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Der atemberaubende Höhepunkt von Peter V. Bretts großer Dämonensaga
Das Leuchten der Magie ist der atemberaubende erste Teil von
The Core, dem fünften Band und grandiosen Höhepunkt von Peter V. Bretts Dämonensaga. Der zweite Teil erscheint unter dem Titel
Die Stimmen des Abgrunds im Frühjahr 2018.
Seit die Menschen beschlossen haben, sich den Dämonen der Nacht entgegenzustellen und zu kämpfen, hat sich das Antlitz der Welt gewandelt. Das Volk der Krasianer ist gegen den Norden in den Krieg gezogen, und das kleine Tal der Holzfäller ist zu einer mächtigen, siegelbewehrten Stadt angewachsen. Doch Arlen, der tätowierte Mann, und Jardir, der Anführer der Krasianer, stehen sich immer noch in erbitterter Feindschaft gegenüber – bis sie eines Tages beschließen, gemeinsam den Kampf zu den Dämonen hinunter ins Reich der Tiefe zu tragen. Die letzte Schlacht gegen die Wesen der Finsternis entscheidet über das Schicksal aller Völker …
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Seitenzahl: 881
Das Buch
Seit Jahrhunderten wird die Menschheit nachts von blutrünstigen Dämonen heimgesucht. Sobald sich das Dunkel über die Erde senkt, steigen die finsteren Wesen aus den Tiefen herauf und machen Jagd auf alles Lebende. Einzig die Siegel, beinahe vergessene magische Symbole aus alter Zeit, bieten den Menschen Schutz. Erst als zwei Helden erscheinen, die mutig den Dämonen Widerstand leisten, fassen die Menschen wieder Mut – zwei Männer, die einander einst so nahe waren wie Brüder, doch die nun getrennt sind durch blutigen Verrat. Arlen Strohballen, der Junge aus dem Norden, wurde zum Tätowierten Mann, einem über und über mit verschollen geglaubten Kampfsiegeln bemalten Kämpfer, der mithilfe dieser Zeichen Dämonen angreifen und sie besiegen kann. Jardir, der Krieger aus dem Süden, trägt wiederum magisch verstärkte Waffen und rüstet eine Armee im Kampf gegen die Dämonen aus. Er selbst nennt sich »Erlöser« und glaubt, er sei der verheißene Retter, der die Menschheit in den Sharak Ka, den großen Krieg gegen die Dämonen, führen wird. Beide Männer, Arlen und Jardir, haben mit ihren Bemühungen, die lethargischen Menschen aus ihrer Angst zu erlösen, etwas weit Schlimmeres geweckt als die allnächtlichen Dämonen: einen Dämonenschwarm. Der letzte Krieg steht unmittelbar bevor, und die einzige Hoffnung der Menschheit ruht nun auf Arlen, seiner Frau Renna und Jardir. Denn nur, wenn es ihnen gelingt, den Willen eines der mächtigen Dämonenprinzen zu brechen und ihn zu zwingen, sie in den Abgrund zu führen, werden sie die dort herangezüchtete Dämonenarmee aufhalten können. Aber noch ist der Sieg gegen die Dämonen nur ein Traum …
Der Autor
Peter V. Brett, 1973 geboren, studierte Englische Literatur und Kunstgeschichte. Danach arbeitete er zehn Jahre als Lektor für medizinische Fachliteratur, bevor er sich ganz dem Schreiben von fantastischer Literatur widmete. Mit seinen Romanen und Erzählungen aus der Welt von Das Lied der Dunkelheit hat er die internationalen Bestsellerlisten gestürmt. Peter V. Brett lebt in Brooklyn, New York.
DIE DÄMONENSAGA
DIE ROMANE
Erster Band: Das Lied der Dunkelheit
Zweiter Band: Das Flüstern der Nacht
Dritter Band: Die Flammen der Dämmerung
Vierter Band: Der Thron der Finsternis
Fünfter Band: Das Leuchten der Magie
Sechster Band: Die Stimmen des Abgrunds
DIE NOVELLEN
Der große Basar
Das Erbe des Kuriers
PETER V. BRETT
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
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Titel der Originalausgabe
THE CORE (Part 1)
Deutsche Übersetzung von Ingrid Herrmann-Nytko
Redaktion: Charlotte Lungstrass
Copyright © 2017 by Peter V. Brett
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Illustrationen: Lauren Cannon
Karte: Andreas Hancock
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von shutterstock (Melkor3D, Dimitrijs Bindemanis, Slava Gerj)
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-14077-9 V006
@HeyneFantasySF
Für Sirena Lilith,die dabei ist,mein Leben von Grundauf zu verändern
Inhalt
Prolog Kerkermeister
1 Beides
2 Olive
3 Gräfin Papiermacher
4 Ragen und Elissa
5 Das Rudel
6 Everam ist eine Lüge
7 Die Eunuchen
8 Das Kloster
9 Die Majah
10 Familienangelegenheiten
11 Zauberei
12 Entzug
13 Letzter Wille und Testament von Arlen aus Tibbets Bach
14 Die Abreibung
15 Die Rückkehr der Schwestern
16 Geliebte
17 Die Waldfestung
18 Daheim
19 Gejagt
20 Die Eskorte
21 Die Neue Grafschaft
22 Der Rand von Nies Abgrund
23 Sharums Wehklage
24 Erste Schritte
Grimoire der Siegel
Danksagung
PROLOG
Kerkermeister
334 NR
Es wird einen Schwarm geben.«
Alagai Ka, der Königliche Gemahl der Dämonen, sprach durch den Mund der menschlichen Drohne, die sie Shanjat nannten. Der Gemahl lag gefesselt in einem Kreis aus magischer Energie, doch er hatte eines der Schlösser, die ihn festhielten, zerschmettert und die Drohne gefangen genommen, ehe seine Bewacher dies verhindern konnten.
Shanjats Wille war gebrochen, und nun war er kaum mehr als eine Marionette. Der Gemahl ergötzte sich an den Qualen, die sein hilfloser Zustand seinen Kerkermeistern bereitete. Er bewegte die Füße der Drohne, um sich ein Gefühl für deren Körper zu verschaffen. Sie war nicht so nützlich wie ein Mimikrydämon, aber sie war stark, trug die primitiven Waffen des Oberflächenviehs, und seine Häscher waren durch Emotionen mit ihr verbunden. Diesen Umstand konnte der Gemahl für seine Zwecke nutzen.
»Was zum Horc hat das zu bedeuten?«, fragte der Entdecker. Der, den die anderen Arlen oder Par’chin nannten. Er hatte Einfluss auf die anderen, wenngleich er sie nicht wirklich beherrschte.
Der Gemahl drang in den Hirnbereich der Drohne ein, in dem sich die Sprache bildete, denn so konnte er sich flüssiger in den armseligen Grunzlauten äußern, mit denen sich die Menschen behelfsmäßig verständigten.
»Die Königin wird bald ihre Eier ablegen.«
Der Entdecker blickte der Drohne in die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Bannsiegel, die in seine Haut eintätowiert waren, pulsierten vor Energie. »Das weiß ich. Aber was hat das mit einem Schwarm zu tun?«
»Ihr habt mich eingekerkert und meine stärksten Brüder getötet«, sagte der Gemahl. »Im Seelenhof gibt es keine mehr, die mächtig genug sind, um die jungen Königinnen daran zu hindern, ihrer Mutter die Magie abzusaugen und auszureifen.«
Der Entdecker zuckte mit den Schultern. »Die Königinnen werden sich gegenseitig umbringen, nicht wahr? Gleich in der Brutkammer, und die stärkste übernimmt dann den Stock. Besser eine frisch geschlüpfte Königin als eine voll entwickelte.«
Der Gemahl richtete den Blick der Drohne weiterhin auf den Entdecker, während er mit seinen eigenen Augen die Auren der übrigen Anwesenden beobachtete.
Ausgestattet mit dem Umhang, dem Speer und der Krone des Seelentöters war der Erbe – den sie Jardir nannten – bei Weitem der gefährlichste Gegner. Solange der Gemahl in einem Bannzirkel gefangen war, konnte er sich kaum wehren, wenn der Erbe beschloss, ihn zu töten. Und dass er Shanjat zu seinem willenlosen Untertan gemacht hatte, erzürnte den Erben über alle Maßen.
Aber die Aura des Erben verriet ihn. Sosehr er auch den Gemahl vernichten wollte, er sah ein, dass er ihn lebend brauchte.
Noch interessanter war das Netz aus Gefühlen, das den Erben mit dem Entdecker verband. Liebe und Hass, Rivalität und Respekt. Wut. Schuldgefühle. Eine berauschende Mischung, die der Gemahl mit Vergnügen studierte. Der Erbe war ungeduldig, er lechzte nach Informationen. Vieles hatte der Entdecker ihm verschwiegen, und Verärgerung flackerte an den Rändern seiner Aura, weil es ihm nicht passte, dass er sich den Anweisungen eines anderen fügen musste.
Weniger leicht zu durchschauen war die Jägerin, die von den anderen Renna genannt wurde. Das jähzornige Weibchen brannte vor gestohlener Horcmagie, die Haut war bedeckt mit Siegeln der Kraft. Die Jägerin war jedoch nicht besonders geschickt darin, diese Kraft einzusetzen. Wenn man sie nicht in Schach hielt, schlug sie blindwütig zu. Mit der Waffe in der Hand nahm sie eine geduckte Haltung ein, zum Sprung bereit, sollte die Situation dies erfordern.
Dann war da noch die weibliche Drohne, Shanvah. Wie die Marionette verfügte auch sie nur über schwache Magie. Hätte sie den Dämonenprinzen nicht mit ihren Waffen getötet, hätte der Gemahl sie als unbedeutend abgetan.
