Republik einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zu.«

Katja setzte sich aufrecht hin und nickte. Natürlich war ihr die Tragweite einer Sportlerflucht bewusst. Ausländische Medien stürzten sich geradezu schadenfroh auf derlei Geschichten.

»Ich würde all meine Kraft dafür aufwenden, eine solche Blamage zu verhindern«, pflichtete sie Brandner bei.

»Gut. Dann werden Sie unter dem Tarnnamen Ingeborg bei uns geführt werden. All Ihre Berichte verfassen Sie von heute an unter diesem Namen.«

»Verstehe.«

»Schön, damit wäre der erste Punkt geklärt.«

»Der erste Punkt?«

Statt einer Antwort hob Genosse Brandner einen schwarzen Aktenkoffer auf den Tisch, öffnete ihn und reihte diverse Pillenfläschchen vor Katja auf.

»Sie erkennen sie sicher aus Ihrer aktiven Zeit«, sagte er lapidar, und Katja nickte.

»Dr. Fritsche, Ihr Gatte, hat unter anderem auch Ihre Mädchen in den vergangenen vier Wochen wiederholt genauestens untersucht, Blutwerte protokolliert, mit den gelaufenen Zeiten in Verbindung gebracht und so weiter und so fort.«

Katja nickte erneut. Sie wusste aus ihrer Zeit als aktive Sprinterin, wie engmaschig die Sportler von Ärzten betreut und begleitet wurden. Gab es einen Leistungsabfall, wurde der Sache auch medizinisch auf den Grund gegangen und eine Lösung in Form von Vitaminen gefunden.

»Das hier«, erklärte er und übergab Katja eine Akte, »sind die genauen Dosierungsanleitungen für jede einzelne Ihrer Sportlerinnen. Sie haben nun dafür Sorge zu tragen, dass jede die ihr verordnete Dosis an Vitaminen und Aufbaupräparaten auch ordnungsgemäß einnimmt. Nachschub erhalten Sie von Ihrem Gatten, der nun zufällig auch Sektionsarzt ist und unser vollstes Vertrauen genießt.«

Da Katja nicht gleich antwortete, schob der Offizier eine weitere Erklärung hinterher.

»Die Mittel dienen der Regeneration nach intensiven Trainingstagen, weiterhin haben wir Vitamine und Mineralien. Eben alles, was die Gesundheit der Mädchen stärkt und dafür sorgt, dass sie das enorme Sportpensum auch bewältigen können.«

Katja hob beschwichtigend beide Arme. »Sie müssen mir das nicht erklären«, sagte sie lächelnd. »Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig diese unterstützenden Mittel sind, und ich werde selbstredend penibel auf die Einnahme achten.«

Sie war den naiven Kinderschuhen längst entwachsen. War es ihr als jugendliche Sportlerin noch möglich gewesen, an die Vergabe von Vitaminen zu glauben, so wusste sie es heute, als erwachsene Trainerin und Gattin eines Arztes längst besser. Die körperlichen Veränderungen, die sie früher selbst in den Trainingslagern durchlebt hatte, waren nicht nur auf Vitamine zurückzuführen.

Doch während einige ihrer damaligen Kameraden, wenn sie dieses Geheimnis gelüftet hatten, dem Sport entsetzt den Rücken kehrten, hatte sie sich geehrt gefühlt, war sie doch erst durch die Vergabe von unterstützenden Mitteln wirklich und wahrhaftig in der Elite der Sportler angekommen. Sie hatte nie weiter nachgefragt, und das war auch nicht nötig gewesen. Ihre eigenen Trainer und Ärzte hatten stets darauf geachtet, dass Kontrollen vor internationalen Wettkämpfen unauffällig waren. Genau so würde sie es mit ihren Mädchen auch handhaben, und genau so würde sie sie an die Spitze bringen.

»Dann sind wir uns also auf allen Ebenen einig.«

»Das sind wir.«

»Sehr erfreulich.« Brandner erhob sich und deutete zur Tür. Katja stand ebenfalls auf und ergriff die ausgestreckte Hand des Offiziers.

»Ach, eins noch«, sagte er, ohne ihre Hand loszulassen.

»Ja?«

Ende der Leseprobe