Das Lied der Dunkelheit - Peter V. Brett - E-Book
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Das Lied der Dunkelheit E-Book

Peter V. Brett

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Beschreibung

„Weit ist die Welt – und dunkel …“

… und in der Dunkelheit lauert die Gefahr. Das muss der junge Arlen auf bittere Weise selbst erfahren. Schon seit Jahrhunderten haben Dämonen, die sich des Nachts aus den Schatten erheben, die Menschheit zurückgedrängt. Das einzige Mittel, mit dem die Menschen ihre Angriffe abwehren können, sind die magischen Runenzeichen. Als Arlens Mutter bei solch einem Dämonenangriff umkommt, flieht er aus seinem Heimatdorf. Er will nach Menschen suchen, die den Mut noch nicht aufgegeben und das Geheimnis um die alten Kriegsrunen noch nicht vergessen haben.

„Das Lied der Dunkelheit“ ist ein eindringliches, fantastisches Epos voller Magie und Abenteuer. Es erzählt die Geschichte eines Jungen, der einen hohen Preis bezahlt, um ein Held zu werden. Und es erzählt die Geschichte des größten Kampfes der Menschheit – der Kampf gegen die Furcht und die Dämonen der Nacht.

Episch und düster – die faszinierendste Weltenschöpfung der letzten Jahre.

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Seitenzahl: 995

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
 
Teil I – Tibbets Bach
Kapitel 1 – Nachwirkungen
Kapitel 2 – Wenn es dich treffen würde
Kapitel 3 – Eine Nacht allein
Kapitel 4 – Leesha
Kapitel 5 – Ein volles Haus
Kapitel 6 – Die Geheimnisse des Feuers
Kapitel 7 – Rojer
Kapitel 8 – Zu den Freien Städten
Kapitel 9 – Fort Miln
 
Teil II – Miln
Kapitel 10 – Lehrjahre
Kapitel 11 – Die Bresche
Kapitel 12 – Die Bibliothek
Kapitel 13 – Es muss doch noch mehr geben
Kapitel 14 – Die Straße nach Angiers
Kapitel 15 – Fiedel mir ein Vermögen zusammen
Kapitel 16 – Bindungen
 
Teil III – Krasia
Kapitel 17 – Ruinen
Kapitel 18 – Initiationsritus
Kapitel 19 – Der Erste Krieger von Krasia
Kapitel 20 – Alagai’sharak
Kapitel 21 – Nur ein chin
Kapitel 22 – Über die Dörfer
Kapitel 23 – Wiedergeburt
Kapitel 24 – Nadeln und Tinte
 
Teil IV – Das Tal der Holzfäller
Kapitel 25 – Ein neuer Schauplatz
Kapitel 26 – Das Hospital
Kapitel 27 – Einbruch der Nacht
Kapitel 28 – Geheimnisse
Kapitel 29 – Vor der Morgendämmerung
Kapitel 30 – Die Seuche
Kapitel 31 – Die Schlacht im Tal der Holzfäller
Kapitel 32 – Ein neuer Name
 
Danksagung
Copyright
Für Ötzi,den ursprünglichen Tätowierten Mann
Teil I
Tibbets Bach
319 Nach der Rückkehr
1
Nachwirkungen
319 NR
 
 
 
