Der Prinz der Wüste - Peter V. Brett - E-Book

Der Prinz der Wüste E-Book

Peter V. Brett

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Beschreibung

Viele Jahre ist es her, dass die Welt unter den Dämonen der Nacht zu leiden hatte. Kein Mensch, kein Tier war sicher vor ihren Angriffen – bis zu dem Tag, als mit Arlen, Renna, Jardir eine Schar von mutigen Kriegern und Magierinnen den Kampf gegen die Dämonen aufnahm. Seitdem herrscht Frieden. Doch dann dringen unheilvolle Gerüchte an ihre Ohren. Haben einige Dämonen überlebt? Eine neue Generation von Helden muss nun aufstehen, um sich der Furcht und der Gefahr zu stellen …

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Seitenzahl: 1293

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Das Buch

Der größte Feind der Menschen scheint besiegt. Die Dämonen der Dunkelheit wurden in ihrer Festung in den Tiefen der Unterwelt von Arlen, dem Tätowierten Mann, Renna, seiner Frau, und Jardir, dem Anführer der Krasianer und Arlens Freund, im Kampf vernichtet. Seitdem sind fünfzehn Jahre vergangen. Aus den Helden von einst wurden Legenden, und eine neue Generation wächst heran, die an die Schrecken der Nacht nur noch vage Erinnerungen hat.

Olive ist die Tochter von Herzogin Leesha Papiermacher und Jardir. Schon ihr ganzes Leben lang wird sie auf die Nachfolge ihrer Mutter vorbereitet. Doch Olive verbirgt ein wohl gehütetes Geheimnis, und sie wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich selbst über ihr Leben entscheiden zu können. Als sie gemeinsam mit Darin Strohballen, dem Sohn von Arlen und Renna, den Bannkreis der Siegelzeichen übertritt, erleben sie eine Überraschung: ein mächtiger Dämonenfürst hat überlebt - und nun sinnt er auf Rache an allen Völkern der Menschen.

Mit »Der Prinz der Wüste« schlägt Peter V. Brett ein neues Kapitel in seiner weltweit erfolgreichen Dämonensaga auf und erzählt die Geschichte einer neuen Generation von Heldinnen und Helden.

Der Autor

Peter V. Brett, 1973 geboren, studierte Englische Literatur und Kunstgeschichte. Danach arbeitete er zehn Jahre als Lektor für medizinische Fachliteratur, bevor er sich ganz dem Schreiben von fantastischer Literatur widmete. Mit seiner Dämonensaga hat Peter V. Brett die internationalen Bestsellerlisten erstürmt und sich weltweit ein begeistertes Publikum erschrieben. Mit »Der Prinz der Wüste« schlägt er nun ein neues Kapitel dieser Saga auf. Peter V. Brett lebt in Brooklyn, New York.

Mehr zu Autor und Werk unter:

www.petervbrett.com

PETER V. BRETT

Deutsche Erstausgabe

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe

THE DESERT PRINCE

Aus dem Amerikanischen von Ingrid Herrmann-Nytko

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 10/2021

Redaktion: Thomas Salter

Copyright © 2021 by Peter V. Brett

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Illustrationen: Lauren K. Cannon

Karten: Nicolette Caven

Covergestaltung: Nele Schütz Design,unter Verwendung von Shutterstock.com (camilkuo, Dimitrijs Bindemanis)

Ornamente/Kreis: © HarperCollins Publishers 2019

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-19775-9V002

www.heyne.de

Inhalt

1   Ich bin Olive

2   Beides

3   Kompromiss

4   Ich bin Darin

5   Majah

6   Jungs

7   Vertrauensbruch

8   Das Familiengeschäft

9   Der Bunker

10   Ärger

11   Michas Lektion

12   Blutsbande

13   Alte Spielgefährten

14   Gebeine

15   Der Vater

16   General Gared

17   Entführt

18   Der heimliche Prinz

19   Mysterium

20   Auren

21   Fort Krasia

22   Hör niemals auf zu kämpfen

23   Chadan

24   Tikka

25   Haferschleim

26   Waffen

27   Das Erlöschen des Mondes

28   Mauerkronen

29   Männer

30   Grünes Blut

31   Alagai’Sharak

32   Zwei Prinzen

33   Die Prophezeiung des Todes

34   Die Zwillinge

35   Blutsvater

36   Konsequenzen

37   Speer & Olive

38   Bruder

39   Ein seidenes Gefängnis

40   Damajah

41   Abendschatten

42   Staub

43   Sandsturm

44   Oase der Morgendämmerung

45   Eitelkeit

46   Prinz Olive

47   Loyalitäten

48   Harem

49   Fesseln

50   Passagen

51   Das Erlöschen des Mondes

52   Zurückgelassen

53   Nachtschleier

54   Psychospiele

55   Herrschaft

56   Metamorphose

57   Flötenspieler

58   Der lange Weg nach unten

59   Blutvergießen

60   Korrumpiert

61   Die letzte Audienz

62   Der Vater wartet

Stammbaum von Arlen und Jardirs Familien

Krasianisches Lexikon

Grimoire der Siegel und Dämonen

Danksagung

Für Cassandra

1

Ich bin Olive

349 NR

Mein Kopf wird ruckartig zurückgerissen, als Micha in meine Haare greift, um eine Haarsträhne abzuteilen und mein langes, schwarzes Haar zu Zöpfen zu flechten. Daran bin ich gewöhnt. Von klein auf wurde an mir herumgezerrt, damit ich bestimmte Erwartungen erfülle. Ich kenne es nicht anders.

»Halt still«, schnappt Großmutter Elona und tunkt den Schminkpinsel ein weiteres Mal in die Puderdose. »Um ein Haar hättest du was ins Auge bekommen.«

»Wozu mein Gesicht schminken, wenn ich dann eh in einer Zeltplane verhüllt herumlaufen muss«, maule ich.

Elona lacht. »Sich zurechtzumachen ist nie verkehrt.« Und sie meint es so, wie sie es sagt. Großmama sieht immer perfekt aus. Nachdem sie meine Augenlider geschminkt hat, nimmt sie sich die Wimpern vor. »Du bist die Prinzessin des Tals. Mag ja sein, dass du denselben Kartoffelsack anziehen musst wie die anderen Schülerinnen, aber diese Mädchen blicken zu dir auf. Es ist deine Pflicht, die Schönste von ihnen allen zu sein.«

»Obermeisterin Darsy lässt uns heute einen Test in Kräuterkunde schreiben«, sage ich. »Ich brauche Zeit, um meine Notizen mit Selens Aufzeichnungen zu vergleichen.«

»Tsst!«, zischt Micha missbilligend. »Das hättest du schon gestern Abend erledigen müssen, Schwester.«

Micha und ich haben den gleichen Vater, Ahmann Jardir, der auf dem Thron von Krasia sitzt, dem großen und mächtigen Reich im Süden. Thesa und Krasia lagen miteinander im Krieg, bevor ich geboren wurde. Manche Leute behaupten, ich sei der Grund, dass jetzt Frieden herrscht. Mutter tut das als Blödsinn ab, doch dass sie es mir nicht erlaubt, meinen Vater an dessen Hof zu besuchen, stimmt einen schon nachdenklich. Das meiste, was ich über ihn und sein Volk weiß, von dem ich immerhin auch abstamme, habe ich von Micha und meinen Lehrerinnen erfahren.

Micha ist in Krasia aufgewachsen, das merkt man allein schon an ihren schlichten schwarzen Gewändern, die nur ihr Gesicht und ihre Hände unbedeckt lassen. Auch sie hat ihre Wangen gepudert und ihre Lippen geschminkt, doch die Einzigen, die das je zu sehen bekommen, sind die Personen in diesem Raum, und ihre Gemahlin Kendall. Micha ist eine wahre Schönheit, aber sobald sie meine privaten Gemächer verlässt, bedeckt sie die untere Hälfte ihres Gesichts mit dem weißen Schleier, der sie als verheiratete Frau kennzeichnet.

Mit ihren über dreißig Sommern ist Micha doppelt so alt wie ich, und sie war immer mehr mein Kindermädchen als meine Schwester. Die Herzogin nimmt sich immer Zeit, wenn ich mit ihr sprechen will, aber ihre Bediensteten und Berater lauern dauernd in der Nähe herum und geben mir das Gefühl, ich würde bei irgendwelchen dringenden Geschäften stören. Micha ist diejenige, die mich frisiert, mir im Bad den Rücken wäscht und mich überallhin begleitet. Ich liebe sie, und sie liebt mich, doch für sie bin ich immer noch ein Kind, das sie gängeln und bevormunden muss.