Doch obwohl Shanvah von all seinen Bewachern das schwächste Glied war, besaß sie eine köstliche Aura. Die Marionette war ihr Erzeuger. Ihr starker Wille sorgte dafür, dass ihre Aura an der Oberfläche ruhig blieb, aber darunter litt ihr Geist Qualen. Der Gemahl würde sich an diesen schmerzvollen Erinnerungen laben, wenn er ihren Schädel öffnete und in das saftige Fleisch ihres Hirns hineinbiss.
Indem er die Marionette lachen ließ, lenkte der Gemahl die Aufmerksamkeit der Menschen auf die Drohne anstatt auf sich. »Die jungen Königinnen werden keine Gelegenheit zum Kämpfen erhalten. Da keiner meiner Brüder stark genug ist, um die anderen zu dominieren, wird jede ein Ei stehlen und damit fliehen.«
Der Entdecker stutzte, als ihm die Erkenntnis dämmerte. »Und überall in Thesa werden sie neue Nester gründen.«
»Zweifelsohne hat das Ganze bereits begonnen.« Er sorgte dafür, dass die Marionette ihren Speer schwenkte, und wie er es sich gedacht hatte, folgten die Blicke der Menschen den Bewegungen. »Wenn ihr mich hier behaltet, besiegelt ihr den Untergang eurer eigenen Art.«
Behutsam bewegte der Gemahl seine Ketten und suchte nach einer Schwachstelle. Die in das Metall eingeritzten Siegel brannten und sogen an seiner Magie, doch der Gemahl behielt seine Macht fest unter Kontrolle. Eines der Schlösser hatte er bereits zerbrochen und eine Gliedmaße befreit. Wenn er es schaffte, ein zweites zu sprengen, konnte die Marionette den Bannzirkel vielleicht so weit außer Kraft setzen, dass dem Gemahl die Flucht gelang.
»Wie viele Seelendämonen gibt es noch im Stock?«, wollte der Entdecker wissen. »Bis jetzt haben wir sieben von ihnen getötet, dich nicht eingerechnet. Schätze, das ist so gut wie nichts.«
»Im Stock?«, entgegnete der Gemahl. »Dort befindet sich kein einziger Seelendämon mehr. Bestimmt haben sie die Brutstätten mittlerweile unter sich aufgeteilt und trachten danach, ihre neuen Reviere zu befrieden, bevor die Eiablage beginnt.«
»Brutstätten?«, fragte die Jägerin.
Die Marionette lächelte. »Die Bewohner eurer Freien Städte werden bald feststellen, dass ihre Mauern und Siegel weniger Sicherheit bieten, als man sie glauben gemacht hat.«
»Kühn gesprochen, Alagai Ka«, sagte der Erbe, »für einen, der gefesselt vor uns liegt.«
Endlich fand der Gemahl, wonach er gesucht hatte. Die winzige Schwachstelle in einem der Schlösser, die während seiner monatelangen Gefangenschaft entstanden war. Wenn der Gemahl das Schloss sprengte, konnte er die Kette abstreifen, doch die dazu erforderliche Energie würde so hell strahlen, dass seine Bewacher es bemerken mussten, ehe er damit fertig war.
»Eigens zu diesem Zweck hat man euch erlaubt, eure Brutstätten anzulegen.« Die Marionette trat einen Schritt zur Seite, und alle Blicke folgten ihr. »Jagdvorräte für meine Brüder. Sie werden ihre Drohnen nehmen und eure Wände aufbrechen wie Eierschalen. Dann füllen sie ihre Speisekammern, um den Hunger ihrer frisch geschlüpften Königinnen zu stillen.«
»In deren Leibern Alas Verdammnis heranwächst«, sagte der Erbe. »Das dürfen wir nicht zulassen.«
»Gebt mir die Freiheit«, sagte der Gemahl.
»Niemals«, knurrte der Entdecker.
»Etwas anderes bleibt euch gar nicht übrig«, sagte der Gemahl. »Nur meine Rückkehr kann einen Schwarm noch verhindern.«
»Du bist der Prinz der Lügen«, sagte der Erbe. »Wir wären dumm, deinen Worten Glauben zu schenken. Es gibt durchaus noch eine andere Möglichkeit. Wir steigen hinunter in den Abgrund und töten endgültig Alagai’ting Ka.«
»Du behauptest, ihr wäret nicht dumm«, sagte der Gemahl. »Und trotzdem glaubt ihr, ihr könntet den Weg in den Stock hinunter überleben? Ihr würdet nicht einmal so weit kommen wie Kavri, ehe er aufgab und an die Oberfläche zurück flüchtete.«
Die Worte erzielten die beabsichtigte Wirkung. Der Erbe erstarrte und festigte seinen Griff um den Speer. »Noch eine Lüge. Kaji hat euch besiegt.«
»Kavri hat viele Drohnen getötet«, sagte der Gemahl. »Viele Prinzen. Es dauerte Jahrhunderte, um den Stock mit neuen Bewohnern aufzufüllen, aber seine Versuche, in unsere Domäne einzudringen, sind gescheitert. Das ist das Beste, worauf euresgleichen hoffen kann. Dies ist nicht der erste Zyklus, und es wird nicht der letzte sein.«
»Du sagtest, du würdest uns in den Horc führen«, sagte der Entdecker.
»Ebenso gut könntet ihr verlangen, die Oberfläche des Tagessterns zu betreten«, sagte der Gemahl. »Ihr würdet vernichtet werden, ohne ihm auch nur nahe zu kommen. Das wisst ihr.«
»Dann führe uns zum Stock«, sagte der Entdecker. »Zum Seelenhof. Zu der verdammten Wurfkammer der Dämonenkönigin.«
»Das werdet ihr auch nicht überleben.« Der Gemahl schob die Marionette noch einen Schritt weiter.
»Das Risiko gehen wir ein«, sagte die Jägerin.
Endlich war die richtige Position erreicht. Die Marionette hob ihren Speer und schleuderte ihn auf das Herz des Entdeckers. Wie erwartet, löste der sich in Nebel auf, die Waffe flog ohne Schaden anzurichten weiter und zielte geradewegs auf den Erben, der sie mit einem Schlag seines eigenen Speers ablenkte.
Die Marionette schmetterte den Schild mit voller Wucht auf die Siegelsteine, die den Gemahl gefangen hielten, und unter dem Aufprall des harten Randes zersprang einer davon. Die Jägerin setzte zu einem schnellen Angriff an, aber die weibliche Drohne stieß einen Schrei aus und stellte sich schützend vor ihren Erzeuger.
Die Marionette hatte ausreichend Zeit, um sich umzudrehen und die mit Siegeln verstärkte Kette in die Hand zu nehmen, während der Gemahl die schwache Stelle der Fessel mit einem Ausstoß an magischer Energie gänzlich aufweichte. Wie eine Spinne, die ein zerstörtes Netz zerpflückt, trennte die Marionette die Glieder der Fessel auf. Die silbernen Siegel verbrannten die Haut des Gemahls, aber der Schmerz war ein kleiner Preis für die Freiheit.
Er schnippte mit einer Kralle, erzeugte einen Ausstoß von magischer Energie und ließ ein winziges Stück des zertrümmerten Metallglieds durch die Luft sausen. Das Geschoss prallte gegen die Krone des Erben, stieß sie von seinem Kopf herunter und hinderte ihn daran, den Schild zu heben, der den Gemahl hätte in Schach halten können.
Die Jägerin stieß die weibliche Drohne zur Seite und schnellte mit einem Satz nach vorn, um die Marionette aufzuhalten. Doch es war zu spät. Der Gemahl löste seine stoffliche Gestalt auf, während sie mit ihren Waffen ausholte, und ließ von seinem Körper nur eine einzige harte Kralle zurück, um ihr mitten im Sprung den Bauch aufzuschlitzen. Er selbst schlüpfte durch die Lücke, welche die Marionette in den Bannzirkel gerissen hatte, und nahm am Rand des äußeren Siegelkreises wieder seine körperliche Form an.
Der Entdecker eilte zu seiner Gefährtin, die nach Luft rang und verzweifelt darum kämpfte, dass ihre Eingeweide sich nicht über dem Boden verteilten. Die Jägerin war zu unkonzentriert, um sich in Nebel aufzulösen und selbst zu heilen, und der Entdecker würde kostbare Zeit und Energie darauf verschwenden, ihr zu helfen.
Der Gemahl zeichnete ein Aufprallsiegel in die Luft, und die Steine zu Füßen des Erben explodierten. Er verlor das Gleichgewicht, während er dabei war, sich nach seiner Krone zu bücken. Mit einem Fußtritt katapultierte die Marionette die Krone quer durch den Raum, dann griff sie den Erben an, um noch ein paar Sekunden herauszuschinden.
Der Gemahl drehte sich um, hob seinen stummeligen Schwanz und sprühte eine Fontäne aus Fäkalien über die Siegel, um deren Kraft zu ersticken.
Gerade als er sich wieder auflösen wollte, brüllte der Erbe: »Dasreicht!« Er rammte das stumpfe Ende seines Speers auf den Boden, und eine Welle aus Magie riss alle von den Füßen. Der Gemahl erholte sich rasch von dem Schock, gab seine körperliche Form auf und steuerte die Lücke in den Siegeln an. Doch ehe er sie erreichte, mischte sich der Entdecker ein. Mit einem Energiestrahl zerrte er den Vorhang an einem der Fenster zurück, und das Zwielicht der Morgendämmerung fiel über die Bresche in den Siegeln. Noch hatte der Tagesstern den Horizont nicht erklommen, aber das schwache Licht reichte aus, um seine Magie zum Brennen zu bringen – eine unsägliche Tortur. Der Dämon wagte es nicht, noch weiter zu gehen.
