Das Flüstern der Nacht - Peter V. Brett - E-Book

Das Flüstern der Nacht E-Book

Peter V. Brett

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Beschreibung

Tauchen Sie ein in eine fantastische Welt!

Die Menschheit ist gefangen in der Furcht vor den Dämonen der Dunkelheit. Nur der junge Arlen beschließt, sich mit magischen Siegeln den finsteren Wesen entgegenzustellen, und wird schon bald zu einer Legende. Als plötzlich aus dem Süden ein zweiter Befreier der Menschen auftaucht, droht alles in Chaos zu versinken. Doch Arlen hält fest an seiner Hoffnung auf das Ende der Nacht …

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Für Dani und Cassie

Inhaltsverzeichnis

WidmungPROLOG - SeelendämonenTeil I - Sieg ohne Ehre
1 - Fort Rizon2 - Abban
Copyright

PROLOG

Seelendämonen

333 NR

Es geschah in der Nacht vor Neumond, in der dunkelsten Stunde, als nicht einmal die Spur eines silbernen Streifs zu sehen war. An einer kleinen, stockfinsteren Stelle unter den mächtigen Ästen einer Baumgruppe stieg eine bösartige Substanz aus dem Horc auf.

Der düstere Nebel verdichtete sich langsam zu einem Paar riesenhafter Dämonen, deren grobe, braune Haut knorrig und rau war wie Baumrinde. Sie hatten eine Schulterhöhe von neun Fuß, und ihre gekrümmten Klauen gruben sich in den mit gefrorenem Gestrüpp und Kiefernnadeln bedeckten Boden, während sie witternd die Luft einsogen. Ein leises Grollen drang aus ihren Kehlen, und mit schwarzen Augen überprüften sie die nähere Umgebung der Baumgruppe.

Zufriedengestellt rückten sie ein Stück weit auseinander und nahmen eine geduckte, sprungbereite Haltung ein. An der stockfinsteren Stelle hinter ihnen vertieften sich noch die Schatten, und Verdorbenheit schwärzte den Waldboden, als zwei weitere nebelhafte Umrisse aufstiegen.

Diese Gestalten waren von zierlicher Statur, kaum fünf Fuß groß, mit einer weichen, holzkohlefarbenen Hülle, die sich stark von dem zerklüfteten, borkeähnlichen Panzer ihrer massigeren Verwandten unterschied. Die Krallen an den Spitzen ihrer zarten Finger und Zehen wirkten schwach – sie waren fein und gerade wie die gepflegten Nägel einer Frau. Die Münder in den flachen Gesichtern wiesen nur eine Reihe von scharfen, aber kurzen Zähnen auf. Die Köpfe erschienen wie aufgebläht, mit großen, lidlosen Augen und hohen, kegelförmigen Schädeln. Das darüberliegende Fleisch schloss sich um verkümmerte Hornstümpfe, knotig, fleckig und immerfort pulsierend: Horcling-Prinzen.

Eine geraume Weile starrten die beiden Neuankömmlinge einander an, und ihre Kopfhaut zuckte in einem rhythmischen Pochen, während sich die Luft zwischen ihnen mit Vibrationen füllte.

Einer der größeren Dämonen bemerkte, dass sich im Dickicht etwas bewegte, und zog mit erschreckender Schnelligkeit eine Ratte aus ihrem Versteck. Der Horcling hob den Nager dicht vor seine Augen und betrachtete ihn voller Neugier. Während dieses Vorgangs verwandelte sich das Maul des Dämons in die Schnauze einer Ratte; Nase und Schnurrhaare zitterten, und es bildeten sich zwei lange Schneidezähne. Mit der Zunge prüfte der Horcling ihre Schärfe.

Einer der schlanken Seelendämonen drehte sich mit pulsierender Stirn um und fasste den Horcling, der sich gerade mit der Ratte beschäftigte, ins Auge. Ein leichter, schneller Schlag genügte dem Mimikrydämon, um das Tier auszuweiden und es zur Seite zu schleudern. Auf den Befehl der Horcling-Prinzen hin änderten die beiden Mimikrydämonen ihre Gestalt und verwandelten sich in riesige Winddämonen.

Die Seelendämonen zischten, als sie den stockdunklen Winkel verließen und sich dem Sternenlicht aussetzten. Ihr Atem gefror in der Kälte, aber ohne ein Zeichen des Unbehagens stapften sie durch den Schnee. Die Mimikrydämonen duckten sich tief über den Boden, die Horcling-Prinzen liefen über die Schwingen, setzten sich auf ihre Rücken, und mit einem gewaltigen Satz ging es hoch empor in den Himmel.

Auf ihrem Flug nach Norden segelten sie über zahlreiche Drohnen hinweg. Egal ob groß oder klein, alle diese Dämonen kauerten sich hin, bis die Horclinge vorbeigeflogen waren, um dann dem Ruf der Horcling-Prinzen zu folgen.

Die Mimikrys landeten auf einer Anhöhe, die Seelendämonen ließen sich zu Boden gleiten und betrachteten das unter ihnen liegende Bild. Ein gewaltiges Heer von Menschen breitete sich über die Ebene aus, weiße Zelte übersäten das Land, auf dem der Schnee zu Matsch niedergetrampelt und dann steinhart gefroren war. Große, buckelige Lasttiere, mit Decken vor der Kälte geschützt, standen mit gefesselten Vorderbeinen in magischen Zirkeln. Die Siegel rings um das Lager waren mächtig, und Wachposten, die Gesichter mit schwarzen Tüchern verhüllt, patrouillierten an seinem Rand entlang. Selbst aus dieser Entfernung konnten die Seelendämonen die Kraft spüren, die von ihren mit Schutzzeichen verstärkten Waffen ausging.

Hinter den Siegeln des Lagers war das Feld mit Dutzenden von toten Dämonen bedeckt, die darauf warteten, von dem Tagesstern verbrannt zu werden.

Als Erste erreichten Flammendrohnen die Erhebung, auf der die Prinzen Posten bezogen hatten. In respektvoller Entfernung begannen sie, ihren Herren durch einen Tanz zu huldigen und ihre Verehrung hinauszukreischen.

Wieder ein Pulsieren der Stirn, und die Drohnen verstummten. Totenstille senkte sich über die Nacht, obwohl sich eine große Horde von Dämonen versammelte, die die Horcling-Prinzen zu sich gerufen hatten. Baum- und Flammendämonen standen Seite an Seite und vergaßen ihren tief wurzelnden Hass aufeinander, während Winddrohnen hoch oben am Himmel kreisten.

Ohne die Versammlung zu beachten hielten die Seelendämonen ihre Blicke auf die Ebene gerichtet, und ihre Schädel pochten unentwegt. Nach einer Weile schaute einer von ihnen zu seinem Mimikry hinüber, um ihm seine Wünsche mitzuteilen; daraufhin schmolz das Fleisch der Kreatur, schwoll an und gestaltete sich zu einem wuchtigen Felsendämon um. Schweigend folgte die Schar der Drohnen ihm den Hügel hinunter.

Auf dem Gipfel blieben die beiden Prinzen und der andere Mimikrydämon zurück. Sie beobachteten und warteten ab.

Dicht in der Nähe des Lagers, noch im Schutz der Dunkelheit, verlangsamte der Mimikrydämon sein Tempo und scheuchte die Flammendrohnen nach vorn.

