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Die Menschen glaubten, die Dämonen besiegt zu haben, und hofften, eine neue Zivilisation errichten zu können. Doch kaum eine Generation später sind die Horclinge zurückgekehrt. Einzig die legendäre Festung Alas Speer steht noch zwischen Menschen und Dämonen. Als Tochter des legendären Jardir Ahmann wird von Olive erwartet, die versiegelten Pforten von Alas Speer zu öffnen und die Menschen in den Kampf gegen die Dämonen zu führen. Doch manches Erbe wiegt schwer, und Olive ist nicht bereit, sich in ihr Schicksal zu fügen ...
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Seitenzahl: 1151
Das Buch
Die Menschen glaubten, die Dämonen besiegt zu haben, und hofften, eine neue Zivilisation errichten zu können. Doch kaum eine Generation später sind die Horclinge zurückgekehrt. Einzig die legendäre Festung Alas Speer steht noch zwischen Menschen und Dämonen. Als Tochter des legendären Jardir Ahmann wird von Olive erwartet, die versiegelten Pforten von Alas Speer zu öffnen und die Menschen in den Kampf gegen die Dämonen zu führen. Doch manches Erbe wiegt schwer, und Olive ist nicht bereit, sich in ihr Schicksal zu fügen …
Peter V. Bretts DÄMONENSAGA bei Heyne:
DIEROMANE
Das Lied der Dunkelheit
Das Flüstern der Nacht
Die Flammen der Dämmerung
Der Thron der Finsternis
Das Leuchten der Magie
Die Stimmen des Abgrunds
Der Prinz der Wüste
Die Fürstin der Schatten
DIENOVELLEN
Der große Basar
Das Erbe des Kuriers
Selias Geheimnis
Das Feuer der Dämonen
Der Autor
Peter V. Brett, 1973 geboren, studierte Englische Literatur und Kunstgeschichte. Danach arbeitete er zehn Jahre als Lektor für medizinische Fachliteratur, bevor er sich ganz dem Schreiben von fantastischer Literatur widmete. Mit seiner Dämonensaga stürmt er regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten und hat sich weltweit ein begeistertes Publikum erschrieben. Der Autor lebt in Brooklyn, New York.
Mehr zu Peter V. Brett und seiner Dämonensaga unter:
www.petervbrett.com
PETER V. BRETT
Deutsche Erstausgabe
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Titel der Originalausgabe:
THEHIDDENQUEEN
Aus dem Amerikanischen von Ingrid Herrmann-Nytko
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Deutsche Erstausgabe 11/2024
Redaktion: Thomas Salter
Copyright © 2024 by Peter V. Brett
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Illustrationen: Lauren K. Cannon
Karten: Nicolette Caven
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-24329-6V001
www.heyne.de
FürPhoenixundMermaid
349 NR
Ich bin Darin aus Tibbets Bach, und ich suche meine Mam.
Meinen Dad hab ich nie kennengelernt. Er starb vor meiner Geburt. Weil er die Welt gerettet hat, und das ist die volle Wahrheit. Wer mir nicht glaubt, der kann ja andere Leute fragen. In einem Umkreis von hundert Meilen wird jeder erzählen, dass Arlen Strohballen runter in den Horc gestiegen ist und sich selbst geopfert hat. Das Letzte, was man von ihm gesehen hat, waren gigantische, feurige Siegel am Himmel, die die große Wende im Dämonenkrieg brachten und die Horclinge zu Asche verbrannten. Auch die, die damals dabei waren, sagen das. Mein Blutsvater. Meine Mam.
In gewisser Weise war ich auch dabei. Als er starb, war ich zwar immer noch in Mams Bauch, aber sie sagt, bloß wenige Minuten später flutschte ich aus ihr raus und landete auf dem felsigen Boden des Dämonenstocks.
Hab meine einzige Chance, meinen Dad kennenzulernen, um ein paar Minuten verpasst. Könnten genauso gut Jahre sein. Egal ob man nur eine Minute zurückreisen will oder eine Sekunde, es wird dadurch nicht leichter.
Langsam kriege ich das Gefühl, dass die Leute sich irren. Die Welt muss immer noch gerettet werden. Und wenn sie sich in diesem Punkt irren, warum nicht auch in dem anderen? Meine Tante Leesha ist Wahrsagerin. Sie tunkte mal ihre Würfel aus Dämonenknochen in mein Blut, und der Wurf hatte was Magisches, keine Frage. In Gedanken habe ich ihre Worte so oft wiederholt, dass sie Teil von mir geworden sind.
Drunten in der Finsternis wartet der Vater auf die Rückkehrseiner Nachkommenschaft.
Könnte alles Mögliche bedeuten. Ich bin nicht so blöd, dass ich einer Prophezeiung wortwörtlich glaube. Aber ist ja nicht irre, sich zu fragen, ob irgendwo da unten noch was von meinem Dad übrig ist, festgepfropft im Horc wie ein Korken in einem Flaschenhals.
Oder?
Aber während mein Dad vielleicht noch am Leben ist, weiß ich sicher, dass meine Mam noch lebt. Und ich weiß, dass dieses Ding, das sie in seiner Gewalt hat, sie mästen will wie ein Schwein, das man für eine Hochzeitsfeier schlachtet.
Ich bin ohne einen Dad groß geworden. Wenn ich andere Jungs mit ihren Dads gesehen hab, hab ich gemerkt, dass mir was fehlt, aber etwas, das man nie gehabt hat, vermisst man auch nicht wirklich.
Mam war die, die immer für mich da war. Mich fütterte, mir alles beibrachte und mich beschützte. Meine Mam, stark wie die Sonne.
Und jetzt ist sie weg. Sie wurde verschleppt. Ich muss für mich selbst sorgen, so gut ich kann. Zum Glück hab ich Hilfe, weil allein käme ich wohl nicht zurecht. Seit meinem ersten Geburtstag versuchen die Leute, etwas von meiner Mam und meinem Dad in mir wiederzuerkennen. Und ziehen dann ganz enttäuscht wieder ab.
Aber ich darf nicht nur an mich denken. Nachdem meine Mam so viele Jahre lang alles für mich getan hat – was für ein Sohn wäre ich, wenn ich nicht versuche, sie zu retten? Sogar wenn das bedeutet, dass ich in die Höhle einer Kreatur muss, für die die Jongleure ein Dutzend Namen erfunden haben, einer schrecklicher als der andere. Der Dämonenkönig. Der Vater des Bösen.
Alagai Ka. Er heckt irgendwas aus, um eine neue Königin auszubrüten und mit ihr den nächsten Dämonenstock zu gründen. Und wenn ihm das gelingt …
Wozu ist Dad gestorben, wenn ich zulasse, dass Alagai Ka wiederkommt und alles wieder von vorne anfängt? Wenn ich zulasse, dass er meine Mam an eine junge Königin verfüttert und den Stock mit einer neuen Generation Horclinge auffüllt, gerade als die Leute auf den Geschmack gekommen sind, wie schön das Leben ohne Dämonen sein kann?
Natürlich kann ich ihn nicht daran hindern. Dieser Aufgabe bin ich einfach nicht gewachsen. Ich bin fünfzehn Sommer alt, und der Dämonenkönig ist älter als ein Gebirge. Hab ein bisschen Magie, die ich einsetzen kann – eher instinktiv, wenn ich Angst habe, als bewusst gesteuert –, aber der Vater des Bösen setzt seine Macht mit derselben Leichtigkeit ein, mit der ich auf meiner Panflöte spiele. Alagai Ka braucht sich vor nichts zu fürchten, und ich habe dauernd Angst. Wenn ich die Sache allein in Angriff nehme, werde ich dabei wohl eher sterben, als ihm auch nur einen einzigen Stein in den Weg zu legen.
Aber ich bin ja nicht allein. Ich habe viele Freunde, von denen jeder einzige irgendetwas besser kann als ich.
Olive Papiermacher verfügt über ihre eigene Magie – sie steckt in ihren Muskeln und in ihren Knochen. Sie könnte locker eine Milchkuh hochheben und durch eine Scheunenwand schmeißen. Der Dämon hat auch ihre Mam entführt, und das gefällt ihr überhaupt nicht.
Selen Holzfäller ist nicht so stark wie Olive, aber viel größer und kräftiger als ich. Und schlauer. Ich weiß nicht, ob ich mich getraut hätte, auf der Suche nach Olive Hunderte von Meilen durch eine Wüste zu marschieren, wenn sie nicht dabei gewesen wäre, um mich zu beschützen.
Arick und Rojvah, die in allem, was zählt, mein Cousin und meine Cousine sind, auch wenn wir nicht dasselbe Blut haben, strahlen eine Selbstsicherheit und eine Zuversicht aus, von der ich nur träumen kann. Arick ist gebaut wie ein Preisbulle und ist der beste Kämpfer, den ich kenne, mit Ausnahme von Olive. Rojvahs musikalisches Talent ist meinem haushoch überlegen, mit ihrem Gesang kann sie Dämonen – und Menschen – anlocken und sie in ihren Bann ziehen.
Allein kann ich unsere Eltern nicht retten, aber zusammen schaffen wir es vielleicht.