»Meine nichtsnutzige Tochter wird dir bei diesem Test wohl kaum eine Hilfe sein«, sagt Großmama. »Selen ist genauso klug, wie sie schön ist, nämlich gar nicht. Außerdem bist du die Tochter der Herzogin. Wen interessiert es, wie du bei einem Test in Kräuterkunde abschneidest?«

»Die Herzogin interessiert es«, sage ich. »Wenn ich nur eine einzige Frage falsch beantworte … bei der Nacht, sogar wenn ich die richtige Antwort gebe, aber sie ist nicht richtig genug, krieg ich was zu hören.«

Großmama gluckst in sich hinein. »Ay, das klingt ganz nach meiner Leesha. Trotzdem finde ich, du solltest dich mehr vor deinem Kampftraining fürchten als vor dieser Kräuterkunde. Der blaue Fleck auf deiner Wange lässt sich gerade so noch mit Puder verdecken.«

»Selen hat einen Glückstreffer gelandet.« Das ist die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze Wahrheit. Selen landet ständig Glückstreffer. Sie ist Hauptmann Wondas Vorzeigeschülerin. »Über Nacht war er so gut wie abgeheilt.«

»Aber sehen kann man ihn trotzdem noch.« Großmama muss immer das letzte Wort haben, auch wenn sie im Unrecht ist. »Doch darum geht es ja gar nicht. Auf Schritt und Tritt begleiten dich Leibwächter. Wozu prügelst du dich überhaupt noch auf dem Trainingsplatz?«

»Sharusahk macht mehr Spaß als Kräuterkunde«, sage ich. »Zumindest bin ich gut im Kämpfen.«

»Im Laufe der Jahre habe ich viele Leute kennengelernt, die gut im Kämpfen waren«, sagt Großmama. »Komisch, wie wenige von denen noch am Leben sind.«

»Eine Prinzessin ist immer gefährdet, dafür sorgen schon die Feinde ihrer Familie«, wirft Micha ein. »Eines Tages sind ihre Leibwächter vielleicht nicht in ihrer Nähe, und dann muss Olive sich selbst verteidigen können.«

Ich widerstehe dem Drang, mit den Augen zu rollen. Was weiß das Kindermädchen Micha schon vom Kämpfen? Sie kann ja noch nicht mal einen Käfer tottreten. Sie isst nicht mal Fleisch. »Du bist doch auch eine Prinzessin. Warum hast du niemals kämpfen gelernt?«

»Der Stamm der Kaji hat viele Prinzessinnen«, sagt Micha. »Sollte mir etwas zustoßen, dann gibt es Dutzende von ihnen, die meinen Platz einnehmen können. Das Talherzogtum hat nur dich als Nachfolgerin für deine Mutter.«

Ihre Stimme ist nicht traurig – sie klingt, als würde sie über das Wetter reden. Trotzdem belasten mich ihre Worte. Michas Mutter stand in der Hackordnung der vielen Ehefrauen ihres Vaters ganz weit unten. Sie selbst war nicht viel älter als ich, als man sie von den berühmten Sommerpalästen Krasias in das kalte, verregnete Thesa schickte, zu einem einstmals feindlich gesinnten Volk. Und all das, damit sie sich um ihre jüngste Schwester kümmern konnte.

Verabscheut sie ihr Leben im Exil? Ich würde mich ganz sicherlich nicht damit abfinden, aber Micha hat sich noch nie auch nur andeutungsweise anmerken lassen, dass sie unzufrieden ist. Im Gegenteil, sie scheint hier glücklicher zu sein als ich.

»Fertig«, verkündet Micha.

»Ich bin auch fertig.« Elona trägt einen letzten Pinselstrich Rot auf meine Lippen auf. »Lippen zusammenpressen.«

Ich drücke die Lippen aufeinander, um die Farbe zu verteilen, und blicke dabei in den Spiegel. Trotz all meines Geredes, wie sehr ich in Eile bin, muss ich unwillkürlich lächeln, als ich Großmamas Werk bewundere. Ich habe ein ziemlich gutes Händchen mit dem Schminkpinsel, aber Elona – die sonst nicht viel vom Arbeiten hält – ist eine richtige Künstlerin, wenn es ums Schminken geht. Ich habe die olivbraune Haut meines Vaters, die so weit im Norden ungewöhnlich ist, aber Elona hat den Farbton perfekt getroffen. Meine Haut hat einen samtigen Schmelz, und meine hohen Wangenknochen und das spitze Kinn sind vorteilhaft betont. Dabei sieht alles ganz natürlich aus.

Blaue Augen sind in Krasia eine Seltenheit, aber sie kommen vor. Jemand aus Vaters Familie muss blaue Augen gehabt haben, denn meine leuchten in demselben Himmelblau wie die von Elona. Sie bilden einen reizvollen Kontrast zu meinem dunklen Teint. Obendrein hat Elona Lidschatten aufgetragen und die Wimpern getuscht, sodass meine Augen funkeln wie zwei blaue Sterne.

Die Zöpfe, die Micha geflochten hat, bilden auf meinem Kopf eine Krone und sind im Nacken zu einem langen Zopf verwoben. Die Frisur ist elegant genug, um sogar die Herzogin zufriedenzustellen, und trotzdem geeignet für ein paar Trainingsrunden sharusahk.

»Für’s Frisieren hast du ein Händchen, Mädchen.« Elona streckt die Hand aus und zupft an Michas Kopftuch. »Trotzdem versteckst du deine Haare wie eine Waschfrau.«

Micha mag es nicht, wenn jemand ihr Kopftuch berührt, aber sie sagt nichts, sondern weicht einfach ein paar Schritte zurück. Manchmal glaube ich, ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der sich nicht vor Großmama Elona fürchtet. »Du weißt genau, warum ich meine Haare bedecke.«

Natürlich weiß Elona das, doch das macht für sie keinen Unterschied. Großmama fühlt sich immer dann am wohlsten, wenn sie über etwas spricht, das allen anderen Unbehagen bereitet.

»Ay«, schnaubt sie, »es schickt sich nicht, Männer mit etwas zu reizen, das sie nicht haben dürfen. Aber genau das ist doch der Sinn der Sache. Man kann einen Mann nur um den kleinen Finger wickeln, wenn man ihm den Mund wässerig gemacht hat.«

»Ich will keinem Mann gefallen«, sagt Micha.

»Nein, aber einer Frau.« Elona lacht. »Wie geht es übrigens Kendall?«

Normalerweise ist Micha nicht schüchtern, aber sie gibt sich zurückhaltend, wenn jemand auf ihre Ehefrau zu sprechen kommt. Kendall Dämonenlied ist Mutters herzoglicher Herold. Sie hat ein fröhliches, überschwängliches Naturell und trägt knallbunte Kleidung mit einem Zuschnitt, den die so sittsame Micha anstößig finden müsste. Aber die beiden Frauen sind bis über beide Ohren ineinander verliebt. Kein anderes Paar, das ich kenne, ist einander so zugetan.

Micha senkt den Blick. »Meine jiwah«, sie benutzt den krasianischen Ausdruck für Ehefrau, »befindet sich wohlauf. Danke der Nachfrage.«

Sie hält ein grob gewebtes dunkelblaues Kleid hoch, damit ich hineinschlüpfen kann. Es ist die vorgeschriebene Tracht für Kräutersammlerinnen in der Ausbildung. Der Stoff ist von einfachster Machart und schmutzabweisend, dazu gedacht, die Trägerin zu wärmen. Auf Behaglichkeit wurde kein Wert gelegt.

Das Tuch kratzt auf der Haut. Ich hasse das Kleid und alles, wofür es steht. Nämlich für das, was ich nicht bin. Bei der Nacht, manchmal weiß ich selbst nicht, wer ich bin, ich weiß nur, dass ich quasi ständig gegen den Strich gebürstet werde.

Ich schlüpfe in bequeme braune Segeltuchschuhe, zweckmäßige Treter, die sich sowohl für die Gartenarbeit als auch für die Aufgaben in der Akademie eignen.

Ich kenne jeden Schuhmacher im Tal beim Namen und besitze ein ganzes Zimmer voller Schuhe. Stiefel und Sandalen, mit hohen Absätzen und flachen Sohlen. Die passenden Schuhe für jede Garderobe und jeden Anlass, aus glänzend poliertem Leder, feinster Seide oder Schlangenhaut.

Aber an den meisten Tagen muss ich Segeltuch tragen, denn so hat Mutter sich auch gekleidet, als sie vor dreißig Sommern bei einer Kräutersammlerin in die Lehre ging.

»Augen zu.« Großmutter sprüht eine Wolke Parfüm in die Luft und ich marschiere hindurch, wie sie es mir beigebracht hat. »Die Leute sollen sich nicht das Maul darüber zerreißen, wie die Prinzessin des Tals nach dem sharusahk-Training riecht.«

»Quatsch«, sage ich. »Mein Schweiß riecht nach Rosen und Zimt.«

Großmama lacht gackernd und zieht den Stoff meines Kleides an den Schultern glatt. »Sogar in einem Kartoffelsack bist du immer noch das schönste Mädchen im Tal, wie früher deine Mum.« Sie zwinkert mir zu. »Und davor deine Großmama.«

»Du bist immer noch die Schönste«, sage ich, nur halb im Scherz. Großmama ist über sechzig, aber ihr Haar ist immer noch schwarz wie die Nacht. Zu ihrer hellen, glatten Haut sieht es fantastisch aus. Sicher, sie benutzt Schminke, Färbemittel und trägt tief ausgeschnittene Kleider, um ihre Reize zu betonen, doch das macht jede andere Frau bei Hofe auch. Doch selbst die jüngeren ziehen nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich wie Elona Papiermacher.

»Charmant wie ein Jongleur.« Elona packt mich bei den Armen, beugt sich vor und tut so, als würde sie meine Wangen küssen. Natürlich passt sie auf, dass sie den Puder auf meinem Gesicht nicht verschmiert. Großmutter fetzt sich mit allen Frauen, aber aus irgendeinem Grund streitet sie niemals mit mir, und darüber bin ich sehr froh.

Ich schnappe mir meine Bücher und eile aus dem Zimmer, gefolgt von Elona und Micha.

Unten in der Halle wartet meine Tante Selen. Sie ist drei Monate jünger als ich. Man hatte unsere Wiegen im selben Raum aufgestellt, und seitdem sind wir beide unzertrennlich.