Flammendämonen waren die kleinsten und schwächsten der Horclinge, und ihre Augen und das Maul glühten von dem Feuer, das in ihrem Inneren toste. Die Wachposten erspähten sie sofort, aber die Drohnen reagierten blitzschnell, und ehe die Wachen Alarm schlagen konnten, attackierten sie feuerspuckend die Siegel.

Zischend traf der Feuerspeichel auf die magischen Symbole, doch auf Geheiß der Seelendämonen richteten die Drohnen ihren Angriff auf die Schneeverwehungen außerhalb des Zirkels, wobei ihr Atem sich augenblicklich in kochend heißen Dampf verwandelte. Die Wachen, die sich hinter den Zeichen in Sicherheit befanden, blieben unverletzt, doch ein heißer Nebel stieg auf, brannte in ihren Augen und verpestete die Luft sogar hinter ihren Gesichtsschleiern.

Einer der Wächter hetzte durch das Lager und läutete mit einer Glocke Sturm. Die ohrenbetäubenden Töne waren noch nicht verhallt, da stürmten seine Kameraden furchtlos hinter die Siegel, um die nächstbesten Flammendämonen mit ihren Speeren aufzuspie-ßen. Magie sprühte, als sich die Waffen durch ihre scharfen, überlappenden Schuppen bohrten.

Andere Drohnen griffen von den Seiten her an, aber die Wächter gingen vereint vor und gaben sich im Kampf mit ihren von Siegeln bedeckten Schilden gegenseitig Deckung. Im Lager wurden Rufe laut, als sich noch mehr Krieger in die Schlacht stürzten.

Abgeschirmt vom Nebel und der Dunkelheit rückte die Armee des Mimikrydämons unaufhaltsam vor. Die Rufe der Wächter, die gerade noch triumphierend geklungen hatten, wurden abgelöst von Entsetzensschreien, als die Dämonen aus dem Dunst auftauchten.

Mühelos schnappte sich der Mimikry den ersten Menschen, dem er begegnete, fegte den Mann mit einem Schlag seines wuchtigen Schwanzes von den Füßen, und während das Opfer zu Boden ging, packte er eines seiner Beine. Der hilflose Krieger wurde in die Höhe gerissen und sein Rückgrat als Peitsche benutzt. Die Krieger, die das Pech hatten, sich in der Nähe des Mimikrys aufzuhalten, wurden von dem Körper ihres gefallenen Kameraden niedergemäht.

Die anderen Drohnen folgten dem Beispiel ihres Anführers, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg. Die wenigen Wachposten waren rasch überwältigt, doch viele Drohnen nutzten diesen Vorteil nicht sofort aus, sondern vertrödelten kostbare Zeit, indem sie die Leichen ihrer Feinde in Stücke rissen, statt sich für die nächste heranstürmende Welle von Kriegern zu rüsten.

Immer mehr der verschleierten Männer rannten aus dem Lager heraus, formierten sich eilig zu geordneten Reihen und töteten mit reibungsloser, brutaler Effizienz. Immer wieder flackerten die magischen Siegel auf ihren Waffen und Schilden in der Dunkelheit.

Oben auf der Anhöhe beobachteten die Seelendämonen leidenschaftslos das Gemetzel, ohne eine Spur von Mitleid für die vom Feind abgestochenen Drohnen. Der Schädel des einen begann zu pulsieren, als er seinem auf dem Feld kämpfenden Mimikry ein Kommando sandte.

Der schleuderte den Leichnam prompt gegen einen der Siegelpfosten, die das Lager umgaben, zerschmetterte ihn und schuf so eine Bresche. Noch ein Pulsieren auf der Anhöhe, und die anderen Horclinge ließen von den Kriegern ab, um durch die Lücke in das feindliche Lager zu strömen.

Verunsichert machten die Krieger kehrt, sahen ihre in Flammen stehenden Zelte, zwischen denen die Flammendämonen hin und her flitzten, und hörten die Schreie ihrer Frauen und Kinder, als die größeren Horclinge verkohlte und versengte Siegel des inneren Schutzrings durchbrachen.

Brüllend rannten die Krieger zu ihren Familien und vergaßen jede Disziplin. Innerhalb weniger Augenblicke lösten sich die geschlossenen, unbesiegbaren Verbände in Tausende Einzelwesen auf, die kaum mehr darstellten als Beute.

Es sah ganz danach aus, als würde das Lager überrollt und niedergebrannt werden, doch dann trat eine Gestalt aus dem in der Mitte des Platzes stehenden Pavillonzelt. Der Mann trug schwarze Kleidung wie die Krieger, doch das Übergewand, die Kopfbedeckung und der Schleier waren blütenweiß.

Die Stirn umrahmte ein Goldreif, und in den Händen hielt er einen prächtigen Speer aus glänzendem Metall. Sein Anblick entlockte den Horcling-Prinzen ein wütendes Fauchen.

Schreie ertönten, als der Mann vortrat. Die Seelendämonen grinsten höhnisch über die primitiven Grunz- und Kläfflaute, mit denen die Menschen sich untereinander verständigten, doch deren Bedeutung war offensichtlich. Die anderen waren Menschendrohnen. Dieser Mann hingegen nahm eine höhere Stellung ein – er war ihr Kopf und ihre Seele.

Unter der Führung des neu hinzugekommenen Kriegers erinnerten sich die Übrigen an ihre Pflichten und stellten den früheren Zusammenhalt wieder her. Ein Trupp spaltete sich ab, um die äußere Bresche zu schließen. Zwei Kolonnen löschten die Feuer. Eine Gruppe brachte die Wehrlosen in Sicherheit.

Unbehindert und ohne sich ablenken zu lassen stürmten die anderen durch das Lager, und die Drohnen konnten ihnen nicht lange standhalten. Es dauerte nur wenige Minuten, bis der Raum innerhalb des Bannzirkels genauso mit Horcling-Leichen übersät war wie das Feld hinter der Absperrung. Bald blieb nur noch der Mimikrydämon übrig, der in die Rolle eines Felsendämons geschlüpft war, zu behände, um von einem Speer getroffen zu werden, aber außerstande, den Wall aus Schilden zu durchbrechen, ohne sein wahres Selbst zu enthüllen.

Der Schädel seines Gefährten auf dem Hügel pulsierte wieder, der Mimikry tauchte ab in einen Schatten, gab seine stoffliche Gestalt auf und stahl sich durch eine winzige Lücke in den Siegeln aus dem Lager hinaus. Die Feinde suchten immer noch nach ihm, als er auf seinen Platz an der Seite seines Gebieters zurückkehrte.

Mehrere Minuten lang standen die beiden schlanken Horclinge auf der Hügelkuppe und tauschten stumme Schwingungen aus. Dann richteten die Horcling-Prinzen völlig synchron ihre Blicke gen Norden, wo sich das andere menschliche Oberhaupt angeblich aufhielt.

Einer der Seelendämonen wandte sich an seinen Mimikry, der in Gestalt eines gigantischen Winddämons in die Knie sank, und stolzierte die ausgestreckte Schwinge hinauf. Als er in der Nacht verschwand, fuhr der zurückbleibende Seelendämon fort, das qualmende Lager des Feindes zu betrachten.

Teil I

Sieg ohne Ehre

1

Fort Rizon

333 NR – Winter

Die Stadtmauer von Fort Rizon war ein Witz.

Knapp zehn Fuß hoch und lediglich einen Fuß dick war die Verteidigungsanlage, die die gesamte Stadt sichern sollte, kümmerlicher als der Schutzwall des bescheidensten Palastes eines Damaji . Die Aufpasser brauchten nicht einmal ihre mit Stahl beschlagenen Leitern; sie sprangen einfach hoch, hielten sich am Rand der winzigen Umfriedung fest und schwangen sich darüber.