Ich will endlich loslegen. Aufbrechen und mit voller Geschwindigkeit auf das zulaufen, vor dem ich mich so schrecklich fürchte, in der Hoffnung, dass der Schwung und der Wunsch, meine Freunde nicht zu enttäuschen, mich weiter anschieben, selbst wenn mir die Angst zu viel wird.
Aber erst gibt es noch was anderes zu erledigen.
Die Beisetzung ist im Grunde wie Fürsorger Harrals Siebenttagsandachten bei uns daheim in Tibbets Bach. Jede Menge lange, laute, langweilige Gebete mit halb gesungenen Texten. Und dazwischen immer wieder ein öder Sermon. Bloß dass hier die Gebete und Predigten auf Krasianisch sind, und statt in der kleinen Kapelle auf der Kuppe von Torfhügel bin ich im legendären Sharik Hora.
Ich war schon davor mal in großen Heiligen Häusern. In der Kathedrale des Erlösers im Tal. In der riesigen Bibliothek und der Kathedrale von Miln. Aber selbst der neue Sharik Hora – der mir beim ersten Mal sehen die Sprache verschlagen hat – ist nichts im Vergleich mit dem echten Sharik Hora, dem Tempel der Gebeine der Helden in Fort Krasia, oder dem Wüstenspeer, wie die Einheimischen diese Stadt nennen.
Hier wohnt Magie. Uralte Magie … sie schlummert, aber ich kann sie spüren, auch wenn die meisten Menschen nichts davon merken.
Sie ist anders als die, die ich kenne. Sie ist nicht wie die Magie in den Dämonenknochen, die Tante Leesha benutzt, und auch nicht wie die rohe Magie des Horc, von der meine Mam ihre Kräfte hat. Oder die Magie, die in mir drinsteckt, weil ich in der Finsternis geboren wurde, und es ist nicht wie bei den Dämonen, die mit der Magie aus dem Dunkel der Tiefe durchtränkt sind.
Es ist kurz nach der Morgendämmerung, die Sonne scheint durch die Buntglasfenster und füllt den Raum mit Farbe und Licht. Sonnenlicht verbrennt Magie eigentlich, aber an diesem Ort verliert es seine Wirkung.
Nur bei mir nicht. Mein Körper ist bedeckt, soweit es die Sitte erlaubt, nur mein Gesicht und meine Hände sind frei. Trotzdem tut mir das Licht weh, und nicht nur in den Augen. Mir ist schwindelig, meine Haut juckt und brennt. Die Magie kommt nachts raus und haftet an mir wie ein übler Geruch, bis die Sonne sie abschmirgelt und verbrüht, als würde sie mich mit Sandpapier und kochendem Wasser bearbeiten.
Bei Nacht erwacht der Tempel der Gebeine der Helden zum Leben, als hätte er einen eigenen Willen. Den hat er wohl auch – geformt von den Emotionen der sterbenden Krieger, die ihr Leben geopfert haben, um die Menschheit vor den Horclingen zu beschützen.
Dieser … Wille strömt förmlich aus jedem der gebleichten und lackierten Knochen, die alle Oberflächen des Tempels zieren. Ein goldenes Licht, das nur die sehen können, die selbst ihre eigene Magie besitzen.
Kronleuchter aus Hunderten Schädeln starren auf uns herab. Ich kann jeden einzelnen Körperknochen nach Gefühl erkennen, auch wenn ich sie nicht alle benennen könnte. Der Altar hat ein bisschen was von allem, die Knochen sind wie ein Puzzle zusammengesteckt und reichen vom Boden bis zur Decke. Sogar die Kelche und Schalen mit dem geweihten Wasser sind aus menschlichen Schädeln.
Um den Raum herum verteilte Alkoven beherbergen vollständige Skelette von großen kai, Hauptmänner, die sich im Dämonenkrieg verdient gemacht haben. Noch im Tod halten sie ihren Speer und ihren Schild. Die Sitzbänke sind aus Oberschenkelknochen und Wadenbeinen, die von Schnüren und Leim zusammengehalten werden. Selbst durch die drei Lagen Stoff zwischen meinem Hintern und dem Sitz spüre ich die Struktur der Knochen. Besonders unbequem sind die Stellen, wo die Gelenke aufeinandertreffen.
Es ist verstörend. Sogar ein bisschen gruselig. Aber trotzdem fühle ich mich hier sicher. Das ist der eine Ort, wo Dämonen nicht hinkommen.
Alles stinkt nach Weihrauch und den Chemikalien, mit denen man die Toten präpariert hat. Ausnahmsweise macht mir das nichts aus. Es überdeckt ein bisschen die Gerüche der Tausenden Gläubigen im Raum, den Schweiß, die Duftwässer und den Staub an ihren Sandalen.
Wie bei den Andachten in Tibbets Bach sind auch die Sitzbänke im Sharik Hora strikt getrennt: Die Männer sitzen vom Altar aus gesehen rechts, die Frauen links. Ein bisschen altmodisch ist das schon – die Freien Städte haben schon vor einer halben Ewigkeit mit dieser Tradition gebrochen –, und das ist einer von vielen Gründen, weshalb ich die Andachten geschwänzt habe, wann immer es ging. Also meistens.
Hier bedeutet es, dass ich auf der Seite der Männer sitze, zusammen mit Olive, Arick und ein paar Hundert Sharum-Kriegern. Selen und Rojvah hingegen müssen auf der anderen Seite des Mittelganges sitzen, zwischen den Frauen.
Macht für mich keinen Sinn, Familien so zu trennen. Und was ist mit Leuten wie Olive, die auf beide Seiten passt? Oder vielleicht auf keine von beiden.
Nicht, dass sie zwischen den Männern fehl am Platz wirkt. Ich bin der, der nicht dazu passt. Alle in meiner Reihe, Olive eingeschlossen, sind mindestens sechs Zoll größer und hundert Pfund schwerer als ich, und da ist noch nicht mal ihre gepanzerte Kluft mit eingerechnet, mit der sie noch größer und breiter wirken. Außerdem bin ich der Einzige, der keine schwarzen Klamotten trägt. Meine Bekleidung ist überhaupt nicht krasianisch. Ich falle auf wie ein Schaf in einer Höhle voller Nachtwölfe.
Selen sticht auf der anderen Seite vom Mittelgang genauso raus. Sie ist größer als die meisten Männer, also überragt sie alle anderen Frauen um Längen. Außerdem ist sie muskulös und trägt ebenfalls gepanzerte Anziehsachen. Genau wie ich weigert sie sich, sich krasianisch anzuziehen, was auch seine Nachteile hat. Rojvah fällt in ihren weißen Priesterinnengewändern viel weniger auf, aber ich weiß, dass sie diese Bekleidung hasst.
Jemand hustet, und ich zucke so heftig zusammen, dass Olive mir einen Blick zuwirft.
»Alles klar, Darin?«, fragt sie so leise, dass nur ich sie hören kann.
Meine Sinne sind nicht so wie die anderer Leute. Eine Nase wie ein Spürhund und Ohren wie eine Fledermaus, hat meine Mam immer gesagt. Geflüsterte Gebete an den Schöpfer höre ich genauso deutlich, als würde jemand quer durch einen Schankraum brüllen.
Aber das ist noch nicht alles. Ich kann den Herzschlag der anderen in meiner Sitzreihe spüren, die Knochenbank vibriert davon. In ihrem Atem schmecke ich den Tee und das gewürzte Fleisch, und ich könnte sagen, wer sich vor der Andacht klammheimlich einen Schluck Couzi gegönnt hat. Die Fliege, die hundert Fuß über unseren Köpfen um die Fenster schwirrt, klingt für mich, als würde sie direkt in meinem Ohr summen. Wenn ich hochschauen würde, könnte ich die Facetten ihrer Augen zählen.
»Mir geht’s gut«, murmele ich, und erleichtert kehrt Olive zu ihren eigenen Gedanken zurück. Heute leidet jeder an einem gebrochenen Herzen, aber Olive leidet am meisten.
Manchmal sind meine überempfindlichen Sinne sehr praktisch, aber meistens stören sie mehr, als dass sie nützen. Ich hasse Menschenmengen wie diese. Aber hier ist es genauso wie bei uns daheim in Tibbets Bach: Mal kann man es bringen, die Andacht zu schwänzen, mal nicht. Es hilft alles nichts, ich muss da durch.
Ich konzentriere mich auf die lauteste Stimme, die von Damaji Aleveran. Er spricht von einer Kanzel, die so konstruiert ist, dass die Akustik der gewaltigen Kuppel seine Predigt bis in den hinterletzten Winkel trägt. Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf ihn konzentriere, hilft mir das, all die vielen Bilder, Geräusche, Gerüche und Berührungen zu ertragen.
Was er da sagt, interessiert mich nicht wirklich. Irgendein Geschwafel, dass alles dem Willen des Schöpfers entspringt. Dafür verraten mir meine anderen Sinne umso mehr. Ich weiß, mit welchem Bleichmittel seine blütenweiße Robe gewaschen wurde, und der Geruch von Pergament und Tinte an seinen Fingern steigt mir in die Nase. Ich zähle die Furchen in seinem Gesicht und kann sein Greisentum riechen, aber Damaji Aleveran ist fitter und gesünder als die meisten Männer seines Alters. Ich rieche, dass er eine strenge Diät einhält, und sehe die Schwielen an seinen Händen. Ich höre, wie sich unter den Lagen seines Gewandes seine festen Muskeln ballen und gegen den Stoff scheuern.