Außer mir ist Selen der einzige Mensch, den ich kenne, der seine Existenz einem unerhörten Skandal verdankt. Großmamas Verhältnis mit General Gared ist der Stoff, aus dem Jongleure ihre Geschichten spinnen, und um ein Haar wären zwei Ehen daran zerbrochen. Großpapa Erny scheint sich damit abgefunden zu haben. Von Selens Stiefmutter Emelia kann man das wohl eher nicht behaupten.

Großmama wirft einen Blick auf Selens Frisur und rümpft die Nase. Elonas Haar glänzt und ist schwarz wie die Nacht. Von General Gared heißt es, in seiner Jugend sei er blond gewesen. Selens Haare sind ungleichmäßig gefärbt, an manchen Stellen strohgelb, an anderen braun. »Hätte deine Zofe deine Haare vor dem Flechten nicht erst kämmen können, damit deine Zöpfe nicht wie ein Vogelnest aussehen?«

»Wo sollten dann die Vögel nisten?« Selen kann ihrer Mutter nichts recht machen, deshalb hat sie gelernt, Gefallen am Missfallen ihrer Mutter zu finden. Sie wendet sich an mich. »Hast du die Herzogin wegen der Studienfahrt gefragt?«

Die Exkursion findet einmal im Jahr zur Sommersonnenwende statt, um Jugendlichen, die volljährig werden, die Gelegenheit zu geben, entlegene Gebiete des Herzogtums kennenzulernen. Sie besuchen jedes der kolossalen Großsiegel, die das Tal vor den Dämonen schützen, ehe sie deren Schutz verlassen und sich in die gefährlichen Grenzgebiete hineinwagen.

»Sie bleibt zu Hause, und dasselbe gilt für dich.« Großmama klingt wütend. Das Einzige, was sie noch mehr erbost als Widerworte, ist, übergangen zu werden. »Alles, was ihr braucht, findet ihr hier in der Hauptstadt, sogar heißes Wasser aus der Leitung. Sich anzuschauen, wie ungewaschene Dorftrottel leben, wird stark überschätzt, und kommt mir bloß nicht damit, wie toll es ist, auf dem blanken Erdboden zu schlafen.«

»Aber es wird aufregend sein.« Selen nimmt weiterhin keine Notiz von ihrer Mutter, um sie zu provozieren. »Wer weiß, vielleicht begegnen wir sogar einem Dämon!«

Ich verdrehe die Augen. Im Laufe der Jahre haben Selen und ich mit vielen Leuten gesprochen, die diese Studienfahrt mitgemacht haben, und keiner hat mehr gesehen als einen Busch, der von einem Windstoß durchgerüttelt wird. Jeder weiß, dass die Dämonen im Krieg ausgerottet wurden.

»Als ich so alt war wie ihr, gab es keine Großsiegel«, sagt Elona. »Ich hab so viele Dämonen gesehen, dass es für ein ganzes Leben reicht. Ihr verpasst nicht viel.«

Selen verschränkt die Arme vor der Brust. »Dad hat es mir schon erlaubt.«

»Ay, ist das so?« Elona stemmt die Hände in die Hüften. »Das wollen wir doch mal sehen.«

»Er sagt, du kannst gern zu ihm kommen, wenn du mit ihm darüber sprechen willst.« In Selens Augen blitzt der Schalk, als Großmamas Miene noch wütender wird. Beide wissen, dass Elona es nicht wagen würde, Generals Gareds Haus zu betreten. Die einzige Person, die es mit Großmama aufnehmen kann, ist Selens Stiefmutter Emelia.

»Früher oder später muss er sich aus der Deckung wagen«, knurrt Elona, aber dann lässt sie das Thema fallen, dreht sich auf dem Absatz um und stapft davon. Hinter ihrem Rücken macht Selen eine obszöne Geste.

»Tsst«, zischt Micha. »Der Evejah lehrt uns, dass Schadenfreude einen Sieg schmälert und Everam dazu veranlasst, uns eine Lektion in Demut zu erteilen.«

»Ay, das mag ja sein«, stimmt Selen zu. »Aber bei der Nacht, es ist ein schönes Gefühl.«

»Ich weiß nicht, warum du andauernd Streit mit ihr anfängst«, sage ich zu Selen, während wir nach draußen auf den Hof hetzen.

»Vielleicht würdest du gelegentlich auch mal deinen Willen durchsetzen, wenn du streiten würdest«, sagt Selen.

Eine Kutsche steht bereit, um uns zur Akademie der Kräutersammlerinnen zu bringen. Hauptmann Wonda Holzfäller, die Mutters Hauswache anführt, plaudert mit dem Kutscher.

»Morgen, Olive.« Wonda schenkt mir ein warmes Lächeln. Sie hat kleine Augen, eine mehrfach gebrochene Nase und ein derbes, vernarbtes Gesicht. Wonda ist größer als die meisten Männer im Tal der Holzfäller, von denen fast alle Hünen sind. Selbst in Friedenszeiten nimmt sie ihre Pflichten sehr ernst, trägt ständig ihren hölzernen Brustharnisch und jede Menge Waffen.

Auf dem Rücken trägt sie einen Köcher voller Pfeile und ihren Bogen. Die Sehne hat sie abgenommen, aber ich habe gesehen, wie schnell sie ihn spannen kann, wenn sie einen Angriff befürchtet, und bei jedem Sonnenwendfest gewinnt sie den ersten Preis im Bogenschießen. An einem Gürtel hängt ein langes Messer, das ihr bis auf den Oberschenkel reicht, und quer über dem Bogen steckt in einer Halterung ein Speer. Nicht einer dieser eleganten Speere, wie man sie für Schaukämpfe bei irgendwelchen Festlichkeiten benutzt, sondern eine kurze, brutale Waffe, die nur einem Zweck dient. Im Flüsterton erzählt man sich immer noch, welche Heldentaten Wonda im Dämonenkrieg vollbracht hat.

Sie blickt sich verstohlen um, dann fasst sie in eine Tasche und holt zwei kleine, in Papier eingewickelte Klumpen hervor. »Ich hab euch beiden Bonbons mitgebracht. Aber verpetz mich bloß nicht bei deiner Mum.«

Das Geschenk verrät alles über Hauptmann Wonda, was man über sie wissen muss. Sie liebt uns, würde ihr Leben für uns geben, doch für sie werden wir immer Kinder bleiben.

»Sonnig!« Selen schnappt sich ihr Bonbon, wickelt es in Windeseile aus und stopft es sich hastig in den Mund.

»Danke, Won.« Ich nehme mein Bonbon und stecke es in eine Tasche meines Kleides. Wonda ist enttäuscht, weil ich nicht Selens Beispiel folge und die Süßigkeit sofort verputze, das sehe ich ihr an. Und es tut mir leid, wenn ich sie vor den Kopf stoße. Ich liebe Wonda und will, dass sie glücklich ist, aber ich bin kein Kind mehr.

»Was tust du hier?«, frage ich sie. Normalerweise ist Wondas Platz an der Seite meiner Mutter.

»Oh, ay«, Wonda massiert sich den Nacken und wendet den Blick von mir ab. »Ich kam nur zufällig vorbei und hab die Kutsche gesehen. Dachte mir, bei der Gelegenheit könnte ich euch kurz begrüßen.«

Sie lügt ganz offensichtlich, aber ich hake nicht nach. Hauptmann Wonda stellt sich nicht sonderlich geschickt dabei an, Mutters Geheimnisse zu hüten, doch meistens hält sie dicht.

Wonda rüstet sich zum Gehen, dann hält sie inne, als sei ihr im letzten Moment noch etwas eingefallen. »Ach, übrigens, später schaut deine Mum in der Akademie vorbei.« Ohne eine Antwort abzuwarten, dreht sie sich um und marschiert zügig die Treppe hinauf. »Wir sehen uns dann beim Training.«

»Was war das denn?«, wundert sich Selen.

»Eine Warnung«, sage ich.

Der neue Stallbursche, Perin, stellt die Trittstufen auf, sodass wir in die Kutsche steigen können. Perin ist sehr groß und hat ein männliches, ausgeprägtes Kinn. Immer wieder ertappe ich mich dabei, dass ich es anstarre. Großmama hat ihn mit einem jungen Hengst verglichen und sah dabei ganz lüstern aus.

Selen zwinkert ihm zu, als er den Wagenschlag schließt.

»Was war das?«, frage ich.

»Was war was?« Selens Lippen zucken, sie kann kaum ihr Lächeln verbergen.

Ich nicke leicht in Michas Richtung und hebe fragend eine Augenbraue. Meine Schwester ist nicht über Klatsch und Tratsch erhaben, aber jeder weiß, dass sie alles, was Selen oder ich machen, Mutter weitererzählt.

Selen zuckt mit den Schultern, und das Lächeln breitet sich über ihr Gesicht aus. »Gestern haben wir uns drei Stunden lang geküsst.«

Ich reiße die Augen auf. »Nein, das kann doch wohl nicht wahr sein!«

»Tsst!« Micha rümpft die Nase. »Der Bursche mistet die Ställe aus. Er wäre kein passender Ehemann für dich.«

»Ich suche keinen Ehemann«, lacht Selen. »Nur jemanden zum Küssen.«

Ich wende mich an Micha. »Bitte, verrate Mutter nichts.«

»Pah!« Micha wedelt mit der Hand. »Würde ich jedes Mal, wenn Selen einen Jungen küsst, zu deiner Mutter laufen, käme ich zu nichts anderem mehr.«

Selen gibt ein bellendes Lachen von sich. Ich runzle die Stirn, ich beneide sie um ihre Freiheit. Man könnte meinen, Micha sei unser gemeinsames Kindermädchen, da sie sich um uns beide gekümmert hat, seit wir noch Windeln trugen, aber Micha ist für mich verantwortlich, nicht für Selen. In meinem Fall hätte sie so ein Geheimnis nicht für sich behalten, geschweige denn mir die Gelegenheit gegeben, einem Jungen so nahe zu kommen. Ich glaube, ich bin das einzige Mädchen in unserer Klasse, das noch nie einen Jungen geküsst hat. Selen dagegen … nun ja, mit dem Zählen komm ich gar nicht mehr nach.