»Menschen, die so schwach und nachlässig sind, verdienen es, besiegt zu werden«, meinte Hasik. Jardir brummte zustimmend, erwiderte aber nichts.

Im Schutz der Dunkelheit hatte sich die Vorhut von Jardirs Kriegerelite angeschlichen; der Schnee auf den brachliegenden Feldern, die die eigentliche Stadt umgaben, knirschte unter etlichen Tausend Sandalen. Während die Bewohner der Grünen Länder sich hinter ihren Siegeln verkrochen, hatten die Krasianer die von Dämonen heimgesuchte Nacht für ihren Vormarsch genutzt. Selbst Horclinge schlugen um so viele Heilige Krieger einen Bogen.

Sie versammelten sich vor der Stadt, aber die verschleierten Krieger griffen nicht sofort an. In der Nacht attackierte man keine Menschen. Erst als das Licht der Morgendämmerung den Himmel überhauchte, zogen sie ihre Schleier herunter, damit die Feinde ihre Gesichter sehen konnten.

Man hörte ein paar erstickte Laute, als die Aufpasser die Wachen im Torhaus überwältigten, und dann schwangen knarrend die Stadttore auf, um Jardirs Armee einzulassen. Begleitet von einem durchdringenden Gebrüll wälzten sich sechstausend dal’Sharum-Krieger in die Stadt hinein.

Bevor die Rizoner wussten, wie ihnen geschah, stürzten sich die Krasianer auf sie, traten Türen ein, zerrten Männer aus ihren Betten und warfen sie, nackt wie sie waren, in den Schnee.

Mit seinem scheinbar endlosen fruchtbaren Ackerland war Fort Rizon wesentlich dichter bevölkert als Krasia, aber die Rizoner waren keine Krieger, und vor Jardirs militärisch gedrillten Einheiten fielen sie wie Grashalme unter einer Sense. Wer sich sträubte, erntete Muskelrisse und Knochenbrüche. Die Männer, die kämpften, starben.

Jardir beobachtete all das mit Besorgnis. Jeder Mann, der verkrüppelt oder getötet wurde, konnte im Sharak Ka, dem Großen Krieg, nicht zu Ruhm und Ehre gelangen, aber das war ein notwendiges Übel. Die Männer des Nordens ließen sich nicht in eine Waffe gegen die Dämonenbrut schmieden, ohne sie vorher gestählt zu haben, wie ein Schmied mit seinem Hammer eine Speerspitze härtete.

Frauen schrien, als Jardirs Männer sich in einer anderen Weise an ihnen austobten. Noch ein notwendiges Übel. Der Sharak Ka stand kurz bevor, und die künftige Kriegergeneration musste von Männern gezeugt werden, nicht von Feiglingen.

Nach einer gewissen Zeit beugte Jardirs Sohn Jayan im Schnee vor ihm das Knie, die Spitze seines Speeres von Blut gerötet. »Die innere Stadt gehört uns, Vater«, meldete Jayan.

Jardir nickte. »Wenn wir die innere Stadt in unserer Gewalt haben, beherrschen wir auch die Ebene.«

Sein erstes eigenständiges Kommando hatte Jayan sehr gut gemeistert. Wäre dies eine Schlacht gegen Dämonen gewesen, hätte Jardir persönlich den Sturmangriff angeführt, aber den Speer des Kaji wollte er nicht mit Menschenblut besudeln. Jayan war im Grunde zu jung, um den weißen Schleier eines Hauptmanns zu tragen, aber er war Jardirs Erstgeborener, und durch seine Adern strömte das Blut des Erlösers. Er war stark, konnte Schmerzen ertragen, und sowohl Krieger als auch Geistliche behandelten ihn mit Ehrerbietung.

»Viele sind geflüchtet«, fügte Asome hinzu, der hinter seinem Bruder auftauchte. »Sie werden die Dörfer warnen. Wenn die Einwohner klug sind, ergreifen auch sie die Flucht, um einer Reinigung durch das Evejanische Gesetz zu entgehen.«

Jardir sah ihn an. Asome war ein Jahr jünger als sein Bruder, kleiner und schlanker. Er trug die weißen Gewänder eines dama, keinen Harnisch und keinerlei Waffen, aber Jardir ließ sich nicht täuschen. Sein zweiter Sohn war auf jeden Fall der Ehrgeizigere und Gefährlichere von beiden, und in dieser Hinsicht kam ihm keiner seiner jüngeren Brüder, von denen es Dutzende gab, auch nur nahe.

»Sie mögen ja entkommen sein«, entgegnete Jardir, »aber sie lassen ihre Nahrungsmittellager zurück und flüchten sich in das weiche Eis, das die Grünen Länder im Winter bedeckt. Die Schwachen werden sterben und ersparen uns die Mühe, sie zu töten, und die Starken werde ich unter mein Joch zwingen, wenn der rechte Zeitpunkt gekommen ist. Ihr habt eure Sache gut gemacht, meine Söhne. Jayan, beauftrage ein paar Männer, geeignete Gebäude für die Unterbringung der Gefangenen zu suchen, ehe sie durch die Kälte sterben. Die Knaben werden für den Hannu Pash ausgesondert. Wenn wir ihnen die Schwäche des Nordens austreiben, können sich einige von ihnen vielleicht über ihre Väter erheben. Die kräftigen Burschen benutzen wir, um sie in den Schlachten zu verheizen, und die schwachen dienen uns als Sklaven. Jede Frau im gebärfähigen Alter darf geschwängert werden.«

Jayan schlug sich mit der Faust gegen die Brust und nickte.

»Asome, gib den anderen dama ein Zeichen, dass sie anfangen können«, ordnete Jardir an, und Asome verbeugte sich.

Jardir sah seinem in Weiß gewandeten Sohn hinterher, der sich auf den Weg machte, um den Befehl auszuführen. Die Geistlichen würden das Wort des Everam unter den chin verbreiten, und diejenigen, die sich weigerten, es von Herzen anzunehmen, würde man mit Gewalt bekehren.

Ein notwendiges Übel.

Am selben Nachmittag wanderte Jardir auf den dicken Teppichen hin und her, mit denen der Boden des Herrenhauses ausgelegt war, das er zu seinem Rizoner Palast auserkoren hatte. Verglichen mit seinen Palästen in Krasia war es ein schäbiges Domizil, doch nachdem er seit ihrem Aufbruch aus dem Wüstenspeer monatelang in Zelten genächtigt hatte, empfand er es als einen willkommenen Ansatz von Zivilisation.

Mit der rechten Hand umklammerte Jardir den Speer des Kaji, den er benutzte wie einen Wanderstab. Natürlich brauchte er keine Gehhilfe, aber die uralte Waffe hatte ihn in seine derzeitige Machtposition erhoben und befand sich immer griffbereit in seiner Nähe. Bei jedem einzelnen Schritt klopfte der Schaft auf den Boden.