Das große Horn dröhnte. Arlen hielt in seiner Arbeit inne, hob den Kopf und blickte auf den zart lavendelfarbenen Morgenhimmel. Nebelschwaden hingen noch in der Luft und brachten einen feuchten, beißenden Geruch mit sich, der dem Jungen nur allzu vertraut war. Eine dumpfe Furcht breitete sich in seinen Eingeweiden aus, während er regungslos in der morgendlichen Stille stand und angespannt wartete, noch voller Hoffnung, er habe sich den Klang des Horns nur eingebildet. Arlen war elf Jahre alt.
Nach einer Pause erscholl das Horn noch zweimal rasch hintereinander. Ein langer Ton gefolgt von zwei kurzen Stößen, das bedeutete Süden und Osten. Die Holzfällerhütten, der Weiler in der Nähe des Waldes. Sein Vater hatte Freunde dort. Hinter Arlen ging die Haustür auf, und er wusste, dass seine Mutter mit vor dem Mund zusammengeschlagenen Händen hinausspähte.
Arlen kehrte an seine Arbeit zurück; man brauchte ihm nicht zu sagen, dass er sich sputen musste. Manche Aufgaben ließen sich ein, zwei Tage aufschieben, aber das Vieh musste gefüttert und die Kühe obendrein gemolken werden. Er ließ die Tiere in den Ställen und stopfte die Raufen mit Heu voll. Hastig füllte er die Schweinetröge und hetzte dann los, um einen hölzernen Melkeimer zu holen. Seine Mutter hockte bereits unter der ersten Kuh und bearbeitete geschickt deren Euter. Arlen schnappte sich den zweiten Melkschemel und passte sich dem Rhythmus der Mutter an; das Geräusch der auf das Holz prasselnden Milch glich einem getrommelten Trauermarsch.
Als sie sich anschickten, die beiden nächsten Kühe in der Reihe zu melken, sah Arlen seinen Vater, der dabei war, ihr kräftigstes Pferd, eine fünf Jahre alte Fuchsstute namens Missy, vor den Karren zu spannen. Mit grimmiger Miene ging er seinen Verrichtungen nach.
Was würden sie dieses Mal vorfinden?
Bald saßen sie in dem Fuhrwerk und rumpelten in Richtung der kleinen Ansammlung von Häusern, die sich dicht an den Waldessaum schmiegte. Es war gefährlich dort – wenn man das nächste geschützte Gebäude erreichen wollte, musste man über eine Stunde lang rennen -, doch das Holz wurde dringend gebraucht. Arlens Mutter, die sich in ihr abgewetztes Umhängetuch gehüllt hatte, drückte ihren Sohn während der ganzen Fahrt fest an sich.
»Ich bin schon groß, Mam«, beschwerte sich Arlen. »Du musst mich nicht im Arm halten wie ein Baby. Ich habe keine Angst.« Das entsprach zwar nicht völlig der Wahrheit, aber er wollte nicht, dass die anderen Kinder ihn sähen, wie er sich an seine Mutter klammerte, wenn sie ankamen. Sie machten sich ohnehin schon genug über ihn lustig.
»Aber ich fürchte mich«, entgegnete seine Mutter. »Was ist, wenn ich diejenige bin, die Halt und Trost sucht?«
Arlen spürte eine Aufwallung von Stolz und kuschelte sich wieder eng an seine Mutter heran, während sie die Straße entlangholperten. Sie konnte ihn niemals täuschen, trotzdem fand sie in jeder Situation genau die richtigen Worte.
Lange bevor sie ihr Ziel erreichten, verriet ihnen eine Säule aus fettigem Qualm mehr, als sie wissen wollten. Man verbrannte die Toten. Und wenn man die Scheiterhaufen so früh anzündete, ohne auf die Ankunft der anderen zu warten, um gemeinsam zu beten, hieß das, dass es sehr viele Opfer gegeben hatte. Sie waren zu zahlreich, um für jeden einzelnen Toten ein Gebet zu sprechen, wenn man mit der Bestattung vor Anbruch der Dunkelheit fertig sein wollte.
Von dem Hof, der Arlens Vater gehörte, bis zu den Holzfällerhütten waren es über fünf Meilen. Als sie endlich eintrafen, waren die Löscharbeiten an den letzten brennenden Gebäuden beendet, obwohl es im Grunde gar nichts mehr zu retten gab. Von fünfzehn Häusern war nur noch Schutt und Asche übrig.
»Die Holzstapel sind auch verbrannt«, erklärte Arlens Vater und spuckte über die Seitenwand des Karrens. Mit dem Kinn deutete er auf die geschwärzten Trümmer, die von der Ausbeute einer ganzen Saison zurückgeblieben waren. Arlen zog eine Grimasse bei der Vorstellung, dass der morsche Zaun, der den Viehpferch eingrenzte, noch ein ganzes Jahr lang halten musste, und sofort plagten ihn Gewissensbisse. Schließlich war es nur Holz, das zu Schaden gekommen war.
Die Dorfsprecherin näherte sich ihrem Karren, als sie zum Stehen kamen. Selia, die Arlens Mutter manchmal Selia die Unfruchtbare nannte, war eine hartgesottene Frau, hochgewachsen und hager, mit einer Haut wie gegerbtes Leder. Das lange graue Haar war zu einem straffen Knoten gezwirbelt, und ihr Umschlagtuch trug sie wie ein Statussymbol, das ihr Amt kennzeichnete. Mit ihr war nicht gut Kirschen essen, wie Arlen mehr als einmal erfahren hatte, wenn sie mit dem Stock auf ihn eindrosch, doch heute empfand er ihre Anwesenheit als tröstlich. Mit Selia ging es ihm wie mit seinem Vater – bei beiden fühlte er sich sicher und geborgen.
Obwohl Selia keine eigenen Kinder hatte, verhielt sie sich jedem Einwohner von Tibbets Bach gegenüber wie eine Mutter. Nur wenige reichten an ihre Weisheit heran, und ihre Sturheit war nahezu unübertroffen. Wenn Selia einem wohlgesonnen war, dann konnte einem nicht mehr viel passieren.
»Gut, dass du gekommen bist, Jeph«, wandte sich Selia an Arlens Vater. »Und es ist schön, dass du Silvy und den jungen Arlen mitgebracht hast«, fuhr sie fort, mit dem Kinn auf Arlen und seine Mutter deutend. »Wir können jede Unterstützung gebrauchen. Sogar der Junge kann helfen.«
Arlens Vater gab einen Grunzlaut von sich und kletterte von dem Fuhrwerk herunter. »Ich habe mein Werkzeug dabei«, erklärte er. »Sag mir nur, wo wir mit anpacken können.«
Arlen klaubte das kostbare Werkzeug von der hinteren Ladefläche des Karrens. Gegenstände aus Metall gab es in Tibbets Bach kaum, und sein Vater war stolz auf seine beiden Schaufeln, die Spitzhacke und die Säge. Heute würde jedes einzelne Stück stark beansprucht werden.
»Wie viele Tote gab es?«, erkundigte sich Jeph, obwohl es schien, als wolle er es lieber nicht wissen.
»Siebenundzwanzig«, antwortete Selia. Silvy stieß einen erstickten Schrei aus und schlug die Hände vor den Mund; in ihren Augen standen Tränen. Jeph spuckte abermals aus.
»Hat jemand überlebt?«, fragte er.
»Einige schon«, entgegnete Selia. »Manie«, mit ihrem Stock zeigte sie auf einen Jungen, der dastand und den Scheiterhaufen anstarrte, »ist im Dunkeln den ganzen Weg bis zu meinem Haus gerannt.«
Silvy schnappte nach Luft. Noch nie war jemand so weit gelaufen und mit dem Leben davongekommen. »Die Siegel am Haus von Brine Holzfäller haben den größten Teil der Nacht gehalten«, fuhr Selia fort. »Er und seine Familie konnten alles beobachten. Ein paar Leute entkamen den Horclingen und retteten sich in Brines Hütte, bis die Flammen sich ausbreiteten und auf das Dach übersprangen. Sie harrten so lange in dem brennenden Gebäude aus, bis die Balken anfingen zu bersten, und wenige Minuten vor der Morgendämmerung mussten sie ins Freie flüchten. Die Horclinge töteten Brines Frau Meena und seinen Sohn Poul, doch die anderen haben es geschafft. Ihre Verbrennungen werden heilen, und mit der Zeit werden sich die Kinder von dem Schrecken und den Blessuren erholen. Aber trotzdem …«
Sie brauchte den Satz nicht zu beenden. Selbst wenn jemand einen Dämonenangriff im Wesentlichen unbeschadet überlebte, so war er noch lange nicht über den Berg. Diese Opfer siechten dahin, auch wenn man sich noch so sehr um sie bemühte. Nicht alle, ja, nicht einmal die meisten starben, aber es kam immer wieder vor. Einige brachten sich um, andere hockten oder lagen völlig unbeteiligt da und starrten ins Leere; sie verweigerten so lange jede Nahrung und jedes Getränk, bis sie still und leise in den Tod hinüberdämmerten. Man sagte, einen Dämonenangriff habe man erst dann wirklich überstanden, wenn ein Jahr und ein Tag vergangen seien.
»Ein Dutzend Personen werden noch vermisst«, erklärte Selia, aber in ihrer Stimme schwang nur wenig Hoffnung mit.
»Ich vermute, wir werden sie aus den Trümmern ausgraben«, meinte Jeph bitter und blickte auf die eingestürzten Hütten, aus denen immer noch Rauch aufstieg. Die Holzfäller bauten ihre Häuser meistens aus Stein, um sie gegen Feuer zu schützen, doch selbst Stein konnte brennen, wenn die Schutzsiegel versagten und genügend Flammendämonen sich an einem Ort zusammenrotteten.
Jeph begab sich zu einer Gruppe von Männern, die unterstützt wurden von ein paar kräftigen Frauen, und half, die verkohlten Trümmer wegzuräumen und die Toten zum Scheiterhaufen zu karren. Natürlich musste man die Leichen verbrennen. Kein Mensch wollte in dem Boden begraben werden, aus dem die Dämonen Nacht für Nacht herauskrochen. Harral, der Fürsorger, der die Ärmel seiner Robe bis zu den feisten Oberarmen aufgekrempelt hatte, hob selbst jedes einzelne Opfer in das Feuer hinein, murmelte Gebete und zeichnete Schutzsiegel in die Luft, während die Flammen die Toten verzehrten.