Die Jägerin löste ihre Gestalt auf, und als sie sich wieder neu formte, waren ihre Wunden verheilt. Mit geübter Hand zeichneten sie und der Entdecker Siegel in die Luft und schickten Schmerzwellen durch den nebelhaften Schemen des Gemahls, der versuchte, vor dem Licht zu flüchten. In seiner nichtstofflichen Form konnte der Gemahl die Marionette nicht steuern, und die weibliche Drohne nahm ihn hastig in einen Würgegriff. Der Erbe bemächtigte sich seiner Krone, hob den Schild und nahm den Gemahl aufs Neue gefangen.
Der hatte keine andere Wahl, als sich zu ergeben und zu verhandeln. Sie mussten ihn am Leben lassen, einfach, weil sie seine Hilfe brauchten. Der Gemahl verfestigte sich wieder, mit eingezogenen Krallen und verdeckten Zähnen, die Arme hoch erhoben – eine Geste, mit der die Menschen ihre Unterwerfung anzeigten.
Die Jägerin verpasste ihm einen schweren Schlag gegen die Schläfe. Aufprallsiegel brachten seinen Schädel zum Dröhnen. Sie war impulsiv. Die anderen würden sich mehr zurückhalten.
Doch als der Gemahl unter der Wucht des Hiebs wankte, schlug der Entdecker von der anderen Seite zu und zertrümmerte seinen Schädel. Ein Auge sprang aus der Höhle.
Der Dämon taumelte und fing sich einen dritten Schlag ein. Dieses Mal traktierte ihn der Erbe mit dem Schaft seines Speeres, und er schlug härter zu als ein Felsendämon.
Sie prügelten so lange auf ihn ein, bis der Gemahl davon überzeugt war, dass diese primitiven Wilden ihn töten würden. Er versuchte sich aufzulösen, doch wie zuvor die Jägerin, brachte nun er selbst nicht die notwendige Konzentration auf, um die Verwandlung einzuleiten.
Dann bekam er kaum noch mit, wer wann zuschlug, und es gab nur noch das Geräusch und die Schmerzen, die jeden Hieb begleiteten.
Schließlich nahm er so gut wie gar nichts mehr wahr, und eine tiefe Schwärze umfing ihn.
Mit quälenden Schmerzen wachte der Gemahl auf. Er versuchte, heilende Energie aus seinen inneren Reserven abzuziehen, aber sein Vorrat war nahezu erschöpft. Während seiner Bewusstlosigkeit musste er unwillkürlich auf seine Magie zugegriffen haben, um sich von den schlimmsten Verletzungen zu erholen. Die übrigen Wunden würden auf natürlichem Wege ausheilen müssen.
Die verfluchte Kette hatten sie ihm nicht wieder angelegt. Vielleicht waren sie noch emsig dabei, sie zu reparieren. Vielleicht rechneten sie damit, dass er noch länger außer Gefecht gesetzt sein würde.
Falls das zutraf, waren sie sogar noch dümmer, als er angenommen hatte. Den Vorhang hatten sie wieder zugezogen, und der Gemahl konnte die Dunkelheit hinter dem dichten Stoff spüren. Wieder einmal erschien ihm eine Flucht möglich. Er hob eine Kralle und sog ein wenig von der ihm noch gebliebenen Magie ab, um ein Siegel in die Luft zu zeichnen.
Aber die Energie erlosch, bevor sie die Spitze seiner Kralle erreicht hatte. Ein schrecklicher Schmerz zuckte durch seinen Körper, so furchtbar, dass er ein Fauchen ausstieß.
Noch einmal sog er Magie aus seinen Reserven, doch auch jetzt entzog sich ihm die Kraft, obwohl sein Fleisch brannte.
Der Gemahl warf einen Blick auf seine Haut, und als er die glühenden Siegel sah, wusste er Bescheid.
Sie hatten seine Haut mit Farbe und Nadeln bearbeitet, so wie der Entdecker es mit sich selbst gemacht hatte. Sein Körper war überzogen mit Siegeln. Gedankensiegel, die präzise auf seinesgleichen zugeschnitten waren. Die Symbole machten ihn zu einem Gefangenen in seinem eigenen Fleisch, verhinderten, dass er sich auflösen oder mit seinem Geist einen anderen erreichen konnte. Noch schlimmer: Wenn der Gemahl – oder einer seiner Bewacher – die Siegel mit ausreichend Energie speisten, würden diese ihn töten.
Das war viel bösartiger als die Kette. Eine größere Demütigung vermochte der Gemahl sich nicht vorzustellen.
Aber für jedes Problem gab es eine Lösung. Jedes Netz aus Siegeln hatte einen schwachen Punkt. Er würde die Zeit nutzen und ihn finden.
1
Beides
334 NR
Die Krämpfe weckten Leesha auf.
Nach zehn Tagen auf der Landstraße, begleitet von einer Eskorte aus fünftausend Holzfällern, hatte Leesha sich an den Mangel an Komfort gewöhnt. Jetzt konnte sie nur noch auf der Seite liegend schlafen, doch dafür war die Sitzbank in der Kutsche nicht geeignet. Also rollte sie sich auf dem Boden zusammen, wie Amanvah und Sikvah es in ihrer Kutsche voller Kissen taten.
Eine Schmerzwelle nach der anderen durchströmte sie, als die Muskeln ihrer Gebärmutter sich zusammenzogen und sich auf die bevorstehende Geburt vorbereiteten. Das Kind sollte erst in dreizehn Wochen zur Welt kommen, aber was Leesha durchmachte, war nichts Ungewöhnliches.
Und trotzdem gerät jede Frau, die so was zum ersten Mal erlebt, in Panik, pflegte Bruna zu sagen. Sie hat Angst vor einer Frühgeburt. Selbst mir ging es so bei meinem ersten Kind, obwohl ich vorher schon Dutzende von Babys auf die Welt geholt hatte.
Um sich zu beruhigen, begann Leesha in einem schnellen, steten Rhythmus zu atmen. Außerdem sollte dies die Schmerzen erträglicher machen. Mittlerweile litt sie häufig an Schmerzen. Die Haut auf ihrem Bauch war schwarz und von Blutergüssen übersät, weil das Ungeborene in ihrem Leib so kräftig um sich trat und schlug.
Mehrere Male während ihrer Schwangerschaft war Leesha gezwungen gewesen, sich mächtiger Siegelmagie zu bedienen. Und jedes Mal hatte das Baby heftig darauf reagiert. Der Rückstrom von Magie konnte zu übermenschlicher Kraft und Ausdauer verhelfen. Die Alten wurden wieder jung, und die Jungen erlangten vorzeitige Reife. Gefühle wurden verstärkt und die Selbstkontrolle verringert. Menschen, die sich in einem Rausch der Magie befanden, neigten mitunter zu Gewalttätigkeit. Sie waren gefährlich.
Was mochte eine solche Kraft mit einem Kind im Mutterleib anstellen, das noch nicht voll entwickelt war? Leesha war noch nicht einmal im siebten Monat, und trotzdem sah sie aus und fühlte sich wie eine Frau im neunten. Sie rechnete mit einer frühen Niederkunft, hoffte sogar darauf, denn sie befürchtete, das Kind könnte zu groß werden für eine natürliche Geburt.
Oder dass es sich durch meinen Bauch durchboxt und ganz von selbst rauskriecht. Leesha tat einen Atemzug nach dem anderen, aber weder beruhigte sie sich, noch ließen ihre Schmerzen nach.
Alles Mögliche kann Wehen auslösen, hatte Bruna ihr beigebracht. Zum Beispiel wenn das Balg gegen eine volle Blase tritt.
Leesha setzte sich auf das Nachtgeschirr, aber auch nachdem sie ihre Blase entleert hatte, hörten die Krämpfe nicht auf. Sie warf einen Blick in den Porzellantopf. Ihr Wasser war trübe und mit Blut vermischt.
Sie erstarrte. Ihre Gedanken rasten, während sie in den Topf starrte. Das Baby trat besonders heftig zu. Vor Schmerzen schrie sie auf, aber damit hatte sie die Gewissheit.
Die Geburt stand kurz bevor.
Leesha saß zurückgelehnt auf der Bank, als Wonda kam, um ihr Bericht zu erstatten. Die Morgendämmerung war nicht mehr fern.
Wonda gab die Zügel ab und schwang sich geschmeidig wie eine Katze von ihrem Pferd. Sie landete auf dem Trittbrett der rollenden Kutsche und öffnete den Wagenschlag. Mühelos schwang sie sich auf die Bank gegenüber von Leesha.
»Wir sind fast zu Hause, Meisterin, bald hast du es geschafft«, sagte Wonda. »Während du geschlafen hast, ist Gar schon mal vorausgeritten. Habe gerade eine Rückmeldung erhalten.«
»Wie schlimm ist es?«, fragte Leesha.
»Ziemlich schlimm. Der gesamte Hofstaat ist aufmarschiert. Gar hat versucht, das ganze Tamtam zu stoppen, wie du es gewollt hast. Er sagte, genauso gut könnte man versuchen, einen Baumstumpf mit bloßen Händen aus dem Boden zu reißen.«
»Die Angieraner und ihre verfluchten Zeremonien.« Leesha zog eine Grimasse. Allmählich verstand sie, wie Herzogin Araine an einer Kolonne von sich verbeugenden und knicksenden Bediensteten vorbeimarschieren und so tun konnte, als sähe sie sie gar nicht. Manchmal war das die einzige Möglichkeit, um an sein Ziel zu gelangen.