Aleverans Herz schlägt stark und ruhig. Das und sein Geruch verraten mir, dass er an das glaubt, was er da predigt. Er ist davon überzeugt, dass es oben im Himmel einen Schöpfer gibt, der auf uns hinabschaut und den es kümmert, was wir tun.
Nicht jeder Heilige Mann ist gläubig. Manche liefern eine überzeugende Vorstellung ab, aber mich legt man nicht so leicht rein. Denjenigen, die zweifeln und gute Absichten verfolgen, kann ich vergeben, aber nicht denen, die vorsätzlich lügen. Viele Leute glauben fest an einen Schöpfer, und dafür beneide ich sie. Ich würde auch gern glauben, dass alles aus einem guten Grund passiert. Dass am Ende alles wieder gut wird.
Aber so einfach ist das nicht.
Endlich ist der Hauptteil der Andacht zu Ende, und die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Toten, die feierlich aufgebahrt vor dem Altar liegen. Zwei Prinzen und eine Prinzessin. Die Angehörigen der Priesterschaft verlassen die vorderen Sitzbänke und steigen auf den Altar. Die Männer, die den Rat der dama stellen, stehen rechts, die Frauen vom Rat der dama’ting links, während sie für die Gefallenen beten.
Die Leichname der anderen Märtyrer, die an Neumond den Tod fanden, wurden schon den Geistlichen übergeben, die darauf spezialisiert sind, das Fleisch von den Gebeinen zu kochen und die Skelette zu bleichen, damit sie nach dieser Prozedur diesem Ort einverleibt werden können, um dessen Macht zu steigern. Selen findet das barbarisch, aber wenn ich ehrlich bin, ich finde es wunderschön.
Trotzdem, kommt nicht jeden Tag vor, dass die Gebeine eines Angehörigen der Aristokratie dazukommen, geschweige denn drei. Prinz Chadan, Damaji Aleverans Enkelsohn. Prinz Iraven, Olives Halbbruder. Und Prinzessin Micha, Olives Halbschwester.
Ist schwer, sich Olives frühere Nanny Micha als Prinzessin vorzustellen, geschweige denn als berühmte Kriegerin. Aber es stellte sich raus, sie war beides. Hauptsächlich habe ich sie in Erinnerung, wie sie uns drei wie ein strenger, aber liebevoller Schatten überallhin folgte, wenn Olive, Selen und ich durch die Gänge von Tante Leeshas Burg tollten. Über die Gefahren außerhalb der Schutzsiegel machten wir uns keine Gedanken. Micha war eher unser Bodyguard als unser Kindermädchen, auch wenn keiner von uns das wusste.
Es ist ein bisschen ein Skandal, dass sie jetzt hier vor dem Altar aufgebahrt ist. In Tausenden von Jahren wurden kein einziges Mal die Gebeine einer Frau im Sharik Hora so präsentiert, aber jetzt wird die Magie von Heldenknochen dringend gebraucht. Der Wüstenspeer ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Dieäußere Stadt ist zerstört, und draußen in den Dünen rotten sich immer noch Sanddämonen zu einem Sturm zusammen.
Den Krasianern steht ihr Stolz oft im Weg, wenn sie Entscheidungen treffen müssen. Aber ich hoffe, sie sind nicht so blöd und lehnen die Gebeine einer starken Märtyrerin ab, nur weil sie eine Frau ist. Ich spüre Olives Anspannung, weil sie genau das befürchtet, aber ich kann ihr auch nicht helfen.
Nicht nur Micha, auch Olive ist ganz anders als in meiner Erinnerung, die verwöhnte Prinzessin des Tals, mit der ich groß geworden bin. Hier ist sie Prinz Olive, ein berühmter kai’Sharum, der so viele Dämonen getötet hat, dass so manch ein älterer und erfahrenerer Krieger grün vor Neid wird.
Olive riecht jetzt auch anders als früher. Ich glaube, bevor sie hierherkam, hat sie jeden Tag gebadet. Wahrscheinlich eher zweimal am Tag, als auch nur einen einzigen Tag auszulassen. Und die Seifen, die sie benutzte, rochen, als hätte sie ein Blumengarten ausgekotzt. Jetzt riecht sie männlicher als ich – nach Schweiß, Staub und Hava-Gewürz. So anders, dass ich sie im ersten Moment fast nicht erkannt hätte. Aber auch nur fast.
Darunter riecht sie immer noch ganz wie früher, nach Olive Papiermacher, meine allererste Freundin. Die Magie hat dafür gesorgt, dass Olive und ich im Mutterleib schneller gewachsen sind als andere Kinder. Nur ein paar Wochen nach unserer Geburt konnten wir schon laufen, bei Selen dauerte es knapp ein Jahr. Da spielten Olive und ich schon längst in unserem Kinderzimmer Fangen. Noch bevor ich gelernt hatte zu sprechen, konnte ich Olives Stimmungen riechen. Und jetzt rieche ich, dass sie sich große Sorgen macht und gleichzeitig sehr wütend ist. Und wer könnte ihr das verdenken? Sie hat fast alles verloren, was ihr lieb und teuer ist, und dazu hätte es gar nicht kommen müssen.
Man sollte meinen, dass jemand in ihrer Lage weint oder tobt, aber Olive bewahrt ihre Fassung, aus Respekt vor den Toten. In Krasia schickt es sich nicht, für einen männlichen Sharum-Kämpfer zu weinen oder Everams Willen infrage zu stellen, wenn Er Seine Krieger zu sich in den Himmel ruft, wenn man an so was glaubt. Früher war Olive nicht religiös, aber es hat sich eine Menge geändert, und ich bin mir nicht mehr sicher, wie gut ich sie kenne.
An meiner rechten Seite steht Arick und verströmt fast dieselben Gerüche wie Olive. Micha war nicht nur Aricks Tante, sie war auch die Speerschwester seiner Mutter und vielleicht das erste ranghohe Mitglied der kriegerischen Kaste, das ihn so akzeptiert hat, wie er nun mal ist. Wie Olive, so gibt auch er sich die Schuld für das, was in den Dämonentunneln passiert ist. Obwohl beide nichts dafür können.
Auf der anderen Seite des Mittelgangs, da, wo die Frauen sitzen, sind Emotionen nicht nur erlaubt, sie werden sogar ermutigt. Rojvah weint hemmungslos, aber das ist eher eine Vorstellung als aufrichtiger Kummer. Ihre Schluchzer sind sorgfältig dosiert, was Lautstärke und Gestik betrifft, und sie stellt ihre Trauer zur Schau, ohne dabei die Andacht zu stören oder sich in der Litanei der Gebete zu verhaspeln. Und warum auch? Sie kannte die drei Gefallenen kaum.
Aber ihre Tränen sind echt. Ich weiß nicht, wie sie es schafft, auf Kommando zu weinen – wie überhaupt jemand so was kann –, aber unter ihrer Schminke und ihren Parfüms schmecke ich in der Luft ihre Tränen, während sie jeden einzelnen Tropfen geschickt mit dem flachen Ende eines Tränenfläschchens auffängt, bevor er das Kajal um ihre Augen verschmiert.
Selen, die neben ihr steht, hat nicht viel für Püderchen oder Schluchzen übrig. Aber sie hat Nanny Micha mehr geliebt als ihre eigene Mam. Selbst in dieser großen Menge kann ich Selens Geruch herausschnuppern. Ich kenne ihn wie meinen eigenen. Ihr Schmerz ist aufrichtig. Stumme Tränen hinterlassen glitzernde, salzige Spuren auf ihren Wangen. Ich wünschte, ich wäre jetzt bei ihr, um sie zu trösten. Aber vielleicht ist es das Beste, dass wir auf Abstand bleiben müssen, denn in so was war ich noch nie gut.
Ich bin auch traurig, aber ich habe noch nie verstanden, warum Leute ihre Gefühle so zur Schau stellen, wenn sie doch schon in ihrem Geruch zu erkennen sind. Manchmal mach ich mir Sorgen, dass mich Leute für herzlos halten. Wahrscheinlich könnte ich auch einfach schauspielern wie Rojvah, aber ich würde mir wie ein Lügner vorkommen.
Die Krasianer scheinen nichts zu merken. Für sie bin ich ein Mann, ein Angehöriger der Kriegerkaste, obwohl man mir das nicht ansieht. Männliche Sharum müssen Trauer genauso umarmen wie Freude und dann beides beiseiteschieben.
Das ist ein kleiner Trost, wo gerade jeder in diesem verflixten Tempel mich beobachtet.
Es ist nicht unbescheiden, das zu sagen, weil es stimmt. Krasianer bilden sich gern ein, sie seien subtil, aber alle schielen heimlich in unsere Richtung. Ich höre sie flüstern. Sie tuscheln über Olive und die anderen, aber hauptsächlich über mich. Dass ich der Sohn des Par’chin bin und was das bedeutet.
Mein Vater, Arlen Strohballen aus Tibbets Bach, hat sich bei den Krasianern einen Ruf erworben. Jeder kennt ihn. Sogar in Neu Krasia – eine moderne Gesellschaft, in der seit fünfzehn Jahren Frieden herrscht – gehen die Meinungen über ihn auseinander. Der Schöpfer allein weiß, was die Majah von ihm halten.