Ich drücke mein Buch über Kräuterkunde an die Brust und starre aus dem Kutschenfenster.

Selen stupst meine Schulter an. »Ay, was hast du?«

»Nichts«, sage ich, aber Selen verschränkt die Arme. Sie kennt mich zu gut.

»Dämonenscheiße.«

Sie möchte mit mir darüber reden. Wir haben schon tausendmal darüber diskutiert, aber Micha hört uns zu. »Ich bin nur nervös wegen der Prüfung.«

Selen blinzelt. »Was für eine Prüfung?«

»Obermeisterin Darsy lässt mindestens alle zehn Tage einen Test schreiben. Ohne Vorankündigung«, sage ich. »Und seit dem letzten sind genau zehn Tage vergangen.«

Selens Mundwinkel kräuseln sich. »Also könnte es vielleicht einen Test geben.«

Meine Unruhe von heute Morgen wallt wieder auf. Wonda sagt, Mutter würde der Akademie einen Besuch abstatten. Nach einer Prüfung nimmt Mutter sich immer die Zeit, um meine Fehler mit mir »durchzusprechen«.

»Ich bin nicht vorbereitet«, sage ich. »Ich möchte unsere Aufzeichnungen vergleichen, keine Geschichten übers Küssen hören.«

Selen seufzt. »Zehn Minuten Pauken nützt uns beiden nichts. Du bist besser in solchen Dingen, als du glaubst. Irgendwie wirst du dich schon durchwursteln.«

»Durchwursteln reicht nicht.«

Selen verdreht die Augen. »Die Herzogin wird von dir enttäuscht sein, ganz gleich, wie du abschneidest. So sind Mütter nun mal.« Selens Stimme schraubt sich in die Höhe, als sie Elonas anmaßenden Tonfall perfekt imitiert. »Du musst fleißig studieren und einen Beruf erlernen, Mädchen, denn eine Schönheit bist du nicht.«

»Das ist totaler Blödsinn«, sage ich. Mit ihrem kräftigen Kinn und den breiten Schultern kommt Selen nach ihrem Vater. Ich bin größer als die meisten Jungen unseres Alters, aber Selen überragt mich noch um ein paar Zoll, und ihre Arme und der Rücken strotzen vor Muskeln. Puder und Schminke lehnt sie nachdrücklich ab, und schafft Großmama es doch einmal, sie in den Schminkstuhl zu zwängen, schrubbt sie sich bei der erstbesten Gelegenheit das Gesicht wieder sauber.

Selen ist vielleicht nicht schön, aber sie ist durchaus ansehnlich, und nur Großmama in ihrer maßlosen Eitelkeit findet sie reizlos.

»Ist es nicht«, sagt Selen. »Du warst immer die Hübsche, aber ich mag es, wie ich aussehe. Und es gibt jede Menge Jungs, die sich drum reißen, mich küssen zu dürfen, was kümmert es mich da, was Mum denkt? Du wärst auch glücklicher, wenn du endlich aufhören würdest, deiner Mutter alles recht machen zu wollen.«

Ich blicke sie von oben herab an. »Was der General von dir hält, ist dir aber nicht egal.«

Selen schnaubt unfein durch die Nase. »Ay, und trotzdem tue ich, was ich will. Gestern, als ich Perin im Stall küsste, kam Dad hereinmarschiert, um Bergsturz einen Apfel zu geben.«

Ich glotze sie an, und Selen setzt eine triumphierende Miene auf. Jetzt hat sie meine volle Aufmerksamkeit. »General Holzfäller hat dich beim Knutschen ertappt?« Ich wundere mich, warum Perin nicht im Hospital liegt.

Selen zieht die Nase kraus. »Es hat nicht viel gefehlt. Ich hab mich an dem einzigen Ort versteckt, an dem er nicht nachschauen würde.«

Ich halte mir die Augen zu. »Beim Schöpfer, nein!«

»Hinter dem Misthaufen!« Selens Grinsen ist ansteckend. »Als ich wieder rauskam, hab ich gestunken wie ein Jauchewagen, da ist Perin die Lust aufs Küssen vergangen.«

Micha prustet los, und ich brülle vor Lachen. Einen Augenblick lang vergesse ich die Klassenarbeit, ich vergesse meine Mutter und weiß wieder, warum ich Selen so liebe. Sie muss beinahe geplatzt sein, sich mit dieser Geschichte zurückzuhalten, während ich wegen einer Prüfung jammere, die vielleicht gar nicht stattfinden wird.

»Schleichst du dich wieder in die Ställe, um ihn zu treffen?« Ich hasse mich, weil ich immer so aufgeregt bin, wenn ich mir Selens Geschichten anhöre. Ich wünschte, ich hätte selbst etwas Spannendes zu erzählen.

»Ach wo!« Selen schnippt mit dem Finger. »Ich kann meiner Wäscherin doch nicht dauernd erklären, warum mein bestes Kleid nach Pferdemist riecht.«

»Ay?« Ich kann meine Enttäuschung nicht verbergen. »Perin ist sicher nicht das hellste Siegel in einem Bannzirkel, aber er sieht umwerfend aus.«

Selen zuckt mit den Schultern. »Geküsst hab ich ihn schon. Der erste Kuss ist immer der schönste. Beim zweiten fangen sie an zu reden, und von da an werden sie lästig.«

Ich unterdrücke einen Anflug von Neid und schüttle den Kopf. »Für deine fünfzehn Sommer hast du ja jede Menge Erfahrung.«

»Sagt das Mädchen, das noch nie einen Jungen geküsst hat.« Selen wollte witzig sein, doch sie sieht den Ausdruck auf meinem Gesicht, und ihre spöttische Miene verfliegt.

»Ich kann nicht wie du rumlaufen und Jungs küssen«, sage ich.

»Nicht nur Jungs«, erinnert sie mich. »Weißt du noch, wie ich Sandy Weide Unterricht im Küssen gab und sie uns danach mindestens zwei Wochen lang nachdackelte?«

»Vielleicht, weil du ihr auch weiterhin Unterricht gegeben hast?«, mutmaße ich.

Selen grinst anzüglich. »Ay, da könntest du recht haben. Aber aus dir spricht die Herzogin, das ist dein Problem. Junge Leute sollten nicht auf ihre Eltern hören, sondern sich treffen, um sich heimlich zu küssen. Ich mach das so. Warum tust du das nicht auch?«

Mein Blick wandert zu Micha, die zumindest die Höflichkeit besitzt, aus dem Kutschenfenster zu starren. Ich kann mich nicht erinnern, wann das letzte Mal ein Junge meines Alters auch nur in meine Nähe kam, ohne dass sie sofort eingeschritten wäre.

Aber es liegt nicht nur daran, dass Micha und Mutter mich von allem abschirmen. Es geht auch nicht darum, wie im Palast getratscht würde, wenn man die Tochter der Herzogin dabei erwischte, wie sie den Stallburschen küsst.

Der Grund ist, dass es nicht beim Küssen bleibt.

2

Beides

339 NR

Ich will richtig kämpfen, nicht immer nur gegen die leere Luft. Ich brauche einen Gegner.«

Die Forderung war nur vernünftig. Ich war es leid, ständig allein sharukin zu üben, ohne zu wissen, wie man diese Abfolge geschmeidiger Bewegungen in einem Kampf einsetzt.

Damals war ich gerade fünf.

»Das kommt gar nicht in Frage«, sagte Mutter.

»Der General hat es Selen erlaubt.« Ich sprach die Worte triumphierend aus, in der festen Überzeugung, Mutter in eine logische Falle gelockt zu haben.

Sie wedelte bloß mit der Hand. »Es interessiert mich nicht, was Gared Holzfäller sagt. Er ist nicht dein Vater.«

»Selens Bruder Steave ist ihr Partner beim Sparring.« Ich bemühte mich, nicht zu klingen als würde ich betteln, doch ich wusste bereits, dass ich verloren hatte. »Und er ist erst drei.«

Mutter fing an, sich die Schläfe zu massieren – immer ein schlechtes Zeichen. »Das billige ich genauso wenig, aber bei Jungen ist das etwas anderes.«

»Warum?«, wollte ich wissen. »Weil er einen Piepmatz hat? Ich hab auch einen. Wieso bin ich kein Junge?«

Selbst jetzt noch kann ich mich erinnern, wie sich die normalerweise gelassenen Züge meiner Mutter plötzlich verspannten. »Ach, Schätzchen. Möchtest du denn ein Junge sein?«

Darauf wusste ich keine Antwort. Zumindest keine, von der ich glaubte, damit meinen Willen durchsetzen zu können. Doch ich spürte, wie Mutters Entschluss ins Wanken geriet. Ich verschränkte die Arme und konzentrierte mich auf mein Ziel. »Ich will richtig kämpfen. Gegen einen Sparringspartner.«

Aber Mutter war mit ihren Gedanken ganz woanders. Sie kniete nieder, um mit mir auf gleicher Höhe zu sein. Die Krone aus mit Siegeln verziertem Elektron glitzerte in ihrem Haar. Sie streichelte mein Gesicht und blickte mich ernst und ein bisschen traurig an.