»Es sind nicht nur die Dienstmädchen und die Wachen«, sagte Wonda. »Der halbe Stadtrat ist aufgekreuzt.«
»Bei der Nacht.« Leesha schlug die Hände vors Gesicht.
»Du brauchst es nur zu sagen, und ich lasse dich von einer Gruppe Holzfäller abschirmen, die dich schnurstracks in die Festung bringt«, bot Wonda an. »Ich geb allen Bescheid, dass du dich ihnen zeigen wirst, nachdem du dich ausgeruht hast.«
Leesha schüttelte den Kopf. »Dies ist meine Rückkehr als Gräfin. Ich möchte die Leute nicht schon gleich zu Anfang vor den Kopf stoßen.«
»Ay, Meisterin«, sagte Wonda.
»Ich muss dir etwas sagen, Wonda. Aber bleib bitte ganz ruhig.«
Wonda machte ein verwirrtes Gesicht, dann riss sie die Augen auf. Sie wollte aufstehen.
»Wonda Holzfäller, du bleibst mit deinem Hintern auf der Bank sitzen.« Leesha schwenkte ihren Finger wie eine Peitschenschnur, und das Mädchen plumpste wieder zurück.
»Die Abstände zwischen den Wehen betragen jetzt sechzehn Minuten«, fuhr Leesha fort. »Es kann noch Stunden dauern, bis das Baby kommt. Heute bin ich völlig auf dich angewiesen, meine Liebe, also hör mir jetzt gut zu und konzentriere dich.«
Wonda schluckte schwer, aber sie nickte. »Ay, Meisterin. Sag mir, was du willst, und ich sorge dafür, dass du es kriegst.«
»Ich möchte in würdevoller Manier aus der Kutsche aussteigen und gemessenen Schrittes auf den Eingang zugehen. Unterwegs werde ich nur mit einer Person sprechen. Auf gar keinen Fall bleiben wir stehen oder werden langsamer.«
»Ay, Meisterin«, sagte Wonda.
»Ich werde dich öffentlich zum Oberhaupt meiner Hauswache ernennen. Wenn sich alle im Hof versammelt haben, wie du sagst, dürfte das genügen, damit du das Kommando übernehmen und die Holzfällerfrauen losschicken kannst, um die Residenz zu sichern. Nachdem die herrschaftlichen Gemächer abgeriegelt sind, kommt niemand hinein außer dir, mir und Darsy.«
»Vika?«, fragte Wonda.
Leesha schüttelte den Kopf. »Vika sieht zum ersten Mal seit Monaten ihren Mann wieder. Das will ich ihnen nicht verderben. Sie kann ohnehin nichts tun, was Darsy nicht ebenso gut kann.«
»Ay, Meisterin.«
»Du wirst niemandem verraten, was los ist«, sagte Leesha. »Nicht den Wachen, nicht Gared, absolut niemandem.«
»Aber Meisterin …«, begann Wonda.
»Niemandem.« Knurrend stieß sie die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, weil eine neue Wehe sie packte. Es war ein Gefühl, als würde sich eine Schlange um ihren Leib wickeln und sie zerquetschen. »Ich will nicht, dass loses Geschwätz dies hier in eine Jongleurveranstaltung verwandelt. Ich gebäre Ahmann Jardirs Kind. Nicht jeder wünscht sich, dass alles gut geht, und nach der Geburt sind wir beide … verletzlich.«
Wondas Augen wurden hart. »Nicht, solange es mich gibt, Meisterin. Das schwöre ich bei der Sonne.«
Wonda ließ sich nicht anmerken, dass irgendetwas nicht stimmte, als sie die Kutsche verließ und geschickt einen Fuß in den Steigbügel ihres neben dem Wagen hertrottenden Pferdes schob.
Das Siegellicht im Inneren des Gefährts wurde kurz durch die Morgensonne gedämpft, doch sobald sich die Tür wieder schloss, gewann es seine Strahlkraft zurück. Gleichzeitig gewannen die Siegel der Stille ihre Kraft zurück, und Leesha stöhnte vor Schmerzen laut auf.
Eine Hand presste sie in ihr Kreuz, die andere fasste unter ihren Bauch, als sie sich in die Höhe stemmte. Hitzesiegel brachten binnen Sekunden das Wasser im Kessel zum Sieden. Leesha goss dampfendes Wasser auf einen Stofflappen und drückte ihn auf ihr Gesicht.
Ein Blick in den Spiegel sprach Bände. Blass, hohlwangig, dunkle Ringe unter den Augen. Am liebsten hätte Leesha in ihren hora-Beutel gegriffen und ein wenig Magie in sich aufgesogen, um sich für die bevorstehenden Strapazen zu stärken, doch das wäre viel zu gefährlich gewesen. Sie hatte erlebt, wie das Baby unter dem Einfluss von Magie zu toben anfing. Das war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.
Sie blickte auf ihren Schminkkasten, aber sie hatte kein Talent, ihr Gesicht anzumalen, auch wenn sie eine überaus begabte Bannzeichnerin war. Das Schminken war eine Fertigkeit, die ihre Mutter meisterlich beherrschte. Sie machte sich zurecht, so gut es eben ging, bürstete ihr Haar und strich ihr Kleid glatt.
Die Straßen in den Außenbezirken des Tals der Holzfäller wanden und schlängelten sich dahin. Sie folgten den komplizierten Linien der Großsiegel, die sie und Arlen entworfen hatten. Das Tal hatte mittlerweile über ein Dutzend Außenbezirke, ein sich ständig erweiterndes Netz aus ineinander verwobenen Großsiegeln, welche die Dämonen jede Nacht ein Stückchen weiter zurückdrängten. Leesha waren die Umrisse der Siegel so vertraut, wie man den Körper eines geliebten Menschen kennt. Sie brauchte nicht aus dem Kutschenfenster zu schauen, um zu wissen, dass sie durch Neuhafen fuhren.
Bald würden sie das ursprüngliche Tal der Holzfäller erreichen, gewissermaßen die Hauptstadt der Talgrafschaft und den Mittelpunkt der Großsiegel. Noch vor zwei Jahren war das Tal eine Ansiedlung von nicht einmal dreihundert Seelen gewesen – kaum groß genug für einen Punkt auf der Landkarte. Nun konnte es sich mit jeder der Freien Städte messen.
Die nächste Wehe durchfuhr sie. Die Abstände wurden immer kürzer und betrugen nur noch sechs Minuten. Sie spürte, wie sich der Gebärmuttermund weitete, und konnte fühlen, wie das Kind sich senkte. Sie atmete. Es gab Kräuter, um die Schmerzen zu lindern, aber sie wagte es nicht, sie zu nehmen, bevor sie sicher in ihren Gemächern untergebracht war.
Leesha lupfte den Fenstervorhang und spähte durch die Lücke. Augenblicklich bereute sie es, als draußen lauter Jubel ausbrach. Sie hatte gehofft, in aller Stille heimkehren zu können, indem sie noch vor Sonnenaufgang eintraf, aber eine Begleitmannschaft dieser Größenordnung erregte unweigerlich Aufsehen. Selbst zu dieser frühen Stunde drängten sich die Leute auf den Straßen und gafften aus Fenstern, während sich die Kolonne heimwärts bewegte.
Es war seltsam, sich Thamos’ Festung als ihr Zuhause vorzustellen, doch ihr als Gräfin der Talgrafschaft gehörte jetzt diese Residenz. Während ihrer Abwesenheit hatte Darsy Leeshas Hütte im Wald zum Hauptquartier der Akademie der Kräutersammlerinnen gemacht. Leesha hoffte, dass es im Tal nicht bei dieser einen Ausbildungsstätte bleiben würde, sondern dass ihr noch viele weitere folgen würden. Viel lieber hätte Leesha wieder dort gewohnt und Schülerinnen unterrichtet, aber wenn sie sich in der Festung einquartierte, konnte sie viel mehr bewirken.
Sie rümpfte die Nase, als die Burganlage in Sicht kam. Es war ein klotziges, ummauertes Bauwerk, das auf Verteidigung ausgelegt war und nicht auf Schönheit – zumindest von außen. Innen war es in gewisser Hinsicht sogar noch schlimmer, viel zu protzig für einen Palast in einem Land, das sich von verschiedenen Katastrophen nur mühsam wieder erholte. Nun, da die Residenz ihr gehörte, konnte sie drinnen wie draußen für Änderungen sorgen.
Die großen Tore der Festung standen offen, die Straße wurde zu beiden Seiten von den Hölzernen Lanzenreitern flankiert, Thamos’ Kavallerie. Von ihnen gab es nicht einmal mehr fünfzig, die anderen waren zusammen mit dem Grafen in der Schlacht von Dockstadt gefallen. Auf ihren wuchtigen angieranischen Wildpferden gaben sie ein prächtiges Bild ab, Rosse wie Reiter hatten in akkurater Haltung Aufstellung genommen. Alle trugen Waffen und Harnische, als erwarteten sie, dass Leesha ihnen jeden Moment befehlen könnte, in eine Schlacht zu reiten.
Auch der Innenhof erweckte eher den Eindruck, als sei man für einen Krieg gerüstet anstatt für eine Heimkehr. Zur Linken saßen Hauptmann Gamon und seine Leutnants hoch zu Ross vor Hunderten von bewaffneten Männern. Die Kerle standen in Habtachtstellung da, die Augen nach vorn, wuchtige Stangenwaffen auf den Boden gepflanzt, die alle in exakt demselben Winkel ausgerichtet waren.
An der rechten Seite des Hofs stand die gesamte Dienerschaft der Festung – für sich genommen schon eine eigene Armee – mit sauberen und gebügelten Uniformen genauso ordentlich in Reih und Glied wie die Fußsoldaten.