Es könnte schlimmer sein. Wenigstens lästern sie nicht, wie die krasianischen Tratschen im Norden, dass ich im Abgrund geboren wurde und Dämonenblut in mir habe. Trotzdem mag ich es nicht, wenn ich so im Mittelpunkt stehe.
Aber für Olive ist das hier wichtig, deshalb mache ich das ganze Theater mit. Vom Beten halte ich nicht viel, genau wie mein Dad. In seinen Reisetagebüchern hat er darüber geschrieben. Hat bei Andachten dauernd Wassermelone vor sich hin gemurmelt, damit andere sehen, wie seine Lippen sich bewegen, und denken, er würde mitbeten. Mich hätte er damit nicht täuschen können, aber andere Leute können nicht so gut hören und sehen wie ich, vor allen Dingen, wenn sie angestrengt versuchen, nicht neugierig zu wirken.
»Chadan asu Maroch am’Majah«, dröhnt Aleveran und zieht meinen Blick wieder auf den Altar, während er seine Hand über die drei Leichname schwenkt. »Iraven asu Ahmann am’Jardir am’Majah. Micha vah Ahmann am’Jardir am’Kaji. Wer wird Zeugnis ablegen über ihre Ruhmestaten?«
In den Reihen breitet sich Bewegung und Gemurmel aus, obwohl alles vorher beschlossen wurde. Die Krieger, die unten in der Tiefe dabei waren und alles bezeugen können, waren sich ausnahmslos einig, wer für sie sprechen soll.
Einen Herzschlag kann ich deuten wie einen Gesichtsausdruck. Olives kräftiger Puls ist für mich wie ein offenes Buch. Ich kenne den gleichmäßigen Takt, wenn sie ruhig ist. Und das heftige Pochen, wenn ihr Blut in Wallung gerät. Aber jetzt höre ich einen ungewohnten Rhythmus, das Herz hämmert furchtbar schnell und erinnert an einen Hasen, der vor einem Hund flüchtet.
Jeder hier kennt den Namen von Olives Dad, genau wie den von meinem Vater, und auch in diesem Fall gehen die Meinungen auseinander. Die Majah hielten Ahmann Jardir mal für das Sprachrohr Everams. Viele von ihnen glauben das immer noch, egal, was ihre Anführer sagen, und deshalb wären Damaji Aleveran und seine Ratgeber froh, wenn sie diesen Namen nie wieder hörten.
Aber im Gegensatz zu mir ist Olive Papiermacher kein Feigling, der sich vor einem Kampf drückt.
Ich heiße Olive Papiermacher, und ich habe schreckliche Angst.
Ich hole tief Luft und umarme die Furcht. Chadans Rüstung passt mir wie ein maßgeschneidertes Gewand und verursacht kaum ein Geräusch, als ich aufstehe.
Eine Tazhan-Rüstung wird hergestellt mithilfe der alagai-Schuppen-Technik – zahllose winzige überlappende Schüppchen aus scharfem schwarzem Stahl. Biegsam wie ein Hemd aus Stoff und undurchdringlich wie ein Schild. Die Schuppen tragen Siegel zur Abwehr von Dämonen. Werden sie getroffen, dann kräuseln sie sich wie Wasser, das einen Stein verschluckt, verteilen die Energie und dämpfen den Aufprall.
Chadans Majah-Emblem, ein einzelner Speer, wurde entfernt und durch mein eigenes Abzeichen ersetzt. Kein Geschenk der Majah könnte jemals wiedergutmachen, was sie mir angetan haben, aber es ist nur recht und billig, dass ich die Rüstung meines Prinzen trage, mitsamt unserem gemeinsamen Wappen, Speer und Olive.
Über der Rüstung trage ich einen schlichten schwarzen Umhang, der vorne offen ist, eine Art Cape. Er schützt ein bisschen vor den scharfen Rändern der Metallschuppen und verhindert, dass sie die beinernen Sitzbänke zerkratzen. Mein Helm ist mit einem schwarzen Turban umwickelt, und um meinen Hals hängt lose ein Schleier aus blütenweißer Seide.
Diese krasianische Aufmachung ist mein Schutzschirm vor den neugierigen Gaffern, so wie die Rüstung mich vor einem Angriff beschützt. Nach außen wirke ich, als würde ich hierhin gehören, an diesen heiligen Ort, aber ich fühle mich alles andere als heimisch. Ich bin Hunderte von Meilen von meinem Zuhause entfernt, umgeben von Angehörigen eines Stammes, der mit meiner Familie verfeindet ist, aber ich sehe so aus, als gehörte ich dazu. Mein Turban und der Schleier entsprechen den Traditionen der Majah, bis hin zum Schnitt meines Umhangs und der Schnürung meiner Sandalen.
Ich sehe aus wie meine Geiselnehmer.
Erst vor wenigen Monaten erlebte ich in einem anderen Raum dieses großen Tempels die schlimmste Demütigung meines Lebens. Man hatte mich gewaltsam aus meiner Heimat entführt, hierher verfrachtet und auf den Boden geschmissen wie eine Kriegsbeute. Und als der Damaji fand, ich sei vorlaut und frech, ließ er mich auspeitschen, bis ich heulend am Boden lag.
Und jetzt steht dieser grausame Mensch vor mir, während ich mich dem Altar nähere.
Damals galt ich hier als der push’ting-Prinz, ein »Sohn«, der von der Herzogin Leesha Papiermacher aus Feigheit als Tochter erzogen wurde – oder war es Klugheit? Doch egal, ob sie mich damit vor Meuchelmördern oder bösartigen Intrigen im Streit um den Thron meines Vaters beschützen wollte: Die Majah hielten nicht viel von Mutters Entscheidungen, und von mir auch nicht. Sie taten alles, um einen Mann aus mir zu machen, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wer ich wirklich war oder was ich wollte.
Und es hat funktioniert. Sogar besser als jeder – ich eingeschlossen – hätte erwarten können. Als Frau wollten die Majah mich nicht akzeptieren, also übernahm ich die Rolle eines Mannes und ging darin auf. So zwang ich sie, mich zu akzeptieren. Jetzt stehe ich vor ihnen als Prinz Olive, eine beeindruckende Erscheinung in meiner Tazhan-Rüstung, und ich habe genauso viel Ruhm und Ehre angehäuft wie jeder einzelne der Krieger, deren Gebeine diesen Tempel schmücken.
Aber ich bin weder die verwöhnte Prinzessin noch der ruhmreiche Prinz. Zumindest nicht gänzlich. Ich spiele immer noch eine Rolle, und das schon so lange, dass ich selbst nicht mehr weiß, wer ich sein werde, wenn ich einmal aufhöre, mich zu verstellen. Ganz sicher nicht Prinzessin Olive, das Mädchen, das viel Zeit damit verbrachte, es ihrer Mutter recht zu machen, oder sich mit so oberflächlichen Dingen wie höfischer Mode und Klatsch beschäftigte.
Die Wüste hat Prinz Olive hart gemacht. Egal, ob ich im Labyrinth gegen Dämonen kämpfte oder mich an meinem Schlafplatz gegen Meuchelmörder aus dem Stamm der Majah wehren musste, im Wüstenspeer habe ich mich nie wirklich sicher gefühlt, außer wenn ich in den Kissen neben Prinz Chadan schlief. Nun ist mein Prinz tot, und ich fürchte, ich werde mich nie wieder sicher fühlen. Aber ich kann in meine Heimat zurückkehren und vielleicht herausfinden, was unter Prinz Olives harter Schale noch erhalten geblieben ist.
Ich kann es kaum erwarten, den Wüstenspeer hinter mir zu lassen. Seine Gespenster, seine Dämonen, seine kleinliche Politik. Mit meinen Speerbrüdern habe ich im gemeinsamen Kampf Blut vergossen, und es sind Freundschaften entstanden. Aber ihre Anführer haben mir immer nur übel mitgespielt.
Trotzdem muss ich noch diese letzte Aufgabe übernehmen, meine Schwester und meinen Prinzen auf ihren Weg ins Jenseits schicken, bevor mein eigenes neues Leben beginnen kann.
Im Grunde glaube ich nicht an irgendein Leben nach dem Tod. Ich glaube auch nicht an Everam oder an den Schöpfer, von dem uns die Fürsorger im Norden erzählen. Mutter hat mich zu einer gesunden Skepsis gegenüber Geistlichen und den sogenannten »Heiligen Schriften« erzogen. Respektiere den Glauben anderer, pflegte sie zu sagen, aber glaube keinem, der erklärbare Ereignisse auf eine göttliche Fügung zurückführt oder so starr an seiner Überzeugung festhält, dass er sich weigert, Beweise, die auf das Gegenteil hindeuten, auch nur in Betracht zu ziehen.
Meiner Meinung nach gibt es keinen Himmel, und der Abgrund ist nur ein Wort für die mit Magie übersättigte Welt im Inneren von Ala. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen, und sie ist angsteinflößend, aber nichts deutet auf die Existenz einer höheren Macht hin.
Ich habe schon gesehen, wie Männer wegen weit weniger gotteslästerlicher Bemerkungen in Schlägereien gerieten, und ich würde mich hüten, meine Gedanken laut auszusprechen.