»Abban verspätet sich«, erklärte Jardir. »Selbst wenn er seit der Morgendämmerung zusammen mit den Frauen reist, hätte er längst hier sein müssen.«

»Ich werde nie begreifen, wieso du diesen khaffit in deiner Gegenwart duldest, Vater«, meinte Asome. »Den Schweinefresser sollte man umbringen, allein weil er es gewagt hat, dich anzusehen, und trotzdem nimmst du seinen Rat an, als sei er ein Gleichgestellter an deinem Hof.«

»Kaji selbst übertrug khaffit Aufgaben, für die sie sich eigneten«, versetzte Jardir. »Abban weiß mehr über die Grünen Länder als jeder andere, und ein weiser Anführer muss sich dieses Wissen zunutze machen.«

»Was gibt es da zu wissen?«, fragte Jayan. »Die Bewohner der Grünen Länder sind samt und sonders Feiglinge und Schwächlinge, nicht besser als khaffit. Sie sind es nicht einmal wert, als Sklaven zu dienen oder in einem Kampf geopfert zu werden.«

»Sei nicht so schnell der Meinung, du wüsstest alles«, ermahnte Jardir ihn. »Nur Everam ist allwissend. Im Evejah steht, wir sollen unsere Feinde kennen, und vom Norden wissen wir nur sehr wenig. Wenn ich diese Leute in den Großen Krieg einbeziehen will, muss ich mehr tun, als sie einfach nur zu töten oder zu beherrschen. Ich muss sie verstehen. Und wenn alle Männer aus den Grünen Ländern nicht höherstehen als khaffit, wer wäre dann besser geeignet als ein khaffit, um mir zu erklären, was in ihren Herzen vorgeht?«

In diesem Moment klopfte es an der Tür, und Abban humpelte ins Zimmer. Wie immer war der fette Händler in prächtige, weibische Gewänder aus Seide und Pelz gekleidet – eine auffallende Zurschaustellung von Prunk, mit der er anscheinend bewusst die gestrengen, genügsamen dama und dal’Sharum provozieren wollte.

Die Wachposten schubsten ihn und machten sich über ihn lustig, als er an ihnen vorbeiging, aber sie hätten es nie gewagt, Abban den Einlass zu verweigern. Gleichgültig, welche persönlichen Gefühle man Abban entgegenbrachte, wer ihn behinderte, riskierte es, Jardirs Zorn auf sich zu ziehen, und kein Mann ließ es darauf ankommen.

Der verkrüppelte khaffit stützte sich schwer auf seinen Stock, als er sich Jardirs Thron näherte; trotz der Kälte perlten Schweißtropfen über sein gerötetes, teigiges Gesicht. Jardir musterte ihn angewidert. Abban hatte offenbar wichtige Neuigkeiten, doch anstatt sie zu verkünden, stand er bloß hechelnd und nach Luft schnappend da.

»Was gibt’s?«, schnauzte Jardir ihn an, als seine Geduld zu Ende ging.

»Du musst etwas unternehmen!«, keuchte Abban. »Sie verbrennen die Kornspeicher!«

»Was?!«, brüllte Jardir, sprang auf die Füße, packte Abban beim Arm und drückte so fest zu, dass der khaffit einen Schmerzensschrei ausstieß. »Wo?«

»Am nördlichen Siegel der Stadt«, erwiderte Abban. »Von deiner Haustür aus kannst du den Qualm sehen.«

Jardir stürzte nach draußen auf die vordere Treppe und entdeckte sofort die aufsteigende Rauchsäule. Er wandte sich an Jayan. »Lauf hin!«, befahl er. »Ich will, dass die Feuer unverzüglich gelöscht werden, und diejenigen, die dafür verantwortlich sind, soll man zu mir bringen.«

Jayan nickte und verschwand in den Straßen, gefolgt von ausgebildeten Kriegern, die hinter ihm herzogen wie ein im Verband fliegender Vogelschwarm. Jardir drehte sich wieder zu Abban um.

»Das Getreide wird gebraucht, um die Menschen durch den Winter zu bringen«, betonte Abban. »Jedes einzelne Korn. Jede einzelne Krume. Ich hatte dich gewarnt.«

Asome stürzte vor, packte Abbans Handgelenk und drehte ihm den Arm brutal auf den Rücken. Abban schrie auf. »Du wirst nicht in diesem Ton mit dem Shar’Dama Ka sprechen!«, knurrte Asome.

»Das reicht!«, griff Jardir ein.

In dem Moment, als Asome ihn losließ, fiel Abban auf die Knie, legte beide Hände auf die Stufen und drückte seine Stirn dazwischen. »Ich bitte dich zehntausendmal um Vergebung, Erlöser«, winselte er.

»Deinen feigen Rat, nicht in den kalten Norden vorzudringen, habe ich vernommen«, erklärte Jardir, während Abban wimmernd vor ihm kniete. »Aber ich werde Everams Werk nicht verzögern wegen dieses«, er trat gegen den auf den Stufen liegenden Schnee, »Sandsturms aus Eis. Wenn wir Lebensmittel benötigen, nehmen wir sie uns von den chin, die in der Umgebung leben und im Überfluss schwelgen.«

»Selbstverständlich, Shar’Dama Ka«, murmelte Abban, den Mund dicht über dem Boden.

»Du hast viel zu lange getrödelt, um hierherzukommen, khaffit «, tadelte Jardir. »Ich brauche dich, damit du unter den Gefangenen die Leute heraussuchst, mit denen du Handelskontakte gepflegt hast.«

»Wenn sie überhaupt noch am Leben sind«, erwiderte Abban. »In den Straßen liegen Hunderte von Toten.«

Jardir zuckte die Achseln. »Das ist deine Schuld, du warst zu langsam. Geh hin, befrage die Händler, die du kennst, und mache für mich ihre Anführer ausfindig.«

»Die dama lassen mich noch im selben Augenblick umbringen, in dem ich einen Befehl ausspreche, auch wenn ich in deinem Namen handele, großer Shar’Dama Ka«, gab Abban zu bedenken.

Er hatte Recht. Nach dem Evejanischen Gesetz wurde jeder khaffit, der es wagte, von einem über ihm stehenden Menschen etwas zu fordern, auf der Stelle getötet; außerdem gab es viele, die Abban um seinen Platz in Jardirs Rat beneideten und sich über seinen Tod freuen würden.

»Asome wird dich begleiten«, bestimmte Jardir. »Dann bist du selbst vor dem fanatischsten Geistlichen sicher.«

Abban wurde blass, als Asome vortrat, doch er nickte. »Wie der Shar’Dama Ka befiehlt.«

2

Abban

305 – 308 NR

Jardir war neun, als die dal’Sharum ihn seiner Mutter wegnahmen. Selbst für krasianische Begriffe war er noch sehr jung, aber der Kaji-Stamm hatte in diesem Jahr viele Krieger verloren und brauchte Neuzugänge, bevor einer der anderen Stämme versuchte, ihn aus seiner herrschenden Stellung zu verdrängen.

Jardir, seine drei jüngeren Schwestern und ihre Mutter Kajivah teilten sich ein einziges Zimmer in dem Elendsviertel der Kaji, das aus Lehmziegelhütten bestand und nur über einen ausgetrockneten Brunnen verfügte. Sein Vater, Hoshkamin, war vor zwei Jahren im Kampf getötet worden, als der Majah-Stamm die Kaji überfiel, um einen Brunnen zu erobern. Wenn ein Krieger ums Leben kam, war es üblich, dass einer seiner Kameraden die Witwen heiratete und für die Kinder sorgte, aber Kajivah hatte dreimal hintereinander Töchter geboren, ein böses Omen, mit dem kein Mann seinen Haushalt belasten wollte. Sie lebten von den wenigen Nahrungsmitteln, die die örtlichen dama ihnen als Almosen gewährten, und wenn sie auch sonst nichts besaßen, so hatten sie doch zumindest einander.