Mich würde mal interessieren, wie weit es mit dieser perfekten militärischen Ordnung her ist, sollte ich gleich hier im Hof niederkommen. Bei dem Gedanken musste sie innerlich schmunzeln, doch dann fing das Kind an, mit den Füßen zu treten, und ihr verging der Humor.
Wie Wonda sie vorgewarnt hatte, stand eine Gruppe von Leuten am Fuß der Treppe, die zur Festung hinaufführte. Ganz vorn erkannte sie Lord Arther, steif und förmlich in seiner Paradeuniform und mit dem Zeremonialspeer.
Hinter ihm sah sie Tarisa, das ehemalige Kindermädchen des Grafen, jetzt Leeshas Kammerzofe. Gared wartete zusammen mit Rosal, seiner Anverlobten, und Rosals Mutter. Dann waren da noch Inquisitor Hayes, die Kräutersammlerinnen Darsy und Vika, Leeshas Vater Erny und … bei der Nacht, sogar ihre Mutter Elona, die Rosals Rücken mit tödlichen Blicken bedachte. Leesha betete darum, dass die frühe Stunde sie zumindest vor einem Zusammentreffen mit diesem Dämon bewahren möge, aber wie üblich wurde ihr Gebet nicht erhört.
Wonda steckte den Kopf durch die Tür. »Bist du bereit, Meisterin?«
Die nächste Wehe packte sie. Ihr war heiß, und selbst in der kalten Winterluft schwitzte sie.
Leesha lächelte und ließ sich nichts anmerken. Mit wackligen Beinen stand sie auf. Sofort fühlte sie, wie sich das Kind noch weiter senkte. »Ja, meine Liebe. Rasch jetzt.«
Gamon saß ab, als die Kutsche eintraf. Er, Arther und Gared stolperten beinahe übereinander, als sie mit ausgestreckten Händen herbeieilten, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Leesha ignorierte sie alle und klammerte sich an Wondas Arm, während sie vorsichtig die Trittstufen hinunterstieg. Es wäre peinlich, wenn sie vor der versammelten Menge strauchelte und hinfiel.
»Willkommen daheim im Tal, Gräfin Papiermacher«, sagte Arther mit einer höfischen Verbeugung. »Mit großer Erleichterung sehen wir, dass du wohlauf bist. Als wir von dem Angriff auf Angiers hörten, befürchteten wir das Schlimmste.«
»Danke«, sagte Leesha, als sie ihr Gleichgewicht wiederfand. Überall auf dem Innenhof gab es Verbeugungen und Knickse. Leesha hielt den Rücken gerade und bedankte sich mit einem würdevollen Kopfnicken, wie Herzogin Araine es nicht besser gekonnt hätte.
Dann setzte sie sich in Bewegung. Wonda sorgte dafür, dass sie ein kleines Stück vor ihr her ging, während Leesha sich gleichzeitig auf ihren Arm stützte. Dicht hinter ihnen folgten zwei dralle Holzfällerfrauen.
Überrumpelt stolperten die Männer zurück und gaben ihnen den Weg frei. Doch sie erholten sich schnell von ihrer Verblüffung und eilten ihnen hinterher. Als Erster schloss Gamon zu ihnen auf. »Meine Lady, ich habe einen Dienstplan für die Hauswachen erstellt …«
»Danke, Hauptmann Gamon.« Leeshas Bauch war in Aufruhr. Sie kniff die Schenkel zusammen und hatte Angst, die Fruchtblase könnte platzen, bevor sie das Haus erreichte. »Sei so gut und gib ihn bitte an Hauptmann Wonda weiter.«
Gamons Augen weiteten sich, und abrupt blieb er stehen. »Hauptmann Wonda?«
»Hiermit ernenne ich Wonda Holzfäller zum Hauptmann meiner Hauswache«, verkündete Leesha mit lauter Stimme, während sie weiterging. »Die Beförderung war seit Langem überfällig.«
Gamon rannte los, um sie wieder einzuholen. »Wenn du mit meiner Arbeit nicht zufrieden warst …«
Leesha lächelte und befürchtete, sich gleich übergeben zu müssen. »Im Gegenteil. Du hast deinen Dienst in vorbildlicher Weise ausgeübt, und der Mut, mit dem du dich für das Tal eingesetzt hast, steht außer Frage. Du wirst das Kommando über die Holzsoldaten behalten, aber meine Hauswachen unterstehen allein Hauptmann Wonda. Gib deinen Männern den Befehl, abzutreten und sich wieder ihren üblichen Pflichten zu widmen. Wir erwarten keinen feindlichen Angriff.«
Gamon machte ein Gesicht, als versuche er, einen Stein zu schlucken, aber nach einem monatelangen Aufenthalt in Angiers – nicht wissend, ob sie eine Gefangene oder ein Gast war –, hatte Leesha keine Lust mehr, überall Holzsoldaten zu sehen. Wonda hatte bereits eine handverlesene Truppe von Holzfällern zusammengestellt, die die Hauswache übernehmen sollte, und ihnen befohlen, den Eingang der Residenz zu sichern und sich in den Räumen zu verteilen.
Als Gamon zurückfiel, nahm Arther eilig seinen Platz ein. »Die Hausbediensteten …«
»… sehen aus, als seien sie bereit, mit ihrer täglichen Arbeit zu beginnen«, schnitt Leesha ihm das Wort ab. »Wir sollten sie nicht daran hindern.« Mit einem Wink entließ sie die angetretenen Leute.
»Natürlich, meine Lady.« Arther gab den Bediensteten ein Zeichen, und die Menge löste sich auf. Er sah aus, als wollte er noch mehr sagen, aber Leeshas Mutter drängte sich nach vorn, mit Erny im Schlepptau. Elona war im sechsten Monat schwanger, aber sie kaschierte den Umstand, indem sie tief ausgeschnittene Kleider trug, unter denen ihr Bauch verschwand und die die Blicke der Leute auf ihren Busen zogen. Die Männer prallten zurück, als wäre sie ein Horcling.
»Meine Tochter, die Gräfin der Talgrafschaft!« Elona breitete die Arme aus und ihr Gesicht glühte vor … war das Stolz, was sich auf ihren Zügen abzeichnete? Ein erschreckender Anblick.
»Mutter, Vater.« Leesha gestattete es beiden, sie kurz zu umarmen, und versuchte, ein Zittern zu unterdrücken.
Elona spürte es, doch sie besaß den Anstand, die Stimme zu senken. »Du siehst furchtbar aus. Was ist los?«
»Ich muss nur reingehen und mir etwas Ruhe gönnen.« Leesha drückte Wondas Arm, und sie gingen weiter. Andere hätten es nicht gewagt, sich an Elona vorbeizuschieben, aber Wonda ließ sich genauso wenig aufhalten wie ein umstürzender Baum. Elona wollte ihnen folgen, doch Erny hielt sie zurück. Sie funkelte ihn wütend an, aber ebenso wie Wonda stand auch Erny immer an Leeshas Seite.
»Willkommen daheim, Gräfin.« Rosal sank in einen geübten Knicks, und ihre Mutter tat es ihr gleich.
»Emelia.« Mit voller Absicht benutzte Leesha den richtigen Namen der jungen Frau. »Missis Lackierer. Ich bin überrascht, euch zu so früher Stunde hier anzutreffen.«
Gared kam herbei, und zu dritt folgten sie Leesha, die die Treppe ansteuerte. »Der Graf hat die Damen in der Residenz untergebracht, aus Gründen der Schicklichkeit. Wir können ein anderes Quartier suchen …«
»Unsinn.« Leesha zwinkerte Rosal zu. »Hier gibt es Platz genug. Wie würde es aussehen, wenn eine ehrbare junge Frau wie du vor der Hochzeit in das Haus des Barons einzieht? Das gäbe einen Skandal.«
Gared wurde rot. »Ich weiß deine Umsicht zu schätzen. Du musst dir ein paar Dokumente ansehen, wenn du Zeit hast …«
»Lass sie mir später zukommen.« Leesha hatte die Treppe fast erreicht.
Als Nächster trat Inquisitor Hayes in Erscheinung. Er verbeugte sich tief. Sein Gehilfe, das Kind Franq, der normalerweise von seinem Meister nicht zu trennen war, fehlte jedoch. Das war irgendwie verdächtig. »Gräfin. Gelobt sei der Schöpfer, dass du wohlauf bist.«
Dann rollte die nächste Kutsche in den Innenhof ein, und der Wagenschlag ging auf. Hayes machte große Augen, als Fürsorger Jona ausstieg. Vika stieß einen Schrei aus, verließ ihren Platz im Ehrenspalier und rannte die Treppe hinunter zu ihrem Mann.
Schockiert starrte Hayes Leesha an, doch obwohl sie vor Schmerzen zitterte, lächelte sie breit. »Es wird dich freuen zu erfahren, Inquisitor, dass dein vorübergehender Dienst im Tal nunmehr beendet ist. Jona wird sich um die geistlichen Bedürfnisse der Talgrafschaft kümmern.«
»Das ist ungeheuerlich«, fauchte der Inquisitor. »Ich überlasse meine Kathedrale nicht …«
Leesha wölbte eine Augenbraue. »Deine Kathedrale, Inquisitor? Welche in meiner Grafschaft steht?« Sie ging stetig weiter. Der Eingang zur Residenz kam näher, erschien ihr aber immer noch weit entfernt.