Im Gegensatz zu mir haben mein Prinz und meine Schwester an Everam geglaubt. Die Gebete und Rituale haben ihnen etwas bedeutet, und Chadan und Micha waren wiederum mir wichtig. Wie soll ich diese beiden Menschen, die ich geliebt habe, ehren, ohne ihre religiöse Überzeugung zu ehren?
Ich glaube zwar nicht an den Schöpfer, aber ich glaube an Magie. Sie ist eine messbare, beweisbare Tatsache. Die Horcmagie, die vom Mittelpunkt der Welt aus an die Oberfläche dringt, die Knochenmagie der Helden. Im Siegellicht habe ich die Macht des Sharik Hora gesehen. Mutter war selbst eine Siegelhexe, und zahllose Stunden lang habe ich diese Kunst in der Kammer der Schatten studiert, obwohl ich nie den Bogen rausbekommen habe, sie so zu nutzen, wie meine Mutter es konnte.
Micha und Chadan haben zeit ihres Lebens davon geträumt, im Kampf gegen die Horclinge einen ehrenvollen Tod zu finden und ihre Gebeine diesem Heiligen Tempel zu weihen. Ich weiß, dass das Opfer, das sie in ihren letzten Stunden brachten, die Macht ihrer hora stark und rein machen wird. Es ist meine Pflicht als Schwester und als … Freund, jetzt aufzustehen und dafür zu sorgen, dass ihnen die Ehre zuteilwird, die sie verdienen.
Beim Altar angekommen, deute ich vor Damaji Aleveran eine Verbeugung an. Respektvoll – gerade so –, aber bei Weitem nicht so unterwürfig, wie sich selbst die mächtigsten Mitglieder des Majah-Stamms vor ihrem Damaji verneigen. »Ich, Olive asu Ahmann am’Jardir am’Papiermacher, werde für die Toten sprechen.«
Unter den Versammelten macht sich Gemurmel breit, über meine Unverschämtheit und meinen fehlenden Respekt, aber auch, weil der Name meines Vaters fällt. Es gab eine Zeit, da hielten alle Majah Ahmann Jardir für den Erlöser. Viele tun es heute noch.
Aleveran hat das Recht, von mir zu verlangen, dass ich niederknie, aber er ist weise genug, darauf zu verzichten. Freiwillig würde ich vor diesem Mann niemals auf die Knie fallen, und selbst wenn es ihm gelänge, die Sharum dazu zu bringen, mich mit Gewalt auf die Knie zu zwingen, würde er für diesen Akt sein Gesicht und die Zustimmung vieler seiner Unterstützer verlieren.
Aleveran wünscht sich genauso sehr wie ich, dass ich dem Wüstenspeer den Rücken kehre. Noch ein letztes Tänzchen, und unsere Wege trennen sich für immer. Er erwidert meine sparsame Verbeugung mit einem noch sparsameren Kopfnicken, was trotzdem eine öffentliche Ehrbezeugung darstellt, besonders nachdem ich ihn so beleidigt habe.
»Sei willkommen, Sohn des Ahmann.« Der Damaji streckt mir eine Hand entgegen, mit der anderen deutet er auf den Zeugenstand. »Sprich die Wahrheit, damit Everam und alle Seine Kinder sie hören mögen.«
Mit durchgedrücktem Kreuz und hocherhobenem Kopf steige ich die Stufen zum geweihten Zeugenstand hinauf, der aus den Rippen, Wirbelsäulen und Schulterblättern von Märtyrern erbaut ist. Angeblich verbrennen die Knochen die Hände desjenigen, der dort eine Lüge ausspricht. Ein Teil von mir fragt sich, ob das Wahrheit oder Mythos ist, aber ich werde es nicht überprüfen. Heute halte ich mich strikt an die Wahrheit, koste es, was es wolle.
»Vor dir liegt mein Enkelsohn, Chadan asu Maroch am’Majah«, intoniert Aleveran, gefühllos wie eine Marmorstatue. »Welchen Ruhm hat Prinz Chadan errungen, um sich einen Platz im Tempel der Gebeine der Helden zu verdienen?«
Er zeigt auf den ersten der drei Leichname vor dem Altar. Ein Turban verbirgt Chadans Kopfwunde, man sieht nicht, wie fürchterlich sein Schädel zugerichtet wurde. Sein gepudertes Gesicht trägt einen Ausdruck heiterer Gelassenheit, als würde er nur friedlich schlafen und könnte jeden Moment aufwachen. Seine Rüstung schmiegt sich an mich wie ein Festtagsgewand an einer Sonnenwendfeier, und sie riecht immer noch nach ihm. Sogar jetzt kann ich seine Nähe spüren.
Der Schmerz droht mich zu überwältigen, doch in Gedanken höre ich das tröstende Mantra meiner alten Lehrerin. Angst und Schmerzen sind wie der Wind. Mach es wie die Palme, beuge dich und lass ihn über dich hinwegstreichen.
Ich schließe die Augen. Als Dama’ting Favah zum ersten Mal diese Worte aussprach, hatte ich noch nie eine Palme gesehen. Einen Monat später kam sie während eines gewaltigen Sturms zu mir und führte mich an ein Fenster. Von dort aus konnte man auf einem kleinen Hügel einen von Wind und Regen gepeitschten Weidenbaum sehen. Er beugte sich und schwankte und trotzte dem Unwetter, ohne auch nur einen einzigen Ast zu verlieren.
Nun stelle ich mir diesen Baum vor und lasse meinen Geist im Rhythmus des Sturmwinds meines Kummers schwingen. Ich stehe hier als Fürsprecher, nicht als Trauernder. Als ein Mann, der von Chadans ruhmreichen Heldentaten berichtet, nicht als eine Frau, die über seinem Leichnam weint.
Aber ich bin nun mal eine Frau. Zumindest teilweise. Und warum darf ich nicht um Chadan weinen? Was spielt es für eine Rolle, ob ich als Mann liebe oder als Frau? Werde ich je wieder einen Menschen so lieben können, wie ich meinen Prinzen geliebt habe?
Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle herunter und fürchte schon, ich könnte vor lauter Kummer nicht sprechen. Doch am Ende fällt es mir leicht zu sagen, warum ich Prinz Chadan geliebt habe.
»Chadan asu Maroch am’Majah war der tapferste Mann, der mir je begegnet ist.« Ich umklammere die Gebeine des Zeugenstands ohne Furcht vor seiner angeblichen Macht. »Gemeinsam haben wir im alagai’sharak unser Blut vergossen, nicht nur im Labyrinth, sondern auch auf den Straßen des chin-Quartiers, wo er nicht einmal den niedrigsten Bettler den alagai überlassen hätte, solange der noch einen Funken Leben in sich hatte.
Immer und immer wieder griffen die alagai Menschen an, für die er Verantwortung hatte«, sage ich. »Frauen. Kinder. Khaffit. Auch dürfen wir seine Speerbrüder nicht vergessen. Jedes Mal, wenn die Dämonen sich auf sie stürzten, trafen sie stattdessen auf Chadans Schild und Speer!« Ich recke die geballte Faust in die Höhe, sodass jeder sie sehen kann. »Ich selbst wäre tot«, mit der Hand mache ich einen Schwenk über die Sharum in der ersten Reihe, »wir alle wären tot, hätte der Sohn des Maroch uns nicht gerettet. Das kann ich bezeugen!«
Wie ein einzelner Mann stampfen meine Speerbrüder mit den Füßen auf, ein Geräusch, das durch die Kuppel des Tempels hallt. »Das kann ich bezeugen!«, brüllen sie im Chor.
Dieses Echo gibt mir Zuversicht. Zumindest Chadans Weiterleben nach dem Tod scheint gesichert. »Als die Zeit des Neumonds kam und Alagai Ka auf der Oberfläche von Ala umherpirschte, hätte man selbst einem mutigen Mann seine Angst verziehen. Aber der Sohn des Maroch zögerte keinen Augenblick, den Kampf aufzunehmen. Selbst dann nicht, als der Vater des Bösen seine Kreaturen losschickte, um unsere Stadtmauern einzureißen. Selbst dann nicht, als es galt, tief in die immerwährende Nacht hinabzusteigen, weil Alagai Ka die Untere Stadt eingenommen und für sich beansprucht hatte. Das kann ich bezeugen.«
»Das kann ich bezeugen!« Wieder stampfen meine Brüder mit den Füßen auf, und dieses Mal schließen sich Arick und sogar Selen an, obwohl es sicher ein Skandal ist, hier im Sharik Hora eine Stimme von der Frauenseite zu hören.
»Nachdem der Dämonenkönig Chadan schwer verletzt hatte, hätte der sich seinem Schicksal ergeben und ehrenhaft sterben können. Seine Seele glänzte im strahlenden Schein seines Ruhms. Doch dann hätte ich meinem Feind wehrlos gegenübergestanden, und das wollte mein Prinz niemals zulassen.«
Wieder schnürt sich mir die Kehle zusammen. Ich erwähne nicht, dass Chadans Verletzung nicht von einem Dämon stammte, sondern von meinem besessenen Halbbruder Prinz Iraven, der auch mich getötet hätte, wäre Chadan nicht trotz der Klinge, die in seiner Lunge steckte, in den Kampf zurückgekehrt. Ich erwähne nicht, dass Chadans eigene Speerbrüder, die genau wie Iraven vom Dämon besessen waren, ihn schließlich niederstreckten und vor den Vater des Bösen zerrten.