»Ob du einen Sparringspartner bekommst, hat nichts damit zu tun, ob du ein Mädchen oder ein Junge bist«, sagte Mutter. »Heutzutage nimmt man solche Dinge nicht so wichtig wie früher, und für dich gelten sie ohnehin nicht.«

Ich begriff gar nichts. »Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass du meine Tochter bist«, sagte die Herzogin, »aber du bist auch mein Sohn.«

»Häh?«

Im Rückblick wünsche ich mir, ich hätte mich klarer ausgedrückt, aber Mutters Worte ergaben für mich keinen Sinn. Dass ich mich von Selen unterschied, wusste ich, seit wir als kleine Kinder zusammen gebadet wurden, doch die Tatsache, dass sie anders pinkelte als ich, war für mich belanglos. Ich machte mir ja auch keine Gedanken über die unterschiedlichen Farben unserer Haare, Augen und Haut.

»Eigentlich sollte ich Zwillinge bekommen«, fuhr Mutter fort. »Zwei Eizellen wurden gleichzeitig befruchtet – aus einer sollte ein Junge, aus der anderen ein Mädchen werden.«

Das überstieg beinahe mein kindliches Begriffsvermögen, aber es wäre mir nie in den Sinn gekommen, diese Aussage anzuzweifeln. Zu der Zeit war ich der festen Überzeugung, meine Mutter hätte immer recht.

»Was ist passiert?«, fragte ich.

»Kurz nach der Empfängnis versuchte ein Dämonenprinz, deinen Vater zu töten, und um ein Haar hätte er es geschafft. Vaters Erster Gemahlin Inevera und mir blieb nichts anderes übrig, als hora-Magie zu benutzen, um ihn zu retten.«

Diese Geschichte kannte ich bereits. In Mutters Festung kursierte sie als Legende. Die Herzogin und die Damajah hassen einander, doch den Gerüchten zufolge halten sie Frieden, wegen genau dieser Nacht.

»Das verstehe ich nicht.« Mir schwirrte der Kopf. Ich war viel zu jung, um das alles zu begreifen. Ich hatte nur eine höchst vage Vorstellung von dem, was mit »Empfängnis« gemeint war, doch irgendwie ahnte ich, dass Mutter noch wesentlich tiefergehende Dinge andeutete.

»Wenn man sich der Magie bedient, fließt ein Teil dieser Energie in einen zurück«, sagte Mutter. »Diese Kraft kann einen für eine gewisse Zeit stärker machen. Schneller. Sie schärft die Sinne und beschleunigt den Heilungsprozess von Verletzungen.«

Ich legte den Kopf schief, immer noch verwirrt.

Mutters Kehle zog sich zusammen, als zwinge sie sich, eine bittere Medizin zu schlucken. »In diesem Moment hat eine Eizelle die andere in sich aufgenommen. Sie hat sie sozusagen verschlungen.«

Ich weiß noch, dass ich sie eine lange Zeit anstarrte, ehe ich fragte: »Ich … habe meinen Bruder aufgefressen?« Die Vorstellung war einfach ungeheuerlich. Doch noch entsetzlicher war der Gedanke, der mir gleich darauf kam. »Oder … habe ich meine Schwester aufgefressen?«

»Keiner hat irgendwen ›aufgefressen‹!« Ich weiß nicht, welche Reaktion meine Mutter von mir erwartet hatte, aber anscheinend nicht diese. »Was spielt es für eine Rolle, wer hier wen in sich aufgenommen hat?«

Die Antwort darauf schien mir logisch. »Woher soll ich denn sonst wissen, wer ich bin?«

»Du bist nicht dein Bruder, und du bist auch nicht deine Schwester«, entgegnete Mutter. »Du bist beides – die Summe der zwei Kinder, die ursprünglich hätten geboren werden sollen.«

In meinem Kopf sammelten sich jede Menge Fragen an, aber schon damals spürte ich, was die wichtigste von allen war. »Wenn ich niemanden aufgefressen habe, wieso machen wir dann so ein Geheimnis daraus?«

Mutter seufzte, strich mir über das Haar und glättete mein Kleid, während sie sprach. »Weil du einzigartig bist, Olive. Du bist etwas ganz Besonderes. Die Magie hat etwas bewirkt, was die Natur nicht zuwege brachte. Du kannst Kinder austragen, und du kannst Kinder zeugen. Für unterschiedliche Leute hat das eine unterschiedliche Bedeutung. Wenn die Erben deines Vaters befürchteten, du hättest einen Anspruch auf den Schädelthron von Neu Krasia – wer weiß, zu welch drastischen Schritten sie sich hinreißen ließen.«

Nichts von alledem machte für mich viel Sinn. Mutters Sorgen waren so fern wie die Wolken am Horizont. Ich blickte auf meine Hände, meine Arme, meinen Körper. Alles war wohlvertraut und dennoch irgendwie neu. »Also bin ich gar kein Mädchen?«

»Du bist das, was du sein möchtest«, sagte Mutter. »Und egal, wofür du dich entscheidest, ich liebe dich und werde immer für dich da sein. Wenn du ein Mädchen bleiben möchtest, hast du meine Unterstützung. Wenn du lieber ein Junge wärst, hast du auch meine Unterstützung. Solltest du der Welt verkünden wollen, dass du beides bist, werde ich dich ebenfalls unterstützen.«

Mutter umfasste meine Arme und drückte sie sanft. »Aber manche Entscheidungen könnten Folgen haben, die dich vielleicht in ernsthafte Schwierigkeiten bringen, dich auf einen steinigen, beschwerlichen Weg führen. Darüber musst du dir im Klaren sein. Wenn du ein Mädchen bist, werden die Anhänger deines Vaters versuchen, dich für sie vorteilhaft zu verheiraten. Bist du ein Junge, könnten sie versuchen, dir etwas anzutun, oder dich mir wegzunehmen.«

Das leuchtete mir ein, anders als die anderen Warnungen. Ich begriff zwar nicht alles, aber niemals wollte ich von meiner Mutter getrennt werden.

»Was möchtest du denn sein?«, fragte sie.

Ich dachte an Selens jüngere Brüder, die uns andauernd hinterherrannten – schmutzig, tolpatschig und laut. Ich dachte an unseren Freund Darin Strohballen mit seinen strubbeligen Haaren, den schlecht sitzenden Klamotten und den schwarzen Rändern unter den Fingernägeln. Onkel Gared – dick, behaart, der immer nach Schweiß und Bier stank.

Dann dachte ich daran, wie ich mit Großmama spielte. Sie zeigte mir, wie man sich feinmachte – mit Schminke, Puder, hübschen Kleidern und Schmuck. Ich dachte an Mutter, die mächtigste Person im ganzen Tal, und wie prächtig sie aussah in ihren wundervollen Gewändern und mit der glitzernden Krone aus Elektron auf ihrem Haar.

»Ich möchte ein Mädchen sein.«

Mutter nahm meine Hand. »Dann bist du ein Mädchen, und mehr braucht keiner zu wissen, es sei denn, du änderst deine Entscheidung. Die Welt wird versuchen, dich in eine von zwei Schubladen zu stecken, doch ich hoffe, der Tag wird kommen, an dem du aus beiden herauswächst.«

Ich entzog ihr meine Hand. »Und dann erlaubst du mir, dass ich einen Sparringspartner bekomme.«

Dieses Mal hatte ich sie überlistet.

Später brachte Großmama mich zurück auf mein Zimmer. Ich war immer noch ganz kribbelig vor Aufregung, weil ich Mutters Meinung geändert hatte, doch unter das berauschende Gefühl, gesiegt zu haben, mischten sich allmählich Fragen, die mich selbst betrafen.

»Es wurde aber auch höchste Zeit, dass sie mit dir dieses Gespräch geführt hat«, sagte Elona. »Seit Jahren liege ich ihr damit in den Ohren.«

»Wirklich?« Ich konnte meine Überraschung nicht verbergen. Großmama weiß, dass ich sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale habe. Als ich noch ein Baby war, hat sie meine Windeln gewechselt. Aber wir haben nie darüber gesprochen.

»Das Ding zwischen deinen Beinen ist der Schlüssel zu einem Königreich«, sagte Großmama.

»Ich will aber kein Königreich«, erklärte ich ihr, und das meinte ich auch so. »Die Leute sagen, Mutter hätte Königin von Thesa sein können, aber das hat sie abgelehnt.«

»Wenn sie Eier in der Hose gehabt hätte, hätte sie anders gehandelt«, sagte Elona. Schon mit fünf war ich an diese Art von Gesprächen mit ihr gewöhnt. Sie redete nie von oben herab mit uns wie Mutter und die anderen Erwachsenen. »In dich setze ich mehr Hoffnungen.«

Die Worte ergaben für mich keinen Sinn. »Dann machen meine Eier mich also mutig?« So tapfer kam ich mir gar nicht vor.

»Es sind nicht die Eier selbst. Es liegt eher an …« Sie hob eine Hand und fuchtelte damit herum. »Es ist die männliche Energie. Die Tatkraft. Männer nehmen sich, was sie wollen. Wer ihnen dabei in die Quere kommt, den fegen sie beiseite. Meine Tochter besitzt den dicksten Knüppel in Thesa, aber sie weigert sich, ihn zu benutzen.«

»Und wenn sie einfach keine Königin sein will?«, fragte ich.

Elona schnaubte verächtlich. »Deine Mum ist eine Zicke, aber sie liebt es viel zu sehr, andere herumzukommandieren, um eine Krone auszuschlagen. Sie brachte es nur nicht über sich, die anderen Herzöge und Herzoginnen so lange zu tyrannisieren, bis sie ihr eine anboten.«

»Dafür muss sie einen Grund gehabt haben«, beharrte ich. Damals wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, meine Mutter könnte sich in irgendeiner Sache irren.