Hayes sah sich gezwungen, seine Würde zu opfern, raffte seine Gewänder und wieselte ihr hinterher. »Nur Herzog Pether kann mich von meiner Pflicht entbinden …«
Leesha brachte ihn zum Schweigen, indem sie ihm einen Brief mit dem herzoglichen Siegel hinhielt. »Deine Inquisition ist vorbei.«
»Bei der Inquisition ging es um mehr als einen ketzerischen Fürsorger«, versetzte Hayes. »Die Frage, ob Arlen aus Tibbets Bach …«
»Über Arlen können du und das Kuratorium der Fürsorger nach Herzenslust debattieren, wenn du wieder in Angiers bist«, sagte Leesha. »Der Hirte Jona wird für die Herde der Gläubigen im Tal sorgen.«
Hayes’ entgeisterte Miene übertraf noch die Verblüffung, die Gamon gezeigt hatte. »Hirte?!«
»Seine Gnaden verzichtete auf den Titel, als er Herzog wurde«, sagte Leesha. »Im Übrigen leben im Tal mehr Menschen als in Angiers. Der Pakt der Freien Städte gewährt unseren Fürsorgern das Recht, einen neuen Orden zu gründen.«
Unschlüssig, wie er reagieren sollte, nahm der Inquisitor ihr den Brief ab und ließ sich hinter Leesha zurückfallen, die entschlossenen Schrittes weitermarschierte. Der Erlass des Herzogs verlieh ihr die Macht, den geistlichen Führer der Grafschaft zu bestimmen, doch sie bewegte sich hart an der Grenze, indem sie Jona zum Hirten ernannte. Es war eine Unabhängigkeitserklärung, die dem Efeuthron nicht gefallen würde, aber nun, da Leesha wieder im Tal weilte, konnte man nicht viel dagegen unternehmen.
Auf Leeshas Wink hin eilte Darsy herbei. Mit ihrer fülligen Gestalt drängte sie sich zwischen den Inquisitor und Leesha und schottete diese wirkungsvoll von ihm ab. »Gelobt sei der Schöpfer, es tut gut, dich wiederzusehen, Meisterin.«
»Du hast ja keine Ahnung, wie froh ich erst bin, wieder hier zu sein.« Leesha zog sie in die Arme und flüsterte: »Die Wehen kommen in Abständen von zwei Minuten. Wenn ich nicht bald im Haus bin, werde ich auf dieser Treppe mein Kind gebären. Wonda hat Frauen vorausgeschickt, um die herrschaftlichen Gemächer zu sichern.«
Darsy nickte verstehend. »Soll ich schon mal vorgehen, oder willst du dich auf mich stützen?«
Eine Woge der Erleichterung durchströmte Leesha. »Stütz mich, bitte.«
Darsy nahm ihren anderen Arm, und gemeinsam mit Wonda führte sie Leesha weiter. In diesem Moment traf die nächste Kutsche ein, der Amanvah, Sikvah und Kendall mit ernsten Mienen entstiegen. Darsy betrachtete sie voller Neugier.
»Meisterin«, begann sie. »Wo ist Rojer?«
Leesha fuhr fort, tief und rhythmisch zu atmen, als sie auf den Sarg zeigte, den eine Gruppe Holzfäller aus der Kutsche zog.
Darsy gab einen erstickten Aufschrei von sich und blieb abrupt stehen. Leesha hätte das Gleichgewicht verloren und wäre gestolpert, hätte Wonda sie nicht festgehalten.
»Beherrsche dich, Darsy«, knurrte Wonda. »Zum Jammern ist jetzt nicht der richtige Augenblick.« Darsy nickte, fasste sich wieder, und die drei Frauen setzten ihren Weg fort.
Amanvah schwebte hurtig die Stufen hinauf, ohne sich um Wondas und Darsys finstere Mienen zu kümmern. Ein Blick in Amanvahs Augen genügte Leesha.
Sie weiß, was los ist.
»Gräfin Leesha«, hob die dama’ting an.
»Nicht jetzt, Amanvah«, hauchte Leesha.
Amanvah ignorierte ihre Bitte und trat dicht an sie heran. Wonda rüstete sich, sie abzuwehren, doch Amanvah stieß einen Fingerknöchel gegen ihren Arm, der kraftlos nach unten sank, und der Weg zu Leesha war frei.
»Ich muss bei der Geburt helfen«, sagte sie übergangslos.
»Beim Horc, das lasse ich nicht zu«, knurrte Darsy.
»Ich habe die Würfel ausgeworfen, Meisterin«, sagte Amanvah ruhig. »Wenn ich während der kommenden Stunden nicht bei dir bin, wirst du sterben.«
»Soll das eine Drohung sein?«, zischte Wonda mit gefährlich klingender Stimme.
»Hört auf damit, alle!«, sagte Leesha. »Sie kommt mit mir.«
»Ich kann dir ebenso gut …«, setzte Darsy an.
Leesha stöhnte und merkte, dass sie nicht mehr lange weiterlaufen konnte. »Die Zeit drängt.« Sie setzte einen Fuß auf die nächste Treppenstufe. So ein kurzer Weg, aber sie fühlte sich, als müsse sie einen Berg besteigen.
Oben an der Treppe wartete Tarisa. Leesha schaffte das letzte Stück allein, aber die Frau erkannte auf den ersten Blick, was los war.
»Hier entlang«, sagte sie, fuhr auf dem Absatz herum und öffnete die Türen. Mit einem Fingerschnippen gab sie einer Gruppe von Hausmädchen ein Zeichen. Die flitzten an ihre Seite, und wie ein General erteilte Tarisa ihnen im Gehen Befehle, die sie in alle Richtungen davonstieben ließen.
Leesha wusste, dass sich die Nachricht von ihrer bevorstehenden Niederkunft jetzt mit Windeseile verbreiten würde, aber daran ließ sich nichts ändern. Sie konzentrierte sich voll und ganz auf ihre Atmung und setzte tapfer einen Fuß vor den anderen.
Sowie sie die große Eingangshalle verließen, wandte Wonda sich mit einem Wink an die Wachen. Die stellten sich in einer geschlossenen Reihe auf, während die großgewachsene junge Frau Leesha hochhob wie ein Kind und sie den Rest des Weges in ihren Armen trug.
»Pressen«, befahl Darsy.
Die Aufforderung war unnötig. Kaum hatte man sie auf der Bettkante abgesetzt, da konnte Leesha auch schon fühlen, wie sich das Baby bewegte. Es kam, ob sie presste oder nicht. Der Muttermund war weit geöffnet, das Fruchtwasser hatte sich über Wondas prächtigen hölzernen Harnisch ergossen. In wenigen Augenblicken würde es vorbei sein.
Doch dann fing das Kind an zu zappeln, und Leesha schrie vor Schmerzen auf. Auch Darsy stieß einen Schrei aus, als sie sah, wie Leeshas Leib sich wölbte und winzige Hände und Füße gegen die Bauchdecke stießen. Es war, als würde ein Dämon in ihr versuchen, sich mit seinen Krallen den Weg nach draußen freizukämpfen. Neue Blutergüsse bildeten sich über den verblassten Flecken, die ihren Bauch übersäten.
»Kannst du es sehen?«, fragte Leesha.
Darsy sog scharf den Atem ein und bückte sich zwischen die behelfsmäßigen Fußstützen. »Nein, Meisterin.«
Beim Horc. Es musste jeden Moment so weit sein.
»Hilf mir, aufzustehen«, sagte sie und griff nach Wondas Hand. »Es wird leichter gehen, wenn ich mich hinhocke.« Sie setzte sich in die Hocke und versuchte, das Kind herauszudrücken.
Wieder strampelte das Kind, und die Schläge waren so kräftig wie der Tritt eines Pferdes. Leesha schrie und verlor das Gleichgewicht, aber Wonda hielt sie fest und setzte sie auf das Bett zurück.
»Es ist, wie ich befürchtet habe«, sagte Amanvah. »Meisterin, ich muss das Kind herausschneiden.«
Sofort stellte sich Wonda ihr in den Weg. »Auf gar keinen Fall.«
Darsy richtete sich zu voller Größe auf und stand wie ein Turm vor der zierlichen Amanvah. »Du rührst sie nicht an, und wenn du die einzige Kräutersammlerin auf der Welt wärst.«
»Leesha vah Erny am’Papiermacher am’Tal«, sagte Amanvah. »Bei Everam und bei meiner Hoffnung, in den Himmel zu gelangen, schwöre ich, dass du diese Nacht nur überleben wirst, wenn ich dich aufschneide.«
Wonda zückte ihr Messer, und Leesha wusste, wie schnell sie bei der Hand war, es einzusetzen.
Doch dann tat Amanvah etwas, das Leesha sich niemals in tausend Jahren hätte vorstellen können. Sie fiel auf die Knie, legte die Hände auf den Boden und drückte ihre Stirn dazwischen.
»Beim Blute, das wir miteinander teilen, Meisterin. Bitte. Ala braucht dich. Der Sharak Ka braucht dich. Du musst mir glauben.«
»Beim Blute, das ihr miteinander teilt?«, fragte Darsy. »Was zum Horc …?«
»Tu es«, stöhnte Leesha, als das Kind in ihrem Bauch nicht aufhören wollte zu zappeln.
»Das kann doch nicht dein Ernst sein …«, begann Darsy.
»Es ist mein voller Ernst, Darsy Holzfäller«, fauchte Leesha. »Sie kann besser mit dem Messer umgehen als du, und das weißt du. Schluck deinen Stolz runter und hilf ihr.«
Darsy setzte eine wütende Miene auf, aber sie nickte, während Amanvah ein paar Steine aus ihrem hora-Beutel zog. »Ich werde euch beide schlafen lassen …«
Leesha schüttelte den Kopf. »Beruhige das Kind, aber ich bleibe wach.«
»Die Zeit reicht nicht, um Kräuter gegen die Schmerzen zu nehmen«, sagte Amanvah.