Ich habe geschworen, nicht zu lügen, aber das heißt nicht, dass ich die ganze Wahrheit sagen muss.
»Am Ende war es Alagai Ka selbst, der den Sohn des Maroch tötete. Sharum sehnen sich nach einem ehrenvollen Tod, und was könnte ehrenvoller sein, als von dem Höchsten Dämon, Nies rechte Hand auf Ala, umgebracht zu werden? Das kann ich bezeugen.«
»Das kann ich bezeugen!«, donnern meine Brüder, während sie mit den Füßen stampfen, obwohl das so gar nicht stimmt. Sie alle waren Marionetten und dem Willen des Dämons unterworfen, als der sich an Chadans Geist labte. Doch als wir seine Macht über sie lösten, sahen sie das Grauen, das angerichtet worden war. Sie wissen, dass ich die Wahrheit sage.
Aleveran wendet sich an seine geistlichen Berater, doch keiner von ihnen wäre so töricht, meine Worte anzuzweifeln oder mir zu widersprechen. Aleveran gibt ihnen kaum Zeit, zustimmend zu nicken, da hebt er auch schon die Hände und gibt den nie’dama, die am Altar dienen, einen Wink, die Glocken zu läuten, zum Zeichen, dass Chadan die Aufnahme in den Sharik Hora gewährt wird.
»Everam, Spender von Licht und Leben, nimm die Gebeine von Chadan asu Maroch an, auf dass sie in Deinem ewigen Namen diesen großen Tempel zieren.«
Muskulöse Priester verneigen sich vor dem Altar, heben die Tragestangen von Chadans Bahre an und bringen sie zum Präparieren in den Unteren Tempel.
Als sie fort sind, herrscht ein paar Augenblicke lang Schweigen aus Respekt vor Prinz Chadan. Ich schließe die Augen und wünsche seinem Geist eine gute Reise – was immer man sich darunter vorstellen mag. Viel zu früh reißt Aleverans Stimme mich aus meinen Erinnerungen.
»Vor dir liegt Iraven asu Ahmann am’Jardir am’Majah.« Mit derselben Gleichmütigkeit wie zuvor bei Chadan spricht Aleveran nun über meinen Halbbruder, den Mann, der ein ständiger Stachel in seinem Fleisch war und eine Bedrohung für seine Macht. »Welchen Ruhm hat Prinz Iraven errungen, um sich einen Platz im Tempel der Gebeine der Helden zu verdienen?«
Außerstande, Iraven anzusehen, springen meine Augen zum Rat der dama’ting, von dem aus Iravens Mutter Belina mich mit hasserfülltem Blick beobachtet. Die Jongleure kennen viele Geschichten über böse Stiefmütter, aber meine übertrifft sie alle. Oder fast alle. Bedenkenlos hat sie mein Leben ruiniert, um ihrem einzigen überlebenden Sohn Ruhm und Ehre zu verschaffen. Und jetzt ist auch er tot. Von ihrer Familie ist ihr nur noch ihre Tochter Linavah geblieben, von der es heißt, mein Vater halte sie im Norden als Geisel fest, so wie ich hier gefangen gehalten wurde.
Ich weiß, dass Belina Angst hat, was ich sagen werde – sie fürchtet, mit meiner Aussage könnte ich ihrem Sohn auch noch den letzten Rest Ehre nehmen. Beim Schöpfer, nichts würdeich lieber tun. Die Sharum haben mich zu ihrem Sprecher gewählt, und Belina kann mich nicht daran hindern, die Wahrheit zu sagen.
Aber sie kennt mich nicht so gut, wie sie glaubt.
»Iraven hatte das Herz eines Sharum«, beginne ich. »Ich stand neben ihm auf der Mauerkrone, als die alagai vor drei Monden das große Tor durchbrachen. Er hätte das Labyrinth abriegeln und die Männer, die darin gefangen waren, den Dämonen überlassen können. Aber er ließ seine Krieger nicht im Stich. Er hätte ihnen von seinem sicheren Posten auf der Mauerkrone die Rückeroberung befehlen können, aber er wollte seine Männer nicht in eine Schlacht schicken und sie selber meiden. Der Majah-Sohn des Ahmann sprang in den inneren Hof hinunter und führte den Angriff an. Er eroberte das Tor zurück und säuberte das Labyrinth von den Dämonen. Hunderte von Sharum verdanken ihm ihr Leben. Das kann ich bezeugen.«
Und wieder lassen die Sharum ihre Füße auf den Boden krachen. »Das kann ich bezeugen!«
»Als die Dämonen unter dem Bezirk der chin Tunnel gruben«, fahre ich fort, »und plötzlich durch die Straßen stürmten, hätte Iraven die chin opfern können, um seine Krieger zu schonen. Aber in der Nacht sind alle Menschen Geschwister, und der Majah-Sohn des Ahmann wollte niemanden sterben lassen. Er schlug Exerziermeister Chikga nieder, als der genau das vorschlug. Das kann ich bezeugen.«
»Das kann ich bezeugen!«, donnert der Chor der Krieger.
Ich hatte gehofft, diese Aussage würde genügen, aber ich sehe bereits, dass es nicht so ist. Während Chadans Aufnahme in den Sharik Hora eine bloße Formalität war, ist das Ersuchen, Iravens Gebeine aufzunehmen, eine große Herausforderung. Viele einflussreiche Geistliche der Majah betrachten Iraven – und Belina – als Eindringling, der nicht wirklich dazugehört, und würden ihm am liebsten einen Platz im Tempel verweigern. Belinas Blicke sind immer noch giftig, als ich keine Anstalten mache, noch mehr zu sagen.
Als Aleveran dieses Mal zu seinen Beratern blickt, tritt sein Sohn, Dama Maroch, Chadans Vater, wie in einer eingeübten Choreografie nach vorne. »Nach deinen eigenen Worten, Sohn des Ahmann, hat Prinz Iraven einen großen Teil der Tragödie, die uns beim letzten Erlöschen des Mondes heimsuchte, selbst verschuldet. Er hat uns alle verraten, indem er es versäumte, die Bresche zu schließen, und stattdessen unsere besten Krieger in den Hinterhalt unter der Stadt führte. Glaubst du wirklich, dass er ein würdiger Anwärter für einen Platz im Sharik Hora ist?«
Bei diesen Worten schnappen viele in der Menge nach Luft, und einige andere dama nicken zustimmend mit dem Kopf. Der Rat hat meine Aussage und die Berichte anderer Zeugen bereits gehört, die hier versammelten Gläubigen aber nicht. Man hätte das alles hinter verschlossenen Türen regeln können, aber Aleveran wollte Iravens ehrloses Verhalten öffentlich machen, um den Einfluss all jener zu schwächen, die meinen Vater nach wie vor für den rechtmäßigen Herrscher über ganz Krasia halten.
Politik. Sogar hier. Ich knirsche mit den Zähnen angesichts dieser Abscheulichkeit.
Aber bei solchen abscheulichen politischen Machenschaften spiele ich nicht mit. Nicht hier und auch nicht, wenn ich wieder in meine Heimat zurückkehre und meine eigene Machtposition halten muss.
Ich hebe den Blick und fasse zuerst Aleveran, Maroch und die anderen Geistlichen ins Auge, bevor ich die übrigen Trauernden ansehe. »Das ist wahr«, gebe ich zu, und wieder wird nach Luft geschnappt. »Zum Schluss ergriff Alagai Ka Besitz von Iravens Geist und zwang meinen Bruder, uns zu verraten. Er war nicht der Einzige, der unter dem Einfluss des Dämonenkönigs stand. Viele Sharum bekämpften einander, als ihre Gedankensiegel in der Hitze des Gefechts versagten. Die Fremdbestimmung über Menschen ist die Waffe der Seelendämonen, eine Waffe, die genauso gefährlich ist wie die Krallen eines Sanddämons oder der flammende Speichel der Feuerdämonen.«
Ich drehe mich um, und endlich blicke ich meinen Bruder an. Aufgebahrt sieht er friedvoll aus, wie die anderen, doch sein schönes Gesicht erinnert mich nur an die Schmerzen, die er mir bereitet hat. Und ich habe geschworen, bei der Wahrheit zu bleiben.
»Ich kann Iraven nicht lieben. Mein Bruder hat versucht, mich zugrunde zu richten, er hat mir mehr Leid zugefügt als jeder andere Mensch, und nicht immer stand er dabei unter dem Einfluss des Dämonenkönigs. Er schickte Krieger los, die mich in der Nacht aus meinem Zuhause entführten, und das mit einer Bedenkenlosigkeit, als ginge es nur darum, einen Brunnen zu erobern. Er schickte Exerziermeister Chikga in den Tod. Er hat meine Schwester umgebracht.«
Meine Hände fangen an zu schwitzen, als ich mich an das geweihte Pult klammere, und einen flüchtigen Moment lang frage ich mich, ob es auch eine Halbwahrheit, eine Lüge durch Unterlassung, erkennen kann. Denn schon wieder lasse ich etwas unerwähnt: dass Iraven es war, während er unter Alagai Kas Kontrolle stand, der Chadan ein Messer in die Lunge stieß. Das wäre die volle Wahrheit, aber wenn sie herauskäme, würde sie das, was von dieser Stadt noch geblieben ist, vernichten, mitsamt dem ganzen Stamm der Majah.