Silvy ging zu den anderen Frauen, die sich um die kleineren Kinder kümmerten und unter den wachsamen Augen der Kräutersammlerin von Tibbets Bach, der Schmucken Coline, die Verwundeten versorgten. Doch kein Kraut vermochte die Schmerzen der Überlebenden zu lindern. Brine der Holzfäller, der auch Brine der Breite genannt wurde, war ein wahrer Hüne, ein Mann wie ein Bär, der gern und schallend lachte und Arlen immer in die Luft warf, wenn sie zu ihm kamen, um Holz einzuhandeln. Nun kauerte Brine in der Asche seines niedergebrannten Hauses und rammte seinen Kopf immer wieder langsam gegen die geschwärzte Wand, während er unverständliches Zeug brabbelte und die Arme um sich schlang, als würde er frieren.
Arlen und die übrigen Kinder bekamen den Auftrag, Wasser herbeizuschleppen und die Holzstapel nach verwertbarem Material zu durchwühlen. In diesem Jahr konnte man noch mit ein paar warmen Monaten rechnen, aber die Zeit reichte auf gar keinen Fall mehr aus, um genügend Holz für den gesamten Winter zu schlagen. Also mussten sie wieder einmal Dung verbrennen, und der Gestank würde das ganze Haus verpesten.
Abermals wurde Arlen von Schuldgefühlen übermannt. Er lag nicht auf dem Scheiterhaufen, noch schlug er im Schock seinen Kopf gegen eine Wand, vor lauter Verzweiflung, weil er alles verloren hatte. Es gab schlimmere Schicksale als in einem Haus zu wohnen, in dem es nach Mist roch.
Im Laufe des Vormittags trafen immer mehr Dorfbewohner ein. Sie brachten ihre Familien mit und die Vorräte, die sie entbehren konnten. Aus sämtlichen umliegenden Flecken, die die aus mehreren Dörfern bestehende Gemeinde ausmachten, kamen sie angereist – aus Fischweiher und Stadtplatz, aus Torfhügel und Sumpfland. Einige hatten sogar den langen Weg von Südwache auf sich genommen. Selia begrüßte jeden einzelnen der Neuankömmlinge mit einer knappen Schilderung der entsetzlichen Vorkommnisse und teilte sie zur Arbeit ein.
Mit mehr als fünfzig Paar Händen, die kräftig zupacken konnten, verdoppelten die Männer ihre Anstrengungen. Eine Hälfte der Gruppe fuhr fort, in den Trümmern zu graben, während die anderen sich dem einzigen Gebäude im Weiler zuwandten, das sich noch zu retten lohnte: dem Haus von Brine dem Holzfäller. Selia führte Brine aus der Ruine heraus; irgendwie schaffte sie es, den riesenhaften Mann zu stützen, während er wie betäubt vorwärtsstolperte. Unterdessen räumten die Männer den Schutt beiseite und begannen damit, neue Steine heranzuwuchten. Ein paar holten ihre Zeichenausrüstung und fingen an, frische Schutzsiegel zu malen, derweil Kinder Binsenbüschel für das Dach flochten. Vor Einbruch der Nacht würde das Haus wieder instandgesetzt sein.
Arlen wurde Cobie Fischer zugewiesen, um mit ihm gemeinsam Holz zu schleppen. Die Kinder hatten einen beachtlichen Teil aus dem verbrannten Stapel geborgen, obwohl es nur ein Bruchteil der Menge war, die das Feuer verschlungen hatte. Cobie war ein großer, massiger Junge mit schwarzen Locken und dicht behaarten Armen. Bei den meisten Kindern war er beliebt, aber seine Beliebtheit errang er sich auf Kosten anderer. Nur wenige Kinder hatten den Mumm, sich seinen Beleidigungen auszusetzen, und noch weniger waren erpicht darauf, sich von ihm verprügeln zu lassen.
Schon seit Jahren wurde Arlen von Cobie gepiesackt, und die anderen Kinder machten mit. Jephs Hof war das am nördlichsten gelegene Anwesen in Tibbets Bach, und bis zum Weiler Stadtplatz, wo die Kinder sich zu treffen pflegten, musste man ein gutes Stück laufen; deshalb verbrachte Arlen den größten Teil seiner freien Zeit damit, allein am Bach entlangzuwandern. Den meisten Kindern erschien es nur recht und billig, ihn Cobies Wüten zu überlassen.
Jedes Mal, wenn Arlen zum Angeln ging oder auf dem Weg nach Stadtplatz am Fischweiher vorbeikam, schienen Cobie und seine Spießgesellen davon zu wissen. Mitunter riefen sie ihm nur Schimpfworte hinterher oder schubsten ihn herum, doch gelegentlich kam er auch blutend und mit blauen Flecken übersät nach Hause, und seine Mutter schalt ihn nach Strich und Faden aus, weil er sich mit den anderen geprügelt hatte.
Doch dann kam der Augenblick, als Arlen genug hatte und sich nichts mehr gefallen lassen wollte. An dem Platz, an dem Cobie ihm mitsamt seinen Kumpanen aufzulauern pflegte, versteckte er einen dicken Knüppel. Als die Jungen ihn das nächste Mal verfolgten, tat Arlen so, als würde er davonlaufen, um dann wie aus heiterem Himmel kehrtzumachen und der Bande eine Waffe schwingend entgegenzustürmen.
Cobie bekam den ersten Schlag ab, einen wuchtigen Hieb, der ihn zu Boden gehen ließ; dort wälzte er sich weinend im Staub, und aus einem Ohr sickerte Blut. Willum holte sich einen gebrochenen Finger, und Gart humpelte über eine Woche lang. Diese Tat trug nicht dazu bei, Arlens Beliebtheit bei den anderen Kindern zu steigern, und sein Vater versohlte ihn mit einem Stock, doch seitdem hatte ihn niemand mehr belästigt. Selbst jetzt machte Cobie einen möglichst großen Bogen um ihn und zuckte jedes Mal zusammen, wenn Arlen eine hastige Bewegung machte, obwohl er wesentlich größer und stärker war als er.
»Überlebende!«, schrie Bil Bäcker plötzlich, der vor einem zusammengebrochenen Haus am Rand der Siedlung stand. »Ich kann sie hören, sie sind im Wurzelkeller eingeschlossen!«
Sofort ließen die Leute alles stehen und liegen und stürzten zu Bil. Den Schutt wegzuräumen würde zu lange dauern, deshalb fingen die Männer wie fieberhaft an zu graben; stumm und verbissen gingen sie zu Werke. Schon bald durchstießen sie eine Seite der Kellerwand und fingen an, die Überlebenden aus der Öffnung herauszuziehen. Die Leute waren völlig verdreckt und verängstigt, aber sie lebten. Nacheinander beförderte man drei Frauen, sechs Kinder und einen Mann ins Freie.
»Onkel Cholie!«, rief Arlen, und schon eilte seine Mutter herbei. Sie schlang die Arme um ihren Bruder, der wie trunken torkelte. Arlen hastete zu Hilfe und schob seine Schulter unter Cholies andere Achselhöhle, um ihn zu stützen.
»Cholie, was machst du denn hier?«, staunte Silvy. Cholie verließ nur selten seine Werkstatt, die er im Weiler Stadtplatz betrieb. Mindestens tausendmal hatte Arlens Mutter die Geschichte erzählt, wie sie und ihr Bruder gemeinsam die Hufschmiede betrieben hatten, ehe Jeph anfing, absichtlich die Hufeisen seiner Pferde zu zerbrechen, um einen Vorwand zu haben, die Schmiede aufzusuchen und um Silvy zu werben.
»Ich kam hierher, um Ana Holzfäller den Hof zu machen«, nuschelte Cholie. Er zerrte an seinem Haar, von dem er sich bereits ganze Büschel ausgerissen hatte. »Wir hatten gerade das Fluchtloch geöffnet, als sie die Siegel durchbrachen …« Die Beine gaben unter ihm nach, und mit seinem Gewicht zog er Arlen und Silvy zu Boden. Im Dreck kniend, fing er bitterlich an zu weinen.
Arlen warf einen Blick auf die anderen Überlebenden. Ana Holzfäller war nicht bei ihnen. Seine Kehle schnürte sich schmerzhaft zusammen, als die Kinder an ihm vorbeischlichen. Er kannte sie alle, ihre Familien, ihre Häuser innen wie außen, wusste sogar die Namen ihrer Tiere. Im Vorbeischlurfen blickten sie ihn flüchtig an, und in diesen Sekunden durchlebte er den Angriff, als hätte er ihn selbst mitgemacht und durch ihre Augen gesehen. Er glaubte zu spüren, wie er in ein enges Loch im Fußboden gestoßen wurde, während diejenigen, die nicht mehr hineinpassten, den Horclingen und dem Feuer ausgeliefert waren. Plötzlich fing er an nach Luft zu schnappen und konnte gar nicht mehr aufhören, bis Jeph ihm ein paar kräftige Schläge auf den Rücken versetzte und er wieder zu Sinnen kam.
Sie beendeten gerade eine kalte Mittagsmahlzeit, als vom anderen Bachufer ein Hornsignal ertönte.
»Doch nicht der zweite Angriff in zwei Tagen?«, keuchte Silvy und hielt sich erschrocken die Hände vor den Mund.
»Bah!«, knurrte Selia. »Um die Mittagsstunde? Benutze deinen Verstand, Mädchen!«
»Aber was könnte …?«
Selia schenkte ihr keine Beachtung, sondern stand auf, um einen Hornbläser zu suchen, der das Signal erwiderte. Keven aus dem Dorf Sumpfland hielt sein Horn bereit, wie es bei den Bewohnern der Feuchtgebiete üblich war. In den Marschen konnte man sich leicht verirren, und keiner wollte im Freien sein, wenn die Sumpfdämonen aus dem morastigen Boden aufstiegen. Kevens Backen blähten sich auf wie der Kehlsack eines Frosches, als er eine Folge von Tönen schmetterte.
»Das war das Horn eines Kuriers«, erklärte Coran aus dem Weiler Sumpfland der atemlos lauschenden Silvy. Der alte Graubart war Sprecher für die Bevölkerung der Marschen und Kevens Vater. »Wahrscheinlich haben sie den Rauch gesehen. Keven teilt ihnen mit, was passiert ist und wo sie uns finden.«
»Ein Kurier im Frühling?«, wunderte sich Arlen. »Ich dachte, sie kämen im Herbst, nach der Ernte. Mit der Aussaat sind wir doch erst beim letzten Mond fertig geworden!«