Großmama musterte mich von oben bis unten. »Ay, vielleicht war das ja so. Du wärst gefährlicher, wenn du das älteste Kind einer Königin wärst.«

Ich lachte, aber nicht, weil ich das komisch fand, sondern weil ich so verblüfft war. »Gefährlich? Ich bin doch nur ein Kind.«

»Aber du wirst erwachsen werden«, sagte Elona. »Manche Geheimnisse kann man ein Leben lang mit sich herumtragen, wie ein Klappmesser in der Jackentasche. Andere wiederum sind wie eine scharfe Klinge direkt in der Hand. Je länger man sie festhält, umso tiefer schneiden sie einen. Es ist besser, die Leute jetzt schon wissen zu lassen, wer du bist, damit sie Zeit haben, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, bevor du alt genug bist, um eine Gefahr darzustellen.«

»Mutter sagte, manche Leute könnten versuchen, mir etwas anzutun, wenn sie über mich Bescheid wüssten«, entgegnete ich. »Oder sie könnten mich ihr wegnehmen.«

»Du bist eine Prinzessin, verflixt noch mal.« Großmama zuckte mit den Schultern. »Du wirst immer Feinde haben.«

Ihre Worte machten mir Angst. Dass ich tatsächlich in Gefahr sein könnte, wurde mir erst jetzt bewusst, als Elona Mutters Befürchtung bestätigte. Am liebsten wäre ich weggelaufen und hätte mich versteckt.

Großmama musste es mir an meinem Gesicht angesehen haben, denn sie streckte die Hand aus und drückte leicht meinen Arm. »Hier tut dir niemand etwas zuleide, Olive Papiermacher. Du bist vollkommen sicher. Aber wenn es dich beruhigt, können wir die Wachen verdoppeln.«

Der Vorschlag trug nicht unbedingt zu meiner Beruhigung bei. »Es sind doch schon überall Wachen. Sollen sie demnächst noch bei mir im Zimmer sein?«

Großmama lachte gackernd. »Sie könnten ein paar stramme Burschen in mein Zimmer schicken!«

Ihr Lachen nahm mir ein wenig von meiner Angst. So war Großmama Elona nun mal. Sie konnte einem die Wahrheit um die Ohren hauen, dass es wehtat, und gleich darauf die Schmerzen lindern. Ich sehnte mich nach ihrer Anerkennung, wie ich überhaupt von jedem gemocht werden wollte, und ich wusste, sie wartete darauf, dass ich ihr recht gäbe. Doch das wäre mir falsch vorgekommen. »Mum sagt, wenn ich ein Mädchen sein will, dann bin ich eins.«

Elona sah mich eine Weile an, dann nickte sie. »Ay, wenn das dein Wunsch ist.« Sie zog an einer Haarlocke, die sich aus meinem Zopf gelöst hatte. »Dann setz dich mal an den Schminktisch. Höchste Zeit, dass ich anfange, dich im Umgang mit den Waffen einer Frau zu unterweisen.«

3

Kompromiss

349 NR

Ich sehe den Stapel Papiere auf Obermeisterin Darsys Schreibpult und kriege sofort Bauchkrämpfe, als würde sich meine Monatsblutung ankündigen. Ich lag richtig, was den Test angeht.

»Was sollen wir tun?«, flüstere ich. »Ich kann nicht mal meinen eigenen Kräutergarten pflegen, geschweige denn, die sieben Heilverfahren zitieren.«

Ich wünschte, das wäre eine Übertreibung. Kräuterkunde hat mich schon immer gelangweilt. Von den sieben Heilverfahren habe ich keine Ahnung, an mir selbst wurden sie ja noch nie ausprobiert. Was auch immer Mutters Magie mit mir angestellt hat, als sie mich noch in ihrem Bauch trug, ich unterscheide mich in mehrerlei Hinsicht von anderen Menschen. Ich bin stärker, als ich in meinem Alter sein dürfte, und Verletzungen heilen bei mir im Nu. Ich war noch nie in meinem Leben krank, und für Fruchtbarkeitstees interessiere ich mich nicht.

Für Mutter ist Wissbegierde die höchste aller Tugenden. Sie liest lieber wissenschaftliche Werke als Romane, aber mir sagen die Abenteuer des Jak Schuppenzunge mehr zu als irgendwelche verstaubten Abhandlungen über Heilkräuter oder Geschichtsbücher.

Die anderen Mädchen sitzen schon auf ihren Stühlen und schnattern munter drauflos, aber sie verstummen, als Selen und ich hereinkommen. Sie haben unsere Lieblingsplätze freigehalten und sich drumherum verteilt, als wären wir zwei Eier und sie das Nest.

Die drei Jungen in unserer Klasse sitzen zusammen hinten im Raum. Sie sind hoffnungslos in der Minderheit. Bevor Mutter die Akademie der Kräutersammlerinnen allen Geschlechtern zugänglich machte, waren männliche Kräutersammler eine absolute Ausnahme und man traute ihnen nicht so viel zu wie den weiblichen Mitgliedern ihres Berufsstands. Die meisten Kräutersammlerinnen weigerten sich schlichtweg, Jungen als Lehrlinge anzunehmen, und auch die Patienten wollten lieber eine Frau. Aus diesem Grund verlegten sich die meisten männlichen Heiler auf die Forschung. Selbst jetzt noch begegnet man ihnen mit Vorbehalt, und keiner nimmt eine herausragende Stellung in der Akademie oder dem Hospital ein.

»Hallo, Jungs«, grüßt Selen die drei im Vorbeigehen. Ich bin eindeutig das hübschere Mädchen, mit perfekter Frisur und vorteilhaft geschminkt, aber Selen ist die, die ihre Blicke auf sich zieht.

Auch als wir auf unseren Plätzen sitzen, ändert sich daran nichts. Die anderen Mädchen halten mir gegenüber respektvoll Abstand, doch mit Selen beginnen sie sofort ein Gespräch.

Ich kann es ihnen nicht mal verübeln. Selen nimmt fast dieselbe gesellschaftliche Stellung ein wie ich, sie ist die Schwester der Herzogin und die Tochter eines Barons, doch ihr Selbstvertrauen und ihre unverwüstliche gute Laune wirken auf jeden in ihrer Umgebung ansteckend. Andere Mädchen suchen ihre Nähe. Sie wollen so sein wie sie.

Manchmal würde ich auch gern mit ihr tauschen. Ich frage mich, was es für ein Gefühl sein muss, so selbstsicher zu sein, dass andere sich zu dir hingezogen fühlen.

»Nächste Woche ist Sommersonnenwende«, sagt Minda. Mit sechzehn ist sie die Älteste in unserer Klasse. Sie hat ein rundes Gesicht und ein warmes Lächeln. Ihr Haar ist mit einem schlichten blauen Band zurückgebunden. »Kommst du mit auf die Studienfahrt?«

»Mum war dagegen, aber Dad hat es mir trotzdem erlaubt.« Selen reckt ihren kleinen Finger in die Höhe. »Darum wickle ich den General.«

Alle lachen, doch dann schauen alle mich an, und mein Bauch verkrampft sich stärker als beim Anblick der Prüfungsbögen. »Ich hab die Herzogin noch nicht gefragt.«

Wenn ich ehrlich bin: Ich habe Angst, sie zu fragen. Mit dreizehn Sommern ist man alt genug, um die alljährliche Exkursion in die Außenbezirke mitzumachen, aber in den letzten beiden Jahren hat Mutter es mir nicht erlaubt. Auch wenn Selen diesmal mitfährt, habe ich nicht viel Hoffnung, dass ich auch an der Studienfahrt teilnehmen darf.

Die Erwähnung meiner Mutter zeigt die gewünschte Wirkung. Alle Blicke wenden sich von mir ab. Wer Herzogin Leesha nicht fürchtet, der verehrt sie. Viele Leute tun beides in gleichem Maße.

»Ich habe Perin geküsst. Den Stallburschen«, sagt Selen und lenkt damit die Aufmerksamkeit wieder auf sich. Verstohlen lächelt sie mir zu, und ich bedanke mich mit einem Nicken, weil sie mich gerettet hat.

»Schürzen anziehen.« Bevor Selen von ihrem Abenteuer mit übel riechendem Ausgang berichten kann, marschiert Obermeisterin Darsy ins Klassenzimmer. Sie trägt ein riesiges Tablett voller Pflanzen in dicken Tontöpfen. Ihr grau meliertes Haar ist zu einem strammen Dutt zusammengezwirbelt, und das schwere Tablett trägt sie mühelos in ihren Händen, die durch jahrzehntelanges Einrichten von gebrochenen Knochen eher Pranken sind. Früher einmal war Darsy Mutters Schülerin, und jetzt gehört sie zu der Schar von Leuten, mit denen die Herzogin mich umgibt, weil sie selbst so wenig Zeit für mich hat. Ich liebe Darsy, als wäre sie meine Tante, obwohl ich als Schülerin für sie eine Enttäuschung bin.

Wir ziehen die Schürzen über unsere schlichte blaue Schülerinnentracht. Sie bestehen aus einem schweren Stoff und haben zahlreiche Taschen zum Aufbewahren von allen möglichen Dingen, angefangen von getrockneten Kräutern bis hin zu Werkzeugen. Dann verlassen wir unsere Plätze und stellen uns zu Obermeisterin Darsy an den Pflanztisch.