»Dann gib mir etwas zum Draufbeißen«, sagte Leesha.
Um Amanvahs Augen zeigten sich Fältchen, als sie hinter ihrem Schleier lächelte. Sie nickte. »Deine Ehre ist grenzenlos, Tochter des Erny. Schmerzen sind wie der Wind. Beuge dich wie die Palme und lass sie über dich hinwegwehen.«
Das Gebrüll des Babys füllte den Raum. Das in Tücher eingewickelte Kind wurde Wonda in die Arme gedrückt, damit Amanvah und Darsy ihre Arbeit beenden konnten. Darsy vernähte die Wunde, während Amanvah hora-Magie vorbereitete, um den Heilungsprozess zu beschleunigen.
Wonda stand steif und unbeholfen da wie ein frischgebackener Vater, aus Angst, sie könnte das Kind zu fest anfassen und es zerquetschen. Sie blickte hinunter auf das winzige, olivfarbene Gesicht, und Leesha wusste, dass die junge Frau das Kind mit ihrem Leben beschützen würde.
Leeshas Arme zuckten. Sie brannte darauf, das Kind zu halten, aber bis die Heilerinnen fertig waren, musste sie stillhalten. Im Augenblick genügte es ihr fast, zu wissen, dass das Kind gesund war und in Sicherheit.
Fast.
»Was ist es?«, fragte Leesha.
Mit einem Ruck hob Wonda den Kopf, wie eine Schülerin, die man beim Tagträumen ertappt hat. »Meisterin?«
»Mein Kind«, bettelte Leesha. »Ist es ein Junge oder ein Mädchen?«
Von der Antwort hing ja so viel ab. Ein mit einer Nordländerin gezeugter männlicher Nachkomme von Ahmann Jardir konnte zu einem Krieg mit Krasia führen, aber eine Tochter wäre ebenfalls hochgradig gefährdet. Dass die Krasianer das Kind für sich beanspruchen würden, stand zweifelsfrei fest, ganz gleich, welche Eide Amanvah schwor. Doch wann sie kommen würden, um sich das Kind zu holen – jetzt gleich oder erst in zehn Jahren – erfuhr sie, wenn Wonda ihre Frage beantwortete.
Wonda umfasste das Kind mit einem Arm, mit der anderen Hand lupfte sie die Tücher. »Es ist ein J…« Sie runzelte die Stirn und sah genauer hin.
Schließlich hob sie den Kopf. Die Verwirrung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Beim Horc, ich weiß es nicht, Meisterin. Ich bin keine Kräutersammlerin.«
Leesha starrte sie ungläubig an. »Man muss keine Kräutersammlerin sein, Wonda, um zu wissen, welche Geschlechtsteile ein Junge hat und welche ein Mädchen.«
»Das ist es ja, Meisterin.« Wonda blickte erschrocken drein.
»Das Baby hat beide.«
2
Olive
334 NR
Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben fehlten Leesha die Worte. Mit offenem Mund starrte sie Wonda an. Ihre Gedanken überschlugen sich, während das Kindergeschrei durch den Raum hallte.
Dass ein Baby mit Merkmalen beiderlei Geschlechts zur Welt kam, war zwar selten, aber nicht völlig unbekannt. In ihren Büchern über die Wissenschaft der Alten Welt waren dokumentierte Fälle aufgeführt, aber es war etwas anderes, es bei einem lebenden Kind vorzufinden.
Bei ihrem Kind.
Tarisa spähte über Wondas Schulter, schnappte nach Luft und wandte sich ab.
Leesha streckte die Hand aus. »Lasst mich mal sehen.«
Darsy packte ihren Arm und drückte ihn auf den Tisch zurück. »Leesha Papiermacher, wenn du dich noch einmal bewegst, bevor wir hier fertig sind, binde ich dich fest.«
Von der Tür her erklang ein Schrei, und als Leesha den Kopf hob, sah sie sich mit einem Albtraum konfrontiert. Eine von Wondas Wachen taumelte zurück, um einer überaus erzürnten Elona Papiermacher den Weg freizugeben.
»Ay, Bekka!«, schrie Wonda. »Ich sagte doch, dass niemand hier rein darf!«
»Tut mir leid, Won!«, schrie Bekka zurück. »Sie hat mir in die Brust gekniffen und ist an mir vorbeigerauscht!«
»Ich hab noch mehr auf Lager als Kneifen, wenn ihr mich daran hindert, meine Tochter zu sehen!«, keifte Elona. »Warum hat man mich nicht …«
Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als Wonda sich umdrehte und Elona das Kind in ihren Armen sah. Mit ausgestreckten Armen eilte sie darauf zu, aber Wonda wich ihr geschickt aus. Der wilde Blick, den Elona ihr zuwarf, hätte einen Horcling eingeschüchtert, aber Wonda zeigte ihr unbeeindruckt die Zähne.
»Es ist schon gut«, sagte Leesha. Wonda gab nach und überließ Elona widerstrebend das Kind.
In den Augen ihrer Mutter schimmerten Tränen. »Eine Haut wie der Vater, aber die Augen hat sie von dir.« Elona zog die Tücher zurück. »Ist es ein Junge oder ein …«
Sie erstarrte, angestrahlt vom Licht der Siegel, als Amanvah die heilende Magie wirken ließ.
Der Schwall magischer Energie war vergleichbar mit dem rettenden Atemzug, den ein Ertrinkender in sich aufsaugt. Die Kraft schoss durch Leeshas Körper, heilte die Verletzungen und verlieh ihr frische Kräfte. Als das Licht erlosch, rüstete sie sich zum Aufstehen.
»Nein, das ist noch zu früh …«, protestierte Darsy.
Leesha achtete nicht auf sie. »Wonda, hilf mir bitte aufs Bett«, sagte sie.
Mühelos hob Wonda sie hoch und trug sie zu dem breiten, mit Federn gepolsterten Bett. Leesha streckte die Arme aus, und Elona legte behutsam das Kind hinein. Es blickte sie aus strahlend blauen Augen an, und die Liebe, die in Leesha aufwallte, war so machtvoll, dass es sie bis ins Innerste erschütterte.
Wonda Holzfäller ist nicht die Einzige, die ihr Leben für dich geben würde, mein Liebling. Wehe dem Menschen oder dem Dämonen, der es wagt, zwischen uns zu kommen.
Sie küsste das wunderschöne, vollkommene Gesicht und schlug die Tücher zurück, in die das Kind eingewickelt war. Dann legte sie es auf ihre entblößte Brust, um es mit ihrem Körper zu wärmen. Das Baby bewegte sich. Leesha massierte ihre Brust, um den Milchfluss anzuregen, als das Kind sich der Brustwarze näherte. Der kleine Mund öffnete sich weit, und sie drückte das Kind enger an sich, damit es besser saugen konnte.
Wie viele Mütter hatte sie in dieser Weise angeleitet? Wie viele Neugeborene hatte sie ihnen an die Brust gelegt? Es war nichts verglichen mit der Erfahrung, die sie nun selbst machte, während sie zusah, wie ihr vollkommenes Kind zu nuckeln anfing. Die Kraft, mit der das Baby an der Brustwarze saugte, entlockte ihr einen leisen Aufschrei.
»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Darsy besorgt.
Leesha nickte. »Wie stark es schon ist.« Sie spürte, wie die Milch floss, und wusste, dass sie jeden Schmerz ertragen konnte, um ihr Kind zu stillen. Viele Male in den vergangenen Monaten hatte sie verzweifelt um das Leben des Kindes gefürchtet, aber jetzt war es da. Es lebte. Es war in Sicherheit. Vor lauter Freude fing sie an zu weinen.
Tarisa erschien mit einem feuchten Tuch, um ihr die Tränen und den Schweiß abzuwischen. »Jede Mutter weint, wenn sie ihr Kind zum ersten Mal an die Brust legt, meine Lady.«
Ihr Schluchzen verschaffte ihr etwas von der Erleichterung, die sie so dringend brauchte, aber wirklich entspannen konnte sie sich nicht, dazu gab es noch viel zu viele offene Fragen. Als sie sich wieder beruhigt hatte, ließ sie sich von Tarisa ein letztes Mal die Tränen abwischen und holte das Kind aus den Tüchern.
Wonda hatte sich nicht geirrt. Auf den ersten Blick sah das Kind aus wie ein gesunder Knabe mit vollständig ausgeformtem Glied und Hoden. Erst als Leesha das Hodensäckchen anhob, sah sie darunter die voll ausgebildete Scheide eines Mädchens.
Sie holte tief Luft, lehnte sich zurück und fing an, das Kind gründlich zu untersuchen. Das Baby war groß, so groß, dass es nicht durch den Geburtskanal gepasst hätte. Zu versuchen, es auf natürlichem Wege zu gebären, hätte nur ihr Leben und das des Kindes gefährdet. Amanvah hatte recht gehabt. Die Operation hatte ihnen beiden das Leben gerettet.
Außerdem war das Baby kräftig, und es war hungrig. Bis auf die Tatsache, dass es die Merkmale beider Geschlechter aufwies, war es ein völlig normales Kind.
Sie setzte ihre mit Siegeln versehene Brille auf, um sich einen tieferen Einblick zu verschaffen. Die Aura des Kindes strahlte in einem hellen Glanz, heller als sämtliche anderen Auren, die sie bisher gesehen hatte, mit Ausnahme von Arlen und Renna. Die Aura zeugte von Kraft und … Lebensfreude. Das Kind empfand beim Stillen genauso viel Glück wie sie selbst, seine Mutter. Wieder traten ihr die Tränen in die Augen, und sie musste sie wegwischen, ehe sie mit ihrer Untersuchung fortfuhr.