»Im vergangenen Herbst kam überhaupt kein Kurier zu uns«, klärte Coran ihn auf und spuckte durch seine Zahnlücke einen schaumigen braunen Saft aus, der von der Wurzel stammte, auf der er gerade genüsslich herumkaute. »Wir hatten uns schon Sorgen gemacht, ihm könnte was zugestoßen sein. Dachten, wir müssten bis zum nächsten Herbst auf die Salzlieferung warten. Oder dass die Horclinge die Freien Städte eingenommen hätten und wir total abgeschnitten wären.«
»Die Horclinge könnten niemals die Freien Städte einnehmen«, behauptete Arlen.
»Arlen, halt den Mund!«, zischte Silvy. »Einem Ältesten gibt man keine Widerworte!«
»Lass den Jungen ruhig aussprechen«, meinte Coran. »Warst du jemals in einer Freien Stadt?«, wandte er sich dann wieder an Arlen.
»Nein«, gab der Junge zu.
»Kennst du jemanden, der eine der Freien Städte aufgesucht hat?«
»Nein«, musste Arlen einräumen.
»Und was macht dich dann zu solch einem Experten?«, fragte Coran. »Außer den Kurieren war noch niemand dort. Sie sind die Einzigen, die so weit kommen, weil sie den Mut aufbringen, der Nacht zu trotzen. Wer sagt dir, dass die Freien Städte nicht genauso sind wie zum Beispiel deine Heimat Tibbets Bach? Wenn die Horclinge uns kriegen, dann können sie in den Freien Städten denselben Schaden anrichten.«
»Der alte Vielfraß stammt aus einer der Freien Städte«, warf Arlen ein. Rusco Vielfraß war der reichste Mann in Tibbets Bach. Er besaß den Gemischtwarenladen, der das allgemeine Handelszentrum im ganzen Weiler darstellte.
»Ay«, gab Coran ihm Recht, »und vor Jahren erzählte der alte Vielfraß mir, dass eine einzige Reise ihm gereicht hätte. Eigentlich hatte er vor, nach ein paar Jahren zurückzukehren, aber er fand, das Risiko sei zu groß. Du kannst ihn ja fragen, ob die Freien Städte sicherer sind als andere Orte.«
Arlen wollte es nicht glauben. Es musste einfach sichere Plätze in der Welt geben. Doch wieder zuckte das Bild, wie er in das schmale Kellerloch geworfen wurde, durch seinen Kopf, und er wusste, dass es in der Nacht nirgendwo einen zuverlässigen Schutz gab.
Eine Stunde später traf der Kurier ein. Er war ein groß gewachsener Mann von Anfang dreißig, mit kurz getrimmtem braunem Haar und einem kurzen, dichten Bart. Seine breiten Schultern schützte ein Hemd aus Metallgliedern, und er trug einen langen, dunklen Mantel; dazu Kniehosen aus derbem Leder und Stiefel. Die braune Stute, die er ritt, war ein eleganter, schlanker Renner. Am Sattel war ein Köcher befestigt, in dem eine Anzahl verschiedener Speere steckte. Die Miene des Mannes wirkte grimmig, als er näher kam, doch er trug den Kopf hoch und seine ganze Haltung drückte Stolz aus. Suchend wanderte sein Blick über die versammelten Menschen, und im Nu entdeckte er die Dorfsprecherin, die dastand und Anweisungen erteilte. Er ritt in ihre Richtung.
Ein paar Meter hinter ihm hockte auf einem schwer beladenen Karren, der von zwei dunkelbraunen Maultieren gezogen wurde, der Jongleur. Seine Kleidung bestand aus grellbunten Flicken, und neben ihm auf der Sitzbank lag eine Laute. Sein Haar war von einer Farbe, die Arlen noch nie zuvor gesehen hatte, sie erinnerte an eine helle Möhre, und seine Haut war so blass als hätte sie noch nie ein Sonnenstrahl berührt. Seine Schultern hingen herab und er sah völlig erschöpft aus.
Der alljährlich eintreffende Kurier brachte immer einen Jongleur mit. Die Kinder und auch ein paar der Erwachsenen hielten den Jongleur für die wichtigere der beiden Personen. So lange Arlen zurückdenken konnte, war es immer derselbe Mann gewesen, grauhaarig, aber lebhaft und voller Humor. Dieser jedoch war jünger und machte einen griesgrämigen Eindruck. Die Kinder rannten sofort zu ihm hin, und der junge Jongleur wurde plötzlich munter. Seine mürrische Miene verflog so schnell, dass Arlen sich beinahe fragte, ob er sich nicht verguckt hatte. Geschwind wie der Blitz sprang der Jongleur vom Karren und wirbelte unter den begeisterten Zurufen der Kinder seine bunten Bälle durch die Luft.
Andere Leute, Arlen eingeschlossen, vergaßen ihre Pflichten und schlenderten zu den Neuankömmlingen hin. Doch sie hatten ihre Rechnung ohne Selia gemacht, die zu ihnen stürmte und sie anschnauzte: »Der Tag wird nicht länger, nur weil der Kurier gekommen ist! Zurück an eure Arbeit!«
Manch einer murrte, doch alle gehorchten dem Befehl. »Du nicht, Arlen«, pfiff Selia ihn zurück, als er sich dem Trüppchen anschließen wollte. »Komm hierher!« Arlen riss sich vom Anblick des Jongleurs los und trabte zur Dorfsprecherin, vor der der Kurier gerade sein Pferd zügelte.
»Bist du Selia die Unfruchtbare?«, fragte der Kurier.
»Nenn mich einfach Selia. Das genügt«, erwiderte sie gereizt. Die Augen des Kuriers weiteten sich, und er wurde rot. Arlen konnte zusehen, wie ihm das Blut in die blassen Wangen schoss. Er schwang sich aus dem Sattel und verbeugte sich tief vor der Frau.
»Ich bitte vielmals um Vergebung«, entschuldigte er sich. »Es war gedankenlos von mir. Aber Graig, der Kurier, der euch früher aufsuchte, sagte mir, so würdest du genannt.«
»Es freut mich zu erfahren, wie Graig nach so vielen Jahren unserer Bekanntschaft über mich denkt«, entgegnete Selia, die alles andere als erfreut klang.
»Gedacht hat«, berichtigte der Kurier. »Graig ist tot, werte Dame.«
»Tot?«, wiederholte Selia und blickte betroffen drein. »Was ist …?«
Der Kurier schüttelte den Kopf. »Eine Erkältung raffte ihn dahin, nicht die Horclinge. Ich bin Ragen, euer Kurier für dieses Jahr, aus Gefälligkeit seiner Witwe gegenüber. Die Gilde wird für euch einen neuen Kurier aussuchen, der dann im nächsten Herbst hier eintrifft.«
»Was, wir sollen anderthalb Jahre warten, bis der nächste Kurier kommt?«, fragte Selia in einem Tonfall, als hielte sie dem Mann eine Strafpredigt. »Wir haben es ohne das Herbstsalz fast nicht über den vergangenen Winter geschafft«, legte sie nach. »Ich weiß, dass bei euch in Miln Salz eine Selbstverständlichkeit ist, aber die Hälfte unserer Fleisch- und Fischvorräte ist verdorben, weil wir sie nicht richtig pökeln konnten. Und was ist mit unseren Briefen?«
»Es tut mir leid, Gnädigste«, erwiderte Ragen. »Aber eure Siedlungen liegen weitab der üblichen Straßen, und einen Kurier dafür zu bezahlen, dass er alljährlich einen Monat lang oder gar noch länger zu euch unterwegs ist, kommt teuer. Der Gilde der Kuriere fehlt es ohnehin an Leuten, und jetzt hat Graig uns auch noch im Stich gelassen.« Er gluckste in sich hinein und schüttelte den Kopf, doch ihm entging nicht, dass Selias Miene sich verfinsterte.
»Nichts für ungut, verehrte Frau«, wiegelte Ragen ab. »Graig war auch mein Freund. Es ist nur so … wie soll ich mich ausdrücken? Nun ja, nicht vielen von uns Kurieren ist es vergönnt, irgendwann einmal ein sicheres Dach über dem Kopf, ein weiches Bett unter dem Rücken und ein junges Weib an unserer Seite zu haben. Meistens holt uns die Nacht, ehe wir uns zur Ruhe setzen können, verstehst du?«
»Ja, ich verstehe«, antwortete Selia. »Hast du daheim ein Weib, Ragen?«
»Ay«, erklärte der Kurier, »doch sehr zu ihrem Vergnügen und meinem Verdruss sehe ich meine Stute öfter als meine Gemahlin.« Er lachte und stürzte Arlen dadurch in große Verwirrung; der Junge wusste nicht, was daran so komisch sein sollte, wenn die eigene Frau einen nicht vermisste.
Selia ging nicht auf Ragens Bemerkung ein. »Stell dir vor, du könntest dein Weib überhaupt nicht sehen«, legte sie los. »Stell dir vor, die einzige Verbindung zu ihr wären Briefe, die einmal im Jahr eintrudeln? Wie würdest du es finden, wenn man dir sagte, diese Briefe kämen erst mit einem halben Jahr Verzögerung? In dieser Gemeinde wohnen Menschen, deren Verwandte in den Freien Städten leben. Sie kamen mit irgendeinem Kurier hierher, und in manchen Fällen sind seitdem schon zwei Generationen vergangen. Diese Leute werden nie mehr in ihr altes Zuhause oder in die Heimat ihrer Vorfahren zurückkehren. Die einzige Verbindung zu ihren Familien stellen die Briefe dar. Nur so erfahren die Daheimgebliebenen, wie es den Auswanderern ergangen ist, und die Hiesigen erhalten Kenntnis davon, wie es dem Rest der Familie geht.«
»Ich stimme dir aus vollem Herzen zu, gute Frau«, pflichtete Ragen ihr bei, »aber die Entscheidung über die Entsendung von Kurieren liegt nicht bei mir. Der Herzog …«
»Aber nach deiner Rückkehr wirst du doch mit dem Herzog sprechen, oder?«, schnitt Selia ihm das Wort ab.
»Ja, das werde ich«, bekräftigte er.
»Soll ich dir eine schriftliche Botschaft mitgeben?«, wollte Selia wissen.
Ragen lächelte. »Ich denke, ich kann auch so behalten, was du mir gerade gesagt hast.« »Das möchte ich dir auch geraten haben.«
Ragen verbeugte sich abermals, dieses Mal noch tiefer. »Ich bitte um Vergebung, weil ich an einem so düsteren Tag gekommen bin«, wechselte er das Thema und fasste den Scheiterhaufen ins Auge.