»Ahmann asu Hoshkamin am’Jardir am’Kaji«, hob der Exerziermeister Qeran an, »du wirst jetzt mit uns kommen und uns in den Kaji’sharaj begleiten, um deinen Hannu Pash zu finden, den Weg, den Everam dir vorherbestimmt hat.« Er stand in der Tür neben dem Exerziermeister Kaval; in ihren schwarzen Gewändern mit den roten Schleiern, die sie als Ausbilder kennzeichneten, machten die beiden groß gewachsenen Männer einen furchteinflößenden Eindruck. Unbewegt sahen sie zu, wie Jardirs Mutter weinte und ihn umarmte.

»Jetzt musst du den Mann in unserer Familie ersetzen, Ahmann«, erklärte ihm Kajivah. »Für mich und für deine Schwestern. Außer dir haben wir niemand.«

»Ich werde für euch sorgen, Mutter«, versprach Jardir. »Wenn ich erst ein großer Krieger bin, baue ich euch einen Palast.«

»Daran zweifle ich nicht«, erwiderte Kajivah. »Alle sagen, ich sei verflucht, weil ich nach dir drei Mädchen zur Welt brachte. Ich sage jedoch, Everam hat unsere Familie mit einem so großartigen Sohn gesegnet, dass er gar keine Brüder braucht.« Sie drückte ihn fest an sich, und ihre Tränen benetzten seine Wange.

»Genug geflennt«, blaffte Exerziermeister Kaval, packte Jardirs Arm und zog ihn fort. Jardirs kleine Schwestern gafften, als man ihn aus der winzigen Behausung führte.

»Es ist immer dasselbe«, brummte Qeran. »Mütter können einfach nicht loslassen.«

»Sie hat keinen Mann, der sich um sie kümmert«, warf Jardir ein.

»Keiner hat dich zum Sprechen aufgefordert, Bengel!«, fuhr Kaval ihn an und verpasste ihm einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf. Jardir verbiss sich einen Schmerzensschrei, als seine Knie auf das Sandsteinpflaster der Straße schlugen. Alles in ihm schrie danach, zurückzuschlagen, aber er verlor nicht die Beherrschung. Egal, wie dringend die Kaji neue Krieger brauchten, für eine solche Beleidigung würden die dal’Sharum ihn so bedenkenlos töten wie jemand unter seiner Sandale einen Skorpion zerquetscht.

»Jeder Mann in Krasia kümmert sich um sie«, versetzte Qeran und deutete mit einem Kopfnicken zur Tür, »wenn er in der Nacht sein Blut vergießt, um sie zu schützen, während sie um ihren jämmerlichen Sohn weint.«

Sie marschierten die Straße hinunter in Richtung des Großen Basars. Jardir kannte den Weg gut, denn obwohl er kein Geld hatte, schlenderte er oft über den Markt. Die Aromen der Gewürze und Parfums vermischten sich zu einem berauschenden Duft, und mit Vorliebe betrachtete er die Speere und tückisch gekrümmten Klingen in den Buden der Waffenschmiede. Manchmal raufte er sich mit anderen Jungen und bereitete sich auf den Tag vor, an dem er ein Krieger würde.

Die dal’Sharum betraten nur selten den Basar; solche Orte waren unter ihrer Würde. Frauen, Kinder und khaffit huschten in alle Richtungen, um den Exerziermeistern aus dem Weg zu gehen. Jardir beobachtete die Krieger aufmerksam und bemühte sich, ihr Auftreten nachzuahmen.

Eines Tages, dachte er, werde ich derjenige sein, dem die anderen vor lauter Angst Platz machen.

Kaval blickte auf eine mit Kreide beschriebene Tafel, dann schaute er zu einem weiträumigen Zelt, das über und über mit bunten Fahnen geschmückt war. »Hier sind wir richtig«, stellte er fest, und Qeran gab einen Grunzlaut von sich. Jardir folgte ihnen, als sie die Zeltklappe anhoben und einfach eintraten, ohne sich vorher anzukündigen.

Im Inneren des Zeltes roch es nach Weihrauch, und es war dick mit Teppichen ausgelegt; man sah Stapel von Seidenkissen, Gestelle, über denen Teppiche hingen, bemalte Keramik und andere Schätze. Jardir fuhr mit einem Finger einen Ballen aus Seidenstoff entlang und erschauerte bei der Berührung; das Material fühlte sich unglaublich glatt und weich an.

Meine Mutter und meine Schwestern sollten Kleider aus diesem Stoff tragen, sagte er sich. Er blickte an seinen gelbbraunen Pluderhosen und der Weste hinab, beide zerrissen und schmutzig, und sehnte den Tag herbei, an dem er die schwarzen Gewänder eines Kriegers anlegen durfte.

Eine Frau am Verkaufstresen stieß einen schrillen Schrei aus, als sie die Exerziermeister sah, und gerade als Jardir zu ihr hinüberschaute, zog sie den Schleier vor ihr Gesicht.

»Omara vah’Haman vah’Kaji?«, fragte Qeran. Die Frau nickte, die Augen vor Furcht weit aufgerissen.

»Wir sind gekommen, um deinen Sohn Abban abzuholen«, erklärte Qeran.

»Er ist nicht hier«, behauptete Omara, doch ihre Augen und Hände, die einzigen Stellen ihres Körpers, die unter dem dichten, schwarzen Tuch noch zu sehen waren, zitterten. »Ich habe ihn heute früh losgeschickt, um Waren auszuliefern.«

»Durchsuche den hinteren Teil«, forderte Qeran Kaval auf. Der Exerziermeister nickte und steuerte auf die lose Trennwand hinter dem Tresen zu.

»Nein, bitte!«, jammerte Omara und vertrat ihm den Weg. Kaval fegte sie achtlos zur Seite und verschwand im hinteren Bereich des Zeltes. Weiteres Jammern und Kreischen ertönte, und im nächsten Moment tauchte der Exerziermeister wieder auf, wobei er einen Knaben hinter sich herzerrte; der Junge trug ebenfalls gelbbraune Pluderhosen sowie eine Weste und Kappe in derselben Farbe, obwohl sie aus einem viel feineren Stoff geschneidert waren als die Sachen, die Jardir anhatte. Er war vielleicht ein, zwei Jahre älter als Jardir, stämmig und wohlgenährt. Eine Reihe von älteren Mädchen folgte ihm nach draußen, zwei in gelbbrauner Kleidung, drei weitere mit den schwarzen Kopfbedeckungen, die von unverheirateten Frauen getragen wurden.

»Abban am’Haman am’Kaji«, donnerte Qeran, »du wirst jetzt mit uns kommen und uns in den Kaji’sharaj begleiten, um deinen Hannu Pash zu finden, den Weg, den Everam dir vorherbestimmt hat.« Der Junge schlotterte vor Furcht, als er das hörte.

Omara heulte auf, klammerte sich an ihren Sohn und versuchte, ihn an sich zu ziehen. »Bitte!«, beschwor sie die Männer. »Er ist doch viel zu jung. Noch ein Jahr, ich flehe euch an!«

»Schweig still, Weib!«, schnauzte Kaval und stieß sie zu Boden. »Der Junge ist jetzt schon alt und fett genug. Wenn man ihn dir noch einen einzigen Tag überließe, würde er als khaffit enden wie sein Vater.«

»Du kannst stolz sein, Weib«, meinte Qeran. »Man gibt deinem Sohn die Chance, etwas Besseres zu werden als sein Vater und Everam und dem Kaji zu dienen.«

Omara ballte die Fäuste, aber sie blieb liegen, wo sie hingestürzt war, senkte den Kopf und weinte leise vor sich hin. Keine Frau würde es wagen, einem dal’Sharum zu widersprechen. Abbans Schwestern scharten sich bedrückt um sie. Abban streckte die Hände nach ihnen aus, aber Kaval riss ihn zurück. Der Junge heulte und schluchzte, als man ihn aus dem Zelt schleifte. Jardir konnte die Frauen noch weinen hören, nachdem die schwere Zeltklappe zugefallen war und der Lärm des Markts sie umschwirrte.