»Wir müssen diese Bocksteifwurzeln umtopfen«, verkündet Darsy. »Weiß jemand, warum?«

Die anderen Mädchen sagen nichts. Sogar ich kenne die Antwort, also müssen sie sie auch wissen. Aber sie warten darauf, dass ich als Erste die Hand hebe. Großmama sagt, sie nehmen Rücksicht auf mich, weil ich eines Tages die Herzogin sein werde und sie sich bei mir einschleimen wollen. Ich möchte lieber glauben, dass sie sich aus Freundschaft zu mir zurückhalten, doch in Wahrheit habe ich außer Selen keine richtige Freundin und auch keinen Freund. Selen ist die Einzige, die mich wirklich kennt.

»Olive.« Obermeisterin Darsy zeigt mit dem Finger auf mich, als ich die Hand hebe.

»Weil die Triebe der Bocksteifwurzel stark austreiben«, sage ich. »Und mit der Zeit sprengen sie selbst den dicksten Tontopf.«

»Richtig!« Obermeisterin Darsy strahlt mich an. »Die Triebe der Bocksteifwurzel breiten sich langsam aus, doch dabei entwickeln sie eine enorme Kraft. Diese reicht aus, um sogar diese extra dicken Tontöpfe zu zerbrechen.« Mit ihrem großen Zeigestock verpasst sie einem der Töpfe einen kräftigen Schlag. »Zuerst müsst ihr jeden Trieb ein paarmal drehen und aus dem Ton herauslösen, bevor ihr ihn aus der Erde ziehen könnt.«

Minda ist die Erste, die sich eine Pflanze vornimmt. Sie ist ein großes, starkes Mädchen und sie fasst den Stängel an der richtigen Stelle. Doch ihr Gesicht läuft rot an, als sie sich abmüht, die Wurzeln freizubekommen. Ich blicke mich um und sehe, dass die anderen Mädchen und Jungen genauso zu kämpfen haben. Selbst Selen gibt einen angestrengten Grunzer von sich und schafft es nicht beim ersten Anlauf.

Ich nehme mir auch eine Pflanze. Mit einer Hand halte ich den Topf fest, mit der anderen drehe ich den Trieb herum und ziehe mit einem kräftigen Ruck. Die Bocksteifwurzel löst sich unerwartet leicht, reißt einen Schauer aus Dreck mit sich, der extra dicke Tontopf zersplittert zwischen meinen Fingern.

Die ganze Klasse starrt mich an, und ich widerstehe dem Drang zu flüchten. Ich war immer stärker als alle anderen, aber manchmal vergesse ich, wie stark ich wirklich bin. Mein Kleid und mein sorgfältig geflochtenes Haar sind voller Erde, Michas und Elonas Werk ruiniert. Ich sehe aus wie ein Trottel.

»Sachte, Kind!« Darsy eilt an meine Seite. »Das ist doch kein Baumstumpf, den du aus dem Boden reißt. Hast du dich an den Scherben geschnitten?«

Ich hätte verletzt sein müssen. Ich habe gespürt, wie die scharfkantigen Tonsplitter sich in meine Handfläche bohrten. Jeder andere hätte jetzt Schnittwunden, die genäht werden müssen oder vielleicht sogar eine Operation erfordern. Doch ohne hinzuschauen, weiß ich, dass meine Haut noch nicht mal einen Kratzer hat.

»Mir ist nichts passiert.« Ich möchte zurückweichen, keine weitere Aufmerksamkeit auf mich ziehen, aber Darsys fleischige Hände umfassen meine und sie fängt an, mich behutsam zu untersuchen.

Ein lautes Scheppern lenkt alle ab. Ich blicke hoch und sehe Selen, die vor einem zerschmetterten Topf steht. Erde und Bocksteifwurzeln überall auf dem Klassenzimmerboden.

»Beim Schöpfer, habt ihr euch alle heute Morgen die Finger eingefettet?!« Nachdem Darsy sich davon überzeugt hat, dass ich nicht blute, rafft sie die Röcke und rennt zu Selen. Mein Missgeschick hat sie vergessen.

Selen fängt meinen Blick auf, und ohne dass ein Wort gesprochen wird, weiß ich, dass sie den Topf mit Absicht auf den Steinboden geschmettert hat, bevor die anderen sich zu ausgiebig mit meinem Malheur beschäftigen konnten.

Ich weiß nicht, was ich ohne Selen machen würde.

Während der Rest der Klasse mit dem Umtopfen fortfährt, gehe ich zum Waschbecken. Ich säubere mich, dabei geht auch der größte Teil von Elonas Schminke und Puder verloren.

Unsere Kleider und Schürzen bestehen aus einem Stoff, der Schmutz abweist und leicht zu reinigen ist. In dieser Hinsicht habe ich also keine Probleme, mich einigermaßen passabel herzurichten. Mit meinen Haaren ist es schwieriger. Ich versuche, die Erdbröckchen abzuschütteln, doch ohne nennenswerten Erfolg. Meine Kopfhaut beginnt zu jucken, ist feucht und grindig. Ich fühle mich blamiert, doch ich tue das, was Elona an meiner Stelle getan hätte und kehre mit hoch erhobenem Kopf an meinen Platz zurück. Just in diesem Moment verteilt Obermeisterin Darsy die Prüfungsbögen und lässt den Test schreiben, genauso, wie ich es erwartet hatte.

Die meisten Antworten kenne ich, doch es spielt keine Rolle, ob ich einen wirksamen Schlaftrunk aus Bitterkraut und Himmelsblüten brauen oder ein Dutzend Samenkörner anhand ihrer Form bestimmen kann. Die einzigen Antworten, für die die Herzogin sich interessieren wird, sind die, die ich nicht wusste.

»Ich denke, ich hab mich ganz gut geschlagen«, murmelt Selen, als wir unsere Stifte weglegen und Darsy die Bögen einsammelt. »Was ist mit dir?«

»Behalt mich in guter Erinnerung, Mutter wird mich umbringen«, sage ich.

Selen lacht wie ein Schwan, ein Schlenker ihres langen Halses und ein Geräusch, das eher wie eine Trompete klingt als ein Kichern. »Ach, komm, so schlimm wird es schon nicht sein.«

»Als du das Examen über Feuerpulver und seine Anwendung bestanden hast, hat dein Dad laut gejubelt und dich durch die Luft gewirbelt«, sage ich. »Ich hatte eine bessere Note als du, aber als ich Mutter von dem Test erzählte, hielt sie mir einen zweistündigen Vortrag über die einzige Frage, die ich falsch beantwortet hatte, und welche Gefahren daraus entstehen könnten.«

»Dad ist schon froh, dass ich überhaupt lesen kann«, erklärt Selen. »Er sagt, vor seinem dreißigsten Sommer konnte er gerade mal seinen Namen kritzeln.«

Wie auf ein Stichwort hin stößt Minda einen überraschtes Japsen aus, und alle Schülerinnen und Schüler setzen sich gerade hin, den Rücken durchgedrückt, die Augen geradeaus. Ich blicke hoch und seufze. Die Herzogin stattet uns einen Überraschungsbesuch ab.

Was für ein Zufall, gleich nach einem Test.

Die Schülerinnen und Schüler neigen die Köpfe, die Mädchen ziehen ihre Röcke zurecht, als meine Mutter, Herzogin Leesha Papiermacher, den Klassenraum betritt. Ihr Blick ruht auf mir, sie bemerkt die Flecken auf meinem Kleid und das unordentliche, verdreckte Haar.

»Leesha!« Darsy stemmt sich auf die Füße und macht einen Knicks.

»Ach, doch nicht so förmlich!« Die Herzogin winkt lässig ab, breitet die Arme aus und drückt Darsy an sich. Auch das ist eine einstudierte Geste. Mutter will der Klasse zeigen, dass Obermeisterin Darsy hoch in ihrer Gunst steht. Nicht einmal Selen nennt die Herzogin »Leesha«, obwohl die beiden Schwestern sind.

Darsy erwidert die Umarmung, aber nur kurz. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass du uns besuchen wolltest.«

»Ich war nur gerade in der Gegend.« Die Herzogin blickt auf die Prüfungsbögen, die sich auf Darsys Pult stapeln. »Welche Fortschritte machen deine Schülerinnen und Schüler?«

Darsys Blick huscht zu mir, und einen fürchterlichen Moment lang stelle ich mir vor, wie sie meinen Bogen der Herzogin reicht, damit sie vor der versammelten Klasse meine Leistung beurteilen kann.

Aber dazu kommt es nicht. »Ich denke, aus ihnen allen werden einmal erstklassige Heilkundige hervorgehen. Olive ist immer die Erste, die sich meldet, wenn eine Frage zu beantworten ist, aber die gesamte Klasse ist sehr begabt.«

In gewisser Weise stimmt das sogar, doch die Herzogin hebt eine Augenbraue, als ihr Blick auf den Pflanztisch fällt. Der Boden ist mittlerweile sauber gefegt, aber ihren hellblauen Augen entgehen nicht die Tonscherben im Abfallkübel. »Gab es Probleme beim Umtopfen der Bocksteifwurzeln?«

»Es war mein Fehler«, ruft Selen, ehe Darsy antworten kann. Sie hält ihre großen Hände hoch. »Manchmal unterschätze ich meine eigene Kraft.«

»Genau wie dein Vater.« Die Herzogin lächelt Selen an, und unwillkürlich strahlt meine Freundin vor Glück. Mutters Komplimente haben diese Wirkung, vor allem, weil sie sonst mit Lob geizt. Ich kann mich nicht erinnern, wann die Herzogin mich das letzte Mal so angelächelt hat.

Sie wendet sich wieder an Darsy. »Dürfte ich meine Tochter wohl für eine kurze Weile ausborgen, Obermeisterin?«

»Aber selbstverständlich.« Darsy macht einen Knicks, und meine Bauchkrämpfe kehren zurück.