»Wir können weder dem Regen noch dem Wind noch der Kälte befehlen, wann sie genehm sind und wann nicht«, beschied ihm Selia. »Und auch den Horclingen gegenüber sind wir machtlos. Also muss das Leben auch nach einer Katastrophe weitergehen.«
»Gewiss, das Leben geht weiter«, pflichtete Ragen ihr bei. »Aber wenn ich oder mein Jongleur irgendetwas für euch tun können, so gebt uns Bescheid. Ich bin kräftig, und ich habe schon oft Verletzungen durch Horclinge behandelt.«
»Dein Jongleur hilft uns bereits«, erklärte Selia und deutete mit einem Kopfnicken auf den jungen Mann, der Lieder sang und allerlei Tricks vollführte. »Er sorgt für Zerstreuung und lenkt die Kinder von dem Elend ab, während die Älteren arbeiten. Und was dich betrifft, Ragen … nun, während der nächsten paar Tage habe ich alle Hände voll zu tun, wenn wir uns von dieser Heimsuchung erholen wollen. Ich werde nicht die Zeit haben, um die Briefe zu verteilen und denjenigen, die das Alphabet nicht gelernt haben, den Inhalt vorzulesen.«
»Das Vorlesen kann ich übernehmen, werte Dame«, erbot sich Ragen, »aber um die Briefe abzuliefern, kenne ich euren Sprengel zu wenig.«
»Wir brauchen weder beim Vorlesen noch beim Verteilen der Post deine Hilfe«, erwiderte Selia, während sie gleichzeitig Arlen nach vorn schob. »Arlen wird dich zum Gemischtwarenladen im Weiler Stadtplatz bringen. Wenn du dort das Salz ablieferst, gibst du die Briefe und Päckchen an Rusco Vielfraß weiter. Die meisten Leute aus dieser Gegend werden angerannt kommen, um sich mit Salz einzudecken, und Rusco gehört zu den wenigen im Sprengel, die schreiben, lesen und rechnen können. Der alte Ganove wird sich beklagen und auf Bezahlung bestehen, aber du sagst ihm, dass in Zeiten der Not die ganze Gemeinde zusammenhalten muss. Sag ihm, er soll die Briefe austeilen und den Inhalt vorlesen, wenn der Empfänger selbst dazu nicht in der Lage ist. Falls er sich stur stellt, richtest du ihm von mir aus, ich würde keinen Finger krümmen um ihn zu retten, wenn man ihm das nächste Mal eine Schlinge um den Hals legt und ihn aufhängen will.«
Ragen fasste Selia argwöhnisch ins Auge, als wüsste er nicht recht, ob sie im Ernst sprach oder sich nur einen Scherz erlaubte. Doch aus ihrer versteinerten Miene wurde er nicht schlau. Also machte er eine dritte Verbeugung.
»Und jetzt beeilt euch, Ragen und Arlen«, fuhr Selia energisch fort. »Nehmt die Beine in die Hand, damit ihr rechtzeitig wieder zurück seid, wenn die Leute hier den Platz räumen und sich zur Nacht in Sicherheit bringen. Und nur damit du Bescheid weißt, Ragen«, ergänzte sie, »wenn du und dein Jongleur Rusco nicht für ein Quartier bezahlen wollt, dann könnt ihr gern bei jemand anders übernachten. Jeder hier wird sich darum reißen, euch in sein Haus aufzunehmen.« Nachdem sie den Kurier und Arlen davongescheucht hatte, drehte sie sich um und schimpfte mit den Umstehenden, die ihre Arbeit unterbrochen hatten, um die Neuankömmlinge zu begaffen.
»Ist sie immer so … resolut?«, erkundigte sich Ragen bei Arlen, als sie zu dem Jongleur gingen, der die jüngsten Kinder mit allerlei Schabernack und Pantomimen unterhielt. Die anderen Leute waren von Selia wieder an ihre Arbeit getrieben worden.
Arlen schnaubte durch die Nase. »Du solltest hören, wie sie mit den Graubärten umspringt. Du hattest noch Glück, dass sie dir nicht das Fell vom Leib gezogen hat, als du sie ›Selia die Unfruchtbare‹ genannt hast.«
»Graig sagte mir, jeder hier würde sie so nennen«, wehrte sich Ragen.
»Das stimmt ja auch«, bestätigte Arlen, »nur wagt es keiner, es ihr ins Gesicht zu sagen. Genauso gut könnte man einen Horcling bei den Hörnern packen. Jeder hier tanzt nach Selias Pfeife.«
Ragen gluckste vergnügt. »Und dabei ist sie eine alte Jungfer. Eine ›alte Tochter‹, würde man bei mir zu Hause sagen«, sinnierte er. »Wo ich herkomme, erwarten nur Mütter, dass man ihren Befehlen gehorcht.«
»Und warum ist das so?«, fragte Arlen.
Ragen zuckte die Achseln. »Weiß ich auch nicht«, räumte er ein. »Aber so läuft das nun mal in Miln. Die Menschen sorgen dafür, dass die Welt sich dreht, und Mütter bringen neue Menschen hervor. Deshalb haben sie zu bestimmen.«
»Bei uns wird das nicht so gemacht«, erwiderte Arlen.
»In kleinen Städten oder Gemeinden gelten andere Gesetze«, meinte Ragen. »Es liegt wohl ganz einfach daran, dass die Einwohnerzahl geringer ist und jeder ein Mitspracherecht bekommt. In den Freien Städten herrschen eigene Sitten und Gebräuche. Und Miln bildet eine rühmliche Ausnahme, indem man hier dem weiblichen Teil der Bevölkerung überhaupt Rechte gewährt. In den übrigen Freien Städten haben die Frauen gar nichts zu sagen.«
»Das kommt mir genauso blöd vor«, murmelte Arlen.
»Es ist auch blöd. In dieser Hinsicht bin ich voll und ganz deiner Meinung.«
Der Kurier blieb stehen und reichte Arlen die Zügel seines Renners. »Warte einen Moment hier«, bat er und begab sich zu dem Jongleur. Die beiden Männer gingen ein Stück zur Seite, um sich zu unterhalten. Arlen sah, wie der Gesichtsausdruck des Jongleurs sich wieder veränderte; zuerst wurde er ärgerlich, dann schien er zu schmollen, und zum Schluss wirkte er einfach nur resigniert, während er versuchte, mit Ragen zu diskutieren, der die gesamte Zeit über keine Miene verzog.
Während der Kurier fortfuhr, den Jongleur wütend anzufunkeln, winkte er Arlen zu sich, der ihm das Pferd brachte.
»… ist mir egal, wie müde du bist«, zischte Ragen mit leiser Stimme. »Diese Menschen sind mit einer fürchterlichen Arbeit beschäftigt, und wenn du den ganzen Nachmittag tanzen und jonglieren musst, um ihre Kinder abzulenken, dann wirst du es eben tun, verdammt noch mal! Mach wieder ein freundliches Gesicht und kümmere dich um die Kleinsten!« Dann riss er Arlen die Zügel aus der Hand und hielt sie dem Mann entgegen.
Arlen bekam deutlich mit, wie sich abwechselnd Wut und Angst auf dem Gesicht des Jongleurs widerspiegelten, ehe der Bursche überhaupt von ihm Notiz nahm. Doch sowie er merkte, dass er beobachtet wurde, ging eine Verwandlung mit ihm vonstatten. Seine Mundwinkel hoben sich, in den Augenwinkeln bildeten sich Lachfältchen, und im nächsten Moment war er wieder der strahlende, fröhliche Spaßmacher, der für die Kinder tanzte.
Ragen lotste Arlen zu dem Karren, und sie kletterten auf den Kutschbock. Ragen klatschte mit den Zügeln, und sie fuhren den unbefestigten Weg zurück, der zur Hauptstraße führte.
»Worüber habt ihr euch gestritten?«, erkundigte sich Arlen, während der Karren über den unebenen Boden holperte.
Der Kurier streifte den Jungen mit einem flüchtigen Blick, dann zuckte er mit den Schultern. »Keerin ist zum ersten Mal so weit weg von der Großstadt«, erklärte er. »Er hielt sich wacker, solange wir noch in einer Gruppe reisten und er in einem überdachten Wagen schlafen konnte. Aber nachdem der Rest unserer Karawane in Angiers zurückblieb, kriegte er es mit der Angst. Selbst am helllichten Tag fürchtet er sich vor den Horclingen, und das macht ihn nicht gerade zu einem angenehmen Reisegefährten.«
»Man merkt es ihm aber nicht an, dass er Schiss hat«, meinte Arlen und blickte zurück auf den Jongleur, der vor den staunenden Kindern Rad schlug.
»Jongleure haben jede Menge Tricks auf Lager. Sie sind Meister darin, sich zu verstellen«, erläuterte Ragen. »Manchmal steigern sie sich in ihr Rollenspiel so hinein, dass sie eine Zeit lang selbst daran glauben, sie seien jemand anders oder verfügten über Eigenschaften, die sie in Wahrheit nicht haben. Keerin mimte den Mutigen. Die Gilde stellte ihn auf die Probe, ob er sich für das Reisen eignete, und er bestand die Prüfung. Aber man weiß nie, wie Menschen sich entwickeln, wenn sie erst einmal zwei Wochen lang auf der offenen Landstraße unterwegs sind. Das erweist sich dann erst in der Praxis.«
»Aber wie schützt ihr euch, wenn ihr nachts kampieren müsst?«, wollte Arlen wissen. »Mein Dad sagt, Siegel in den Dreck zu malen, würde nichts nützen. Im Gegenteil, es könnte die Horclinge höchstens noch anlocken.«
»Dein Dad hat Recht«, erwiderte Ragen. »Wirf mal einen Blick in das Fach zu deinen Füßen.«
Arlen tat es und zog einen großen Beutel aus weichem Leder hervor. Darin befand sich ein mit Knoten versehenes Seil, an dem lackierte Holztafeln, größer als seine Hand, aufgereiht waren. Seine Augen weiteten sich erstaunt, als er die in das Holz eingekerbten und mit Farbe ausgemalten Schutzzeichen sah.
Sofort wusste Arlen, was er da in der Hand hielt: einen tragbaren Bannzirkel, in dem der gesamte Karren bequem Platz fand. »So etwas sehe ich zum ersten Mal«, gestand er.
»Diese Bannzirkel sind schwer herzustellen«, erklärte Ragen. »Die meisten Kuriere verbringen ihre gesamte Lehrzeit damit, diese Kunst zu meistern. Weder Wind noch Regen können diesen Symbolen etwas anhaben, sie sind gegen Verwitterung gefeit. Trotzdem ist man nicht so sicher wie in einem Haus, dessen Wände und Türen mit Schutzzeichen versehen sind.