Die Krieger schenkten den Jungen keine Beachtung, als sie sie zu den Exerzierplätzen führten, sondern ließen sie einfach hinter sich herzockeln. Unterwegs hörte Abban nicht auf zu weinen und zu bibbern.

»Warum flennst du so?«, wollte Jardir wissen. »Vor uns liegt ein ehrenvoller, ruhmreicher Weg.«

»Ich will aber kein Krieger sein«, schniefte Abban. »Ich will nicht sterben.«

Jardir zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wirst du auch zum dama berufen«, gab er zu bedenken.

Abban schüttelte sich. »Das wäre ja noch schlimmer«, meinte er. »Ein dama hat meinen Vater getötet.«

»Warum?«, fragte Jardir.

»Weil er versehentlich Tinte über sein Gewand schüttete«, antwortete Abban.

»Und nur deshalb hat der dama ihn umgebracht?«, staunte Jardir.

Abban nickte, und von neuem stiegen ihm die Tränen in die Augen. »Gleich nachdem es passierte, brach er meinem Vater das Genick. Es ging alles so schnell … er packte ihn, etwas knackte, und mein Vater kippte um.« Er schluckte krampfhaft. »Jetzt bin ich der einzige Mann, der für meine Mutter und meine Schwestern sorgt«, fügte er hinzu.

Jardir nahm ihn an die Hand. »Mein Vater ist auch tot«, erzählte er, »und es heißt, meine Mutter sei verflucht, weil sie hintereinander drei Töchter geboren hat. Aber wir sind Männer des Kaji. Wir können unsere Väter übertreffen und unseren Frauen die Ehre zurückgeben.«

»Aber ich fürchte mich so«, schniefte Abban.

»Ich habe auch Angst – ein bisschen«, gab Jardir zu, den Blick auf den Boden gerichtet. Einen Moment später erhellte sich seine Miene. »Lass uns einen Pakt schließen«, schlug er vor.

Abban, der auf dem Basar groß geworden war, wo ein gnadenloser Konkurrenzkampf herrschte, musterte ihn argwöhnisch. »Was für einen Pakt?«, fragte er.

»Wir helfen uns gegenseitig durch den Hannu Pash«, erklärte Jardir. »Wenn du stolperst, fange ich dich auf, und wenn ich stürze«, er lächelte und klatschte mit der Hand auf Abbans runden Bauch, »falle ich auf dich drauf wie auf ein Kissen.«

Abban quiekte und massierte seine Wampe, aber er beklagte sich nicht, sondern sah Jardir nur staunend an. »Ist das dein Ernst?«, vergewisserte er sich und trocknete sich mit dem Handrücken die Augen.

Jardir nickte. Sie liefen unter den Markisen des Basars, doch er packte Abban beim Arm und zog ihn aus dem Schatten heraus. »Ich schwöre es beim Licht des Everam.«

Abban grinste breit. »Und ich schwöre es bei der mit Juwelen geschmückten Krone des Kaji«, verkündete er mit einer Verbeugung.

»Nicht bummeln!«, bellte Kaval, und schnell schlossen sie zu den Männern auf, doch nun bewegte sich Abban mit viel mehr Selbstvertrauen.

Die Exerziermeister zeichneten Siegel in die Luft, als sie am großen Tempel Sharik Hora vorbeikamen, und murmelten Gebete an Everam, den Schöpfer. Hinter dem Sharik Hora lagen die Exerzierplätze, und Jardir und Abban versuchten, überall gleichzeitig hinzublicken, um die Krieger bei ihrem Drill zu beobachten. Einige arbeiteten mit Schild, Speer oder Netz, während andere im Gleichschritt marschierten oder rannten. Aufpasser standen auf den obersten Sprossen von Leitern, ohne den geringsten festen Halt, und übten das Balancieren. Viele dal’Sharum schmiedeten Speerspitzen, versahen Schilde mit Siegeln oder trainierten den sharusahk – die Kunst des waffenlosen Nahkampfs.

Zwölf sharaji, oder Schulen, umgaben die Exerzierplätze, einer für jeden Stamm. Jardir und Abban gehörten zu den Kaji und wurden deshalb in den Kaji’sharaj gebracht. Hier sollte der Hannu Pash beginnen, aus dem sie entweder als dama, dal’Sharum oder khaffit hervorgehen würden.

»Der Kaji’sharaj ist viel größer als alle anderen«, meinte Abban und sah an dem gewaltigen Pavillonzelt empor. »Nur der Majah’sharaj ist annähernd so groß.«

»Natürlich«, versetzte Kaval. »Glaubst du, es ist ein Zufall, dass unser Stamm Kaji heißt, nach dem Shar’Dama Ka, dem Erlöser? Wir sind die Nachkommen seiner tausend Frauen, das Blut von seinem Blute. In den Majah«, er spuckte aus, »fließt nur das Blut des Schwächlings, der regierte, nachdem der Shar’Dama Ka diese Welt verlassen hatte. Die anderen Stämme sind uns in jeder Hinsicht unterlegen. Das dürft ihr nie vergessen.«

Man führte sie in den Pavillon hinein und gab ihnen Bidos – schlichte weiße Lendentücher; ihre gelbbraunen Sachen nahm man ihnen weg, um sie zu verbrennen. Jetzt waren sie nie’Sharum; noch keine Krieger, aber auch keine Knaben mehr.

»Ein Monat Haferschleimsuppe und hartes Training wird dir das Fett von den Knochen ziehen, Bengel«, spottete Kaval, als Abban sein Hemd auszog. Angeekelt rammte der Exerziermeister seine Faust in Abbans runden Bauch. Abban krümmte sich unter dem Schlag, aber Jardir fing ihn auf, bevor er hinfiel, und stützte ihn, bis er wieder durchatmen konnte. Als sie sich fertig umgezogen hatten, scheuchten die Exerziermeister sie in die Kaserne.

»Frisches Blut!«, brüllte Qeran, während man sie in einen großen, leeren Raum bugsierte, in dem sich andere nie’Sharum drängten. »Ahmann asu Hoshkamin am’Jardir am’Kaji und Abban am’Haman am’Kaji! Jetzt sind sie eure Brüder.«

Abban errötete, und Jardir wusste sofort warum, wie jeder der anwesenden Jungen auch. Indem Qeran den Namen seines Vaters ausließ, hatte er praktisch verkündet, dass Abbans Vater ein khaffit war – ein Angehöriger der niedrigsten und am meisten verachteten Kaste in der krasianischen Gesellschaft. Khaffit waren Memmen und Versager, Männer, die es nicht schafften, zum Krieger aufzusteigen.

»Ha! Ihr bringt uns den fetten Sohn eines Schweinefressers und eine dürre Ratte!«, schrie der kräftigste der nie’Sharum. »Schmeißt sie wieder dorthin zurück, wo ihr sie hergeholt habt!« Alle anderen Jungen lachten.

Exerziermeister Qeran gab ein wütendes Knurren von sich und schlug den Jungen ins Gesicht. Der knallte mit voller Wucht auf den Steinboden und spuckte blutigen Schleim. Abrupt verstummte das Gelächter.