Ich halte mich dicht an den Fenstern, als wir durch die Flure der Akademie der Kräutersammlerinnen gehen, und versuche, nicht auf die mit zierlichen Siegeln versehene Brille zu starren, die an einer Silberkette an Mutters Hals hängt.

Bei Sonnenlicht geht Mutters Magie verloren. Wie jede Magie überhaupt. Die Sonne verbrennt die Energie, und aus diesem Grund tauchten die Dämonen – von Natur aus magische Kreaturen – früher nur bei Nacht aus dem Schutz des Horc auf.

Die Herzogin ist eine Hexe, obwohl sie dieses Wort verabscheut. Für sie ist der Umgang mit Magie eine Wissenschaft, auch wenn sich diese Lehre stark von dem unterscheidet, was man uns in Fächern wie Kräuterkunde oder Chemie beibringt. Mutter ist keine Hexe von der Art, wie sie in Jongleursgeschichten vorkommen – bösartig kichernde Weibsbilder, die Leute mit einem Fluch belegen, um ihnen eine Lektion zu erteilen. Mutters Siegel schützen das Tal vor Dämonen.

Jedenfalls sagt man das. Ich habe noch nie einen Horcling gesehen, weder einen lebenden noch einen kurz zuvor getöteten. Bloß alte Dämonenknochen, die im Dunkeln aufbewahrt werden, um ihre Energie zu erhalten. Der Krieg gegen die Dämonen war vorbei, bevor ich laufen konnte. Die wenigen Horclinge, die den Feldzug des Erlösers überlebten, wurden hinter die Grenzen von Mutters Großsiegel vertrieben und dann von General Gareds Holzfällern gejagt.

Was auch immer mit den Horclingen geschehen sein mag, die Magie der Herzogin ist real. Sie besitzt Würfel aus Dämonenbein mit darin eingekerbten Siegeln der Weissagung. Wenn sie die Würfel auswirft, vermag sie aus ihrer Anordnung in die Zukunft zu schauen. Ich habe erlebt, wie sie Feuerkatastrophen, Überflutungen und Zeiten der Dürre mit einer geradezu unheimlichen Genauigkeit vorhergesagt hat. Hierhin eine Feuerwehr in Bereitschaft, dorthin ein Deich, ein Befehl, Extravorräte anzulegen, und Mutter konnte die Desaster verhindern. Sie sorgte dafür, dass ihre Leute stets Schutz hatten, immer sauberes Trinkwasser zu Verfügung stand und niemand zu hungern brauchte.

Ich habe nie gesehen, dass sie den magischen Stab, den sie an ihrem Gürtel trägt, für etwas anderes benutzt als Licht- oder Schallsiegel in die Luft zu zeichnen. Ein Raum wird strahlend hell ausgeleuchtet, und wenn sie zu einer Menge spricht, dringt ihre Stimme bis in die hintersten Reihen. Aber ich habe geschichtliche Abhandlungen gelesen – und viele Gemälde gesehen –, die darstellen, wie sie im Dämonenkrieg mithilfe ihres magischen Stabs Feuer und Blitze auf Horclinge niederregnen lässt. Sicherlich ist das meiste davon übertrieben, aber zu viele Leute behaupten, Zeugen dieser Vorgänge gewesen zu sein, um diese Geschichten samt und sonders als Humbug abzutun.

Doch es sind ihre Augengläser, die ich am meisten hasse. Vom Horc steigt Magie auf, und jedes Lebewesen trägt ein bisschen Magie in sich. Rings um die Gläser sind Siegel eingeritzt, welche das Sehvermögen verstärken und Mutter gewissermaßen einen magischen Blick verleihen. Sie sieht die Magie als ein sanftes Glühen und kann auch die Aura eines jeden Menschen erkennen. Auren sind so einzigartig wie Fingerabdrücke und dennoch ständig im Fluss, wie das Wasser eines Sees. Jeder Gedanke, jedes Gefühl sorgt für Veränderungen.

Mithilfe ihrer Siegelbrille sieht die Herzogin sofort, wenn jemand lügt oder etwas verheimlicht. Sie liest in der Aura eines Menschen mit derselben Leichtigkeit, mit der sie in ihren verstaubten Büchern über die Wissenschaften der Alten Welt stöbert. Manchmal scheint es, als könnte sie einem einen Gedanken direkt aus dem Kopf herauspflücken.

Ich bin niemals allein, niemals unbewacht, genieße nicht die Freiheit, draußen herumzustromern und einen Jungen zu küssen, wie Selen es tut. Meine Gedanken sind das Einzige, was mir an Privatleben geblieben ist.

»Du hast zu fest an den Pflanzentrieben gezogen, und dabei ist der Topf zerbrochen«, stellt Mutter im Weitergehen fest.

Im hellen Sonnenlicht nützen Mutter ihre versiegelten Augengläser nichts. Trotzdem hat sie mich durchschaut.

»Es war ein Unfall.« Noch bevor die Worte über meine Lippen kommen, weiß ich, dass sie nicht ausreichen werden, um mich vor Mutters Strafpredigt zu bewahren. Nichts kann sie davon abhalten, eine ihrer Standpauken zu halten. Sie sind wie ein Wolkenbruch. Unvermeidlich. Unabwendbar.

»Du musst vorsichtiger sein, Olive«, sagt Mutter. »Wenn die Leute merken, wie stark du bist, könnten sie das … unnatürlich finden.«

»Aber das bin ich doch, oder?«

»Blödsinn!«, schimpft Mutter. »Was redest du da?«

»Wieso muss ich mich dann verstellen?«

»Je unauffälliger du dich gibst, umso sicherer bist du«, sagt Mutter. »Nächsten Sommer wirst du genug Aufmerksamkeit erregen, ob es dir gefällt oder nicht.«

Ich verbeiße mir die patzige Antwort, die mir auf der Zunge liegt. Stattdessen frage ich: »Was passiert denn nächsten Sommer?«

»Ein Mädchen mit sechzehn Sommern gilt als alt genug, um sich zu binden«, erinnert mich die Herzogin. »Im nächsten Frühling werden die Angieraner anfangen, dir ihre Reverenz zu erweisen und dich zu Bällen einzuladen. Die krasianischen Kuppler werden vor meiner Tür Schlange stehen. Herzogin Ariane scharrt schon mit den Füßen und kann es kaum erwarten, dir ihren Enkelsohn Rhinebeck vorzustellen.«

»Sie will ihn mir vorstellen?« Seit meiner Kindheit ist Prinz Rhinebeck mein Brieffreund.

»Als Bewerber um deine Hand«, sagt Mutter. »Sogar Herzogin Elissa von Miln kennt da einen jungen Prinzen, für den Fall, dass wir interessiert sind.«

»Es werden Männer kommen, die um mich … werben?« Ich habe da so meine Zweifel, doch die Aussicht auf Verehrer löst trotzdem ein gewisses Kribbeln in mir aus. Sich heimlich mit einem Stallburschen vergnügen ist eine ganz andere Nummer, als mit einem jungen Mann durch die Gärten zu spazieren, der als gute Partie gilt. Ich frage mich, ob Rhinebeck wohl gut aussehend ist.

Doch in meinem Herzen weiß ich, dass es so einfach nicht ist. Selbst wenn Rhinebeck sich unsterblich in mich verlieben würde, stellt sich immer noch die Frage, wie er in der Hochzeitsnacht reagiert, wenn er feststellt, dass ich nicht wie andere Frauen bin.

»Ich bin noch nicht bereit, mich zu binden«, würge ich hervor.

»Natürlich nicht«, pflichtet Mutter mir bei. »Für eine Verlobung bist du viel zu jung. Du hast ja noch nicht mal einen Jungen geküsst.«

Du musst es ja wissen. Ich bemühe mich, ruhig zu bleiben, als sie mir sogar diese kleine Illusion von Freiheit raubt. »Du wurdest mit dreizehn verlobt. Großmama hat es mir erzählt.«

»Ay, sie muss es ja wissen«, spricht Mutter meine eigenen Gedanken aus. »Es war ihre verflixte Idee, und es endete in einer Katastrophe.«

Grund genug, um solche Entscheidungen nicht der eigenen Mutter zu überlassen, würde ich am liebsten sagen, doch ich traue mich nicht. »Wann werde ich denn alt genug sein?«

Mutter mustert mich abschätzend, wählt ihre Worte mit großer Sorgfalt. »Ich hoffe, bis dahin werden noch einige Sommer vergehen.«

Ich atme langsam aus und bemühe mich, meine Wut und meine Enttäuschung zu verbergen.

»Darf ich dann wenigstens mit den anderen Mädchen auf Studienfahrt gehen?«

Mutter rümpft die Nase. »Ich halte das für keine gute Idee. Am Hof tut sich eine ganze Menge. Zum ersten Mal seit deiner Geburt hat der Stamm der Majah die Grenzen ihres Gebiets geöffnet. In zwei Wochen schicken sie eine diplomatische Delegation zu uns, die über einen Beitritt zum Pakt der Freien Städte verhandeln soll. Wenn du danach die Außengebiete besuchen willst, kann ich einen Stab meiner Mitarbeiter …«

»Auf deine Mitarbeiter kann ich verzichten.« Die Herzogin blinzelt verdutzt, als ich sie unterbreche. »Ich will nicht, dass irgendwelche Diener und Leibwächter um mich herumwuseln. Vielleicht sogar noch der Erste Minister Arther höchstpersönlich, der mir die Geschichte jeder einzelnen Ansiedlung erzählt, die wir aufsuchen.«