Standest du schon einmal einem Horcling von Angesicht zu Angesicht gegenüber, Junge?«, fragte der Kurier und blickte Arlen fest in die Augen. »Hast du jemals zugesehen, wie einer versucht, dich anzugreifen, und du kannst dich nirgendwohin flüchten? Und das Einzige, was dich vor der Attacke schützt, ist ein unsichtbarer Zauber?« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht bin ich zu streng mit Keerin. Er wurde auf die Probe gestellt und hat sich bewährt. Hat ein bisschen geschrien, aber das war ja zu erwarten. Doch sich Nacht für Nacht mit der Gefahr auseinanderzusetzen, ist etwas ganz anderes. Manche Männer zerbrechen daran, fürchten dauernd, irgendein vom Wind herbeigewehtes Blatt könnte auf einem Siegel landen und dann …« Plötzlich stieß er ein lautes Zischen aus und stieß mit den zu Klauen gekrümmten Fingern einer Hand nach Arlen, nur um schallend zu lachen, als der Junge erschrocken zurückprallte.
Mit dem Daumen fuhr Arlen über jede einzelne glatte, lackierte Holztafel; ganz deutlich konnte er die Kraft der Siegel spüren. Sie waren in Abständen von jeweils einem Fuß an das Seil geknüpft, was der gängigen Vorschrift für das Anbringen von Schutzzeichen entsprach. Er zählte mehr als vierzig Siegel. »Und was ist mit den Winddämonen?«, fragte er. »Können die nicht in einen derart großen Zirkel hineinfliegen? Mein Dad stellt Pfosten auf, damit sie nicht auf den Feldern landen.«
Ragen sah ihn ein wenig überrascht an. »Wahrscheinlich verschwendet dein Dad damit nur seine Zeit«, meinte er. »Winddämonen sind tüchtige Flieger, aber um sich überhaupt in die Luft schwingen zu können, müssen sie einen langen Anlauf nehmen oder aus großer Höhe herunterspringen. In einem Maisfeld haben sie weder genügend Platz zum Laufen, noch gibt es etwas zum Hinaufklettern. Deshalb werden sie sich schwer hüten, dort zu landen, es sei denn, sie entdecken etwas, dem sie nicht widerstehen können – zum Beispiel einen kleinen Jungen, der auf dem Feld schläft, weil er sich auf eine Mutprobe eingelassen hat.« Er sah Arlen mit demselben Blick an, mit dem Jeph ihn zu durchbohren pflegte, wenn er ihm einschärfen wollte, dass mit den Horclingen nicht zu spaßen sei. Als ob er das nicht wüsste!
»Außerdem müssen Winddämonen in großen Kreisen fliegen, wenn sie die Richtung ändern wollen«, fuhr Ragen fort. »Und die meisten haben eine Flügelspannweite, die den Durchmesser des Bannzirkels übertrifft. Es ist sicher möglich, dass einer in den Zirkel hineinfliegt, aber ich habe es noch nie erlebt. Sollte es wider Erwarten doch einmal vorkommen, dann …« Er deutete auf den langen, kräftigen Speer an seiner Seite.
»Kann man einen Horcling mit einem Speer töten?«, wunderte sich Arlen.
»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Ragen, »aber angeblich kann man sie betäuben, wenn man sie gegen die Siegel drückt.« Er gab ein prustendes Lachen von sich. »Hoffentlich komme ich niemals in die Verlegenheit, herausfinden zu müssen, ob das stimmt.«
Mit großen Augen starrte Arlen ihn an.
Ragen erwiderte seinen Blick und wurde plötzlich ernst. »Die Arbeit eines Kuriers ist gefährlich, mein Junge«, erklärte er abschließend.
Eine geraume Zeit lang konnte Arlen den Blick nicht von ihm abwenden. »Ich finde, das Risiko lohnt sich, wenn man dafür die Freien Städte besuchen kann«, erwiderte er nach einer Weile. »Erzähl mir, wie sieht Fort Miln aus?«
»Fort Miln ist die reichste und schönste Stadt der Welt«, behauptete Ragen. Er lupfte den Ärmel seines Kettenhemdes und enthüllte eine Tätowierung auf seinem Unterarm, die eine von zwei Bergen flankierte Stadt zeigte. »Die Minen des Herzogs enthalten schier unerschöpfliche Vorkommen an Salz, Metallen und Kohle. Die Wände und Dächer der Häuser sind durch Siegel so gut geschützt, dass kaum eine Gefahr besteht. Wenn die Sonne auf die Stadt scheint, dann glänzen die Gebäude in einer solchen Pracht und Herrlichkeit, dass selbst die Berge dagegen verblassen.«
»Ich habe noch nie einen Berg gesehen«, gestand Arlen und zog bewundernd die Tätowierung mit einem Finger nach. »Mein Dad sagt, Berge sind nichts weiter als große Hügel.«
»Siehst du diesen Hügel dort drüben?«, fragte Ragen und deutete in Richtung Norden.
Arlen nickte. »Das ist der Torfhügel. Von der Spitze aus kann man den gesamten Bachlauf überblicken.«
Ragen sah ihn von der Seite her an. »Weißt du, was ›hundert‹ bedeutet, Arlen?«, fuhr er fort.
Wieder nickte Arlen. »Zehn Paar Hände.«
»Nun ja, selbst ein kleiner Berg ist höher als hundert deiner Torfhügel, wenn man sie übereinanderstellte. Und die Berge von Miln sind nicht klein.«
Arlens Augen weiteten sich, als er versuchte, sich eine solche Höhe vorzustellen. »Dann müssen sie ja den Himmel berühren«, überlegte er.
»Manche Berge reichen sogar darüber hinaus«, prahlte Ragen. »Wenn man auf dem Gipfel steht, schaut man hinunter auf die Wolken.«
»Eines Tages möchte ich das sehen«, seufzte Arlen.
»Wenn du alt genug bist, kannst du ja der Kurier-Gilde beitreten«, schlug Ragen ihm vor.
Arlen schüttelte den Kopf. »Mein Dad sagt, wer von zu Hause weggeht, ist ein Deserteur. Und wenn er das Wort ausspricht, spuckt er immer aus.«
»Dein Dad weiß nicht, wovon er redet«, meinte Ragen. »Und eine falsche Meinung wird nicht dadurch richtig, dass man ausspuckt. Ohne Kuriere würden selbst die Freien Städte untergehen.«
»Ich dachte, die Freien Städte seien sicher«, wunderte sich Arlen.
»Es ist nirgendwo sicher, Arlen. Nicht wirklich. In Miln leben mehr Menschen als in einer Siedlung wie Tibbets Bach, und die Verluste lassen sich leichter verkraften. Trotzdem fordern die Horclinge jedes Jahr eine beträchtliche Anzahl von Opfern.«
»Wie viele Einwohner hat Miln?«, erkundigte sich Arlen. »In Tibbets Bach wohnen neunhundert Leute, und das Dorf Sonnige Weide soll fast genauso groß sein.«
»Nun, in Miln leben immerhin mehr als dreißigtausend Bürger«, erwiderte Ragen stolz.
Verwirrt blickte Arlen ihn an.
»Zehn mal hundert macht tausend«, half der Kurier ihm auf die Sprünge.
Arlen dachte einen Moment lang nach, dann schüttelte er den Kopf. »So viele Menschen gibt es auf der ganzen Welt nicht«, widersprach er.
»Oh doch, und sogar noch mehr«, klärte Ragen ihn auf. »Da draußen wartet eine große, weite Welt auf all diejenigen, die mutig genug sind, der Finsternis zu trotzen.«
Arlen gab keine Antwort, und eine Zeit lang saßen sie schweigend auf dem Karren.
Der schwerfällig rumpelnde Karren brauchte anderthalb Stunden, um das Dorf Stadtplatz zu erreichen. Es war gleichzeitig das Zentrum der weit auseinandergezogenen Gemeinde Tibbets Bach und bestand aus ein paar Dutzend mit Schutzzeichen versiegelten Häusern, in denen Menschen wohnten, deren Beruf es nicht erforderte, auf den Äckern und Reisfeldern zu arbeiten oder sich durch Fischen und Holzfällen den Lebensunterhalt zu verdienen. Hierher kam man, wenn man die Dienste des Schneiders oder des Bäckers, des Hufschmieds, des Küfers oder irgendeines anderen Handwerkers benötigte.
Im Ortskern befand sich der freie Platz, auf dem sich die Leute versammelten, und außerdem das größte Gebäude in der Gemeinde Tibbets Bach, der Gemischtwarenladen. In einem großen, nach vorn gelegenen offenen Raum waren Tische und der Ausschank untergebracht, eine dahinter angrenzende Halle war noch weitläufiger und diente als Vorratslager; in dem unterirdischen Keller wurde fast alles aufbewahrt, was in Tibbets Bach irgendeinen Wert darstellte.
Für die Küche waren Ruscos Töchter zuständig, Dasy und Catrin. Zwei Kredits reichten aus, um sich eine sättigende Mahlzeit zu kaufen, aber Silvy behauptete, der alte Rusco Vielfraß sei ein Betrüger, denn mit zwei Kredits konnte man genug Getreide für eine ganze Woche erwerben. Trotzdem berappten viele der unverheirateten Männer den Preis, wobei sie nicht nur für das Essen löhnten. Dasy war hässlich und Catrin fett, doch Onkel Cholie meinte, die Kerle, die die beiden heiraten würden, hätten für den Rest ihres Lebens ausgesorgt.
Jeder aus Tibbets Bach schleppte seine Waren zu Rusco, seien es Mais, Fleisch oder Pelze, Töpferwaren oder Tuche, Möbel oder Werkzeuge. Der Vielfraß nahm die Sachen in Empfang, schätzte sie und gewährte den Kunden Kredits, mit denen sie wiederum Sachen aus seinem Laden kaufen konnten.
Doch die Waren schienen immer wesentlich mehr zu kosten, als Rusco selbst für sie bezahlt hatte. Arlen verstand genug von Zahlen, um das zu merken. Es gab häufig erbitterten Streit, wenn die Leute kamen, um ihre Erzeugnisse zu verhökern, aber der Vielfraß setzte die Preise fest und bekam normalerweise, was er verlangte. So ziemlich jeder hasste den Vielfraß, doch alle brauchten ihn, und so sah man die Leute eher ihm den Rock abbürsten oder die Türen aufhalten, wenn er des Weges kam, als dass sie vor ihm ausspuckten.