»Spar dir deine hämischen Bemerkungen für den Zeitpunkt auf, wenn du deinen Bido abgegeben hast, Hasik!«, wetterte Qeran. »Bis dahin seid ihr alle nichts anderes als dürre, Schweine fressende khaffit-Ratten.« Danach machten er und Kaval auf dem Absatz kehrt und stolzierten hinaus.

»Ihr Ratten, dafür werdet ihr büßen!«, zischte Hasik, und das letzte Wort war von einem seltsamen Pfeifton begleitet. Er riss sich den lockeren Zahn aus und warf ihn auf Abban, der zusammenzuckte, als ihn der blutige Stummel traf. Jardir stellte sich vor Abban und knurrte böse, aber Hasik und seine Kumpane hatten sich bereits abgewandt.

Kurz nach ihrer Ankunft gab man ihnen Suppenschalen, und der Kessel mit dem Haferschleim wurde aufgestellt. Ausgehungert wie er war, steuerte Jardir geradewegs darauf zu, und Abban beeilte sich sogar noch mehr, aber einer der älteren Burschen verstellte ihnen den Weg. »Bildet ihr euch etwa ein, ihr kriegt vor mir etwas zu essen?«, schnauzte er. Er schubste Jardir gegen Abban, und beide landeten auf dem Boden.

»Steht wieder auf, wenn ihr was essen wollt«, rief der Exerziermeister, der den Kessel herangeschleppt hatte. »Die Bengel am Ende der Schlange gehen leer aus.«

Abban kreischte und sie rappelten sich auf die Füße. Die meisten Jungen hatten sich schon in einer Schlange aufgestellt, grob nach Körpergröße und Stärke geordnet, mit Hasik an der Spitze. Hinten kämpften die kleineren Jungen verbissen darum, nicht die Letzten in der Reihe zu sein.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Abban.

»Wir stellen uns in die Schlange«, bestimmte Jardir, nahm Abbans Arm und zog ihn zur Mitte der Reihe, wo die Jungen immer noch schmächtiger waren als der gut ernährte Abban. »Mein Vater sagte immer, dass es schlimmer ist, Schwäche zu zeigen als Schwäche zu fühlen.«

»Aber ich weiß nicht, wie man kämpft«, protestierte Abban, der am ganzen Leib zitterte.

»Dann wirst du es jetzt lernen«, bemerkte Jardir. »Wenn ich jemanden niederschlage, lässt du dich mit deinem ganzen Gewicht auf ihn fallen.«

»Ja, das kann ich«, nickte Abban. Jardir nahm mit Abban im Schlepptau Kurs auf einen Burschen, der herausfordernd die Zähne fletschte. Er warf sich in die Brust und baute sich vor Abban auf, dem größeren der beiden Jungen.

»Hinten anstellen, ihr neuen Ratten!«, fauchte er.

Jardir sagte nichts, sondern boxte den Jungen in den Bauch und trat nach seinen Knien. Als er umkippte, war Abban an der Reihe und stürzte auf den Burschen herab wie eine Sandsteinsäule. Noch ehe Abban wieder aufstehen konnte, hatte Jardir bereits den Platz des Jungen in der Schlange eingenommen. Er funkelte die hinter ihm stehenden Knaben finster an, die prompt beiseiterückten und Abban ebenfalls den Vortritt ließen.

Eine einzige Schöpfkelle voller Schleimsuppe war ihre Belohnung. »Ist das alles?«, fragte Abban entsetzt. Der Servierer maß ihn mit einem vernichtenden Blick, und Jardir bugsierte seinen Freund eilig weg. Die Ecken des Raums waren bereits von den älteren Jungen mit Beschlag belegt worden, deshalb zogen sie sich an eine der Wände zurück.

»Ich werde noch verhungern«, prophezeite Abban und schwenkte die wässrige Suppe in seiner Schale.

»Uns geht es immer noch besser als ein paar anderen«, meinte Jardir und zeigte auf zwei bunt und blau geprügelte Jungen, die überhaupt kein Essen abbekommen hatten. »Ich gebe dir etwas von meiner Suppe ab«, fügte er hinzu, als Abban immer noch finster dreinschaute. »Zu Hause habe ich auch nicht viel mehr gekriegt. «

Sie schliefen auf dem Sandsteinboden in der Kaserne, nur mit dünnen Decken vor der Kälte geschützt. Jardir, der daran gewöhnt war, sich an seiner Mutter und seinen Schwestern zu wärmen, schmiegte sich eng an Abbans molligen Leib. In der Ferne ertönte das Horn des Sharak und er wusste, dass die Krieger sich zum Kampf sammelten. Es dauerte lange, bis er einschlief, und dann träumte er von Ruhmestaten.

Mit einem Ruck wachte er auf, als eine dünne Decke über sein Gesicht geworfen wurde. Er sträubte sich nach Kräften, aber das Tuch wurde hinter seinem Kopf zusammengerafft und festgehalten. Neben sich hörte er Abbans gedämpfte Schreie.

Von allen Seiten prasselten Schläge auf ihn ein, Fußtritte und Boxhiebe trieben ihm die Luft aus den Lungen und rüttelten seinen Kopf durch. Jardir ruderte mit Armen und Beinen wild um sich, doch obwohl er spürte, dass er gelegentlich jemanden traf, trug seine Gegenwehr nicht dazu bei, den Angriff zu mildern. Bald sank er kraftlos zusammen, nur noch von der erstickenden Decke gestützt.

Als er glaubte, er sei am Ende und müsse ganz gewiss sterben, ohne ein Anrecht auf das Paradies oder Ehre errungen zu haben, höhnte eine vertraute Stimme: »Willkommen im Kaji’sharaj, ihr Rattenpest!« Das »s« blies Hasik als Pfeifton durch seine Zahnlücke. Die Decken wurden weggezerrt und auf den Boden geworfen.

Die anderen Jungen bogen sich vor Lachen und kehrten zu ihren eigenen Schlafstätten zurück, während Jardir und Abban zusammengekrümmt in der Dunkelheit lagen und weinten.

»Stell dich gerade hin!«, zischte Jardir, als sie auf den morgendlichen Appell warteten.

»Ich kann nicht«, wimmerte Abban. »Ich hab die ganze Nacht kein Auge zugekriegt, und mir tut alles weh.«

»Lass dir nichts anmerken«, riet Jardir. »Mein Vater sagte immer, das schwächste Kamel zieht die Wölfe an.«

»Und mein Vater sagte, ich solle mich verstecken, bis die Wölfe weg wären.«

»Mund halten!«, bellte Kaval. »Der dama kommt, um euch erbärmliche Wichte zu begutachten.«

Er und Qeran nahmen keine Notiz von ihren Blessuren und Prellungen, als sie an ihnen vorbeistapften. Jardirs linkes Auge war fast zugeschwollen, aber das Einzige, was den Exerziermeistern auffiel, war Abbans krumme Haltung. »Steh gerade!«, schnauzte Qeran, und Kaval verlieh dem Befehl Nachdruck, indem er seinen Lederriemen über Abbans Beine zog. Abban schrie vor Schmerzen auf und wäre beinahe umgefallen, doch Jardir hielt ihn noch rechtzeitig fest.

Jemand kicherte, und Jardir knurrte Hasik wütend an, der daraufhin nur blöde grinste.