Stattdessen fahre ich fort, die Wahrheit zu sagen, auch wenn es mir das Herz zerreißt. »Aber es fielen auch massenhaft Dämonen durch den Speer des Majah-Sohns von Ahmann. Und als Alagai Ka die Flucht ergriff und mein Bruder wieder bei klarem Verstand war, zog Iraven es vor, einen ehrenvollen Tod zu sterben, statt zu riskieren, das Gift des Dämons, das vielleicht noch in einem dunklen Winkel seines Geists lauerte, zurück zu seinem Volk zu tragen. Er starb als Märtyrer, um den Wüstenspeer und seine Bewohner zu schützen, und diese letzte ruhmreiche Tat erzeugt genau die Macht, die die Heilige Stadt so dringend braucht.«
Demonstrativ hebe ich die Hände, sodass alle sie sehen können, und lege sie dann flach auf das Zeugenpult, auf dass mich die heilige Reliquie verbrenne, falls ich die Unwahrheit sage. »Das kann ich bezeugen!«
Mit den Füßen stampfen genügt Iravens Leibgarde nicht, den Speeren der Wüste. Exerziermeister Zim reißt eine gepanzerte Faust in die Höhe und knallt sie dreimal gegen seinen Brustharnisch, direkt über dem Herzen. Hunderte von Kriegern tun es ihm gleich und brüllen: »DASKANNICHBEZEUGEN!«
Marochs Lippen werden schmal. Sein Einspruch war abgesprochen, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass die Sharum ihre eigene Reaktion darauf einstudiert hatten.
Ich hasse Politik, aber ich bin nicht dumm.
Ich warte auf weitere Einwände, doch die Geistlichen sind ebenfalls nicht dumm. Keiner will sich mit den Kriegern anlegen, nur um Aleverans persönliche Rachegelüste zu befriedigen. Als es wieder still wird, hebt Aleveran die Hände und gibt das Zeichen, die Glocken zu läuten.
»Everam, Spender von Licht und Leben, nimm die Gebeine von Sharum Ka Iraven asu Ahmann am’Jardir am’Majah an, auf dass sie in Deinem ewigen Namen diesen großen Tempel zieren.«
Nachdem man Iraven fortgetragen hat, bleibt nur noch meine Schwester übrig. Wenn es schon schwierig war, für meinen Bruder um Aufnahme in den Sharik Hora zu bitten, so gleicht das hier einer Wanderung in den Abgrund. Noch nie wurden die Gebeine von Kriegerinnen in diesem Tempel beigesetzt, und alte Männer fürchten nichts mehr als Veränderung.
Aber ich bin schon einmal aus Liebe in den Abgrund marschiert, und diese alten Männer haben für mich nichts Bedrohliches mehr. Wenn sie meine Schwester nicht so behandeln, wie sie es verdient, nehme ich ihren Leichnam mit zu mir nach Hause und sorge dafür, dass sie in der Kathedrale des Erlösers im Tal ihre letzte Ruhestätte findet. Mir persönlich wäre das sogar am liebsten, aber ich weiß, dass sie hier bestattet werden wollte.
»Vor dir liegt Micha vah Ahmann am’Jardir am’Kaji.« Ein Hauch von Missbilligung schleicht sich in Aleverans Stimme, die bei seinem Enkelsohn und seinem größten Rivalen noch so teilnahmslos geklungen hatte. »Welche Ruhmestaten hat die Tochter von Ahmann vollbracht, um sich einen Platz unter Männern im Tempel der Gebeine der Helden zu verdienen?«
Unter den dama macht sich Murren breit. Eine Frau zu ehren, kratzt an ihrer eigenen Macht. Sie werden nicht so schnell nachgeben, wie sie es bei Iraven getan haben, und meine Krieger haben Micha nicht so gut gekannt wie ich. Für die Ehre einer Frau werden sie sich nicht ins Zeug legen, und das würde ich von ihnen auch gar nicht verlangen. Das hier ist nicht ihr Kampf.
Ich sehe meine Schwester an, die so friedlich daliegt, und wieder bricht es mir schier das Herz. Micha gehörte so sehr zu meiner Welt, dass ich nicht weiß, wie ich ohne ihren ständigen Rat, ihre Liebe und ihre Unterstützung auskommen soll.
Micha war meine Schwester, doch ich begriff erst wirklich, was das bedeutete, als es schon zu spät war. Den größten Teil meines Lebens hatte Micha mir verschwiegen, dass sie mehr war als nur mein Kindermädchen. Das nahm ich ihr übel, ich fand, sie hätte mich belogen, doch damit habe ich ihr unrecht getan. Für mich hatte sie alles aufgegeben, ihren Ruhm, ihre hohe gesellschaftliche Stellung, ihr eigenes Leben – alles nur, damit sie offiziell als meine Nanny durchgehen konnte, während sie mich in Wahrheit vor Meuchelmördern beschützte. Ohne Micha wäre ich längst tot, und trotzdem war ich so arrogant, sie zu verurteilen.
Von ihr hätte ich noch viel lernen können – und ich hätte noch so vieles mit ihr unternehmen wollen. Jetzt ist sie von mir gegangen, und mir bleibt nur ihr Vorbild, um ihr nachzueifern. Als Kriegerin suchte Micha ihresgleichen, aber als Frau opferte sie sich auf, um ihre kleine Schwester zu schützen. Wenn das eine Frau ausmacht – die Bedürfnisse anderer Menschen über die eigenen Wünsche nach Ruhm und Ehre zu stellen –, dann bedeutet dieses Opfer genauso viel wie der Kampf mit der Waffe.
»Meine Schwester wurde im Wüstenspeer geboren«, beginne ich. Ich weiß nicht, wie ich diese Männer umstimmen kann, aber ich muss es versuchen. »Als Tochter einer der rangniederen Gemahlinnen des Shar’Dama Ka. Zu gewöhnlich für die weiße Robe einer dama’ting, zu vornehm für die schwarze dal’ting-Tracht. Deshalb schickte man sie zusammen mit anderen Mädchen wie sie in den unteren Bezirk genau dieses Tempels. Man übergab sie dem Exerziermeister Enkido, der versuchen sollte, Mädchen zu Kriegerinnen auszubilden.«
Bei diesen Worten geht ein Raunen durch die Menge. Nicht nur wegen der ungeheuerlichen Vorstellung, Frauen den Speer zu geben, sondern auch weil Enkidos Name gefallen ist. Michas Ruf als Kriegerin wurde an Mutters Hof geheim gehalten, aus Gründen der Sicherheit. Aber Exerziermeister Enkido kennt jeder. Sogar hier bei den Majah, dem Stamm seiner Feinde.
»Enkido ging nicht sanft mit seinen Schülerinnen um«, sage ich. »Ich habe den sharaj als nie’Sharum durchlaufen, doch was meine Schwester mir von ihrer Ausbildung erzählte, übertrifft bei Weitem alles, was ich an Härten und Strapazen erdulden musste. Denn Enkido wusste, dass eine Frau doppelt so tüchtig sein muss, wenn sie sich auch nur die Hälfte der Anerkennung verdienen will, die man einem Mann zugesteht. Damals waren es fünf Mädchen – Ashia, Shanvah, Sikvah, Micha und Jarvah. Everams Speerschwestern. In ihnen floss das Sharum-Blut des Shar’Dama Ka. Sie alle errangen Ruhm und Ehre. Ashia verdiente sich den weißen Turban einer Sharum’ting Ka und tötete den Seelendämon, der Sharum-Krieger in seine Gewalt brachte und den Angriff auf Everams Füllhorn anführte. Shanvah folgte dem Shar’Dama Ka hinunter in Nies Abgrund und fand den Märtyrertod, als sie den alagai-Stock zerstörten. Sikvah«, ich nicke Arick zu, dessen Mutter sie war, »fiel ebenfalls als Märtyrerin im Sharak Ka, während sie die Schutzmauern von Everams Füllhorn gegen eine Dämonenhorde verteidigte. Jarvah dient der Damajah höchstselbst als deren Leibwächterin. Und Micha«, ich strecke die Hand nach meiner Schwester aus, »hat in Angiers einen Seelendämon getötet.«
»Hörensagen«, spottet Aleveran. »Solch Geschwätz ist des Zeugenstands unwürdig.«
»Ich bitte den Damaji um Vergebung«, sage ich mit lauter Stimme, »aber das ist es nicht. Es handelt sich um gut dokumentierte historische Tatsachen.«
Aleveran gibt sich unbeeindruckt. »Kannst du diese Dokumente vorzeigen und ihren Wahrheitsgehalt beweisen?«
Ich blicke wütend drein, denn natürlich kann ich das nicht. Stattdessen verneige ich mich. »Vergib mir, Damaji. Leider hatten wir keine Zeit, die Archive aufzusuchen, als deine Schergen mitten in der Nacht in unser Zuhause eindrangen, um uns zu entführen.«
Aleverans Miene verfinstert sich, und ich weiß, dass ich ein gefährliches Spiel spiele. Aber ich werde meine Schwester nicht verraten, nur um den Stolz eines alten Mannes zu schonen.