Ein genauerer Blick bestätigte ihren ersten Befund. Sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsorgane, alle gesund und voll funktionsfähig.
Sie wandte sich mit einem Kopfnicken an Wonda. »Beides.«
»Wie zum Horc ist das möglich?«, fragte Elona.
»Ich habe darüber gelesen«, sagte Leesha, »aber mit eigenen Augen gesehen habe ich es noch nicht. Es bedeutet, dass bei der Empfängnis zwei Eier befruchtet wurden, und dann wurde eines …« Leesha brach ab, als sich ihr die Kehle zuschnürte.
»Es ist meine Schuld«, flüsterte sie.
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Darsy.
»Die Magie.« Leesha hatte das Gefühl, als würden sich die Zimmerwände auf sie zu bewegen. »Ich habe sie in zu großen Mengen benutzt. Es fing an, als Inevera und ich gegen den Seelendämon kämpften, in jener Nacht, nachdem Ahmann und ich zum ersten Mal …« Ihre Züge entgleisten, als ihr das volle Ausmaß des Schreckens bewusst wurde.
»Ich bin schuld daran, dass die beiden Eier miteinander verschmolzen sind.«
»Dämonenscheiße«, sagte Elona. »Woher willst du das so genau wissen? Du sagst doch selbst, dass du nur in Büchern darüber gelesen hast.«
»Ich bin ja nur selten einer Meinung mit Elona, Meisterin«, legte Darsy nach, »aber in diesem Fall hat deine Mum recht. Es gibt keinen Beweis dafür, dass es irgendwas mit Magie zu tun hat.«
»Es ist meine Schuld«, beharrte Leesha. »Ich habe sogar gespürt, was passierte.«
»Angenommen, es stimmt«, mischte sich Wonda ein. »Hättest du dich denn von einem Dämon auffressen lassen sollen, anstatt dich zu wehren?«
»Nein, natürlich nicht«, gab Leesha zu.
»›Es hat keinen Sinn, nach Schuldigen zu suchen, wenn man ein Fieber bekämpfen muss‹, pflegte Bruna zu sagen«, versetzte Darsy. »Hinterher …«
»… ist man immer schlauer«, beendete Leesha den Satz.
»Ich habe dieselben Bücher gelesen wie du«, fuhr Darsy fort. »Darin wird auch beschrieben, wie man so etwas behandeln kann.«
»Wie kann man so was denn behandeln?«, fragte Elona. »Gibt es Kräuter, die den Schlitz zumachen oder den Piepmatz eintrocknen lassen, bis er abfällt?«
»Natürlich nicht.« Darsy zuckte die Achseln, während sie das Kind ansah. »Wir müssen uns nur … für etwas entscheiden. Ein so strammes, prächtiges Mädchen kann leicht für einen Jungen durchgehen.«
»Und ein so hübscher Junge kann für ein Mädchen gehalten werden«, erwiderte Elona. »Das ändert doch gar nichts.«
»Ay.« Mit dem Kinn deutete Darsy auf den Operationstisch, an dem Amanvah immer noch tätig war. »Aber ein bisschen Herumschnippeln und ein paar Nähte …«
»Wonda?«, unterbrach Leesha sie.
»Ay, Meisterin?«, antwortete Wonda.
»Wenn jemand außer mir auch nur versucht, dieses Kind zu operieren, wirst du denjenigen sofort erschießen«, befahl Leesha.
Wonda verschränkte die Arme. »Ay, Meisterin.«
Darsy hob die Hände. »Ich habe doch nur …«
Leesha wedelte mit den Fingern. »Ich weiß, dass du es nur gut meinst, Darsy, aber eine solche Vorgehensweise wäre unmenschlich. Solange die Gesundheit des Kindes nicht gefährdet ist, wird an eine Operation nicht mal gedacht. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Ay, Meisterin«, sagte Darsy. »Aber die Leute werden wissen wollen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Was sollen wir ihnen sagen?«
Leesha starrte ihre Mutter drohend an. »Sieh mich nicht so an«, sagt Elona. »Ich weiß besser als jede andere, dass wir auf solche Sachen keinen Einfluss haben. Der Schöpfer lässt sich nicht ins Handwerk pfuschen.«
»Gut gesagt, Gemahlin des Erny«, meldete sich nun Amanvah zu Wort. Endlich war sie vom Operationstisch aufgestanden und trat nun zu Leesha ans Bett. Ihre Hände waren noch rot vom Blut der Geburt. Sie zeigte sie Leesha. »Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, Meisterin. Im Augenblick der Geburt entfalten die Würfel ihre stärkste Macht.«
Leesha dachte nach. Wenn sie Amanvah erlaubte, ihre alagai hora in dem Gemisch aus Blut und anderen Geburtsflüssigkeiten auszuwerfen, erhielt die dama’ting Einblicke sowohl in Leeshas Zukunft als auch in die Zukunft ihres Kindes. Selbst wenn Amanvah völlig aufrichtig war – und die dama’ting waren nicht für ihre Geradlinigkeit bekannt –, würde sie vieles nicht in Worte fassen können. Sie würde immer Geheimnisse haben, Geheimnisse, die für Leeshas Schicksal entscheidend sein konnten.
Doch Amanvahs Sorge um das Baby, ihr Halbgeschwisterkind, stand in goldener Schrift in ihrer Aura geschrieben. Sie wünschte sich verzweifelt, die Würfel zu befragen, um das Kind besser beschützen zu können.
»Wenn ich dir gestatte, die Würfel auszuwerfen, dann unter bestimmten Bedingungen«, sagte Leesha. »Und die sind nicht verhandelbar.«
Amanvah verneigte sich. »Ich beuge mich jedem deiner Wünsche.«
Leesha wölbte eine Augenbraue. »Du wirst deine Gebete in Thesanisch sprechen.«
»Selbstverständlich.«
»Du wirst mir alles, was du siehst, mitteilen. Und nur mir allein«, fuhr Leesha fort.
»Hey, ich will auch Bescheid wissen!«, rief Elona, doch Leesha wandte den Blick nicht von Amanvah ab.
»Ja, Meisterin«, sagte Amanvah.
»Das gilt für immer und alle Zeiten«, betonte Leesha. »Wenn ich dich in zwanzig Jahren frage, was du gesehen hast, wirst du mir ohne zu zögern und ohne etwas auszulassen antworten.«
»Ich schwöre es bei Everam.«
»Nachdem du die Würfel ausgeworfen hast, wirst du sie an ihrem Platz lassen, bis wir eine Kopie ihrer Anordnung hergestellt haben, die in meinem Besitz bleibt.«
An dieser Stelle zögerte Amanvah. Kein Außenseiter durfte diealagai hora der dama’ting studieren. Damit sollte ausgeschlossen werden, dass jemand versuchte, sich Würfel für den eigenen Gebrauch zu schnitzen. Inevera würde Amanvahs Kopf fordern, wenn sie diesem Wunsch nachgab.
Doch nach einer Weile nickte die Priesterin. »Ich habe einen Satz Würfel aus Ton. Die können wir in Zement einbetten.«
»Und du wirst mir beibringen, wie man sie deutet«, sagte Leesha.
Im Zimmer wurde es mucksmäuschenstill. Sogar die anderen Frauen, die sich mit den krasianischen Sitten nicht auskannten, spürten die Kühnheit dieser Forderung.
Amanvahs Augen wurden schmal. »Ja.«
»Was hast du gesehen, als du in Angiers die Würfel für das Kind ausgeworfen hast?«, fragte Leesha.
»Das Erste, wonach ich Ausschau halten musste. So wie meine Mutter es mich gelehrt hat«, sagte Amanvah.
Leesha verteilte Klats mit Siegeln rings um das antike, herrschaftliche Möbelstück, das sie als Operationstisch benutzt hatten. Die Siegel wurden lebendig und schotteten den Tisch von sämtlichen Geräuschen ab. Kein Laut durchdrang die schalldichte, unsichtbare Wand, hinter der Amanvah und Leesha sich über den Operationstisch beugten und die im magischen Licht glühenden Würfel studierten.
Mit einem ihrer langen, lackierten Fingernägel zeigte Amanvah auf ein besonders auffälliges Symbol. »Ka.« Das krasianische Wort für »eins« oder »Erster« beziehungsweise »Erste«.
Sie deutete auf ein anderes Zeichen. »Dama.« Priester.
Dann auf ein drittes. »Sharum.« Krieger.
»Erster … Priester … Krieger …« Leesha blinzelte, und ihr stockte der Atem. »Shar’Dama Ka?«
Amanvah nickte.
»Dama bedeutet ›Priester‹«, sagte Leesha. »Heißt das, das Kind ist männlichen Geschlechts?«
Amanvah schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. ›Oberhaupt der kriegerischen Geistlichkeit‹ wäre eine bessere Übersetzung. Die Begriffe sind neutral, damit sie im Hannu Pash für beide Geschlechter verwendet werden können.«
»Dann ist mein Kind also ein Erlöser – oder eine Erlöserin?«, fragte Leesha ungläubig.
»So einfach ist das nicht«, sagte Amanvah. »Du musst das so verstehen, Meisterin. Die Würfel sagen etwas über unsere Möglichkeiten aus, doch die meisten Ziele werden nicht erreicht.« Sie zeigte auf ein anderes Symbol. »Irrajesh.«
»Tod«, sagte Leesha.
Amanvah nickte. »Siehst du, wie die Spitze des Würfels nach Nordosten zeigt? Ein früher Tod ist ein Schicksal, das vielen Kindern vorherbestimmt ist.«
Leesha schob die Kinnlade vor. »Nicht, wenn ich ein Auge auf das Kind habe!«