In Wahrheit fühlte sich Jardir fast genauso zerschunden wie Abban, aber er weigerte sich, Anzeichen von Schwäche zu zeigen. Obwohl ihm schwindelig war und jeder Knochen in seinem Leib schmerzte, drückte Jardir das Kreuz durch und blickte mit seinem unversehrten Auge hellwach drein, als dama Khevat sich näherte. Die Exerziermeister machten Platz für den Geistlichen und verneigten sich respektvoll.

»Es ist eine Schande, dass die Krieger des Kaji, die dem Geschlecht des Shar’Dama Ka, des Erlösers höchstselbst, entstammen, solche traurigen Elendsgestalten sind«, spottete der dama und spuckte in den Staub. »Eure Mütter müssen den Samen von Männern mit Kamelpisse vermischt haben.«

»Das ist eine Lüge!«, brüllte Jardir impulsiv. Abban glotzte ihn erschrocken an, aber diese Beleidigung hatte das Maß des Erträglichen überschritten. Als Qeran blitzschnell auf ihn zu sprang, wusste Jardir, dass er einen schweren Fehler gemacht hatte. Der Riemen des Exerziermeisters brannte wie Feuer auf seiner nackten Haut, und durch die Wucht des Hiebes wurde er zu Boden geworfen.

Aber das genügte dem dal’Sharum nicht. »Wenn der dama sagt, dass du aus Pisse gezeugt wurdest, dann ist das so!«, schrie er und schlug immer wieder auf Jardir ein. Nur mit seinem Bido bekleidet, konnte der nichts unternehmen, um sich gegen die Schläge zu wehren. Jedes Mal, wenn er sich verbog oder wegdrehte, um eine verletzte Stelle zu schützen, fand Qeran ein neues Stück Haut, auf das er einprügeln konnte. Jardir heulte vor Schmerzen, aber das stachelte den wutentbrannten Exerziermeister nur weiter an.

»Genug«, rief Khevat schließlich, und sofort hörten die Prügel auf.

»Bist du aus Pisse gezeugt?«, fragte Qeran.

Jardirs Gliedmaßen waren weich wie nasses Brot, als er sich auf die Beine quälte. Er starrte auf den hoch erhobenen Riemen, der jederzeit wieder zuschlagen konnte. Ihm war klar, dass der Exerziermeister ihn töten würde, wenn er nicht klein beigab. Dann würde er einen ehrlosen Tod finden, und sein Geist musste jahrtausendelang zusammen mit den khaffit vor den Toren des Paradieses ausharren und neidvoll all die betrachten, die sich in Everams Umarmung sonnten, bis ihm eine Wiedergeburt vergönnt war. Er fand diese Vorstellung erschreckend, aber der Name seines Vaters war das Einzige, was er auf der Welt hatte, und den würde er niemals verraten.

»Ich bin Ahmann, Sohn des Hoshkamin aus dem Geschlecht des Jardir«, erwiderte er so ruhig, wie er konnte. Er hörte, wie die anderen Jungen nach Luft schnappten, und wappnete sich gegen den nächsten Angriff.

Qerans Gesicht verzerrte sich vor Wut und er packte den Riemen, aber eine knappe Geste des dama hielt ihn in Schach.

»Ich kannte deinen Vater, Junge«, erklärte Khevat. »Er stand seinen Mann, aber während seines kurzen Lebens errang er keinen Ruhm.«

»Dann werde ich Ruhm für uns beide erringen«, versprach Jardir.

Der dama stieß ein Grunzen aus. »Eines Tages mag es dazu kommen«, erwiderte er, »aber nicht heute. Heute bist du bedeutungsloser als ein khaffit.« Er wandte sich an Qeran. »Wirf ihn in die Jauchegrube, damit richtige Männer auf ihn scheißen und pissen können.«

Der Exerziermeister schmunzelte und boxte Jardir in den Bauch, so dass der vornüberkippte. Qeran packte ihn bei den Haaren und schleifte ihn zu der Grube. Als sie an Hasik vorbeikamen, streifte Jardir ihn mit einem Blick und rechnete mit einem höhnischen Grinsen, doch auf dem Gesicht des älteren Jungen, wie auch auf den Gesichtern sämtlicher versammelter nie’Sharum, spiegelte sich eine Mischung aus Fassungslosigkeit und nackter Angst wider.

»Everam sah die kalte Schwärze von Nie und empfand keine Zufriedenheit. Er schuf die Sonne, um Licht und Wärme zu spenden und die Leere zu füllen. Er schuf Ala, die Welt, und ließ sie um die Sonne kreisen. Er schuf die Menschen und Tiere, die ihm dienen sollten, und sah zu, wie Seine Sonne ihnen Leben und Liebe gab.

Aber während der Hälfte der Zeit litt Ala unter der Dunkelheit von Nie, und Everams Geschöpfe waren voller Furcht. Deshalb schuf Er den Mond und die Sterne, die das Sonnenlicht zurückstrahlen sollten, auf dass die Menschen sich in der Nacht daran erinnerten, dass Er sie nicht vergessen hatte.

Das tat Everam, und Er war zufrieden.

Aber Nie hatte einen eigenen Willen. Sie blickte auf die Schöpfung, die Ihre makellose Schwärze störte, und Sie ärgerte sich. Sie streckte die Hand aus, um Ala zu zerstören, aber Everam stellte sich Ihr entgegen und gebot Ihr Einhalt.

Aber Everam hatte nicht schnell genug gehandelt, um Nies Berührung völlig zu verhindern. Die flüchtige Spur, die Sie mit Ihren dunklen Fingern über Seine vollkommene Welt gezogen hatte, verbreitete sich wie eine Seuche. Die tiefe Schwärze Ihrer Boshaftigkeit sickerte über Felsen und Sand, wurde vom Wind davongetragen und schwamm wie ein öliger Fleck auf Alas reinen Wassern. Die Schwärze wälzte sich durch die Wälder und legte sich über das geschmolzene Feuer, das aus dem Inneren der Welt nach oben sprudelte.

Und an solchen Orten fassten die alagai Fuß und gediehen. Kreaturen der Finsternis, mit dem einzigen Daseinszweck, zu zerstören; und die Vernichtung von Everams Geschöpfen war ihre einzige Freude.

Aber wehe, die Welt drehte sich, die Sonne schien warm und hell auf Nies Kreaturen der Kälte und Dunkelheit hinab und tötete sie. Die Lebensspenderin verbrannte die Nicht-Lebenden, und die alagai schrien.

In ihrer Verzweiflung flüchteten sie sich in die Schatten, sanken tief in die Welt hinein und verpesteten ihren innersten Kern.

Dort, in dem finsteren Abgrund, der das Herz der Schöpfung durchdringt, gewann Alagai’ting, die Mutter der Dämonen, an Kraft. Als Dienerin von Nie wartete sie nur darauf, dass die Welt sich wieder drehte, auf dass sie ihre Kinder abermals aussenden konnte, um die Schöpfung zu verwüsten.

Das sah Everam, und Er streckte Seine Hand aus, um das Böse aus Seiner Welt zu tilgen, aber Nie stellte sich Ihm entgegen und gebot Ihm Einhalt.

Titel der englischen Originalausgabe THE DESERT SPEAR Deutsche Übersetzung von Ingrid Herrmann-Nytko

3. Auflage

Deutsche Erstausgabe 09/2010

Redaktion: Charlotte Lungstrass

Copyright © 2010 by Peter V. Brett Copyright © 2010 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Illustrationen: Lauren Cannon

Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

eISBN 978-3-641-04987-4

www.heyne-magische-bestseller.de

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