Ich wedele mit der Hand durch die Luft, wie Großmama Elona es zu tun pflegt, und verscheuche seinen Einwand wie einen üblen Geruch, bevor ich meine Hände fest auf das geweihte Zeugenpult lege, damit alle es sehen können. »Aber das spielt keine Rolle. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie meine Schwester mit ihrem Speer einen Baumdämon aufspießte, der mich sonst getötet hätte. Sein schwarzes Blut spritzte in mein Gesicht. Und als der Rest der Horde meine Freunde angriff, war es Sharum’ting Micha, die uns gerettet hat. Das kann ich bezeugen.«
Ich erwarte keine Reaktion, aber es kommt eine. »Das kann ich bezeugen!« Selens gebrüllte Antwort hallt durch den Tempel, und alle Blicke richten sich auf sie. Es ist ein Skandal, dass eine Frau sich hier als Zeugin äußert, aber falls Selen die vernichtenden Blicke spürt, so scheint es sie nicht zu stören. Sie sieht mich an, und in ihren Augen finde ich die Unterstützung, die ich brauche, um weiterzumachen.
Aleveran wedelt mit der Hand und imitiert meine Geste. »Die Aussage einer Frau, die bezeugen will, was eine andere Frau in den Grünen Ländern getan hat, genügt nicht, um einen Platz im Sharik Hora zu erringen.«
Wut kocht in mir hoch. Anscheinend sucht Aleveran zum Schluss doch noch Streit. Eine letzte Zurschaustellung seiner Macht.
»Du hast natürlich recht.« Ich verneige mich wieder. »Lass uns stattdessen lieber davon sprechen, was sie hier im Wüstenspeer geleistet hat, als sie sich den Sharum auf dem Weg in den Abgrund unter dieser Stadt angeschlossen hat, während ihr anderen euch in der Heiligen Stadt verkrochen habt.«
Das gefällt den dama gar nicht, denn es legt nahe, dass ihre Ehre geringer ist als die der Sharum, aber keiner wagt es zu protestieren. Ich stehe im Zeugenstand und habe das Wort, und ich muss nicht nur den Rat der dama, sondern auch die versammelte Gemeinde überzeugen.
»Alagai Ka hatte dafür gesorgt, dass die dal’Sharum ihre schützenden Helme verloren«, sage ich. »Ohne die Gedankensiegel konnte er sie wie Marionetten steuern. Aber bevor es ihm gelang, ihre Herzen zu vergiften, gelang es meiner Schwester, mit ihrem Bannlied die dal’Sharum aus der Gewalt des Dämons zu befreien. Sie gewannen die Kontrolle über sich selbst zurück und halfen mir, den Vater des Bösen anzugreifen. Das kann ich bezeugen.«
Ich schaue zu meinen Speerbrüdern. Die Krieger kennen meine Schwester nicht, und keiner möchte daran erinnert werden, dass er von Alagai Ka gesteuert wurde, aber sie wissen, was sie gesehen haben, und die Ehre verlangt von ihnen, dass sie meinen Bericht bestätigen. Das Stampfen ihrer Füße ist nicht so synchron wie bei den vorherigen Antworten, aber die Unterstützung kommt. »Das kann ich bezeugen!«, brüllen sie, wobei Darin, Selen und Rojvah am lautesten schreien.
Aleveran widerspricht mir schon wieder. »Der Sharik Hora ist für Krieger bestimmt, nicht für Sängerinnen. Du hast selbst gesagt, dass deine Schwester von Iravens Klinge getötet wurde, nicht von alagai-Krallen.«
»Iraven«, sage ich, »stand unter dem Einfluss von Alagai Ka. Der gab ihm den Befehl, sie zu töten, denn er fürchtete ihren Speer.«
»Spekulationen«, höhnt Aleveran. »Sie starb nicht im Kampf mit den alagai.«
Am liebsten würde ich ihm die Wahrheit ins Gesicht schleudern. Dass sein über alles geliebter Großenkel Chadan ebenfalls durch Iravens Hand starb. Seine tödliche Verletzung wurde ihm zugefügt, lange bevor der Dämonenkönig seinen Schädel öffnete.
Aber ich werde anderen nicht die Ehre rauben, nur um den Damaji zufriedenzustellen. »Wer trägt dann die Verantwortung, wenn einem Krieger befohlen wird zu töten und er den Befehl ausführt?«
Darauf fällt dem Damaji keine schnelle Antwort ein, und ich gebe ihm nicht die Zeit zum Überlegen.
»Im Labyrinth sterben jede Nacht Krieger, viele von ihnen, ohne je mit alagai-Krallen in Berührung zu kommen. Sie werden von Felsbrocken zerschmettert. Verbrennen im Feuer. Stürzen von einer Mauer. Aber weil diese Männer in der Schlacht ihr Blut vergossen, fielen sie trotzdem im alagai’sharak, und ihre Gebeine sind hier bestattet.«
»Eine Formalität«, weicht Aleveran aus. »Du verlangst von uns, dass wir mit einer dreitausend Jahre alten Tradition brechen und zum ersten Mal eine Frau im Sharik Hora beisetzen. Und das wegen einer Formalität.«
Ich muss mich beherrschen, um nicht die Zähne zu fletschen. Die Majah betrachten mich als einen Mann, doch als ich sehe, wie der rein aus Männern bestehende Rat der dama einhellig mit dem Kopf nickt, könnte ich kotzen. Hörensagen. Die Grünen Länder. Eine Sängerin, keine Kriegerin. Eine Klinge statt Krallen. Lauter Ausreden, die nur dazu dienen, einer Frau den Ruhm zu verweigern, den man Männern aufgrund von wenig mehr als solchen Formalien zugesteht.
»Die Sharum’ting gibt es erst seit dem Auszug aus dem Wüstenspeer«, erinnere ich den Damaji. »Ihre Kaste wurde geschaffen, als die Streitkräfte des Shar’Dama Ka jeden Speer brauchten. Everams Speerschwestern sind geblieben, um im Sharak Ka zu kämpfen, was man nicht von jedem behaupten kann.«
Schon vorher hatte ich einen gefährlichen Weg eingeschlagen, aber jetzt balanciere ich auf einem Drahtseil über dem Abgrund. Unter Aleveran ließen die Majah auf dem Höhepunkt des Sharak Ka die Armee meines Vaters im Stich und kehrten in den Wüstenspeer zurück. Viele der Stammesangehörigen schämen sich noch heute dafür. Kein Majah möchte an diese Schande erinnert werden.
Aber ich habe mich geirrt, wenn ich dachte, hiermit Aleverans Meinung zu ändern. In seinen Augen lese ich, dass sein Entschluss umso fester steht.
»Gebeine von Sharum’ting ehren die Tempel von Neu Krasia«, sage ich. »Und die Tempel im Tal.«
»Von mir aus können unsere Brüder im Norden ihre Tempel mit ihren liberalen Sitten schänden«, spottet Aleveran. »Als Ahmann Jardir Frauen erlaubte, den Speer zu nehmen, war das einer seiner vielen Wege in die Ketzerei. Hier haben wir diesen Frevel ausgemerzt, und die Reinheit des Sharik Hora bleibt erhalten.«
»Dämonenscheiße!«, schnappt Selen, und mein Herz macht einen Satz. Natürlich hat sie recht. Ohne Frauen mit Speeren hätten die Dämonen die Stadt übernommen. Trotzdem, für so einen Ausruf könnte man sie umbringen. Mein Blick flackert zu ihr, und ich sehe, dass Rojvah sie überzeugt hat, den Mund zu halten. Aber zu spät.
»Tsst!«, faucht Damaji’ting Chavis Selen an. Ich war so mit Aleveran und seinen dama-Beratern beschäftigt, dass ich die gehässige alte Frau auf dem Altar vollkommen vergessen hatte.
Chavis macht einen einzigen Schritt in Aleverans Richtung und verneigt sich. Aber sie kniet nicht nieder. Sie ist nicht so mächtig wie Aleveran, doch ohne ihre Unterstützung würde es ihm schwerfallen, seinen eigenen Einfluss zu bewahren.
Und das weiß er. Es ist praktisch unerhört, dass eine Frau, selbst eine Damaji’ting, im Sharik Hora das Wort ergreift. Aber Aleveran ist schlau genug zu wissen, dass sie das nicht leichtfertig macht. »Lass uns an deiner Weisheit teilhaben, Damaji’ting. Sprich, damit alle es hören können.«
Chavis nickt. »Der Damaji irrt, wenn er sagt, dass im Sharik Hora keine Frauen beigesetzt sind.«
Aleveran blinzelt. Ich weiß nicht, womit er gerechnet hat, aber was die greise Priesterin verkündet, trifft ihn sichtlich unvorbereitet.
»Die dama’ting begraben seit Jahrhunderten ihre Mitschwestern in den Krypten unter dem Tempel«, erklärt Chavis. »Auch die dama bestatteten dort ihre Brüder, obwohl nur wenige von ihnen im alagai’sharak gekämpft haben.«
Furchen der Anspannung zeichnen sich auf Aleverans Gesicht ab. Chavis’ Worte sind eine Kampfansage, aber der Damaji weiß, dass er diesen Streit so leicht nicht gewinnen kann. Also gibter lieber klein bei. »Dann sollen die dama’ting sich ihrer annehmen.«
Chavis schüttelt den Kopf. »Micha vah Ahmann war keine dama’ting. Sie ist eine Sharum. Ich sah die Sharum’ting