Jeder in Tibbets Bach schuftete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und konnte sich trotzdem nur das Allernotwendigste leisten. Allein Rusco und seine Töchter hatten immer runde Wangen, dicke Bäuche und saubere neue Kleider. Arlen selbst musste sich in eine Decke wickeln, wenn seine Mutter seine Latzhosen wusch.
Ragen und Arlen banden die Maultiere vor dem Laden fest und betraten das Geschäft. Der Schankraum war leer. Normalerweise roch es in dem Lokal penetrant nach gebratenem Speck, doch heute wehten keine Kochdünste aus der Küche herüber.
Arlen stürmte vor dem Kurier in die Schänke. Dort hatte Rusco eine kleine bronzene Klingel installiert, ein Mitbringsel aus seiner früheren Heimat, den Freien Städten. Arlen liebte diese Klingel. Er klatschte mit der Handfläche darauf und grinste, als das helle, reine Signal ertönte.
Aus dem hinteren Bereich hörte man Lärm, und dann trat Rusco durch die Vorhänge, die den rückwärtigen Teil der Schänke begrenzten. Er war ein massiger Mann, trotz seiner sechzig Jahre immer noch stark und mit einem geraden Rücken, doch über dem Hosengurt hing eine schwabbelige Wampe, und die tief gefurchte Stirn ging in eine Halbglatze über. Sein verbliebenes Haar war grau wie Eisen. Er trug helle Hosen und Lederschuhe; die Ärmel des sauberen weißen Baumwollhemds waren bis zur Mitte der feisten Oberarme hochgekrempelt. Die weiße Schürze war fleckenlos, wie immer.
»Arlen, mein Junge«, grüßte er lächelnd, als er den Knaben erblickte. »Bist du nur gekommen, um mit der Glocke zu spielen, oder hast du ein bestimmtes Anliegen?«
»Ich habe ein bestimmtes Anliegen«, mischte sich Ragen ein und trat vor. »Bist du Rusco Vielfraß?«
»Rusco genügt«, erwiderte der Mann. »›Vielfraß‹ nennen mich zwar alle hier im Ort, aber auch nur hinter meinem Rücken. Sie können es nicht ertragen, wenn jemand mit seinem Geschäft Erfolg hat.«
»Das ist jetzt schon das zweite Mal«, brummte Ragen wie im Selbstgespräch.
»Wie bitte?«, fragte Rusco.
»Es ist schon das zweite Mal, dass Graigs Reisejournal mich falsch informiert hat«, erklärte Ragen. »Als ich heute früh Selia ansprach, nannte ich sie ›unfruchtbar‹.«
»Ha!« Rusco lachte. »Das hast du gewagt! Nun, darauf gebe ich einen aus. Wie, sagtest du, ist dein Name?«
»Ich heiße Ragen«, antwortete der Kurier, ließ den schweren Beutel, den er mitgeschleppt hatte, auf den Boden plumpsen und setzte sich an die Theke. Rusco öffnete den Zapfhahn eines Fasses und nahm einen geriffelten Holzkrug von einem Haken.
Das Bier war dick und honigfarben, und eine weiße Schaumkrone wölbte sich über dem Krug auf. Rusco füllte einen Krug für Ragen und einen für sich selbst. Nach einem Blick auf Arlen zapfte er Bier in einen kleinen Becher. »Setz dich damit an einen Tisch und lass uns Erwachsene am Tresen sprechen«, bestimmte er. »Und wenn du schlau bist, dann erzählst du deiner Mam nicht, dass ich dir Bier gegeben habe.«
Arlen strahlte über das ganze Gesicht und flitzte mit seiner Beute davon, ehe Rusco es sich vielleicht doch noch anders überlegte. Gelegentlich, an Festtagen, durfte er einen Schluck Bier aus dem Krug seines Vaters trinken, aber noch nie hatte er einen eigenen Becher mit Bier bekommen.
»Ich fing schon an mir Sorgen zu machen, es würde überhaupt niemand mehr kommen«, hörte er Rusco zu dem Kurier sagen.
»Letzten Herbst, kurz bevor er aufbrechen sollte, fing Graig sich eine Erkältung ein«, erzählte Ragen, der in tiefen Zügen das Bier schlürfte. »Die Kräutersammlerin, die ihn behandelte, riet ihm, die Reise aufzuschieben, bis es ihm besser ginge, doch dann wurde es Winter, und sein Zustand verschlechterte sich immer mehr. Am Ende bat er mich, seine Tour zu übernehmen, bis die Gilde einen Ersatz für ihn fände. Ich musste ohnehin eine Karawane mit Salz nach Angiers begleiten, deshalb nahm ich noch einen zusätzlichen Karren mit und machte den Umweg hierher, ehe ich wieder nach Norden zurückkehre.«
Rusco schnappte sich Ragens Krug und füllte ihn ein zweites Mal. »Auf Graig«, rief er. »Er war ein ausgezeichneter Kurier und ein Meister im Feilschen!«
Ragen nickte, die beiden Männer stießen mit den Krügen an und tranken.
»Noch ein Bier?«, fragte Rusco, als Ragen seinen Krug auf die Theke knallte.
»Graig schrieb in seinem Journal, du seist auch ein Meister im Feilschen«, beschied ihm Ragen, »und dass du versuchen würdest, mich betrunken zu machen, ehe wir zum Geschäftlichen kämen.«
Rusco kicherte stillvergnügt vor sich hin und füllte den Krug nach. »Wenn wir erst mit Feilschen fertig sind, habe ich es nicht mehr nötig, dich auf Kosten des Hauses trinken zu lassen«, meinte er und reichte Ragen den Krug mit der frischen Schaumkrone.
»Oh doch, wenn du willst, dass deine Post auch in Miln ankommt«, erwiderte Ragen grinsend und nahm Rusco den Krug ab.
»Ich sehe schon, du bist genauso hartgesotten wie der alte Graig«, grummelte Rusco und fing an, auch für sich ein neues Bier zu zapfen. »Wie auch immer«, fuhr er fort, während der Schaum überquoll, »wir können ja beide in betrunkenem Zustand feilschen.« Die Männer lachten und stießen erneut an.
»Was gibt es Neues von den Freien Städten zu berichten?«, erkundigte sich Rusco. »Sind die Krasianer immer noch wild entschlossen, sich selbst zu vernichten?«
Ragen zuckte die Achseln. »Ganz bestimmt, nach allem, was man so hört. Seit ein paar Jahren reise ich schon nicht mehr nach Krasia. Ich verzichte auf diese Route, seitdem ich geheiratet habe. Es ist mir zu weit und zu gefährlich.« »Dann hat die Tatsache, dass sie ihre Frauen mit Decken verhüllen, also nichts mit deinem Verzicht zu tun?«, fragte Rusco. Ragen lachte aus voller Kehle. »Nicht wirklich«, gluckste er. »In erster Linie mag ich die Krasianer nicht, weil sie glauben, alle Leute aus dem Norden, sogar die Kuriere, seien feige, da sie nachts nicht nach draußen gehen, um sich von den Horclingen massakrieren zu lassen.« »Vielleicht wären sie weniger aufs Kämpfen erpicht, wenn sie sich öfter ihren Frauen widmen würden«, kommentierte Rusco. »Wie stehen die Dinge in Angiers und Miln? Hätscheln die Herzöge immer noch ihren Zwist?« »Na klar, an der Situation hat sich nichts geändert«, gab Ragen zurück. »Euchor braucht Angiers’ Holz, um die Raffinerien zu betreiben, und Getreide, damit die Bevölkerung was zu essen hat. Rhinebeck ist auf das Salz und die Metalle von Miln angewiesen. Um zu überleben, müssen die Länder Handel treiben, aber anstatt es sich möglichst leicht zu machen, verbringen die Herzöge ihre gesamte Zeit damit, Ränke zu schmieden, wie sie sich gegenseitig am besten betrügen können. Besonders schlimm wird es, wenn eine Lieferung auf der Straße verloren geht, weil Horclinge den Wagentreck angreifen. Vergangenen Sommer fielen Dämonen über eine Karawane her, die Stahl und Salz beförderte. Sie töteten die Kutscher, ließen den größten Teil der Fracht jedoch intakt. Rhinebeck holte sich das Zeug und weigerte sich zu bezahlen, weil er sich auf das Bergerecht berief.« »Herzog Euchor muss geschäumt haben vor Wut«, warf Rusco ein. »Er bekam Tobsuchtsanfälle«, stimmte Ragen zu. »Ich war derjenige, der ihm die Nachricht überbrachte. Er lief knallrot an und schwor, Angiers würde keine einzige Unze Salz mehr sehen, bevor Rhinebeck nicht den Preis in voller Höhe bezahlt hätte.«
»Und wie hat Rhinebeck darauf reagiert? Gab er nach und hat das Geld rausgerückt?« Gespannt beugte sich Rusco über den Tresen.
Ragen schüttelte den Kopf. »Ein paar Monate lang versuchten beide Herzöge, einander auszuhungern, und danach hat die Kaufmannsgilde sich erbarmt und gezahlt, nur um ihre Lieferungen vor Wintereinbruch auf die Straße zu bringen. Anderenfalls wären die Sachen in den Lagerräumen verrottet. Jetzt hegt Rhinebeck einen Groll gegen die Händler, er nimmt es ihnen übel, weil sie Euchor nachgegeben haben. Aber sein Gesicht hat er gewahrt und die Karawanen rollen wieder, und das ist das Einzige, was die Leute interessiert – mit Ausnahme der beiden bissigen Köter, die haben nur ihren eigenen Vorteil im Sinn und strotzen vor Egoismus.«
»Pass auf, wie du über die Herzöge redest«, warnte Rusco. »Selbst hier draußen solltest du dich vorsehen.«
»Wer sollte denn hingehen und mich anschwärzen?«, fragte Ragen. »Du etwa? Oder der Junge?« Er deutete auf Arlen, und beide Männer lachten.
»Und nun muss ich Euchor Neuigkeiten von der Siedlung Flussbrücke übermitteln«, fuhr Ragen fort. »Das wird neues Öl ins Feuer gießen.«
»Flussbrücke, die Siedlung an der Grenze zu Miln«, sinnierte Rusco. »Kaum eine Tagesreise von Angiers entfernt. Ich habe Kontakte dort.«
»Jetzt nicht mehr«, erwiderte Ragen mit Nachdruck, und beide Männer schwiegen eine Weile.
»Genug der schlechten Nachrichten«, begann der Kurier, als die Stille ihm zu lange andauerte. Er bückte sich und wuchtete den Lederbeutel auf den Tresen. Rusco beäugte das Gepäckstück mit argwöhnischer Miene. »Das sieht nicht nach einer Salzlieferung aus«, meinte er, »und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich so viel Post kriege.« »Für dich sind sechs Briefe und ein volles Dutzend Päckchen dabei«, erklärte Ragen und reichte Rusco ein zusammengefaltetes Blatt Papier. »Hier ist alles aufgelistet, zusammen mit den anderen Briefen im Beutel und den Päckchen, die noch auf dem Karren liegen. Alles muss an die Empfänger verteilt werden. Selia hat eine Kopie der Liste«, ergänzte er in warnendem Tonfall. »Und was soll ich mit dieser Liste oder deinem Postsack anfangen?«, wollte Rusco wissen. »Selia, die Dorfsprecherin, ist anderweitig beschäftigt und hat keine Zeit, die Briefe weiterzugeben, geschweige denn sie den Leuten vorzulesen, die des Lesens nicht mächtig sind. Sie schlägt vor, dass du das übernimmst.« »Und wie werde ich dafür entschädigt, dass ich während meiner Geschäftsstunden Briefe austrage und vorlese?«, fragte Rusco. »Vielleicht durch die Befriedigung, die es verschafft, wenn man seinen Nachbarn einen Gefallen tut?«, schlug Ragen vor. Rusco schnaubte vulgär durch die Nase. »Ich bin nicht nach Tibbets Bach gekommen, um Freunde zu gewinnen«, erwiderte er geringschätzig. »Ich bin Geschäftsmann und tue ohnehin schon viel Gutes für die Gemeinde.« »Tatsächlich?«, fragte Ragen mit einem Anflug von Ironie. »Ja, tatsächlich, verdammt noch mal!«, legte Rusco los. »Ehe ich mich hier niederließ, kannten die Einheimischen nur den Tauschhandel.« Er betonte das Wort, als sei es etwas Obszönes, und spuckte dazu auf den Boden. »Sie sammelten die Früchte ihrer Arbeit und trafen sich an jedem Siebenttag auf dem Platz. Dann fingen sie an zu streiten, wie viele Bohnen eine Getreideähre wert sei, oder wie viel Reis man dem Küfer geben müsse, damit er einem ein Fass herstellte, in dem man seinen Reis aufbewahrte. Und wenn man am Siebenttag nicht bekam, was man brauchte, musste man eine ganze Woche lang warten oder von Tür zu Tür pilgern. Jetzt kann jeder zu mir kommen, Tag für Tag, jederzeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, mir seine Waren gegen Kredits verkaufen und sich dann wiederum selbst mit allem Notwendigen eindecken.«
»Der Retter der Gemeinde«, versetzte Ragen trocken. »Und du verlangst keine Gegenleistung?«
»Nichts außer einem angemessenen Profit«, erwiderte Rusco grinsend.
»Und wie oft kommt es vor, dass die Hiesigen dich aufknüpfen wollen, weil du sie wieder mal übers Ohr gehauen hast?«, erkundigte sich Ragen.
Rusco kniff leicht die Augen zusammen. »Viel zu oft, wenn man bedenkt, dass die Hälfte der Einheimischen nur so weit zählen können, wie sie Finger haben, und der Rest auch nur so schlau ist, die Zehen dazuzurechnen, wenn sie bis zwanzig kommen wollen.«
»Von Selia soll ich dir ausrichten, dass du das nächste Mal, wenn sie dich baumeln lassen wollen, auf dich allein gestellt bist.« Ragens freundliche Stimme klang plötzlich hart. »Es sei denn, du erledigst die Sache mit der Post. Auf der anderen Seite der Siedlung haben die Leute ein schlimmeres Los zu beklagen, als ihren Nachbarn Briefe vorlesen zu müssen.«
Rusco runzelte die Stirn, aber er schnappte sich die Liste und wuchtete den schweren Postsack in seinen Lagerraum.
»Wie schlimm ist es wirklich?«, erkundigte er sich, als er zurückkam.
»Sehr schlimm«, beschied ihm Ragen. »Bis jetzt hat es siebenundzwanzig Tote gegeben, und ein paar Leute werden noch vermisst.«
»Beim Schöpfer!«, fluchte Rusco und malte ein Schutzzeichen in die Luft. »Und ich dachte, es hätte höchstens eine einzige Familie erwischt.«
»Leider kam es anders«, seufzte Ragen.
Beide Männer schwiegen ein paar Minuten, wie es der Anstand gebot, dann blickten sie einander gleichzeitig an.
»Hast du das Salz für dieses Jahr mitgebracht?«, fragte Rusco.
»Hast du den Reis für den Herzog?«, wollte Ragen wissen.
»Die Lieferung liegt schon seit dem letzten Winter bereit«, antwortete Rusco. »Ich hatte ja damit gerechnet, dass sie viel früher abgeholt würde.«
Ragen kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
»Oh, der Reis ist vollkommen in Ordnung«, beeilte sich Rusco zu sagen und hob die Hände wie in einer flehenden Gebärde. »Ich habe ihn gut verpackt und trocken gelagert, und in meinem Keller gibt es kein Ungeziefer!«
»Du wirst sicher verstehen, dass ich mich selbst davon überzeugen muss«, warf Ragen ein.
»Selbstverständlich, selbstverständlich«, haspelte Rusco herunter. »Arlen, bring diese Lampe da!«, befahl er und zeigte mit dem Finger in eine Ecke der Schankstube.
Arlen flitzte zu der Laterne und griff nach dem Feueranzünder. Geschickt entzündete er den Docht und senkte andächtig das Glas darüber. Noch nie zuvor hatte man ihm erlaubt, das Glas zu halten. Es fühlte sich kühler an, als er es sich vorgestellt hatte, doch als die Flamme daran hochzüngelte, erwärmte es sich schnell.
»Trag uns die Laterne nach unten in den Keller«, wies Rusco ihn an. Arlen bemühte sich, seine Aufregung zu verbergen. Schon immer hatte er sich gewünscht, einen Blick hinter den Tresen zu werfen. Man munkelte, wenn sämtliche Einwohner von Tibbets Bach all ihre Habe auf einen Haufen türmen würden, wäre das immer noch nichts verglichen mit den wunderbaren Dingen, die der alte Vielfraß in seinem Keller hortete.
Er sah zu, wie Rusco an einem im Boden eingelassenen Ring zog und eine große Falltür öffnete. Geschwind huschte Arlen nach vorn, aus Sorge, der Vielfraß könne doch noch seine Meinung ändern. Während er die knarrenden Treppenstufen hinunterstieg, hielt er die Laterne hoch, um den Weg auszuleuchten. Der Lichtschein fiel auf Stapel von Kisten und Fässern, die vom Fußboden bis zur Decke reichten und sich in gleichmäßigen Reihen an den Wänden entlangzogen, bis in Winkel, in die der Lichtkegel nicht mehr reichte. Der Boden bestand aus Holz, um zu verhindern, dass Horclinge direkt aus dem Horc in den Keller gelangten, trotzdem hatte man in die Wandregale Schutzzeichen eingekerbt. Der alte Vielfraß ging sorgfältig mit seinen Schätzen um.
Der Ladenbesitzer führte sie durch die Gänge zu den versiegelten Fässern im hinteren Teil des Kellers. »Sie sehen unversehrt aus«, meinte Ragen, der das Holz begutachtete. Einen Moment lang schien er zu überlegen, dann traf er blindlings seine Wahl. »Das da«, bestimmte er, auf ein Fass zeigend.
Vor Anstrengung grunzend hievte Rusco das Fass vom Stapel. Manche Leute fanden, seine Arbeit sei leicht, doch seine Arme waren so hart und muskulös wie die der Männer, die eine Axt oder Sense schwangen. Er brach das Siegel auf, hebelte den Deckel des Fasses ab und schaufelte Reis in eine flache Pfanne, damit Ragen die Ware inspizieren konnte.
»Das ist erstklassiger Reis aus den Marschen«, erklärte er dem Kurier. »Du wirst keinen einzigen Käfer darin finden und nicht die geringste Spur von Schimmel. In Miln kann man ihn zu einem hohen Preis verkaufen, vor allen Dingen, weil die letzte Lieferung schon so lange zurückliegt.« Ragen brummte und nickte, das Fass wurde wieder versiegelt und sie kletterten über die Stiege nach oben zurück.
Danach feilschten sie eine geraume Zeit lang, wie viele Fass Reis die schweren Säcke mit Salz, die auf dem Karren lagen, wert sein mochten. Am Ende schien keiner der beiden mit dem Ergebnis zufrieden zu sein, doch per Handschlag wurde das Geschäft beschlossen.
Rusco rief seine Töchter, und alle zusammen gingen nach draußen, um das Salz vom Karren abzuladen. Arlen versuchte, einen Sack zu heben, aber er war viel zu schwer für ihn; er taumelte unter dem hohen Gewicht, stürzte, und ließ den Sack fallen.
»Pass doch auf!«, schnauzte Dasy ihn an und versetzte ihm einen Schlag gegen den Hinterkopf.
»Wenn du zu schwach bist, um beim Tragen zu helfen, dann halte uns wenigstens die Tür auf!«, schrie Catrin. Sie selbst hatte einen Sack auf ihre Schulter gehievt und ein anderer klemmte unter ihrem drallen Arm. Arlen rappelte sich wieder auf die Füße, sauste zur Tür und riss sie weit auf.
»Hole Ferd Müller und sag ihm, wir zahlen fünf … nein, vier Kredits für jeden Sack, den er in seiner Mühle mahlt«, befahl Rusco dem Jungen. Die meisten Bewohner von Tibbets Bach arbeiteten in der einen oder anderen Weise für den Vielfraß, aber vor allen Dingen die Leute, die rings um den Weiler Marktplatz wohnten, waren ihm verpflichtet. »Fünf Kredits kriegt er, wenn er das Salz in Fässer mit Reis steckt, damit es trocken bleibt.«
»Ferd ist bei den Holzfällerhütten«, erwiderte Arlen. »Wie fast alle.«
Rusco gab einen knurrenden Laut von sich, enthielt sich aber einer Bemerkung. Schon bald war der Karren leer, bis auf ein paar Kisten und Säcke, die kein Salz enthielten. Ruscos Töchter schielten begehrlich auf die Behältnisse, hüteten sich jedoch, eine Frage zu stellen.